Die Umkehr der Meridian - Carlos Rasch - E-Book

Die Umkehr der Meridian E-Book

Carlos Rasch

4,5

Beschreibung

Die Meridian war ausgeschickt worden, jene geheimnisvolle Kometenwolke aufzuspüren, die weit entfernt die Sonne umkreiste. Diese Kometenwolke war das letzte Hindernis für einen Ausbruch mit den neuen, lichtschnellen Photonenschiffen aus dem solaren Sonnensystem. Als aber die Meridian umkehren wollte, traten Ereignisse ein, die den Rückflug in Frage stellten. Schuld daran war nicht so sehr die Kometenwolke als vielmehr jene unvermutet auftretende fremde Strahlung, die von einer Zone im Bereich der Sonne Tau-Ceti ausging. Das Buch knüpft an einige ungelöste Fragen aus „Der Untergang der Astronautic“ und „Asteroidenjäger“ an. Eine spannende Science-Fiction-Erzählung aus dem Jahre 1969 in ungekürzter Originalfassung. LESEPROBE: Suko Susako erstarrte. Bezweifelte der Kommandant, dass er die Prüfliste durchexerziert hatte? Es wäre das erste Mal. Dieses Misstrauen stürzte ihn in eine bodenlose Tiefe. „Die Messgeräte haben vorhin noch keinen Defekt angezeigt. Es war alles in Ordnung“, schwor er entsetzt. „Ja, ja, alles in Ordnung ... Oh, du meine Güte ... Wo ist die Erde? Nur alles schwarz ..., nur alles dunkel ... Der große Abgrund!“, stammelte er und hob die Hände vors Gesicht. No Lybia stand plötzlich neben ihm. Dieser Angstausbruch war ihr unverständlich. Das bisschen Raumfurcht und Erdweh, das er bis jetzt gezeigt hatte, war sozusagen normal. „Es ist bestimmt nur ein kleiner Defekt", sagte sie. „Der Schaden wird bald gefunden und behoben sein.“ Dabei drückte sie ihm unmerklich eine kleine Haftampulle mit einem Beruhigungsmittel auf die Haut des Nackens. Das Medikament würde innerhalb weniger Minuten selbstständig durch die Ampullenwandung über die Haut in die Blutbahn übertreten und schnell zu wirken beginnen. Noch zitterte Suko Susako am ganzen Leibe. Auch No Lybia war der Schreck in die Glieder gefahren, als der Antrieb ausgesetzt hatte. Aber was half es, die kühle Überlegung zu verlieren. „Bald, bald!“, äffte sie der Ingenieur, noch heftig erregt, nach. „Wann ist bald? Soll ich dir sagen, was sein wird, wenn die Hauptdüse nicht mehr zünden sollte?“ Er lachte höhnisch. „Bald wirst du es selbst merken. Lächerlich, ein kleiner Defekt ... Aus ist es dann mit uns!“ „Hör auf, Su-Su!“, sagte Tete Thysenow. Aber der Japaner lieg sich nicht unterbrechen. „Wisst ihr, was dieser ,kleine' Defekt bedeuten kann?“, schrie er. Er gab gleich selbst die Antwort, jedes Wort extra betonend: „Wir - können - nicht - umkehren!“

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Impressum

Carlos Rasch

Die Umkehr der Meridian

Raumfahrterzählung aus dem Jahre 2232

ISBN 978-3-95655-514-5 (E-Book)

Die Druckausgabe erschien erstmals 1966 im Deutschen Militärverlag, Berlin.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

© 2015 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

Raum ist nicht Raum,

Zeit ist nicht Zeit,

jetzt ist nicht jetzt,

Zentrum nicht Zentrum.

Mensch, das ist Mensch.

Erde ist Erde.

Wir sind wir auf unserer Erde,

Unser ist Unser auf unserer Erde.

Lasst uns die Zeit

und den Raum

alle

bedächtig schrittweise öffnen.

Hartmut Fiedler Lyrikgruppe „alex 64"

1. Kapitel

Suko Susako, der Triebwerksingenieur, wollte eigentlich den Uranbedarf der Meiler und den zusammengeschrumpften Vorrat an Wasserstoff in den Tanks nachrechnen. Er saß aber nur da und blickte grübelnd vor sich hin.

Wann endlich würde sich Arkadi Arsuk für einen neuen Kurs entschließen, für eine Bahn, die schnell in die Geborgenheit der Erde führte?

Die „Meridian“ hatte sich schon über sechs Milliarden Kilometer von der Sonne entfernt. Solche Strecken hatte bisher noch kein anderes Raumschiff zurückgelegt. Der Auftrag war erfüllt. Hatte es da Sinn, noch weiter in das All hinauszufliegen? Wollte Arkadi Arsuk noch mehr Ruhm einheimsen?

Ich mache da nicht mehr mit, dachte Suko Susako. Ärgerlich sah er zu Tete Thysenow hinüber, der auch jetzt noch mit großer Ruhe an seinen Instrumenten saß, Notizen im Elektronenhirn speicherte und Messkurven verglich.

„Wenn es keinen Kosmos gäbe, würdest du ihn bestimmt erfinden“, murmelte der Ingenieur.

Der junge Wissenschaftler sah auf und blickte ihn fragend an.

„Ja, du hast richtig gehört, Te Thys. Dein Forscherdrang ist geradezu anormal. Du sehnst dich, scheint mir, gar nicht zur Erde zurück. Weißt du überhaupt noch, wie ein Baum, eine Wolke, ein Grashalm aussieht? In deinem Kopf haben nur Zahlen und Messkurven Platz. Und existieren No Lybia, ich und Ak Arsuk überhaupt für dich?“ Die letzten Worte klangen ungehalten.

Es war hauptsächlich Tete Thysenows Verdienst gewesen, dass man die Kometenwolke gefunden hatte. Die Aufmerksamkeit, mit der er die Skalen und Schirme seiner Geräte beobachtete, war nahezu sprichwörtlich. Winzige Anzeichen hatten ihm genügt, sie richtig zu deuten und der Kometenwolke auf die Spur zu kommen.

„Du übertreibst, Suko“, sagte der Wissenschaftler, an Bord kurz Te Thys genannt. „Man muss von der Erde träumen können, ohne ungeduldig zu werden. Sei nicht so ungehalten. Wir sehnen uns alle nach der Erde zurück; du nach den Meeresfarmen vor der Kyushuküste, No Lybia nach den Saharawäldern, Arkadi nach den sibirischen Heißwasserfällen und ich ...“ Tete Thysenow brach ab und seufzte. „Du machst uns das Leben hier draußen im Kosmos nur unnötig schwer, wenn du immer wieder Bilder von der Erde herbeibeschwörst.“

In diesem Augenblick hielt leise summend der Lift. Die Pneumatür öffnete sich, leise fauchend. No Lybia kam in die Steuerzentrale. Sie war vor Freude ganz aufgeregt, ging schnell auf Tete Thysenow zu und rief: „Es geht nach Hause! Wir nehmen Wendekurs! Ak Arsuk hat eben die Berechnungen dazu abgeschlossen!“ Sie packte Tete Thysenow an den Schultern und rüttelte ihn, als wolle sie einen Schlafenden wecken. „Te Thys, Te Thys!“, stieß sie atemlos hervor. „Wir werden heute noch die Sonne auf dem Bugschirm sehen! Endlich wieder die Sonne auf dem Bugschirm!“

Suko Susako trat neugierig heran. Seine eben noch gerunzelte Stirn glättete sich. Er begann sogar, ein Liedchen vor sich hin zu pfeifen.

Da meldete sich auch schon aus dem Lautsprecher Arkadi Arsuk: „Hier Kommandant! Bereitet die Umkehr vor! Suko Susako, überprüfe du die Meiler und das Triebwerk. Und du, Nomisera Lybia, sende den Funkspruch an die Erde ab. In fünf Minuten beginnt das Steuermanöver für die Wendekehre. Ich komme gleich mit dem neuen Lenkprogramm.“

No Lybia ging aufgeregt und voller Freude in der Steuerzentrale umher. „Te Thys! Te Thys! Bald wird die Sonne auf dem großen Sichtschirm erscheinen. Pass auf, sieh hin! Wir haben sie dort lange nicht gesehen.“

Auch Suko Susako warf seinen Frequenzstift fröhlich in die Luft, fing ihn auf und machte einen dicken Strich durch die Treibstoffberechnungen auf seiner Magnetkarte. Dann rieb er sich mehrmals die Hände und machte sich an seinem Düsen- und Meilerpult zu schaffen.

„Seit wann geratet ihr beide so leicht außer Rand und Band?“, fragte Tete Thysenow amüsiert.

„Ach, du“, sagte Suko Susako, „für dich wird die Sonne auf dem Bugschirm natürlich genauso rund und hell sein wie jetzt auf dem Heckschirm. Ich weiß, du verschwendest deine Gefühle nicht unnötig. Du bleibst kühl und sachlich wie eine Rechenmaschine. Deine Messungen sind dir wichtiger als die kleine, ferne Sonne.“

„Du bist ungerecht, Suko“, sagte No Lybia. „Ob du gut gestimmt bist oder schlecht, immer hast du etwas an Te Thys auszusetzen.“

„Stimmt“, gab Suko Susako zu.

„Das nehme ich ihm nicht übel. Lass ihn reden.“ Tete Thysenow winkte gutmütig ab. „Wie ich sehe, ist er jetzt wieder obenauf, und das ist die Hauptsache. Vorhin war er nämlich ganz missmutig, richtig niedergeschlagen.“

„Aber, aber! Suko ist doch immer obenauf und nie missmutig“, sagte No Lybia.

Sie war Ärztin und wusste nur zu gut, wie es um Susako bestellt war: Er zeigte sich der Stille, der Schwärze und der Bodenlosigkeit ringsherum in letzter Zeit immer weniger gewachsen. Das waren die ersten Anzeichen einer Akrophobie, der Raum- angst. Die große Entfernung von der Erde zerrte offenbar an seinen Nerven am meisten. Eben deshalb versuchte sie, ihm den Missmut auszureden.

„Obenauf?“, bezweifelte Susako. „Das ist zuviel gesagt. Ich werde mich erst wohlfühlen, wenn wir festen Erdboden unter den Füßen haben.“

„Lass das bloß nicht die Raumfahrtpsychologen hören, wenn wir wieder auf der Erde angekommen sind. Sonst kannst du höchstens noch in Port Luna Dienst tun“, sagte Tete Thysenow ironisch. „Es klang fast so, als hättest du Erdweh.“

„Ja, Erdweh!“ Suko Susako lachte kurz und trocken auf. „Wer hat, wenn er normal ist, kein Erdweh? Ein Raumfahrer ohne etwas Erdweh ist kein Raumfahrer. Ist es nicht so? Ich jedenfalls brenne darauf, wieder auf der Erde zu sein. Im Augenblick würde ich sogar mit einem Wilden aus der Steinzeit tauschen, wenn ich dafür sofort auf die Erde zurückversetzt werden könnte. In letzter Zeit ist es mir hier draußen im Kosmos sehr unbehaglich zumute geworden“, sagte der Ingenieur.

No Lybia lächelte verständnisvoll. „Der Mensch fliegt dem Kosmos in die Arme, aber sein Herz bleibt auf der Erde; jetzt sei aber still“, fügte sie energisch hinzu. „Man soll hier draußen im All nicht so viel von der Erde sprechen.“

Suko Susako lachte spöttisch. „Sieh da. Entweder du hast auch Heimweh nach der Erde, oder du bist abergläubisch. Fürchtest du, dass man, wenn man hier im Kosmos von der Erde spricht, den ,Kosmonautermann' herbeibeschwört?“, versuchte er zu scherzen. „Pass auf, er wird gleich mit einem Knöchelchen aus Meteoriten an die Bordwand klopfen.“

No Lybia hob in komischer Verzweiflung erschrocken und abwehrend die Hand.

Sie arbeiteten alle schweigend eine Weile an ihren Geräten, und schließlich schaltete No Lybia den Sender ein, der den Funkspruch zur Erde abstrahlte. Dabei las sie den Klartext zur Kontrolle mit: „Hier Meridian! Hier Meridian! Haben Randzone des Sonnensystems erreicht. Auftrag erfüllt. Kometenwolke aufgespürt und genaue Ausdehnung ermittelt. Auch Crabstrahlung gemessen. Werden umkehren und heimwärts fliegen. Gruß unserer schönen Erde!“

„In sechs Stunden kommt der Funkspruch dort an“, sagte Suko Susako. „Ich wünschte, wir wären auch schon in sechs Stunden auf der Erde.“

„Du bist zu ungeduldig“, hielt ihm Tete Thysenow entgegen. „Wem die Sonne winkt, dem geht die Erde nicht verloren. Das ist doch ein altes und bewährtes Kosmonautensprichwort. Wenn erst die Sonne wieder auf unserem Bugschirm zu sehen ist, wenn also das Umkehrmanöver geschafft ist, kann uns nicht mehr viel passieren.“

„Ihr seid beide ganz groß in Sprichwörtern. Natürlich, die Sonne winkt uns, aber der Weg zur Erde war auch noch nie so weit, möchte ich nur bemerken.“ Suko Susako störte die sorglose Zuversicht der beiden. Er war dafür, die Tatsachen nüchtern zu betrachten, vor allem nicht so sehr auf das ferne Ziel zu schauen, sondern zuerst auf den Weg, auf die nächsten Schritte dorthin und auf die Gefahren, die unvorhergesehen eintreten könnten.

Die Unruhe im Steuerraum hatte in den letzten Minuten zugenommen. Auf den Schaltpulten flammten ganze Reihen buntfarbiger Lichtsignale auf. Andere Zeichen blinkten rhythmisch. Unter den Verkleidungen der Pulte schnarrten, pochten und knackten leise die Relais; Summtöne, Klingelzeichen und kurze Quäksignale meldeten den Vollzug von Befehlen oder die Bereitschaft der Aggregate zum Umkehrmanöver.

Noch raste die „Meridian“ in das All hinaus. Mit jeder Sekunde entfernte sie sich um weitere Hunderte von Kilometern von der Sonne, von der Erde. Aber schon zündeten Steuertriebwerke und drehten das große Raumschiff, bis es rückwärts, mit dem Heck voran, in den Kosmos schoss.

In der Steuerzentrale war diese Drehbewegung, das Einschwenken des Haupttriebwerks in die richtige Manöverposition, für die drei Kosmonauten deutlich auf dem großen Bildschirm zu erkennen. Über drei Jahre war auf ihm nur das schmale, unregelmäßige Band der Milchstraße zu sehen gewesen. Es hatte vor ihnen seine ganze funkelnde und faszinierende Pracht entfaltet, ein Bild, das in gar nichts dem von der Erde aus sichtbaren Band ähnelte. Aber bald hatten sie sich alle an diesen Anblick gewöhnt. Das Bild der Milchstraße blieb trotz der rasenden Geschwindigkeit des Raumschiffs stets gleich und unverändert, als stände das Raumschiff still. Das war eintönig. An der Starrheit und dem kalten Glanz des Sternenpanoramas erstarben allmählich die Gefühle.

Jetzt aber war die Sternenwelt auf dem Bildschirm in Bewegung geraten. No Lybias Blick hing wie gebannt an der großen Bildfläche des Sichtschirms. Langsam wanderte die Sternenlandschaft darüber hinweg. Gleich musste die Sonne erscheinen.

Auch Tete Thysenow beugte sich gespannt vor. Sein Blick hing aber nicht an dem großen Sichtschirm, sondern er beobachtete angestrengt die pulsenden Messkurven auf den kleinen Schirmen vor sich, die die kosmische Strahlung um sie herum anzeigten. Die freudigen Rufe No Lybias über die Sonne verhallten unbeachtet an seinem Ohr, denn er bemerkte, wie seine Messgeräte plötzlich in einer ungewöhnlichen Art reagierten.

„Jetzt! Da ist sie!“, rief Suko Susako.

„Wie schön! Wie schön!“ No Lybia klatschte in die Hände. "So klein und doch so hell! Wunderbar!“ Sie war begeistert und glücklich. Wie wird uns erst zumute sein, wenn in drei Jahren die schöne blaue Kugel unserer Erde in ihrer orangefarbenen Aureole aus dem All vor uns auftaucht? dachte sie.

Eine Tür schnappte weich und saugend ein. Arkadi Arsuk, der Kommandant, war eingetreten. „Alles in Ordnung? Geht alles klar?“

Suko Susako nickte und machte ihm vorschriftsmäßig Meldung, dass alle Vorbereitungen für das Wendemanöver getroffen worden seien. „Keine Störungen“, sagte er.

Arkadi Arsuk sah mit Befriedigung, dass die Sonne schon im Fadenkreuz des Bildschirms stand. Nun brauchte er nur noch das Arbeitsprogramm für die Triebwerke, das er fertig errechnet auf einem Speicherband mitgebracht hatte, in den Pilotron, den Steuerautomaten, einzusetzen und den Rückflug durch einen Knopfdruck einzuleiten.

„Plätze einnehmen! Anschnallen!“, befahl er.

Arkadi Arsuk machte einige Handgriffe am Pilotron und drückte die Kassette mit dem neuen Steuerprogramm in die Raster. Dann setzte er sich in den Kommandantensessel. Etwa eine Minute später ertönte aus dem Lautsprecher das harte Tacken eines Sekunden zählenden Zeitmessers. Es war ein Anzeichen dafür, dass der Pilotron seine Arbeit aufgenommen hatte.

Tete Thysenow hatte den Befehl zum Anschnallen überhört. Er saß noch immer steil aufgerichtet vor seinen Messgeräten, eine starre Unmutsfalte auf der gerunzelten Stirn. Man sah es ihm an, dass er angestrengt nachdachte und zugleich aufs Höchste verwundert war.

„He! Te Thys!“, rief ihn Suko Susako an. „Hast du nicht gehört? Anschnallen ist befohlen worden! Die Wissenschaft hat jetzt Pause. Schalte deine Messschirme ab, und setze dich in den Konturensessel!"

„Achtung, Te Thys! Negativer Beschleunigungsdruck!“, mahnte auch Nomisera Lybia, denn jeden Augenblick musste das Triebwerk zu arbeiten anfangen.

Tete Thysenow schnallte sich wie abwesend mit mechanischen, tausendfach geübten Bewegungen an und legte seinen Kopf in die sorgfältig ausgearbeitete Stütze.

„Acht - sieben - sechs - Achtung! Triebwerk!“ Arkadi Arsuk zählte die letzten Sekunden laut mit. „Drei - zwei - eins - null!“

Das Triebwerk setzte heftig brausend ein. Sein Getöse pflanzte sich über die Wände und Spanten fort und drang bis in die Steuerzentrale. Ein starker Andruck presste sie in ihre Konturensessel.

Das ferne Tosen der Wasserstoffflamme im großen Haupttriebwerk dauerte jedoch nur kurze Zeit. Dann erstarb der Lärm. Lediglich noch das Rucken einiger schwacher und unregelmäßiger Stöße war zu spüren.

Suko Susako richtete sich, soweit es die Gurte zuließen, voller Unruhe auf. „Was ist los, Kommandant? Hast du das Triebwerk wieder abgestellt?“

„Nein. Wahrscheinlich eine Störung. Ich versuche es noch einmal.“

Arkadi Arsuk schaltete den Pilotron zurück und drückte abermals die Starttaste für das Umkehrmanöver. Wieder setzte das harte Tacken des Zeitmessers ein. „Drei - zwei - eins - Achtung!“, rief der Kommandant.

Die Stille blieb.

Nur die Schaltgeräusche der Automaten und Relais hinter den Wänden waren zu hören und ab und zu ein Atemzug.

Vergeblich warteten die vier Kosmonauten auf das vertraute Rauschen.

Es blieb aus.

2. Kapitel

Der Stratos-Überschall-Liner mit den tellerförmigen Tragflächen zog ruhig seine Bahn. Der Kurs lag mit dreiundzwanzigtausend Metern hoch über den Wolken und noch über dem Netz der Strahlstürme. Ganz tief unten, so tief, dass man das Gefühl hatte, festen Boden mit einer polaren Schnee- und Eisdecke zu sehen, schob sich rasch eine blendend weiße Wolkenlandschaft unter dem Rumpf hinweg.

Suko Susako, ein letztes Mal vor dem Start der „Meridian“ in den Kosmos für ein paar Wochen beurlaubt, flog heimwärts. Sue war bereits vor zwei Tagen vorausgefahren. Ob sie wohl schon die schwere Segeljacht besorgt hatte, mit der sie beide viele Tage jenseits der Zone der Meeresfarmen auf dem Pazifik und zwischen den Inseln weit südwärts bis Okinawa kreuzen wollten?

In seinen Sessel zurückgelehnt, starrte Suko Susako durch das wulstig eingefasste Glas des Kabinenfensters verzückt in das reine, klare Blau des Himmels. Mit den Augen sog er die Farbe in sich hinein, denn er wusste, dass es für viele Jahre das letzte Mal sein würde, da er das so lange und so ungestört tun konnte.

Nicht, dass ihn der Gedanke daran bedrückte. Ganz im Gegenteil: Suko Susako fühlte Zufriedenheit bei der Vorstellung, dass er nach der Rückkehr aus dem Kosmos ein bekannter Raumfahrer sein würde. Gleichviel, ob ihre Expedition zum Erfolg führte oder nicht, die Leistung, als einer der ersten Kosmonauten bis in die äußersten Randbereiche des solaren Sonnensystems vorgedrungen zu sein, würde bleiben und vor der Menschheit Anerkennung finden. Er konnte sich auf diesen Auftrag etwas einbilden. Man hatte nur die Tüchtigsten und Unerschrockensten für diese Expedition ausgesucht.

Damit hatten sich die zehn Jahre an der Moskauer Raumfahrtakademie sowie in den Ausbildungslagern in der Antarktis, in der Sahara, in den chilenischen Gips- und Salpeterwüsten und in der „Ebene der Stille“ auf dem Mond wahrlich gelohnt. Es hätte auch passieren können, dass man ihn nur für Flüge zum Mars oder zur Venus eingesetzt hätte.

Wie oft waren die künftigen Kosmonauten bei der Ausbildung absichtlich in Schwierigkeiten gebracht worden - und nicht nur am Simulator. Suko Susako lächelte in sich hinein bei dem Gedanken daran, wie er auch aus der schwierigsten Situation einen Ausweg gefunden hatte. Er hatte immer die Nerven behalten. „Sie haben einen ausgeprägten Selbsterhaltungstrieb, gepaart mit Geschick und Können“, hatten die Psychologen zum Schluss in Luna-City zu ihm gesagt. Vielleicht war er gerade deswegen für die weite Reise in die Peripherie des irdischen Sonnensystems bestimmt worden.

Gewiss, das Training in den Hitze- und Vakuumkammern, auf der Zentrifuge und an all den anderen Geräten war noch fast ebenso hoch in seinen Anforderungen wie zu Beginn der Raumfahrt vor über zweihundert Jahren. Und auch die ans Militärische grenzende Disziplin war ihm mehrere Jahre lang schwergefallen, wenngleich sie natürlich für Flüge in den Kosmos unerlässlich war. Nun aber fühlte er sich im streng geregelten Dienstablauf an Bord, wie er schon an der Raumfahrtakademie eingeführt worden war, wohl. Und das Training hatte zu einer Körperbeherrschung geführt, die zuversichtlich stimmte und die auch Sicherheit und starkes Selbstvertrauen gab.

„Der Pazifik ist in wenigen Minuten überquert. Wir nähern uns der Luftbase von Kanhong und gehen in Kürze zum Flug im Unterschallbereich über“, erklärte die ruhige Stimme eines Mannes im Lautsprecher.

Hier und da richtete sich einer der Passagiere auf, und auch Suko Susako beugte sich vor. Er versuchte, durch eines der Wolkenlöcher die Küste zu erspähen.

Eigentlich hätte er schon in Kanhong sein können, aber er hatte in Port Känguru seinen Platz mit einem jungen Vater getauscht, der es besonders eilig hatte, über den Pazifik zu kommen, um seinen erst heute geborenen Sohn zu sehen. Dadurch war er eine Stunde später aus Australien abgeflogen. Ihm war es gleich, wann er in Kanhong ankam und die Seereise im Pneuturnik (Luftkissenschiff) nach den Japanischen Inseln antrat. Sue zwar würde die Verspätung bedauern, aber sie hatten ja beide noch die ungestörten und erlebnisreichen Wochen ihrer Kreuzfahrt vor sich.

Kanhong hieß das riesige Wohngebiet um die Mündung des Sekiang herum. In früheren Jahrhunderten sollten hier die beiden großen Städte Kanton und Hongkong gelegen haben. Aber sie hatten sich wie die Städte überall in der Welt zum Ende des einundzwanzigsten Jahrhunderts quasi aufgelöst. Man sagte, die Automatisierung und Kybernetisierung der Industrie hätten schon damals, wenige Jahrzehnte nach der Abrüstungsperiode, eine Perfektion erreicht, die die Konzentration von Arbeitskräften in altmodischen großen Städten überflüssig gemacht hätte. Diese Entwicklung wäre von den damals in großer Anzahl entstehenden Meeresfarmen und Hydroponikkombinaten zur Erzeugung von Nahrungsmitteln noch beschleunigt worden. Da dadurch viel Land frei wurde, empfahl das Weltparlament den Regierungen der verschiedenen Kulturbereiche in Asien, Afrika, Amerika und Europa, schleunigst die weiten Gebiete ehemaligen Ackerlandes für Wohnzwecke freizugeben und in ausgedehnte Park- und Panoramastädte zu verwandeln. Seitdem gab es kaum jemanden, der es nicht vorzog, anstatt in den Zellfluchten der Hochfassaden zu leben, ein paar Tausend Quadratmeter Landschaft für sich und seine Familie allein zu benutzen. Die Landflucht, die in einigen Staaten vor der Jahrtausendwende geherrscht haben sollte, hatte sich auf eine kaum vorauszusehende Weise in eine Stadtflucht umgekehrt.

Suko Susakos Gedanken wurden unterbrochen, als zwei Technos, zwei Besatzungsmitglieder des Überschallliners, laut Abzeichen an der Flugkombination Mitglieder des „Technik-Intelligenz-Korps“ des „Welt-Stratos-Air-Dienstes“, mit nur mühsam verborgener Hast durch die Passagierkabine eilten und durch eine Druckschleuse in den Gang zur rechten Flügelsektion verschwanden. Gleich danach klang das leise, summende Heulen der Triebwerke durch die Lärmisolierung der Kabine, das stets nach dem Eintritt in den Unterschallbereich hörbar wurde und der Landung vorausging, da das Flugzeug nun im Schall blieb. Suko Susako sah auf die Uhr. Bis zur Abstiegszeit waren es noch vier Minuten und bis zur fahrplanmäßigen Landung auf dem Flughafen von Kanhong sogar noch neun Minuten. Soweit er sich in der Luftfahrt auskannte, erfolgte der Eintritt in den Unterschallbereich zu früh. Er sah rasch zum Fenster hinaus und entdeckte, dass das Wattegebirge schnell näher kam. Der Air-Liner glitt in einem verdächtig steilen Schrägflug auf die blendend weiße Brodellandschaft der Wolken zu. Suko Susakos Blick suchte die hintere Flügelkante. Er musste den Kopf weit nach hinten drehen und scharf hinsehen. Sein für Triebwerksgase geschulter Blick ließ ihn sofort erkennen, dass drei der Turbinen ausgesetzt hatten.

Es war nicht einmal ein Schreck, der ihn packte, denn der griff erst später nach ihm. Seine erste Regung war, gewohnheitsmäßig unter den Sitz nach dem Fallschirmpaket zu greifen. Aber dort lag nichts. Ein Passagierflugzeug führte keine individuellen Rettungsmittel mit. Man konnte von Glück sagen, dass dieser Flugzeugtyp mit seinen tellerförmigen Flügeln genug Gleitfläche hatte, um in der dünnen Luft seiner immer noch beachtlichen Flughöhe nicht gleich wie ein Stein in die Tiefe zu gehen.

„Hier Kommandant!“, knallte eine laute Stimme aus den Lautsprechern. „Unser Flugzeug hat Triebwerksschaden. Versuchen Notwasserung. Niemand verlässt seinen Platz. An den Triebwerken wird gearbeitet. Ende!“

In diesem Augenblick schossen an allen Sitzen durchsichtige Plastiksäcke hervor, blähten sich auf und pressten sich von allen Seiten an die Passagiere. Vereinzelt schnellten in der langen Kabine die Arme erschrockener Frauen und Männer hoch. Aber wer aufspringen wollte, wurde von der harten Druckluft in den Abfangkissen, die den Aufprall bei einer Notlandung milderten, festgehalten. Die Stewardessen eilten durch den Gang und stopften den über zweihundert Passagieren Stoikerpillen in den Mund.

Suko Susako war schon bei den ersten Sätzen aufgesprungen. Er war eben noch dem Zugriff der Prallkissen entgangen. Mit ein paar langen Sprüngen lief er den Gang entlang zur Schleuse, durch die vor einigen Augenblicken die beiden Bordingenieure verschwunden waren. In der Schleuse riss er eine Atemmaske aus einem der Fächer, nahm sich aber nicht mehr die Zeit, in einen der Schutzanzüge zu steigen.

Der Laufsteg in der Flügelsektion bot genug Platz, aufrecht zu gehen. Lampen verbreiteten auch genügend Helligkeit, sodass er schnell die Stelle fand, wo die beiden Bordingenieure zwischen den Flügelspanten wie rasend arbeiteten. Sie blickten nicht einmal auf, wer ihnen zu Hilfe kam. Es genügte ihnen zu sehen, dass noch ein paar fachkundige Hände entschlossen zugriffen. Mit zugerufenen halben Worten verständigten sie sich.

Eine der Haupttreibstoffleitungen war undicht geworden, und an der Reserveleitung war gleich nach dem Umschalten die Kreiselpumpe ausgefallen.

„Woher?“, fragte der eine der Ingenieure.

„Raumflotte“, antwortete Suko Susako kurz, während er sich mit einer Hand gegen den Schraubenschlüssel stemmte und mit der anderen Halt suchend eine Strebe umklammert hielt.

„Ah, so, gewissermaßen unser großer Bruder.“

Der Boden unter ihren Füßen wurde bedenklich schief. Sie fühlten, wie der Pilot in kurzen Abständen versuchte, einen weniger schrägen Gleitflug zu erreichen. Aber jedes Mal sackte der Air-Liner weg, als wäre er in ein Luftloch geraten. Suko Susako überlegte rasch, wie hoch sie noch sein mochten. Ein paar Tausend Meter waren es sicherlich noch immer.

„Wird's halten?“, fragte der eine.

„Vielleicht“, hörte Susako die Antwort.

„Aber doch wenigstens bis zur Wasserung?“

„Du kannst ja hierbleiben und den Daumen drauflegen. Vielleicht dichtet's dann besser.“

„Ob wir an die Küste gelangen?“

„Wir müssen, sonst gehen wir auf Grund, bevor Hilfe da ist.“

Endlich war die Leitung abgedichtet.

„Nun aber schnell zurück, Raumfahrer, zwischen die Luftkissen, sonst bist du schneller im Himmel, als geplant.“

Sie hatten sich inzwischen den Laufsteg entlanggehangelt und passierten die Druckschleuse. In der Passagierkabine waren die Köpfe der Flugreisenden von dicken Pressluftkissen abgedeckt worden. Es sah aus, als wären die Leute in eine lange Eisbarriere eingeschmolzen worden. Suko Susako rutschte mit den beiden Ingenieuren den Gang hinab nach vorn zur Pilotenkanzel. Unterwegs gelang ihm ein Blick durch ein Fenster. Zu beiden Seiten flankten Wolkentürme vorbei. Man hatte höchstens noch achthundert Meter Luft unter dem Rumpf. Susako besann sich und packte die erste beste Sessellehne. Was will ich Esel in der Bugkanzel, schimpfte er sich aus. Dort war er am meisten gefährdet. Von dort wuchtete bei solchen Unfällen meistens das Armaturenbrett bis an den Passagierraum heran. Hier im Gang waren seine Überlebenschancen etwas größer. Zwei Sitze weiter hielt sich eine der Stewardessen mit bleichem Gesicht krampfhaft an einer Griffschlaufe fest. Sie tat ihm leid. So aussichtslos war die Situation nicht. Susako machte ihr ein beschwichtigendes Zeichen. Dann füllten sich auch im Gang die Pressluftkissen und hielten ihn und die Stewardess fest.

Die Maschine durchstieß in steilem Gleitflug die Wolkendecke. Unter ihnen huschte die Küstenlinie hinweg, und eine breite Flussmündung tat sich auf. Susako konnte sehen, wie heraufgeschossene Warnlichter rotes Feuer sprühten. Mit diesen Warngeschossen, die dann zerplatzten und deren Sprühlicht an Fallschirmen hing, pflegte man die voraussichtliche Absturzstelle ferngesteuerter Postraketen zu kennzeichnen, wenn sie außer Kontrolle gerieten und noch über dem Meer zerstört werden mussten. Auf dem Wasser schien schon ein schmaler Streifen geräumt zu sein. Obwohl die Boote und Schiffe mit hoher Fahrt den Ufern zustrebten, sah es aus dieser Höhe aus, als klebten sie unbeweglich auf ihrem Platz.

Erst jetzt, als die Maschine mit im Luftstrom pfeifenden Tragflächenkanten zum Sturzflug überging, packte Suko Susako kaltes Entsetzen. Er nahm nicht mehr wahr, dass alle Triebwerke, auch die ausgefallenen, aufheulten und sich der Air- Liner noch einmal aufrichtete. Er sah nur die schon greifbar nahe Wasserfläche und eine schrecklich hohe Brücke, die wie aus dem Nichts voraus auftauchte und mit ihren festen Pfeilern und den Konstruktionsbögen im Wege lag. Die ohnmächtige Tatenlosigkeit, zu der ihn die Pressluftpolster zwangen, machte ihn rasend, und er fühlte, wie durch seinen Körper eine eiskalt lähmende Todesfurcht peitschte.