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Dieses Buch analysiert Spezifität und Funktion der Krebsmetaphorik im national-sozialistischen Diskurs. Es verfolgt dabei zwei Ziele: 1. einen Beitrag zum Verständnis der NS-Ideologie und deren Biologismus/Organizismus zu leisten, 2. ein NS-Krebskonzept zu ermitteln, welches, so die Arbeitshypothese, in der Krebsmetaphorik aufgespeichert ist. Ein solches Konzept kann als Rahmendogma krebstherapeutischen Handelns im "Dritten Reich" gelten. Es wird an ausgewählten Kapiteln der NS-Krebsmedizin (von "Naturheilkunde" bis "Krebserreger") als deren Bindeglied diskutiert und zu bewähren versucht. Zugleich wird es mit medizinimmanenten Theoriebildungen zur Ätiologie der Krebskrankheit kontrastiert und abgeglichen. Auf diese Weise wird ärztlichem Handeln im "Dritten Reich" sein in der Medizingeschichtsschreibung gemeinhin vernachlässigter soziokultureller Kontext zurückgewonnen. Die Metaphernanalyse vermittelt natur- und kulturwissenschaftliche Perspektive und zeichnet sich damit als ein interdisziplinäres Unternehmen aus (Onkologie, Medizingeschichte, Philologie, Philosophie).
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Seitenzahl: 2071
Meinen Eltern
Those who cannot remember the past are condemned to repeat it.
George Santayana (1863-1952),
„The life of reason or the phases of human progress“
Vorwort
Eine Begegnung von medizinhistorischer Bedeutung
Krebs – Wissenschaft – Ideologie oder: Medizingeschichte als Provokation
Einladung zur „Euthanasie“
Leitfragen zur Krebsmedizin im „Dritten Reich“
Medizin und Kulturgeschichte
Ideologie und Letztbegründung
„Historische Formung“ oder: Wie ist Geschichte als Wissenschaft „möglich“?
„Geschichte als Text“
Reflexion I: Krebsmetapher – Krebskonzept – Krebstherapie
Krebs kontrovers – Theorien der Geschwulstentstehung im Zeichen des Richtungsstreits „Hippokrates oder Virchow?“
Krebsdefinition und Ideologie
Josef Lartschneiders „artgemäße“ Blastemlehre
Heilung durch Krankheit? (Krebs und Malaria, Tuberkulose, Syphilis, Erysipel)
Virchow im „Dritten Reich“
Zellfreie Krebserzeugung? (Gustav Klein, Peyton Rous, Max Borst)
Infektionstheorie der Geschwulstentstehung (Lothar Heidenhain, Ferdinand Blumenthal)
Reiztheorie der Geschwulstentstehung und lokale Krebsbereitschaft
„Geschwulstkeimanlagen“ (Julius Cohnheim, Hugo Ribbert)
„Zwei-Faktoren-Theorie“: Determination und Realisation
Krebs und Vererbung (Mäusezucht, Stammbaumanalyse, Zwillingsforschung)
Sterilisierung Krebskranker? Meldepflicht für Krebskranke?
„Zwei-Faktoren-Theorie“: Basismodell der Kanzerogenese
exogener Lokalfaktor + exogener Allgemeinfaktor (Bernhard Fischer-Wasels)
exogener Lokalfaktor + endogener Lokalfaktor
exogener Lokalfaktor + endogener Allgemeinfaktor
endogener Lokalfaktor + exogener Allgemeinfaktor
Mutationstheorie der Geschwulstentstehung
Krebs – primär lokale oder primär allgemeine Erkrankung?
Reflexion II: Krebsmetapher – Krebskonzept – Krebstherapie
„Krebs“ als Bildempfänger und Bildspender – ein Begriff im Kontext seiner Konnotationen
Das Eigenrecht nichtmedizinischer Krebstheorien
Soziokulturelle Basisvorstellungen und Deutungsmuster („Krebs“ als Bildempfänger)
Vergleich, Analogie, Metapher
Etymologisches oder: Krebskrankheit und Krebstier
Wider Metaphernverbote
Metapher und Stereotyp
Rezeption als Produktion und die Wirkung von Propaganda
Metaphorische Rekursivität
„Krebs“ als Bildspender
Ambivalenz der Krebsmetapher
Funktion der Krebsmetapher
Terrorismus als „Krebsgeschwür“ – lokale oder systemische „Therapie“?
Reflexion III: Krebsmetapher – Krebskonzept – Krebstherapie
NS-Ideologie und „jüdisches Krebsgeschwür“
„Antisemitische Krebsmetapher“ und NS-Diskurs
„Völkische“ Traditionslinien
Von Antijudaismus bis Antizionismus
„Jüdischer Antisemitismus“
Die Juden als „Rasse“ und „Gegenrasse“
Jüdische Nase oder jüdische Seele?
Kein NS-Monopol auf Krebsmetapher
„Diskursrealität“ und „Epochenparadigma“
„Gleichschaltung“ der Diskurse
Ambivalenz der „antisemitischen Krebsmetapher“
Strategien der Stereotypenbildung
Basismetapher „Organismus“
„Jüdische Zersetzungstätigkeit“
„Überspitzter Intellektualismus“ und „jüdischer Geist“
Nationalsozialismus und Organizismus
„Völkischer Staat“ und „Zellenstaat“
„Totaler Staat“ und „Termitenwahn“
Organismus oder Maschine?
Das Heer als „organisierter Organismus“
„Nationaler Sozialismus“ genuin rassistisch
„Krebs“ und „Jude“ oder: Integration durch Feindbilder
Gleichnis wird Gleichung oder: Identifikation von Bildspender und Bildempfänger
Ambivalenz der Organismusmetapher
Krebskranke Nazis
„Jüdische Krankheiten“
„Tumorrasse“ oder jüdische Krebsresistenz?
Wilhelm Hildebrandts „Bastardpathologie“ oder: „Rassenmischung“ und Krebs
Krebs als „Zellbastard“
Pro und kontra „Bastardhypothese“
Der „Pudelmopsdackelpinscher“ oder: Verwechslung von Rasse- und Artbegriff
Kritik der NS-Rassenideologie („Reinrassigkeit“, „Bastardierung“, „Entmischung“)
„Rasse“ als Integral der NS-Ideologie oder: Dem Ideologieverdacht entrinnen
Reflexion IV: Krebsmetapher – Krebskonzept – Krebstherapie
Das NS-Krebskonzept als Rahmendogma für therapeutisches Handeln im „Dritten Reich“
Hitler als „Arzt des deutschen Volkes“
Chirurgische oder internistische „Therapie“? [I]
„Vernichten“ und „ausrotten“ – bloß Metaphern?
Intentionalisten versus Funktionalisten oder: Die Historiker und der Holocaust
„Juda muß sterben!“
Synthese von Intentionalismus und Funktionalismus
Chirurgische oder internistische „Therapie“? [II]
Entflechtung von medizinischem und politischem Diskurs
Reflexion V: Krebsmetapher – Krebskonzept – Krebstherapie
„Krebs“, „Parasit“, „Jude“ oder: antisemitischer Syllogismus
Das NS-Krebskonzept oder: Krebs als „primäre Allgemeinerkrankung“
„Krebsdyskrasie“ und Allgemeinbehandlung
Das Krebskonzept der Naturheilkunde
Krankheit als Selbstheilungsversuch des Organismus
„Innerer Arzt“ und „äußerer Arzt“
Krankheitsursache und „Bedeutungsdiagnose“
Die Krebskrankheit und ihr „biologischer Sinn“
Krankheit versus Leiden
Naturärztliche Krebstherapie: Unspezifische Allgemeinbehandlung
Schulmedizin und „Krebskonstitution“
Spezifische Allgemeinsymptome der Krebskrankheit und Immuntherapie
Kritik spezifischer Allgemeinbehandlung des Krebses
Kritik des Konzepts „Krebs als primäre Allgemeinerkrankung“
Lokale oder systemische Therapie des Krebses?
Primat systemischer Therapie (Naturheilkunde)
Kombination lokaler und systemischer Therapie (Schulmedizin, Naturheilkunde)
Primat lokaler Therapie (Schulmedizin)
Lokale Monotherapie (Schulmedizin)
Zur „Allgemeinwirkung“ von Operation und Bestrahlung
NS-Krebstherapie als Kombinationstherapie
Krebstherapie und „Neue Deutsche Heilkunde“
Allgemeine Pathologie als „Synthese“ von Naturheilkunde und Schulmedizin
„Tag-“ und „Nachtseite“ der NS-Krebsmedizin [I]
„Fichera 365“ oder: Deutschland und Italien besiegen den Krebs
Naturärztliche Krebstherapie – von „Friedrich Wolf“ bis „Rudolf-Heß-Krankenhaus“
Julius Streicher und der Krebserreger „Siphonospora polymorpha“
Heilpraktikergesetz und Krebstherapie
Vergeblicher Ruf nach einem „Krebsgesetz“
;
„Tag-“ und „Nachtseite“ der NS-Medizin [II]
Naturheilkunde und Nationalsozialismus
Ganzheitskonzept und Antiindividualismus
Primat des „Volkskörpers“
„Neue Deutsche Heilkunde“ und „Rassenhygiene“
Die „Nachtseite“ naturheilkundlicher Krebstherapie („NS-Naturheilkunde“)
Schulmedizin und Nationalsozialismus
Heilen und Vernichten („NS-Schulmedizin“)
Krebskrankheit und Menschenversuche
„Euthanasie“ Krebskranker? („Aktion T4“, „Aktion Brandt“, „Sterbehilfe“ im KZ)
Epilog: Die Grenzen der Menschlichkeit
Literaturverzeichnis
Abbildungen
Abstract
Lebenslauf
Endnoten
Ein posthumes Gespräch und eine Würdigung der medizinjournalistischen Arbeit von Dr. Markus Weber.
Es muss wohl Mitte der 90er Jahre des vorigen Jahrhunderts gewesen sein, dass ich mit Markus Weber in Kontakt kam. Er war damals nach dem Studium der Deutschen Philologie, der Romanischen Philologie und Philosophie als Redakteur bei verschieden Verlagen tätig um, dort aktuelle medizinische Themen zu bearbeiten; sicher eine Einnahmequelle um als junger Journalist seinen Lebensunterhalt zu verdienen, aber intellektuell völlig unterfordert als eine journalistische Persönlichkeit mit Ehrgeiz, die bei den Professoren Ulrich Wienbruch, Wilhelm Voßkamp, Werner Keller und Edgar Mass in Köln studierte.
Es überraschte mich, dass er mich eines Tages anrief und um fachlichen Rat fragte – zu diesem oder jenem trivialen Thema in der gesundheitlichen Boulevardaufklärung. Im Gespräch mit Markus Weber fiel mir sofort auf, hinter diesem werdenden Journalisten steckt weit mehr, als es für den gemeinen Boulevardleser notwendig war, um ein medizinisches Thema auf einem sehr reduzierten Niveau abhandeln zu müssen.
Dies ist keine Kritik – jeder beginnt dort, wo er kann – sondern es ist eine Feststellung und es war eben damals nicht so leicht im Journalismus, wollte man sein ehrliches Gesicht bewahren, den Lebensunterhalt zu verdienen.
Markus Weber machte eben in dieser Zeit das Beste, was er konnte, journalistisch gut zu arbeiten.
Als Hochschullehrer interessierte mich seine Persönlichkeit und deshalb hielt ich mit Markus Weber einen lockeren Kontakt im Austausch zu medizinisch relevanten Themen, die damals einen bestimmten Mitteilungswert in der Boulevardpresse hatten. Das genügte mir aber nicht und ich dachte, in Markus Weber kann man ein Flämmchen anzünden, das ein journalistisches Fass zum Brennen bringt.
Ich sollte nicht enttäuscht werden.
In unverbindlichen und lockeren Gesprächen dachten wir nach, welche Themen wir in unser beiden Expertise begründet, bearbeiten könnten, die damals gesellschaftspolitisch noch sehr vernachlässigt waren, aber eine historische Bedeutung haben.
Als Arzt und Immunologe stellte ich immer wieder fest, dass eine große Zurückhaltung in Teilen der Ärzteschaft und bei den Organen der ärztlichen Selbstverwaltung bestand, die Verstrickungen der Ärzte und der Standesorganisationen im verbrecherischen NS-Regime historisch aufzuarbeiten.
Nur wenig profunde Literatur – vor allem deutschsprachig – war damals vorhanden, und nur aus einigen verborgenen Ecken heraus wagten Autoren und letzte Zeitzeugen jene retrograden Amnesien aufzuzeigen, die Ärzte, Professoren und Ordinarien sowie Ärztefunktionäre nach 1945 befallen hatten, um wieder in ihre Ämter – entnazifiziert – zurückkehren zu können. Den Selbstverwaltungskörperschaften der deutschen Ärzteschaft konnte man in den 80-iger und 90-iger Jahren noch den berechtigten Vorwurf machen, dass sie sich nicht oder nicht ausreichend mit den Ereignissen in den Jahren 1933 bis 1945 und auch später noch beschäftigt haben. Es ist nicht zu leugnen, dass Ansätze dazu immer mal vorhanden waren, aber welche Interessenskonflikte die nähere Beschäftigung damit verhindert haben, bleibt auch heute noch dubios.
Ich schlug Markus Weber vor, dass wir uns auch nach 60 Jahren mit den Irrungen, Wirrungen und Verbrechen in Teilen der Ärzteschaft und der Standesorganisationen im NS-Regime befassen sollten – mit besonderer Referenz zur Immunologie und Onkologie.
Wir diskutierten heftig darum, sind wir dazu geschichtlich und gesellschaftspolitisch legitimiert und kamen immer wieder zu dem Punkt und zur Frage, wer denn sonst als wir, die wir unbelastet als kritische Akademiker uns den geschichtlichen Fragen nähern konnten.
Es ging nicht um Anklage und Schuldfragen, das sollte schon hinreichend und notwendig im Nürnberger Ärzteprozess abgearbeitet worden sein – aber leider dort nur sehr unzureichend, weil eine geschickte Unterscheidung zwischen dem Arzt als Patientenbetreuer und dem Arzt in seiner Neugier zur Forschung so manches Verbrechen verdeckt hat.
Es ging uns darum verstehen zu lernen, warum Teile einer Ärzteschaft und einer ärztlichen Selbstverwaltung für einen verbrecherischen Staat instrumentalisiert werden konnten.
Wir wendeten das Traktat von Friedrich Nietzsche „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“ für unsere mögliche Legitimation daran zu arbeiten von unten nach oben, von einer Seite zur anderen Seite: „Denn da wir nun mal die Resultate früherer Geschlechter sind, sind wir auch die Resultate ihrer Verwirrungen, Leidenschaften und Irrtümer, ja Verbrechen; es ist nicht möglich sich ganz von dieser Kette lösen. Wenn wir jene Verirrungen verurteilen und uns ihrer für enthoben erachten, so ist die Tatsache nicht beseitigt, dass wir aus ihnen herstammen“ (Zitat).
Markus Weber, als Sprachwissenschaftler und Philosoph hatte aber den Mut, sich aus dieser Kette zu lösen, um mit meiner bescheidenen Hilfe aus den Naturwissenschaften – hier Immunologie und Onkologie – eine umfassende Dokumentation vorzulegen, die bis heute auf diesem speziellen Gebiet der Medizin im Hinblick auf die Machenschaften im „Dritten Reich“ noch die führende medizinhistorische Aufarbeitung ist – von vielen gelesen, aber auch von manchen ignoriert.
Markus Weber stellte seine Dokumentation unter ein Wort von Georg Santayana (1863 – 1952): „Those who cannot remember the past are condemned to repeat it“. Aus: „The life of reason of the phases of human progress“.
Markus Weber war es auch in seiner journalistischen Arbeit immer wichtig, über das zu schreiben, was sich nicht mehr schuldhaft wiederholen darf, die bösartige Einmaligkeit darf keine Zweimaligkeit in keiner Generation mehr finden – in keiner Ärztegeneration und ärztlichen Selbstverwaltung.
Der Titel seiner Dissertationsschrift ist sein mahnendes Vermächtnis:
„Krebsmetaphorik und NS-Ideologie:
Propädeutik zur Geschichte krebstherapeutischen Handelns im „Dritten Reich“
Markus Weber führte für seine Dokumentation – ungewöhnlich im Journalismus – das Wort „Propädeutik“ bewusst im Titel ein. Die Dokumentation sollte logisch und semantisch auf das Unrecht medizinischen Handelns im „Dritten Reich“ hinführen und dem Leser, der Leserin überlassen, welche Erkenntnisse und Denkfiguren er/sie ableiten können oder wollen.
Markus Weber und auch mir war es während der langen Arbeit immer klar, wir ernten erstmal wenig Dank, vielmehr Ignoranz und selbstherrliches Verleugnen. Das war auch der Grund, neben der notwendigen wissenschaftlichen Redlichkeit, hier ein fein recherchiertes und ziseliertes Schriftwerk zu verfassen, das eine große Kritikimmunität aufweist – so konnten in gemeinsamen Besuchen in Archiven, z.B. in Argentinien (National Academy of Sciences, Buenos Aires) so manches Dokument gefunden werden, das bedeutende Aussagen zum Geschehen im Nationalsozialismus aufgezeigt hat.
Markus Weber konnte die Informationen zu einem Wissen gestalten – mit Recht zum Dr. Markus Weber!
Viel Zeit und Herzblut ist in dieses, sein Werk geflossen. Oft blättere ich noch in dem unvollkommenen Manuskript, das ich in Etappen lesen durfte, musste und mit Anmerkungen versehen habe. Ich frage ihn heute noch, wann er neben seiner Arbeit, den Lebensunterhalt zu verdienen, diese Niederschrift mit allen Feinnuancen der unzähligen Anmerkungen, Randnotizen und Zitate verfasst hat. Ich frage ihn mit welchen Visionen er erahnt hat, dass die Literatur zu den NS-Verbrechen von Teilen der deutschen Ärzteschaft anwachsen wird und seine Ausführungen dazu einen wissenschaftlichen, gesellschaftspolitischen, soziologischen und standespolitischen Impuls gegeben haben werden – immer unter dem Aspekt der Propädeutik, des Hinführens zum Verstehen und nicht des Verurteilens im Sinne einer Persönlichkeitsspaltung der Handelnden, die sich in zwei Funktionen in einer Person gefunden haben: dem Arzt als fürsorglichen Bürger, Patienten- und Familienvater und dem Arzt als neugierigen Forscher ohne Grenzen, eben durch keine Ethik begrenzt, vermeintlich aber alles tun zu dürfen, um Krankheiten zu bekämpfen, weil es das Regime so wollte.
Hier kommt erneut eine Weitsicht von Markus Weber hinsichtlich der medizinischen Forschung ins Spiel – sind wir heute nicht wieder an einem Punkt medizinischer Forschung angelangt, wo reich gegen arm, wissend gegen unwissend, mächtig gegen ohnmächtig ausgespielt wird. Hier ist das Wort „Spiel“ in seiner Etymologie voll angebracht – betreiben wir nicht, wie es sich in COVID-19 Zeiten abbildet, gewinnbringende globale Tanzbewegungen, die den Mächtigen in ihrer pharmakologischen und medizinischen Determinationsmacht kapitalistisches Vergnügen bringen?
Gerade das wollte und will er, wenn ich Dr. Markus Weber über seinen Tod hinaus richtig verstanden habe, mit dieser Dokumentation betonen: so – nie wieder! Es gibt für den Menschen in seiner Not und seinem Leid keine Triage – es gibt nur die Barmherzigkeit der helfenden Hand. Die hat Dr. Markus Weber mit seiner Dokumentation mahnend uns ans Herz gelegt – wir sind ihm schuldig, diese Mahnung aus den, aus seinen Lehren zur Medizin im „Dritten Reich“ als ein Vermächtnis zu ertragen und müssen dort die Stimme erheben, wo es gilt, den Anfängen gesundheitspolitischen Irrungen und Verwirrungen entgegenzutreten.
Diese Dokumentation hat Dr. Markus Weber aber vor allem auch im Gedenken an die vielen Ärzte und Ärztinnen verfasst, die aufrichtig waren, der Staatsgewalt Widerstand geleitstet haben und oft dafür mit Leib und Leben büßen mussten.
Dr. Markus Weber bleibt mit seiner Dissertationsschrift ein begleitender Gesprächspartner über seine Daseinszeit hinaus – scharfsinnig, logisch, investigativ, aber auch gütig und zuhörend was der/die Andere zu sagen hat – er/sie könnte ja auch recht haben.
Ist es vermessen, ja, es ist vermessen, aber dennoch wage ich es zu schreiben, die Dokumentation von Dr. Markus Weber könnte sich gut als Ergänzung in die Betrachtungen zu Krankheit und Gesundheit von Hans-Georg Gadamer einreihen. Beide haben an unterschiedlichen Beispielen – und unterschiedlicher könnten die Beispiele nicht sein – die Ambivalenz der wissenschaftlichen Medizin und der ärztlichen Heilkunst, ausgerichtet auf das Ganze, beschrieben. Nur beide meinten mit dem „Ganzen“ nicht das Primat eines nationalsozialistischen Volkskörpers, sondern sehen den Menschen, das Humane, der in seiner Krankheit aus dem „Heil(-igen)“ gefallen ist und dorthin wieder heilsam zurückkehren möchte.
Nie wieder darf es geschehen, dass Teile einer Ärzteschaft und deren Selbstverwaltung willfährige Komplizen von Verbrechen gegen die Menschlichkeit werden, weil es ein Regime zulässt – Dr. Markus Weber hat es nachfolgenden Generationen mahnend auferlegt .
Lernen wir zu lesen, hören wir die Botschaft und bleiben mit Dr. Markus Weber über seinen Tod hinaus im gesprächsbereiten Gedenken – im Sommer/August 2020 und noch viele Sommermonate über jenen traurigen August 2019 hinaus.
Univ.-Prof. (em.) Kurt S. Zänker
Frauenklinik der Universität Tübingen, Herbst 19411: Klinikchef Prof. Dr. med.2 August Mayer (1876-1968) soll Herr über Leben und Tod spielen – er wird gebeten, „Sterbehilfe“ für eine Krebskranke, die bis dahin nicht zu seinen Patientinnen zählte, zu leisten. Eine „Ärztin aus der heutigen Ostzone“3, erinnert sich der Gynäkologe ein Vierteljahrhundert später an dieses „eindrucksvolle( ) Erlebnis“, „brachte mir [...] ihre an weit fortgeschrittenem, jauchendem4 Kollumkarzinom (Gebärmutterhalskrebs, M. W.) leidende Mutter nach Tübingen mit der Bitte, sie zu operieren, damit sie an der (infolge Aszites5, M. W.) höchstwahrscheinlich auftretenden postoperativen Peritonitis (= Bauchfellentzündung, M. W.) sterbe6 und damit vom ,wertlosen Leben‘ erlöst sei! [...] Die Wertlosigkeit des Lebens ihrer Mutter begründete die Ärztin mit dem fortgeschrittenen, unheilbaren Kollumkarzinom, mit Siechtum und Hilfsbedürftigkeit. Daher hielt sie sich für berechtigt, eine Art Todesurteil über ihre Mutter auszusprechen, und ich war zum Vollstrecker oder „Scharfrichter“ ausersehen. [...] In schreiendem Gegensatz zur Ansicht der ärztlichen Tochter hatte die Mutter mich flehentlich gebeten, alles zu tun, um ihr Leben zu verlängern: Als Bezieherin einer Rente konnte sie ihrer 17jährigen7 zweiten Tochter noch eine Berufsausbildung geben und war als Mutter gerne bereit, ein qualvolles Leiden auf sich zu nehmen, um dem jüngeren Kind den Weg ins Leben zu erleichtern. Angesichts dieser hohen Mütterlichkeit sank die ärztliche Tochter noch mehr in meiner Achtung, als es schon vorher der Fall war. Mit Hilfe von Radium und Röntgenstrahlen gelang es mir, das Leben der Mutter noch um eine Anzahl von Jahren zu verlängern.“ (Mayer [1966], S. 786).
Eine verstörende Episode8, die herausfordert zu ergründen, wie das Geschilderte „möglich“ war, d.h. vor welchem geschichtlichen Hintergrund es sich ereignete. Die Szenerie weiter auszuleuchten, bieten sich zu allererst die beteiligten Personen an. Da weder die krebskranke Mutter noch die ihr das Lebensrecht absprechende Tochter persönlich identifizierbar sind, gilt die Aufmerksamkeit dem Arzt August Mayer. Darf man dem flammenden Katholiken9 seine Empörung über diese „Zumutung an mich“ (Mayer [1966], S. 786) und seine „schwere Mißbilligung“ (ebd.) ohne weiteres abnehmen? War er wirklich „im höchsten Maße überrascht“ (ebd.), dass die ärztliche Kollegin ausgerechnet ihn bat, das Leben der krebskranken Mutter abzukürzen, und deswegen den weiten Weg vom Sachsenins Schwabenland auf sich genommen hatte? Konfrontiert man Mayers Erinnerung an das Jahr 1941 mit eigenen Äußerungen aus derselben Zeit, bekommt das von ihm nachträglich gezeichnete Bild Risse. Mayer bekennt, dass er der „unter den Qualen ihres Karzinoms schwer leidende(n) Frau [...] Erlösung vom Leben gewünscht hätte“, doch sie selbst habe ihn „eindringlich“ gebeten, „alles zur Verlängerung ihres Lebens zu tun“ (Mayer [1941], S. 27).10 Die Schilderung ist eingebettet in eine allgemeine Reflexion Mayers über die „Vernichtung von lebensunwertem Leben“. Dieser „Gedanke“ erschien ihm „verlockend [...] vom rein rationalen Standpunkt“ (ebd., S. 26), ohne dass der Tübinger Gynäkologe diesen Standpunkt begründet. An anderer Stelle spricht er beiläufig vom „Interesse der Allgemeinheit“, hat aber dann vorrangig die leidenden Patienten im Blick, deren „körperliche Qual durch die Schmerzen“ sie nach Erlösung verlangen lasse. Zugleich meldet Mayer „ernste Bedenken“ (ebd., S. 27) an, dem behandelnden Arzt „die Feststellung, daß das Leben lebensunwert ist, und [...] die Durchführung der Lebensvernichtung“ (ebd., S. 26) aufzubürden: „Die Vollstreckung des Urteils [...] würde das Vertrauen der Kranken zu den Ärzten und Krankenhäusern wohl sehr stark beeinträchtigen.“ Auch wenn manche Krebskranke „ihr Todesurteil selbst aussprechen“, widerstreite die „Erlösung vom Leben“ dem „tiefsten Sinn unserer Sendung. Diese ist: ,Leben erhalten‘, nicht: ,Leben zerstören‘“. Zudem geht Mayer davon aus, die allermeisten Kranken würden bei entsprechender Bedenkfrist in ihrem Entschluss wankend und zögen ihren „Antrag zur Lebensvernichtung“ zurück, zeigten nicht „die zum konsequenten Durchhalten nötige Seelengröße“ (ebd., S. 27). So überwiegen bei Mayer die Kontra-Argumente, auch wenn er sich nicht zu einem klaren Nein zur „Euthanasie“ durchringt, sondern die vagere Formulierung „problematisch“ (ebd., S. 26) bevorzugt.
Dem Verfasser ist keine Quelle bekannt, wonach Mayer ausdrücklich für „therapeutisches Töten“11 – eben dies wurde von ihm verlangt – plädiert hätte, noch ein Dokument, das geeignet wäre, ihn persönlich der sogenannten Euthanasie zu bezichtigen. Trotzdem kann kaum verwundern, dass man sich in diesem Belang an ihn wandte. Schließlich stand der Tübinger Gynäkologe im Ruf eines politischen Mediziners12 – und das nicht erst zu Zeiten des „Dritten Reiches“13. So hatte Mayer, Jahre bevor am 1. Januar 1934 das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ in Kraft trat, ein Sterilisierungsgesetz insbesondere zu eugenischen14 Zwecken gefordert15 und, ohne dessen Verabschiedung abzuwarten, eigene Patienten operativ sterilisiert und Abtreibungen vorgenommen (Brändle [1982], S. 151).16 Dass Mayer die „Vernichtung werdenden Lebens“ (Wuttke [1984], S. 146) entschieden ablehnte, sobald der Paragraph 218, soziale Indikation, im Spiel war17, gerät zu seiner „medizinischen“ Abtreibungspraxis nur scheinbar in Widerspruch. Die „Fortpflanzung von Minderwertigen“ (Mayer [1936], S. 953) war kompromisslos zu unterbinden, nach versäumter Sterilisierung eben während der Schwangerschaft.18 Schutz verdiente allein die Leibesfrucht „erbgesunder“ Eltern, die Mayer in der Pflicht sah, dem deutschen Volk Nachwuchs zu schenken; andernfalls drohe „furchtbare Selbstentvölkerung“ (Universitätsarchiv Tübingen 150/1: Zwölfseitiges Schreibmaschinenmanuskript ohne Titel vom 15. 1. 1943, S. 6).
Als die Nationalsozialisten schließlich regierten, preschte der „Tübinger Faschist“19 weiter vor, als erwünscht war. Mayer machte sich im September 1935 dafür stark, die Zwangssterilisierung von Behinderten und Geisteskranken zu zentralisieren, und regte an, zu diesem Zweck in ausgedienten Gebäuden der Tübinger Frauenklinik, die er seit Januar 1918 leitete, eine „Erbgesundheitsklinik“ einzurichten. Im Berliner Reichsministerium des Innern fand man Mayers Vorschlag zu heikel. Ministerialdirektor Dr. med. Arthur Julius Gütt (1891-1949), ein überzeugter Nationalsozialist20, zog es vor, die Sterilisierungsmaßnahmen dezentral fortzusetzen, statt sie zu institutionalisieren, damit sie weiter öffentlicher Aufmerksamkeit entzogen blieben. Gütts Hauptargument: „(J)eder Todesfall21 wird in dieser Klinik voraussichtlich mehr Beachtung finden, als in einem allgemeinen Krankenhaus“.22
In der Bundesrepublik angekommen, schweigt sich Mayer in seinen rückblickenden Betrachtungen zur „Euthanasie“ über die selbstgewählte Rolle im „Dritten Reich“ aus. Er lenkt vom Diktum des „wertlosen Lebens“ ab und überblendet es mit dem Ethos der Barmherzigkeit: „Zur Begründung (des ‚Euthanasie‘wunsches, M. W.) gab die Ärztin (= die Tochter der Krebskranken, M. W.) an, ich sei weithin bekannt als ,besonders humaner Arzt‘ und deswegen habe sie geglaubt, daß ich am ehesten bereit sei, ihrer unheilbaren Mutter ,Sterbehilfe‘ zu leisten. Ich belehrte sie zunächst darüber, daß nach meiner Auffassung die Aufgabe des ,humanen Arztes‘ vor allem darin bestehe, ein vorhandenes Siechtum zu lindern, aber keinesfalls darin, die Kranken einfach umzubringen.“ (Mayer [1966], S. 786)
Wenn Mitleidsmotive vorschiebbar sind, um Krankenmorde zu rechtfertigen (nicht: Erlösung der Kranken, sondern: Erlösung von Kranken), erweist sich das Konzept „Humanität“ als zu labil, ärztliches Handeln auf eine ethisch verbindliche Norm festzulegen, da sowohl synchron (koexistente Diskurse23) als auch diachron (kultureller, gesellschaftlicher, politischer Wandel) unterschiedliche Auffassungen über das, was „human“ sei, konkurrieren bzw. einander ablösen. Mayer selbst führt das Beispiel an, in der Weimarer Republik hätten die „Abtreiber“ im „Volk“ als „die ,humanen‘“ Ärzte gegolten (Stichwort: soziale Indikation) – und zieht sie aus seiner Perspektive als inhuman wegen „verminderter Ehrfurcht vor dem keimenden Leben“ (Mayer [1965], S. 1294).24 Allenfalls die christliche Religion vermochte in unserem Kulturkreis das Humanum, indem sie es mit Glaubensgehalt auflud, begrifflich so zu stabilisieren, dass ihm etwas Zeitloses anhaftet. Eben diesen Effekt macht sich der Katholik Mayer in seiner Rückschau zunutze, um Distanz zum Nationalsozialismus zu suggerieren, obwohl er in „Dritten Reich“ noch „mit Recht an die ärztliche Ethik besondere Ansprüche“25 gestellt sah – und ihnen vielfach zu genügen bereit war.
Der Exkurs zu August Mayer, der hiermit beendet sei, hat die eingangs geschilderte Episode („Tochter bestimmt krebskranke Mutter zum vorgezogenen Sterben“) auf individualpsychologischer Ebene transparenter gemacht und zur Quellenkritik befähigt. Der Verfasser der vorgelegten Arbeit will Mayer jedoch als Kronzeugen für „Euthanasie“ nicht überstrapazieren. Zum einen gilt es, der „Gefahr der Überbewertung von Einzelbelegen“ zu entgehen (Gerhard Baader in: Institut für Zeitgeschichte [1988], S. 72), zum anderen ist an dieser Stelle der Untersuchung gar nicht beabsichtigt, Spekulationen über ärztliche Morde an Krebskranken im „Dritten Reich“ auf ihren Realitätsgehalt abzuklopfen (darüber Aufschluss gibt Kapitel 5 der vorgelegten Arbeit). Der initiale Fokus wird hier vielmehr auf die an Mayer ergangene „Einladung zur Euthanasie“ gerichtet, um zu fragen, welche geschichtlich-gesellschaftlichen Rahmenbedingungen einen derartigen Tabubruch ermöglichten, oder zutreffender: aufgrund welcher historischen Großwetterlage ein solches Ansinnen ohne die Empfindung, ein Tabu zu brechen, vorgetragen werden konnte. Es geht mit anderen Worten darum, die zur Rechtfertigung der „Euthanasie“ Krebskranker aufgebotenen zeitbedingten26 „Argumente“ zu ermitteln27 und zu problematisieren, wovon deren (intellektuelle und moralische) Anerkennung abhing28. Auf diese Fragen zu antworten, setzt voraus, zusätzliche Fragen zu stellen, welche den Wechselbeziehungen von (Krebs)medizin, Politik und Gesellschaft im „Dritten Reich“ gelten:
Was beinhaltet die Formel vom „wertlosen“ (geläufiger: „lebensunwerten“) Leben? Wie wird im „Dritten Reich“ ihre Anwendung auf Krebskranke gerechtfertigt, und wurden jene, die als „unheilbar“ galten, unter Missachtung des hippokratischen Eids
29
tatsächlich umgebracht?
Unter welchen Voraussetzungen wird seinerzeit bei Krebs die Prognose „unheilbar“ gestellt, und wie wird sie abgesichert?
Über welche therapeutischen Optionen, krebskranke Patienten zu heilen bzw. behandeln, verfügen Ärzte zu Zeiten des „Dritten Reiches“ überhaupt?
Welche Theorien über Ätiologie und Pathogenese der Krebskrankheit konkurrieren im „Dritten Reich“ miteinander, und in welchen therapeutischen Konzepten finden sie jeweils ihren Niederschlag? Wie unterscheiden sich diesbezüglich Schulmediziner von nicht-approbierten Therapeuten (Heilpraktikern, Laienbehandlern)?
Wie beeinflussen sich medizinische und außermedizinische Krebsdiskurse? Welchen Aufschluss gibt die nichtmedizinische Krebsmetaphorik über das vorwissenschaftliche Verständnis der Krebskrankheit insbesondere des Nationalsozialismus („NS-Krebskonzept“)? Und wie lässt sich mit Blick auf den Krebs die sogenannte NS-Medizin
30
näher charakterisieren bzw. was rechtfertigt die Rede vom Nazi-Arzt?
oder: Zur sozialen Konstruktion naturwissenschaftlicher Fakten“
Mit den zuletzt aufgeworfenen Fragen stößt die vorgelegte Arbeit unmittelbar ins Zentrum ihrer Aufgabenstellung vor, verweilt nicht, wie man meinen könnte, an der Peripherie. Ohne der NS-Ideologie geltende Analysen ermangelten nämlich Ausführungen zur Krebstherapie im „Dritten Reich“ ihrer Tiefenstruktur. Diese nicht auszuloten, liefe auf eine Verengung des Blickfeldes und die Isolierung des Gegenstandes aus dem Geflecht von Beziehungen hinaus, die erst eigentlich seine Historizität ausmachen. Die vorgelegte Arbeit macht es sich deshalb zur Hauptaufgabe, der Geschichte der Krebstherapie im „Dritten Reich“ die Propädeutik zu liefern, um daraufhin ausgewählte Kapitel der NS-Krebsmedizin im Lichte des NS-Krebskonzeptes zu interpretieren.
Die Ausklammerung außermedizinischer Kategorien (Kultur, Gesellschaft, Staat) mag methodisch sinnvoll erscheinen, wenn eine Bestandsaufnahme des „state of the art“ in der Krebstherapie für einen bestimmten Zeitabschnitt geleistet und medizinimmanent eine „Entwicklung“ skizziert werden soll, die aktuell ihren Abschluss gefunden hat.31 Ein solches Unternehmen, sollte es sich als historisch verstehen, ist jedoch höchst problematisch, weil ihm die Geschichte der Medizin unter der Hand zur Fortschrittsapologie32, ja zur Eschatologie gerät. Weil es im naturwissenschaftlichen Bewandtniszusammenhang immer nur eine Wahrheit gäbe, würde diese sich gegen menschliche Irrtümer, die sie verfälschten, in der Geschichte behaupten und irgendwann durchsetzen. Ebenso schwer wiegt, dass die Resultate einer medizinimmanenten Bestandsaufnahme des „state of the art“ mit sich vergrößerndem zeitlichem Abstand zur Gegenwart unweigerlich obsolet werden und nurmehr ein rein antiquarisches Interesse befriedigen, d.h. sich als historisch belanglos erweisen. Der Grund für dieses Defizit besteht darin, dass die Inhalte medizinischen Wissens abgelöst werden von den außermedizinischen Bedingungen ihres Erzeugtseins.33 Die methodische Prämisse, auszuklammern, was als naturwissenschaftlich irrelevant gilt, erscheint einer vermeintlichen Unabhängigkeit medizinischen Wissens von den kontingenten Faktoren seiner Hervorbringung geschuldet – ein Postulat, das unkritisch zur Gewissheit stilisiert wird. Gestützt wird diese Sicht durch den Rekurs auf die Faktizität des Naturzusammenhangs und seine zeitenthobenen Gesetze, was unweigerlich darauf hinausläuft, medizinisches Wissen zu enthistorisieren.34 Medizingeschichte erscheint in dieser Konsequenz als „nichts anderes als die Medizin selbst, (natur-) historisch dargestellt“ (Lammel [1998], S. 361).
Symptomatisch für diese unreflektierte Grundhaltung ist, dass der Verfasser, als er sein Projekt begann und es mit Medizinhistorikern und Onkologen diskutierte, vielfach Erstaunen auslöste. Vom Gegenüber in Zweifel gezogen wurde, dass Aussicht bestünde, krebstherapeutisches Handeln zwischen 1933 und 1945 als zeitverhaftet, mithin durch die nationalsozialistische Ideologie35 beeinflusst zu erweisen. Eine „vorurteilsfreie“ wissenschaftsgeschichtliche Bestandsaufnahme würde mit hoher Wahrscheinlichkeit ergeben, dass die Krebsmedizin im „Dritten Reich“ weltanschaulich neutral agiert habe und allein „der Wissenschaft verpflichtet“ gewesen sei.36 Der Verfasser der vorgelegten Arbeit ließ sich durch diese ungesicherte Prognose in seinem Unternehmen nicht hemmen. Nicht zuletzt in Anbetracht biologistischer37 Elemente nationalsozialistischer Ideologie erschien ihm die Hypothese gerechtfertigt und einer eingehenden Untersuchung wert, das NS-Regime habe dem Krebs, der mehr „Volksgenossen“ das Leben kostete als die Tuberkulose38, nicht bloß propagandistisch den Kampf angesagt, um Prävention (Beispiel: Antiraucher-Kampagne)39 und Früherkennung zu fördern, sondern auch die Krebstherapie zum Politikum gemacht.
Für die Zielsetzung der vorgelegten Arbeit spricht aber noch etwas Grundsätzlicheres: Unabhängig von den konkreten Herrschaftsverhältnissen, also auch wenn man es nicht mit dem Nationalsozialismus zu tun hätte, genießt die Medizin als angewandte Wissenschaft nur in Grenzen Autonomie. Das ärztliche Handeln bezieht seine Legitimation aus einem gesellschaftlichen Auftrag vor dem Hintergrund einer „medikalen Kultur“40. Diese ist definiert als jeweilige „Gesamtheit der gesundheits- und krankheitsbezogenen Vorstellungen und Handlungen in einer gegebenen sozialen Gruppe“ (Roelcke [1998], S. 46)41, wobei „Gruppe“ makrosoziologisch aufzufassen und ihre Struktur als heterogen vorzustellen ist. Labilität sozialer Übereinkünfte und kulturelle Dynamik unterwerfen ärztliche Aufgaben, ärztliche Rolle und ärztliches Selbstverständnis historischem Wandel. Dem ärztlichen Handeln ist in der Interaktion mit Patienten wie medizinischem Personal eine geschichtlich-gesellschaftliche Signatur eingezeichnet, die zu entziffern als medizinhistorische Aufgabe gelten kann. Selbst das medizinische Wissen ist, wie schon angeklungen, kulturell überformt und „Produkt sozialer Aktivitäten“ (Schlich [1998], S. 109). Als Resultat durch Verständigung bewährter Setzungen, die in einen Konsens überführt wurden42, ist es nicht als ahistorisch aufzufassen. Der „Kontext theoretischer, kultureller und sozialer Prämissen“ (ebd.) geht in jede Urteilsbildung grundsätzlich mit ein, das heißt auch dann, wenn es sich um naturwissenschaftliche Aussagen handelt43, die mithin Geltung unabhängig von ihrer Konkretion durch kontingente Urteilsvollzüge beanspruchen.44 Und nicht nur die Erzeugung von Wissen, auch seine Anerkennung und Durchsetzung ist praxisbezogen und kontextgebunden.45 Daraus ergibt sich, dass und warum auch naturwissenschaftliche Fakten ihre Geschichte haben – eine These, die manchen Mediziner die Medizingeschichte als Provokation empfinden lässt. Folglich reicht es nicht aus, Medizingeschichte als Institutionengeschichte zu schreiben, sofern diese die soziale Konstruktion der Inhalte medizinischen Wissens einzubeziehen versäumt.46
Die Reflexion auf die soziokulturelle Determination medizinischer Praxis und Theorie macht deutlich, dass der vorgelegten Arbeit bzw. der Durchführung ihres Themas der Index des Historischen nicht nur zufällig anhaftet, sondern er ihr prinzipiell zugehört. Zugleich schließt sie auf für eine „ideologiekritische“47 Analyse der kommunikativen Prozesse in Alltag, Wissenschaft, Politik, Ökonomie etc., die medizinische und außermedizinische, oftmals konkurrierende Konzepte über die Krebserkrankung und ihre Behandlung generieren. Damit geht zwecks Überprüfung des Konzepts „NS-Medizin“ (siehe Anm. 30 u. 36 der vorgelegten Arbeit) die Untersuchung einher, wie die Diskurse sich wechselseitig durchdringen, ob bzw. warum es zu Dominanzbildungen kommt und wie diese das ärztliche Handeln prägen.
Mit dem Ziel, den Ideologiebegriff zu operationalisieren und zu klären, in welchem Sinne ihn diese Arbeit verwendet, sei in einem Exkurs der Begriff der Einstellung eingeführt, wie er in der neueren Transzendentalphilosophie systematisch entwickelt wurde (Wienbruch [1985], S. 27-28, u. [1993], S. 107-123).48 Grunderfahrung des Menschen ist ein Sichvorfinden als bewusstes Erleben. Dieses vollzieht sich als Aufspannen des Unterschiedes von Erlebendem („Subjekt“) und Erlebtem („Objekt“), kurz: als Urteilen. Den Urteilsvollzug kennzeichnet ein Voneinanderabgehoben- wie Aufeinanderbezogensein der Urteilsglieder. Sie bilden in ihrem Verschränktsein einen Wechselbezug („kein Objekt ohne Subjekt und umgekehrt“), auf dessen Grundlage sie sich näher bestimmen lassen. Indem das Subjekt besagten Unterschied aus wechselnden Anlässen immer neu aufspannt49 und die Ergebnisse begrifflich fixiert, erweitert es sein Wissen um sich („Ich“) und anderes („Nicht-Ich“). Dieser Wissenszuwachs ist nicht nur ein quantitativer, sondern auch ein qualitativer. Denn es gibt unterschiedliche Weisen, Subjekt und Objekt ins Verhältnis zu setzen und jeweils anders zu akzentuieren. Bewusstes Erleben, so lässt sich der Gedanke auch ausdrücken, vollzieht sich jeweils in einer bestimmten Einstellung. Die Kombinatorik der Urteilsglieder ergibt je nach deren Gewichtung vier grundlegende Vollzugsweisen bewussten Erlebens: alltägliches Sichverhalten, wissenschaftliches Sichbetätigen, ästhetisches Erleben und religiöses Sichvollziehen (ebd., S. 109).50 Die Erläuterung der jeweiligen Eigenart („Regelhaftigkeit“) dieser Einstellungen sei auf später verschoben, wenn die Analyse der „Krebsdiskurse“ ihrer bedarf. An dieser Stelle mag genügen, darauf aufmerksam zu machen, dass die jeweilige Geltungsreichweite das entscheidende Kriterium zur Unterscheidung der Einstellungen ist – also etwa, ob ein Urteil sachbezogen auf ein eindeutiges Ergebnis zielt und nach Zustimmung vieler, idealiter aller anderen oder zumindest der Sachkundigen heischt (wissenschaftliche Einstellung) oder ob sein Ergebnis einer Problemstellung Rechnung trägt, deren Bewältigung vorrangig der individuellen Selbstbehauptung des Urteilenden dienlich ist (alltägliche Einstellung). Das prinzipielle Unterschiedensein der Einstellungen markiert, dass keine durch eine andere ersetzt werden kann. In ihrer Komplementarität ergänzen die Einstellungen sich und sind einander gleichberechtigt.51 Um Einseitigkeiten im Urteilsvollzug zu vermeiden, ist ein Wechsel der Einstellungen zu fordern (siehe ebd., S. 139). Von hier aus lässt sich nicht nur eine Ethik entwickeln52, sondern auch, was die Überlegung veranlasste, der Begriff „Ideologie“ aufklären. Nicht, dass die Einstellungsgebundenheit als solche zur Disposition stünde, indem „man überhaupt darauf verzichtet, etwas einstellungshaft zu erwägen“ (ebd., S. 13), und man auf diese Weise dem „Ideologieverdacht“ entginge: „Denn das liefe darauf hinaus, bewußtes Erleben preiszugeben.“ (ebd.) Nicht schlicht eine Einstellung einzunehmen, ist als ideologisch zu kennzeichnen, sondern die eingenommene Einstellung
zu verabsolutieren: Jemand lässt außer Acht, dass sich das, was er einstellungsgebunden behauptet, völlig anders darstellen kann, wenn man in einer anderen Einstellung zu ihm Stellung nimmt (dies wäre z. B. als wissenschaftsgläubig oder szientistisch zu kennzeichnen),
zu ignorieren: Jemand beansprucht für das, was er behauptet, Geltung, ohne diesen Anspruch argumentativ einzulösen, das heißt verzichtet darauf, seine Behauptung zu begründen (dies wäre z. B. als unwissenschaftlich zu kennzeichnen),
zu verwechseln (taktisch oder aus Unverständnis): Jemand beansprucht für das, was er behauptet, eine andere Geltung, als dem Behaupteten einstellungsgemäß zukommt (z.B. wenn ein nichtwissenschaftliches Urteil als allgemeinverbindlich ausgegeben und durchzusetzen versucht wird),
zu vermischen: Jemand nutzt gemeinsame Anknüpfungspunkte zweier Einstellungen (siehe ebd., S. 123-124) aus, um ihren Unterschied einzuebnen, durch Überlagerung der Geltungssphären die Überprüfung des Behaupteten zu erschweren oder einer der beiden Einstellungen ein ihr nicht zukommendes Übergewicht zu verschaffen (dies wäre z.B. als pseudowissenschaftlich zu kennzeichnen).
Damit ist ein methodisches und begriffliches Inventar ausgewiesen, plurale medizinische wie außermedizinische Krebsdiskurse vor dem Hintergrund nationalsozialistischer Herrschaft kritisch zu analysieren und damit eine tragfähige Grundlage zu schaffen für eine differenzierte, ideologiekritische Betrachtung des Spektrums krebstherapeutischen Handelns im „Dritten Reich“. Dem auch stofflich gerecht zu werden, setzt Studium und Analyse eines breiten Quellenspektrums voraus53, womit der Umfang der vorgelegten Arbeit gerechtfertigt sei.
Wer an dieser Stelle anmahnt, endlich „Tatsachen“ sprechen zu lassen, statt die geschichtliche Wirklichkeit, wie nach den Vorüberlegungen zu befürchten stehe, in „immaterielle“ Diskurse aufzulösen, bekundet nicht nur ein naives Realitätsverständnis, sondern unterschätzt auch den Stellenwert der Sprache, die für die Geschichtswissenschaft mehr als nur Medium ist. Erläutert sei diese Feststellung im Durchdenken der geschichtswissenschaftlichen Tätigkeit und ihrer Momente. Es geht im Folgenden mit anderen Worten um den Akt der „historischen Formung“ (Simmel [1917], passim) unter Einbezug des oben unkritisch eingeführten Begriffs der „Quelle“.
Historisches Interesse gilt Ereignissen der Vergangenheit. Ihnen wohnt man – anders als einem naturwissenschaftlichen Experiment – nicht aktuell bei, sondern befindet sich zeitlich wie räumlich auf Abstand. Das trifft auch dann zu, wenn ein Historiker an einem Geschehen, das ihn beschäftigt, einstmals persönlich partizipierte. Aus der Erinnerung geschöpft, bleibt das Ereignis „nur mittelbar zugänglich“ (Iggers [2000], S. 346), wird nicht „unmittelbar gegenwärtiges“ Erlebnis.54 Als Historiker somit auf einen exterritorialen Standort verbannt zu sein, erscheint auf den ersten Blick nachteilig. Doch eröffnet sich im Gegenteil erst aus jener Distanz eine historisch zu nennende Perspektive.55 Diese ist nämlich darauf angewiesen, von den Ereignissen der Vergangenheit „Folgereihen [...] ausstrahlen (zu, M. W.) sehen“ (Simmel [1907], S. 144).56 Das bedeutet: Ein Ereignis wird dadurch historisch, dass es, indem es Folgewirkungen zeitigt, der Gegenwart entrückt.57 Und zugleich wird es als Grund seiner Folgewirkungen auf die Gegenwart bezogen und als sie mitbedingender Faktor interpretiert.
Kenntnis von der Vergangenheit verschaffen Historiker sich durch das Studium sprachlicher Überlieferungen, vorzugsweise Texten, die unter ihren Augen den Charakter von „Quellen“ annehmen. Als Quellen zu fungieren, kommt Texten nicht ursprünglich zu. Weder sind sie als „historisches Material“ entstanden, noch wurden sie zwingend unter solchem Vorzeichen überliefert.58 Jedenfalls müssen die Gründe, der sich die Tatsache ihres Überliefertseins verdankt, sich nicht mit den Intentionen der Geschichtswissenschaft decken. Die Überlieferung ist zudem von vielerlei Zufällen abhängig, die Historiker, hätten sie denn die Gelegenheit, tunlichst auszuschalten bemüht wären.
Doch ist die Vorstellung zweifelhaft, unsere Kenntnis von der Vergangenheit wäre in dem Maße reicher, wie sich die Überlieferung weniger lückenhaft und in einer weniger „chaotischen Form“ (Goertz [2001], S. 20) darstellte. Geschichte ist keine Summation von „Tatsachen“, die aus historischen Quellen hervorsprudelten und sich zu einem Gesamtbild anordnen ließen wie zu einem Puzzle. „Wie es wirklich gewesen ist“ (Leopold von Ranke)59, lässt sich nicht atomistisch begreifen, indem man das Quellenquantum gegen „unendlich“ streben lässt.60 Das hat weniger mit den Grenzen geistigen Fassungsvermögens zu tun (schon die verfügbaren, Historikern zugänglichen Quellen lassen sich unmöglich überschauen) als mit dem Umstand, dass beileibe nicht jeder Quelle, nur weil sie von Vergangenem Kunde gibt, historische Relevanz zukommt. Der Aussagegehalt einer Quelle erweist sich als bedeutsam oder belanglos erst unter einem thematischen Gesichtspunkt und unter den sich aus ihm ergebenden Fragestellungen. Ja angesichts der Isoliertheit61 und damit Vieldeutigkeit62 des Quellenmaterials erschließen sich selbst die Fakten nur vermöge der interpretativen Leistung des Historikers63: „Geschichte ist [...] nicht der Ausdruck, den das historische Material sich selber gibt.“ (Goertz [2001], S. 20) „Es ist [...] nicht das Quellenmaterial, das die Regie in der Geschichtsschreibung führt, die Vergangenheit ,spricht‘ nicht in den Quellen [...], sie wird vielmehr vom Historiker zur Sprache gebracht.“ (ebd., S. 106)
Der Aussagegehalt einer Quelle modifiziert und erweitert sich in Abhängigkeit von Bezügen, die Historiker zu weiteren Quellen herstellen (insofern kommt ein quantitatives Moment doch ins Spiel). Indem Historiker selektiv und perspektivisch unter den aus einer Vielzahl von Quellen gewonnenen „Fakten“ einen Zusammenhang stiften, verfolgen sie das Ziel, „die gegebenen Einzelheiten so anzuordnen, daß das herauskommende Bild uns als lückenlose Ganzheit erscheint“ (Simmel [1907], S. 21). Mit anderen Worten: Am historischen Material vollzieht sich die Formung zum historischen Gegenstand, dessen „Eigenart [...] weder identisch ist mit den verfügbaren Quellen noch mit den konzeptuellen Elementen [...], die in seine Interpretation eingegangen sind“ (Baumgartner [1979], S. 282). Erst vor diesem Hintergrund lässt sich überhaupt von „Geschichte“ und „historischer Erkenntnis“ (Goertz [2001], S. 18 u. 20) reden. „Geschichte“ unterscheidet sich dadurch von bloßer Vergangenheit, dass Erfahrungsgehalte, der empirische Stoff, „gleichsam über den Kopf der Realität hinweg“ (Simmel [1907], S. 42) unter begründeten Hinsichten (Simmel [1917], S. 133: „führende Idee“) narrativ geordnet werden, so dass sie einen Zusammenhang64, eine sinnvoll gegliederte Ganzheit65 bilden, die in der „Wirklichkeit“ keine Entsprechung hat.
Wie dieser Zusammenhang beschaffen bzw. herzustellen ist, lässt sich weder aus den Quellen herauslesen noch im Ausgriff auf eine vermeintlich in ihnen aufscheinende „historische Realität“ (siehe unten) entscheiden. Vielmehr beruht sein Zustandekommen auf der Inventio (Simmel [1907], S. 40: „Synthesis der Phantasie“) des Historikers. Dieser konstatiert somit „mehr [...] als er genau genommen weiß, weil die einmal angenommene Idee des Ganzen ihn berechtigt, die Lücken der Ueberlieferung durch Interpolation und Zurechtbiegen der Stücke, bis sie ineinanderpassen, auszufüllen“ (ebd., S. 132-133). Loetz (1998), S. 40-41, kennzeichnet diesen Arbeitsprozess als dialektisch, „weil theoretische und empirische Ebene ständig in Wechselwirkung zueinander stehen. So kann ich als Historikerin bei der Quellenlektüre auf ganz konkrete empirische Fragen stoßen, die mich wiederum meine Ausgangsfragestellung [...] korrigieren lassen. [...] Die Veränderung meiner Fragestellung hat [...] zur Folge, daß ich andere Quellen suche und/oder bereits bekannte Quellen unter einem anderen Aspekt auswerte.“66 Iggers (2000), S. 340 u. 346, spricht in diesem Zusammenhang mit Reinhart Koselleck vom „Vetorecht der Quellen“.67
Geschichte erweist sich vor diesem Hintergrund als „Rekonstruktion einer historischen Wirklichkeit, die es bisher so nicht gegeben hat“ (Lammel [1998], S. 366).68 Der Logik der eigenen Aussage folgend, spräche Lammel statt von Rekonstruktion zutreffender von „Konstruktion“, da „die Historik von sich aus [...] ihren Stoff in Formen bringt, die nur auf ihrem Boden gewachsen sind“ (Simmel [1907], S. 27). Als „Konstruktion“, „die [...] Unbekanntes hypothetisch aus der vorausgesetzten Einheit (= Idee des Ganzen, M. W.) ergänzt“ (ebd., S. 25-26), schließt historische Tätigkeit unweigerlich ein subjektives Moment ein, ohne das sie nicht auskommt und das ihr nicht zum Nachteil, sondern zum Vorteil gereicht: „Man mag diese Bedingtheit durch die Subjektivität eine Unvollkommenheit des historischen Erkennens nennen; dann gehört sie aber zu denjenigen, mit deren Wegfall auch der Ertrag überhaupt wegfallen würde, den man durch die Beseitigung dieses Abzuges zu erhöhen dachte.“ (ebd., S. 60)
Gleichwohl hat der subjektive Einschlag Kritiker stets bewogen, dem Fach „Geschichte“ Wissenschaftlichkeit abzusprechen oder streitig zu machen. Ob dieser Standpunkt berechtigt ist69, lässt sich an dem Punkt am besten entscheiden, wo Historiker, wie gesehen, am deutlichsten eingreifen – bei der Stiftung des historischen Zusammenhangs. Die Frage nach der Wissenschaftlichkeit von „Geschichte“ entscheidet sich mit anderen Worten daran, ob die Ordnungsprinzipien, denen gemäß der historische Gegenstand geformt wird, als allgemeingültig anzuerkennen sind, d.h. intersubjektiv bewährt werden können, und wie überzeugend der erstellte Zusammenhang argumentativ gestützt wird. Bloße Plausibilität des Zusammenhangs auf der Grundlage einer Maximierung der Quellenbasis70 ist demgegenüber als zu schwaches Kriterium für „Objektivität“ anzusehen.
Welche Ordnungsprinzipien aber vermögen wissenschaftlichen Maßstäben standzuhalten? Wir sind ihnen bereits bei Norbert Elias begegnet – in Gestalt der „Ideen“ (siehe Anm. 50 der vorgelegten Arbeit). Ihnen gemäß differenziert sich Kultur in verschiedene Geltungssphären. Zugleich bilden die einzelnen Gebiete kraft der apriorischen Idee der Geltung71 einen einheitlichen Kulturzusammenhang. Rickert (1924), S. 80, spricht unter ähnlichem Vorzeichen in seiner Terminologie statt von Ideen von „allgemeinen Kulturwerte(n)“ zum Beispiel „des Staates, der Kunst oder der Religion“ (ebd., S. 79). Indem nun historische „Tatsachen“ zu einem Kulturwert in Beziehung gesetzt werden72, stellt sich heraus, ob sie „für dessen Verwirklichung [...] durch ihre individuelle Gestaltung etwas leiste(n)“ (ebd., S. 69), mit anderen Worten: ob sie historisch relevant sind. Damit „gliedert sich ihm (= dem Historiker, M. W.) die Wirklichkeit in wesentliche und unwesentliche Bestandteile“ (ebd., S. 61), wobei die wesentlichen eben als „historische“ bestimmt werden.
Es mag dahingestellt sein, ob die Begriffe „Idee“ und „Wert“ synonym gebraucht werden dürfen. Unangesehen aller Unterschiede kommt ihnen bei Elias wie Rickert die gleiche Funktion zu. Ideen oder Werte sollen die Objektivität der Geschichtswissenschaft verbürgen. Sie stellen Kategorien dar, an denen orientiert die Historiker ihr Material auf seine Bedeutsamkeit prüfen und in eine sinnvolle Ordnung bringen. Diese Orientierung ist nicht willkürlich, denn der erstellte Ordnungszusammenhang ist Ausdruck der faktischen Gliederung der Kultur. Zwar hat diese sich historisch kontingent realisiert, als Prinzipien der Gliederung sind Ideen und Werte jedoch diesem Prozess logisch vorgeordnet und damit enthoben (Apriorität). Die Geschichtswissenschaft kann sich somit den Ideen und Werten als Erkenntniskategorien bedienen, ohne Gefahr zu laufen, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Denn die Orientierung am Gliederungsbestand der Kultur und den Gesetzmäßigkeiten der einzelnen Kulturgebiete ist geltungslogisch abgesichert. Kultur erweist sich als Objektivation der sich historisch entfaltenden Struktur bewussten Erlebens und damit als Inbegriff seiner realisierten und noch realisierbaren (potentiellen) gegenständlichen Korrelate.
Die sich aus historischer Tätigkeit ergebende Ordnung eines Nebeneinanders historisch relevanter Sinnbestände bildet gleichsam den Querschnitt durch die Kultur. Das Zueinander der Objekte wäre aber unterbestimmt, wenn es nicht auch als Nacheinander, als geschichtlicher Längsschnitt gestaltet würde. Soll die Abfolge keine willkürliche sein, muss der Historiker die Momente der Chronologie73 so reihen, dass das vorangehende Moment stets den Grund für das folgende bildet – das Prinzip der Kausalität74 kommt ins Spiel. Dabei entwirft der Historiker die geschichtliche Wirklichkeit nicht einsträngig, sondern – bedingt durch ihre kulturelle Gliederung – als Vielzahl von Reihen. Er kommt mit anderen Worten nicht umhin, „Spezialgeschichten“ zu schreiben. Zugleich sieht er sich, da „alles in Wirklichkeit untrennbar verflochten (ist, M. W.): Wirtschaft und Religion, Staatsverfassung und individuelles Leben, Kunst und Recht, Wissenschaft und Eheformen“ (Simmel [1907], S. 164), vor die Aufgabe gestellt, „von der einzelnen Reihe der geschichtlichen Wirklichkeit ihre Verflechtung mit allen anderen, die jeden Punkt ihrer zum Resultat des Ganzen macht, zu erkennen“ (ebd., S. 100, Anm. 1), und zwar kraft der Idee einer „,Geschichte überhaupt‘“ als „raumzeitliche Verwebung all dieser Reihen zu einer Einheit, die wir unmittelbar nicht ergreifen können, deren Vorstellung aber das Auseinanderfallen des Geschichtsbildes in unzusammenhängende Splitter hindert.“ (ebd., S. 164)75
Wer der Argumentation gefolgt ist, sieht ein, dass es für die Historik triftige Gründe gibt, sich, wie neuerdings wieder der Fall, als „Historische Kulturwissenschaft“ (Oexle [1996]) zu verstehen – und warum diese Orientierung beanspruchen kann, mehr als eine Mode zu sein. Die vorgelegte Arbeit sieht ihren Ansatz bestätigt, ärztliches Handeln im Kontext der Kultur zu verorten (und es damit auch im Lichte außermedizinischer Faktoren zu thematisieren). Die These, dass Kultur diskursiv bestimmt ist76, hatte den Verfasser der vorgelegten Arbeit bewogen, in seine Betrachtungen zum Thema „Krebskrank im ,Dritten Reich‘“ die konkurrierenden „Krebsdiskurse“ fundamental einzubeziehen. Damit war die Frage nach dem Stellenwert von Sprache für die historische Tätigkeit angeschnitten. Die sich anschließende Reflexion ergab: Historische Tätigkeit vollzieht sich durchgängig sprachgebunden (Rezeption, Interpretation, Darstellung, nicht zu vergessen: fachliche Diskussion). Die Geschichtswissenschaft erschließt ihr Material und entwirft ihren Gegenstand qua Sprache.77 Aber noch grundsätzlicher gilt: Geschichte ist nicht nur durch Sprache gegeben, sondern ist Sprache.78 Als Konstruktion kultureller Zusammenhänge und historischer Abläufe ersteht Geschichte als Diskursrealität, „da das Gewesene in der Interpretation allererst entsteht“ (Goertz [2001], S. 17).
Die daraus abgeleitete These von der „Geschichte als Text“79 hat in der Theoriediskussion unter Historikern Missverständnisse und Verunsicherung erzeugt. Man befürchtete, „den Gegenstand der wissenschaftlichen Erkenntnis aufzugeben und nur noch mit der Wirklichkeit zu tun zu haben, die nichts als Sprache ist“ (Goertz [2001], S. 13) – dabei gehe es doch in der Geschichte wesentlich um „außersprachliche“ (soziale und kulturelle) Entitäten. Man beschwor „die geschichtliche Wirklichkeit“ als Fundamentum in re der Historik und meinte, auf sie referieren zu müssen, weil ihre „Unabhängigkeit von Sprache und Erkenntnis“ die „Objektivität“ der historischen Disziplin verbürge. Und man stellte infolgedessen die konstruktivistische (nichtsubstantialistische) Geschichtsauffassung unter Fiktionalismusverdacht.
In solchen Reaktionen bekundet sich die mangelnde Einsicht in Sprache als realitätsbildendes Prinzip. Zugrunde liegt ein unkritischer, ontologisierender Wirklichkeitsbegriff, der bereits den von Historikern viel geschmähten80 Theodor Lessing (1872-1933) spotten ließ: Es „bekämpft der Deutsche den ,naiven Realismus‘ im Namen der Philosophie und dient ihm dann doch wieder im Namen der Geschichte“ (Lessing [1927], S. 66).81 Die Naivität besteht darin, dass „man [...] in der Geschichte [...] den Sinn [...] als einen immanenten Bestandteil des Tatsächlichen betrachtet“ (ebd., S. 231), ohne den Sinn als gesetzt („konstruiert“)82 und ohne das Tatsächliche selbst als Produkt sinnhafter Setzungen zu begreifen. Sofort zugestanden sei, dass es Wirklichkeit „gibt“, dass sie uns sinnlich affiziert, dass wir sie rezeptiv wahrnehmen und dass wir beanspruchen, was wir (wissenschaftlich) über sie auszumachen versuchen, sei mehr als bloß gesetzt. So ebnet auch das subjektiv konstruierende (wenn man will: das „fiktionale“83) Moment der historischen Tätigkeit den Unterschied von Wirklichkeit und Fiktion („bloß Gesetztem“) keineswegs ein, denn es „wird nicht die Vergangenheit konstruiert, als ob es sie sonst nicht gäbe, konstruiert wird die Geschichte“ (Goertz [2001], S. 37). Auch die Materialität der Quellen wird durch die Tatsache, dass sie erschlossen werden müssen, nicht angetastet. Aber welche Bestimmungen man auch immer mit dem Index „wirklich“ versehen und dadurch als „bewusstseinsunabhängig“ ausgeben mag, sie sind stets Resultate von Urteilsvollzügen, die etwas als wirklich entworfen, begrifflich fixiert und mitgeteilt haben, das dann im Urteil anderer (Intersubjektivität) bestätigt oder verworfen wurde.84 In der Formulierung klingt an, dass Urteilen notwendig an Sprache gebunden ist.85 Sprache hat dabei keine abbildende Funktion, denn sie entwirft allererst, was als abbildbar vorgegeben erscheint. Sprache ist konstitutiv für unser Verständnis von Wirklichkeit. Folglich verweist ein „Text, der etwas über die Wirklichkeit aussagt, überhaupt nicht auf einen Tatbestand [...]. der außerhalb des Textes existiert“ (Goertz [2001], S. 13).86 Und in Anwendung auf Geschichte ergibt die Realismuskritik, dass „alle Aussagen über Vergangenes zu Aussagen über die Beziehung zu Vergangenem, aber nicht über die Vergangenheit selbst“ werden (ebd., S. 118). Man kann „nicht mehr sagen, daß etwas so oder so war, sondern daß es nur so war, wie es die Sprache auszusagen zuläßt“ (ebd., S. 29). Denn Sprache „bildet die vergangene Realität nicht ab, sie repräsentiert sie, besser noch, sie präsentiert sie.“ (ebd., S. 33) Dies bedeutet jedoch nicht, dass Historiker den Quellentexten einen „beliebigen Sinn unterstellen“ könnten: „Wir werden durch die Worte, die (ein, M. W.) Text enthält, beschränkt, Worte, die nicht, wie uns die Postmodernen nahelegen, eine unendliche Anzahl von Bedeutungen haben.“ (Iggers 2000]. S. 340)
Eingedenk der hiermit abgeschlossenen methodischen Erwägungen verfolgt die vorgelegte Arbeit als „Propädeutik zur Geschichte krebstherapeutischen Handelns im ‚Dritten Reich‘“ (Untertitel) drei Ziele:
den im „Dritten Reich“ gültigen Krebsbegriff der medizinischen Wissenschaft zu definieren und zu dekonstruieren (
Kapitel 2
) sowie seine Konnotationen in medizinischem und außermedizinischem Bewandtniszusammenhang zu ermitteln, da sie als Reservoir für metaphorische Rede anzusehen sind (
Kapitel 2
und
3
),
zentrale Positionen der nationalsozialistischen Ideologie diskursanalytisch zu erschließen und ihr Vernetztsein transparent zu machen, wobei als Schlüssel die Krebsmetapher fungiert (Kapitel 4),
das in die medizinische Metaphorik eingeschriebene NS-Krebskonzept zu rekonstruieren, d.h. eine Theorie der Ätiologie bösartiger Geschwülste zu entwickeln, die als spezifisch nationalsozialistisch gelten kann (
Kapitel 5
). Von hier aus lässt sich dann das Spektrum der Krebstherapien im „Dritten Reich“ unter dem Gesichtspunkt aufgliedern, welche von ihnen mit dem Krebskonzept der Nationalsozialisten kompatibel waren, welche ihm widersprachen und welche nachträglich auf es zugeschnitten werden konnten, wollte man ihm Tribut zollen (
Kapitel 5
). Mit zur Debatte wird stehen, ob die Nazis bestimmte krebstherapeutische Aktivitäten gezielt förderten, andere womöglich behinderten, wo also die NS-Ideologie der „medikalen Kultur“ konkret ihren Stempel aufdrückte (
Kapitel 5
).
„Primum est definire!“ (Bauer, K. H. [1943], S. 681) Den Beginn dieses Kapitels markiert deshalb die Frage: „Was ist überhaupt Krebs? Die Wissenschaft sagt, Krebs ist eine bösartige Geschwulst [...]. Einzelne Körperzellen [...] fangen an, ohne Rücksicht auf ihre Umgebung sich wild und einseitig zu vermehren. [...] Bei ihrem Wachstum entziehen sie dem Körper alle Nährstoffe, die sie zu ihrem Bau und zu ihrer Fortpflanzung brauchen, und erzeugen Gifte, die durch die Blut- und Lymphwege in alle Teile des Körpers gelangen. Schließlich wachsen sie ähnlich den Wurzeln eines Baumes im Erdreich strahlenförmig in das benachbarte Körpergewebe hinein, schädigen es, so daß die Organe auf die Dauer ihre Leistungen nicht mehr zu erfüllen vermögen und zugrunde gehen. [...] Geht [...] das Wachstum der Geschwulst weiter, so verlieren einzelne Zellteile schließlich ihren Zusammenhang mit der Muttergeschwulst. Sie geraten mit dem Lymphstrom oder auf anderen Wegen in entferntere Bezirke des Körpers, bleiben hier haften und wachsen dann als Tochtergeschwülste, Metastasen genannt, in gleicher Weise wie die Muttergeschwulst weiter“ (Kortenhaus [1942], S. 418-420).
Man mag diese Basisdefinition der Krebserkrankung und ihrer Pathogenese für unvollständig, für ungenau und im Ton für zu volkstümlich halten – und könnte doch, eine medizinische Begriffsklärung anstrebend, vorläufig mit ihr auskommen. Dass aus einem Beitrag zitiert wurde, der vor über 60 Jahren erschienen ist, steht dem nicht entgegen und fällt kaum ins Auge. Verfasst hat ihn Dr. med. Friedrich Kortenhaus (geb. 1900), Oberregierungsrat beim Reichsgesundheitsamt87, für einen „Deutsches Gold“88 betitelten, 700 Seiten starken und drei Pfund schweren Sammelband zu Gesundheitsthemen von „Ansteckende Krankheiten“ bis „Zahnerhaltung“ (Reiter/Breger [Hgg.] [1942]). Als Autoren zu Wort kommen Kliniker und ärztliche Mitglieder der staatlichen Medizinalverwaltung, die das „Wissen und Gewissen des Volkes um seine Gesundheit zu mehren“89 suchen. Erscheinungsjahr 1942, das bedeutet: Deutschland führt Krieg. Gegen England, die Vereinigten Staaten von Amerika, die Sowjetunion – und im „Reich“ wie im besetzten Europa gegen „Fremdvölkische“, allen voran Juden (20. Januar: „Wannseekonferenz“), gegen Geisteskranke (Fortsetzung der „Euthanasie“-Aktionen“) und gegen sogenannte Gemeinschaftsunfähige („Vernichtung durch Arbeit“ in den Konzentrationslagern). Von Ärzten werden die in Heil- und Pflegeanstalten oder in KZs internierten „Ballastexistenzen“ ohne deren Einwilligung zu medizinischen Versuchen missbraucht. Einer der Beiträger zu „Deutsches Gold“, der Bakteriologe Prof. Dr. med. Eugen Haagen (1898-1972; laut Klee [2003], S. 213, Sp. 1, seit 1937 NSDAP-Mitglied), Leiter des Hygienischen Instituts der Reichsuniversität Straßburg, hatte schon während seiner Zeit am Berliner Robert-Koch-Institut an Patienten der Anstalt Wittenau einen Gelbfieberimpfstoff getestet und wird ab 1943 im KZ Natzweiler/Elsass Häftlinge mit lebenden Fleckfieberviren gegen die Krankheit zu immunisieren versuchen (siehe Klee [1997], S. 367-370, und [2003], S. 213, Sp. 1). In Kauf nimmt er so das Risiko iatrogener Infektionen und damit lebensgefährlicher Erkrankungen. Haagens Beitrag in „Deutsches Gold“ beschäftigt sich mit Influenza, der Virusgrippe. Ein Thema, das im Lichte der späteren Menschenversuche in Natzweiler, u.a. auch mit Influenza-Impfstoff (siehe Klee [1997], S. 370), seine Unschuld verliert ...
Dass in dem Band allenthalben der Nationalsozialismus verherrlicht und die Rassendoktrin propagiert wird90, kann kaum überraschen. Um so mehr versetzt in Erstaunen, dass die Ausführungen des Dr. Kortenhaus in Sachen Krebs trotz ihres Kontexts über jeden Ideologieverdacht erhaben wirken. Dies zumindest für die zitierte Passage zu attestieren91, nährt und festigt bestehende Vorurteile hinsichtlich weltanschaulicher Neutralität der Naturwissenschaften (unter Einschluss der humanbiologischen Disziplinen als Fundament der Medizin), wonach diese angeblich geschichtlich-gesellschaftlichen Einflüssen entrückt seien und frei blieben vom inhaltlichen Niederschlag außerwissenschaftlicher Faktoren. Das hier zum Ausdruck gebrachte Verständnis von Wissenschaft als am Objektivitätsideal zu orientierendes, „ideologiefreies“ Erkenntnisstreben formuliert eine ebenso berechtigte wie unerlässliche Selbstverpflichtung. Ob diesem Anspruch jeweils Genüge getan wird, steht jedoch auf einem anderen Blatt und darf nicht fraglos vorausgesetzt werden. Wenn das Kortenhaus-Zitat tatsächlich der Auffassung zuarbeitet, medizinische Wissenschaft sei aufgrund ihrer „unpolitischen“ Inhalte generell „immun“ gegen ideologische Avancen und habe diesen daher auch im „Dritten Reich“ standhalten können, liegt dies in erster Linie an der bei allem Erkenntniszuwachs im Einzelnen in ihren Grundzügen bis heute unverändert gebliebenen schulmedizinischen Auffassung über die Pathogenese der Krebserkrankung. Diese Kontinuität erweckt den Anschein zeitenthobener, mithin allzeitiger Geltung der vorgetragenen Krebsdefinition92, täuscht aber darüber hinweg, dass eine Lehrmeinung unter Umständen beibehalten wird, ohne dass die zugrunde gelegten Prämissen93 dieselben bleiben. Werden sie ergänzt oder erneuert, geht die Theoriebildung also jeweils von unterschiedlichen, womöglich sogar widersprüchlichen Voraussetzungen aus, besteht untergründig ein Dissens, der jedoch so lange überdeckt bleibt, wie man seiner zum Trotz stets zum gleichen Ergebnis gelangt. Das Ideologieproblem ist also nicht damit vom Tisch, dass die Allgemeindefinition der Krebserkrankung vor wechselnden Hintergründen „dieselbe“ geblieben ist. Solche Dieselbigkeit mag die Abwesenheit eines ideologischen Faktors suggerieren, kann aber ganz im Gegenteil gerade seiner Anwesenheit geschuldet sein. Deshalb sollte, wo Wissenskontinuitäten in Sachen Krebs die Zeit von 1933 bis heute oder gar das ganze 20. Jahrhundert umspannen, nicht versäumt werden, nach institutionellen, ökonomischen oder soziokulturellen Dominanten zu fahnden, die den Wissenschaftsbetrieb durch die Zeitläufte bestimmt und dafür gesorgt haben, dass Wissen selektiv tradiert und bestimmten Wissensbeständen Priorität eingeräumt wurde. Geschichtswissenschaft, die sich als kritisch begreift, hat Faktisches nicht naiv zu registrieren, sondern Faktizität zu reflektieren. Das schließt ein, das Ideologieproblem auch dann aufzuwerfen, wenn außer- und innerhalb des eigenen Zuständigkeitsbereichs (noch) kein Ideologieverdacht artikuliert wurde – selbstverständlich ohne dass ein Interesse im Spiel sein darf, den Verdacht partout zu bestätigen (Petitio principii).
Das Ideologieproblem stellt sich nicht nur dort, wo im Wissenschaftsdiskurs ein Konsens erzwungen und dafür gesorgt wurde, dass ein grundlegender Dissens latent blieb. Nach ideologischen Mechanismen zu fragen, liegt noch sehr viel näher, wo ein Dissens sich manifestiert, der Widerstreit theorieleitender Prämissen offen ausgetragen wird und man, um ihn zu überwinden, davon ausgeht, dass nur eine Vorannahme „objektiv richtig“ sein kann. Sind beim Stichwort „Konsensbildung“ vor allem die institutionellen Rahmenbedingungen thematisch, geraten beim Stichwort „Dissens“ die Inhalte der Theorien selbst in den Blick. Die Reflexion auf den Zusammenhang von Wissenschaft und Ideologie bezieht damit das Wissen als solches ein. Diese erweiterte, über den engen institutionengeschichtlichen Rahmen hinausweisende Perspektive ist einzunehmen, wo es – wie in der vorgelegten Arbeit – darum geht, welche krebsmedizinischen Konzepte sich im Spannungsfeld „Wissenschaft – Ideologie“ wegen oder trotz des Nationalsozialismus herausgebildet und behauptet haben.
Wie jede wissenschaftliche Definition zielt auch die des Krebses auf Generalisierung und klammert bestehende Kontroversen über Ätiologie und Pathogenese der Krankheit notwendig aus. Wer von einer Definition folglich nicht mehr erwartet als den kleinsten gemeinsamen Nenner, sieht sich so lange nicht enttäuscht, wie er von Prämissen ausgeht, die in der Definition berücksichtigt sind bzw. mit ihr vereinbar erscheinen. Kortenhaus legte seiner Krebsdefinition mehr oder weniger ausdrücklich das Konzept der auf den Berliner Pathologen Prof. Dr. med. Rudolf Virchow (1821-1902) zurückgehenden Zellularpathologie zugrunde. Doch ist eben dieses Konzept im „Dritten Reich“ umstritten. Einer der Opponenten ist der im österreichischen Linz als Zahnarzt praktizierende Medizinalrat Dr. med. Josef Lartschneider (1868-1948)94. Der bekennende Anhänger einer modernisierten95 hippokratischen Humoralpathologie96 stellt mit einem zweibändigen Pamphlet die Gretchenfrage „Hippokrates oder Virchow?“ – und beantwortet sie kompromisslos zugunsten des Griechen: „Hippokrates, und nur Hippokrates!“ (Lartschneider [1941a], S. 4) Ein „Hippokrates und Virchow“ komme nicht in Frage, denn das bedeute „Humoralpathologie und Zellularpathologie zugleich“ (Lartschneider [1941a], S. 3). Hinter diesen Schlagworten verbirgt sich folgende sachliche Kontroverse:
Lartschneider bezieht fundamental Stellung gegen die Virchowsche Zellularpathologie, die in dem Satz kulminiere: „Omnis cellula e cellula, auf Deutsch: Zellen können nur aus Zellen hervorgehen“ (Lartschneider [1940], S. 12). Entsprechend werde für jede Gewebsbildung (Histogenese), Krebs als maligne Neubildung eingeschlossen, ein „Wachstum [...] aus sich selbst heraus“ postuliert (Lartschneider [1941a], S. 51) – „und zwar im Sinne des Dogmas von der ,Spezifität der Gewebe‘97, nach welchem eine Epithelzelle nur aus einer Epithelzelle, eine Muskelzelle nur aus einer Muskelzelle usw.98 hervorgehen kann“ (ebd., S. 41). Speziell für die Krebskrankheit sei gemäß dieser Auffassung die „fortwährende Teilung von Epithelzellen“99 kennzeichnend (ebd., S. 51). Dem hält der Linzer Arzt entgegen, die Lehre von der Spezifität der Gewebe könne die „geradezu ungeheuere( ) Anzahl von Krebsarten“ (Lartschneider [1940], S. 38) nicht erklären und ebenso wenig die Tatsache, dass sich in Krebsgeschwülsten „alle möglichen Übergangsgewebe“ (Lartschneider [1941a], S. 60; vgl. [1940], S. 41) nachweisen ließen. Lartschneider zählt deshalb die „durch Zellenteilung entstandenen Krebse, – wollen wir diese ,akademisch approbierte Krebse‘ nennen – falls es überhaupt solche gibt, zu den Raritäten“ (Lartschneider [1940], S. 51) und gibt der Zellularpathologie Kontra im Namen eines ihrer „Säulenheiligen“, des Anatomen Wilhelm Waldeyer (1836-1921), der höchstselbst eingeräumt habe, „niemals in den von ihm untersuchten Hunderten von Krebsgeschwülsten sich teilende Epithelzellen getroffen zu haben“ (Lartschneider [1941a], S. 14), obwohl doch von ihm das Apodiktum stamme: „,Wo keine Epithelzellen, kein Krebs!‘“ (Lartschneider [1940], S. 55) Des Weiteren kritisiert Lartschneider, die Lehre von der Spezifität der Gewebe habe die falsche Vorstellung befördert, „die gesunde und die krankhafte Gewebsbildung seien völlig verschiedene Vorgänge“ (Lartschneider [1941a], S. 41). Er widerspricht der „Ansicht, das Krebsgewebe an sich wäre ein Pathologicum“ (Lartschneider [1937], S. 1735, Sp. 2), denn die gesunde Epidermis und der verhornte (unschädlich gewordene100) Hautkrebs ließen sich histologisch nicht unterscheiden (vgl. Lartschneider [1941a], S. 41-42).
Die Zellularpathologie verabschieden und deren von ihm ausgemachte Unstimmigkeiten und Mängel beseitigen will Lartschneider im Rekurs auf die in Vergessenheit geratene, humoralpathologische Blastemlehre101, die „Lehre von der Entstehung der tierischen Gewebe, auch der krankhaften, durch auskeimen (sic) von ,Blastém‘ (Keimgewebe, Bildungsgewebe, vom griechischen Wort blastáno: ich bilde)“ (Lartschneider [1940], S. 17) – und eben nicht durch Zellteilung. Ebd., S. 32 u. 31, kontrastiert Lartschneider entsprechend „endogene (intracelluläre) Zellenbildung“ und „exogene (extracelluläre), aus freiem Blastém heraus stattfindende Zellenbildung“. Er bezeichnet ebd., S. 52, die Blastemlehre als „Theorie von der freien Zellbildung“, welche er folgendermaßen erläutert: Das Blastem stelle ein „seröses Exsudat“ (Lartschneider [1941a], S. 37) dar, d. h. sei eine dem Blut entstammende Flüssigkeit (vgl. Lartschneider [1940], S. 20). Anlass für deren Bildung seien entzündliche Prozesse.102 Im Sinne einer Heilreaktion durchdringe das Blastem an Ort und Stelle als „weich-organische Primordialmasse [...] zwischen fest und flüssig“ (ebd., S. 28) die Gefäßwand und keime dann kraft in ihm suspendierter „,geformte(r)‘ [...], d. h. [...] kernige(r) und primitiv-zellige(r) Elemente“103 (ebd., S. 32) zu Zellen aus. Es bilde sich ein Geschwür, das vom Körper dann ausgetrieben werde (innere Reinigung). Im Zuge der Ausreifung des Blastems – und das bedeute: der weiteren Bestrebungen des Körpers zur Selbstheilung, die Lartschneider mit Hippokrates als „Koktion“ (Kochung der Körpersäfte)104 bezeichnet – durchläuft es eine „biologisch vorgeschriebene Reihe von Übergangsgeweben“ (Lartschneider [1941a], S. 40), und zwar vom Exsudat über Schleimgewebe, Stachelzellen und Körnerzellen zu schließlich abzustoßenden Hornzellen, wie Lartschneider ebd., S. 39-40, am Beispiel von Pferdehuf und Epidermis erläutert.105 Werde nun aber diese Reihe nicht bis zu ihrem Ende durchlaufen, verkoche das Blastem also nicht, sondern bleibe „crude“ (roh), bedeute dies Krebs.
Lartschneider unterscheidet im Rahmen seiner Blastemlehre eine „physiologische( ), von Heilungstendenzen gelenkte( ), limitierte( )“ Gewebsneubildung (Lartschneider [1940], S. 19), die auch für die Embryonalentwicklung kennzeichnend sei106, von einer krankhaften, unlimitierten Gewebsneubildung, dem Krebs. Ob sich nun aus einem Blastem Krebs entwickle, hänge entscheidend vom Verlauf begleitender körpereigener Entzündungsreaktionen ab. Eine Entzündung begünstige nämlich nicht nur das Entstehen eines Blastems, sondern auch sein Auskeimen, Ausreifen und Ausheilen.107 Demzufolge „nimmt mit dem Anstieg der Entzündung die Keimkraft des Blastéms ab, erlischt auf der Entzündungshöhe [...], nimmt mit dem Abflauen der Entzündung wieder zu und steht im Stadium der Geschwürsheilung wieder auf voller Höhe, um jetzt im Rahmen einer [...] limitierten Gewebsneubildung die Geschwürsheilung in die Wege zu leiten, vorausgesetzt, daß nicht infolge allzu schleppendem [...] Heilungsverlauf (sic) diese Zielsetzung erlischt und nun eine unlimitierte Gewebsneubildung einsetzt – und das bedeutet das Auftreten von Krebs!“ (ebd., S. 19) Entsprechend können nach Lartschneider Krankheiten wie Tuberkulose108 oder Syphilis (Lues)109