Inhaltsverzeichnis
ERSTER TEIL - Toni, der Trossbub 1790 - 1807
Der Plan des Meisters
Pulverdampf
Der Mann am Pranger
Der Trossbub
Kettenpartner
Copyright
ERSTER TEIL
Toni, der Trossbub 1790 - 1807
Es bildet ein Talent sich in der Stille, sich ein Charakter in dem Strom der Zeit.
Goethe
Der Plan des Meisters
Der hohe Dom zu Köln!Der Meister, der’s entwarf,Baut’ es nicht aus und starb;Niemand mocht’ sich getraunSeitdem ihn auszubaun,Den hohen Dom zu Köln!
Der Dom zu Köln, Rückert
»Schon wieder Wasserspeier«, maulte Johannes und sah seinen Vater, den Dombaumeister Arnold, trotzig an. »Wasserspeier und Laubfriese und Laubfriese und Wasserspeier. Sie wiederholen sich ständig. Das muss man doch nicht in jeder Einzelheit zeichnen?«
Meister Arnold, ein behäbiger Mann in einem abgewetzten Lederwams, dem man den ständigen Aufenthalt auf der Baustelle ansah, erklärte seinem Sohn geduldig: »Nein, wir Bauleute brauchen nur eine Werkzeichnung, mein Junge. Wir wissen ja, nach welchem Prinzip das große Werk errichtet wird. Aber dieser Plan«, er wies auf die vielen zusammengehefteten Pergamente hin, die auf dem Tisch in der Dombauhütte ausgebreitet lagen, »dient ja nicht den Baumeistern und Maurern zur Hilfe, sondern soll den geringeren Geistern einen Eindruck vermitteln, wie gewaltig einst die Kathedrale wirken wird. Sie, die von den Gesetzen der Harmonie, die der Geometria innewohnen, nichts verstehen, benötigen einen Gesamteindruck der Fassade und der beiden Türme.«
Er stach den Zirkel in das Pergament, um die Grundlinie für einen Vierpass im Maßwerk eines Fensters zu ziehen. Sein Sohn gab ein belustigtes Schnauben von sich. Despektierliche Äußerungen bekam er häufiger von dem Dombaumeister zu hören.
»So haltet Ihr die Domherren für geringe Geister, Herr Vater?«
»An Erkenntnis wohl, nicht an Geschäftstüchtigkeit. Das Domkapitel will etwas zum Vorzeigen haben, wenn sie um Spenden für den Bau bitten. Wir, Johannes, wollen den Dom bauen. Also widmest du dich weiter Wasserspeiern und Laubfriesen.«
»Aber wenigstens eine der beiden Kreuzblumen lasst Ihr mich zeichnen, Herr Vater. Bitte!«
»Na gut, eine der Kreuzblumen! Aber bedenke, mein Junge, der Bau ist ein Werk, das über viele Generationen hinweg erst vollendet wird. Wir beide werden es nicht mehr erleben, dass sie ihren Platz auf dem Turmhelm finden.«
Wie lange es wirklich dauern würde, ahnten weder Meister Arnold noch sein Sohn, der später sein Nachfolger werden sollte.
Der Fassadenriss der beiden Türme aber diente immer wieder genau dem Zweck, zu dem er so sorgfältig auf dauerhaftes Pergament gezeichnet wurde. Allerdings gab es eine Zeit, da verschwand dieser wunderbare Plan aus der Geschichte. Erst ein geradezu unwahrscheinlicher Zufall brachte ihn zum rechten Zeitpunkt wieder ans Licht und ließ ihn in die richtigen Hände gelangen.
Pulverdampf
Wenn meine Mutter hexen könnt’,Da müßt’ sie mit dem Regiment,Nach Frankreich, überall mit hin,Und wär’ die Marketenderin.
Volkslied
Antonias erste Eindrücke von der Welt bestanden aus Wärme, dem Geruch von Kohlsuppe, dem Geschmack von Honigmilch, den weichen Strichen einer Bürste, mit der ihre blonden Locken entwirrt wurden, dem leisen, liebevollen Summen ihrer Mutter, wenn sie an ihrem Bettchen saß, und dem rauen, polternden Lachen ihres Vaters, der sie oft genug fröhlich durch die Luft schwenkte. Sie war ein glückliches Kind, und einzig ihre beiden älteren Brüder bereiteten ihr gelegentlich Verdruss. Nicht weil sie hässlich zu ihr gewesen wären, sondern weil sie noch nicht an ihren aufregenden Spielen teilnehmen konnte. Noch waren ihre Beine zu kurz, um mit ihnen im Paradeschritt mitzuhalten, wenn sie mit ihren Holzgewehren auf und ab marschierten oder sich wilde Gefechte mit den anderen Gassenbuben lieferten. Zum Trost nahm die Mutter sie an schönen Sommertagen mit auf den Markt, wo sie hinter dem Stand in einem Laufställchen spielen, von den süßen Beeren naschen oder gar an einem Orangeschnitz lutschen durfte. Sie liebte die Geschäftigkeit, das Feilschen und gutmütige Schimpfen, die streunenden Hunde, den Werber mit seiner Trommel, der den jungen Männern eine ruhmvolle Soldatenkarriere versprach, die kichernden Wäschermädchen mit ihren schweren Körben, die Pferdefuhrwerke, die vorbeirumpelten. Weniger liebte sie die hübschen Kleidchen, in die ihre Mutter sie steckte, und die bunten Schleifen in ihrem Haar, oder wenn die anderen Frauen sie ein niedliches Püppchen nannten und ihr über den Kopf strichen. Zum beständigen Leidwesen der Mutter hatte sie immer wieder Flecken auf dem Rock, baumelten die Haarbänder gleich wieder unordentlich an ihren Zöpfchen, und meist war ihr Gesicht mit irgendetwas verschmiert.
Die Schelte fiel nie besonders ernsthaft aus. Zu sehr liebte Elisabeth, die Marktfrau, ihre kleine Tochter - ihr Wunschkind.
Auch Wilhelm, der Vater, war ihr auf das Innigste zugetan, und Antonia erwiderte diese Liebe. Er war ein ansehnliches Mannsbild in seinem roten Rock mit den weißen Aufschlägen, den engen Lederhosen und schwarzen Gamaschen. Schnell hatte sie gelernt, dass er zu den »Roten Funken« gehörte, den Stadtsoldaten, deren Aufgabe es war, in den Türmen an den Toren der Mauer zu wachen, damit nichts Böses oder Fremdes von draußen in die Stadt eindrang.
Ihre Welt war heil und überwiegend sonnig - bis kurz vor ihrem vierten Geburtstag. An einem Nachmittag im September fand sie ihre Mutter weinend in der Stube sitzen. Jupp und Franz, die neunjährigen Zwillinge, jedoch starrten mit aufgeregtem Glitzern in den Augen den Vater an, der seine Hand auf Elisabeths Schulter gelegt hatte.
»Ich will dich auch nicht verlassen, Elisabeth, aber wir sind nach Mainz abkommandiert, um uns dort dem kaiserlichen Heer anzuschließen. Die Franzosen rücken näher, und Köln ist nicht zu halten.«
»Aber was wird aus mir und den Kindern, Wilhelm, wenn die Franzosen die Stadt besetzen?«
Ihr Vater sah ebenfalls unglücklich drein, fand Antonia, als er seinen Blick über sie und die beiden Jungen schweifen ließ.
»Es wird keine Kämpfe geben«, versuchte er ihr zu versichern.
»Nein, aber Plünderungen und Schlimmeres.«
Antonia verstand nicht, was ihre Eltern bedrückte, aber eines war auch ihr ganz klar - etwas Entscheidendes war geschehen, und nichts würde mehr so sein, wie es einmal war.
Einige Tage später spürte sie am eigenen Leib die Auswirkungen, und es wäre unwahr zu behaupten, dass sie sich darüber grämte, als ihre Mutter ihre Zöpfe abschnitt und ihr Jungenkleider anzog, obwohl sie dabei Tränen in den Augen hatte.
»Du bist nun unser dritter Sohn, Toni«, sagte Elisabeth und nahm ihre Tochter zwischen die Knie. »Das wird besser sein und weniger Probleme bereiten. Ein rechter Wildfang bist du ja schon.«
»Warum, Mama?«
»Weil wir mit Papa mitziehen werden. In einem zweispännigen Wagen. Wir werden in einem Zelt wohnen, dort, wo er Lager macht, und ich werde meine Waren an die Soldaten verkaufen. Ich habe eine Lizenz als Marketenderin bekommen.«
»Wird das wie ein Ausflug sein?«
»Ja, so etwas Ähnliches. Nur wird es wohl ein wenig länger dauern, als unsere kleinen Reisen nach Deutz hinüber.«
»Aber wir kommen zurück, ja?«
»Ja, wir kommen zurück.«
»Bald?«
»Kind, das weiß ich nicht.«
»Du bist traurig deswegen.«
»Ja, Toni. Ich bin traurig. Ich liebe diese Stadt, und ich verlasse sie nicht gerne. Aber ich liebe deinen Papa weit mehr, und darum gehen wir mit ihm.«
»Darf ich ein Schießgewehr haben, wie Jupp und Franz?«
»Nein. Aber du sollst jetzt eine heiße Honigmilch bekommen.«
Das tröstete Antonia - von nun an für lange Jahre Toni - über vieles hinweg.
Am 5. Oktober 1794 verließen die Stadtsoldaten Köln und wurden zur »Kaiserlich-Königlich Stadt-Köllnischen Kreis Contingent Division«.
Bevor der schwere Marketenderwagen aus dem Stadttor rollte, sah Toni sich noch einmal um und nahm Abschied von dem riesigen, düsteren Gebilde, das dort, seit sie denken konnte, am Rhein kauerte, und das sie immer mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Grauen betrachtet hatte. Der hohe Dom zu Köln stellte wahrhaftig keinen schönen Anblick dar.
Die Reise hingegen bereitete ihr Vergnügen. Noch war das Herbstwetter angenehm, die Sonne wärmte sie, Äpfel hingen an den Bäumen, süße Trauben reiften im Überfluss. Die Soldaten, die mit ihnen zogen, waren übermütiger Laune. Zumindest Pitter Stammel und Stephan Schäfer, die oft neben ihrem Wagen marschierten. Sie waren mit sechzehn und siebzehn die jüngsten Mitglieder der Truppe, und die mütterliche Elisabeth fühlte sich berufen, ihnen ihre besondere Fürsorge angedeihen zu lassen - sehr zur Freude ihrer Kinder. Denn Pitter war der Regimentspfeifer und Stephan der Tambour. Trommeln und fröhliche Liedchen begleiteten sie auf dem Weg nach Süden.
Aber dann wurde das Wetter schlechter und die Lager unbequemer. Sie erreichten in jenem bitterkalten Winter die Festung Mainz, die von den Franzosen belagert wurde. Doch die Waffen ruhten, denn der Rhein war zugefroren, und die Armeen - die österreichische und die französische, lagen in ihren Quartieren. Schreckliche Gerüchte erreichten die eintreffenden Kölner. Im belagerten Mainz grassierten Krankheit und Hunger, der Typhus forderte seine Opfer, und hin und wieder zogen Wagen mit jämmerlich aussehenden Kranken an ihnen vorbei. Dann, am 15. Februar, ereilte schließlich Corporal Wilhelm Dahmen der Befehl, mit seinen Männern über den Rhein zu setzen und den Mainzern Verstärkung zu bringen.
Toni litt unter Frostbeulen und lernte erstmals in ihrem Leben Hunger kennen. Ihre Mutter war nur noch selten fröhlich, und auch als der Frühling endlich anbrach, blieb sie bedrückt. Hin und wieder nur erhielten sie kleine Botschaften aus der belagerten Stadt, aber wenigstens schienen Wilhelm, Peter und Stephan zu überleben. Ihre Zeit verbrachte Elisabeth damit, immer neue Versorgungsquellen zu erkunden, und oft nahm sie Toni auf ihre Streifzüge über das Land mit. Erst im Sommer besserte sich die Lage, das Essen wurde reichhaltiger und abwechslungsreicher, die Krankheiten gingen zurück.
Im Oktober erlebte Toni ihre erste Schlacht. Von Weitem natürlich, denn ihr Lager befand sich außerhalb der Kampflinien. Österreichische Truppen stürmten Mainz, und die Franzosen flohen. Der Geruch von Pulver und Brand wehte zu ihnen, und die aufpeitschende Musik der Spielleute vermischte sich mit den Schüssen und dem Schreien der Männer. Es dauerte einen halben Tag, dann brachten sie Wilhelm auf einer Trage zum Marketenderzelt zurück, und Toni sah ihre Mutter blass werden. Er hatte eine Schusswunde in der linken Schulter erhalten, und der Feldscher wollte ihn, nachdem er die Kugel entfernt hatte, ins Lazarett einweisen. Elisabeth, inzwischen gut vertraut mit den unsäglichen Zuständen dort, fuhr ihn an wie eine Tigerin. Einige Tage später ließen sie sich in einem Dorf auf hessischem Gebiet nieder, wo sie eine kleine Kate bezogen. Hier pflegte Elisabeth ihren Mann gesund.
Toni lernte Verbände wickeln, den Geruch von Krankheit, Blut, Eiter und Fieberschweiß ertragen, half ihrem Vater, Suppe zu löffeln und seine Kissen zu richten. Mit Elisabeth lernte sie beten. Vor allem zur heiligen Ursula, von der ihre Mutter ein kleines Bildchen besaß. Eine eigenwillige Frömmigkeit wurde ihr damit beigebracht. Bestimmte Gebete kannte sie inzwischen auswendig, plapperte sie nach und glaubte fest daran, damit die Heilige bewegen zu können, ihren Vater zu heilen. Ob es nun diese Bitten waren oder die Natur ihren Lauf nahm - Wilhelm genas langsam, und als es ihm besser ging, brachte er Toni das Stricken bei. Im Juni des nächsten Jahres war er so weit gesundet, dass er wieder seinen Dienst antreten konnte.
Elisabeth befüllte ihren Marketenderwagen und zog mit Mann und Kindern Richtung Mainz, das aufs Neue umkämpft wurde. Tonis Erinnerungen an diese Zeit wurden für immer beherrscht von dem Geruch nach beißendem Pulverdampf, Pferden, Schweiß und Blut. Raue Stimmen, die Befehle brüllten oder vor Schmerzen schrien, Trommeln und Pfeifen, die zum Kampf riefen, manchmal wilder Gesang und das Wiehern der Pferde. Geschützfeuer konnte sie von Gewehrsalven unterscheiden, Mörser von Kanonen. Jupp und Franz, jetzt alt genug, um sich nützlich zu machen, waren Pferdeburschen geworden und gebärdeten sich, wenn sie denn gelegentlich bei Elisabeth vorbeikamen, wie harte Männer. Toni wäre ihnen gerne gefolgt, aber ihre Mutter hatte es ihr strikt verboten. So half sie ihr beim Zubereiten der Mahlzeiten, strickte Strümpfe und schnappte von den anderen Lagerbewohnern die seltsamsten Kenntnisse auf. Häufig begegneten sie Emigranten aus Frankreich, die vor der Revolution geflohen waren und nun auf Seiten der Österreicher und Deutschen kämpften. Ihre Sprache lernte sie genauso leicht wie die Grundlagen des Rechnens und des Feilschens. Lesen brachte ihr Elisabeth anhand eines kleinen Breviers mit Heiligengeschichten bei, und als Toni auch diese Kunst bewältig hatte, war sie beständig auf der Suche nach Lektüre.
Im Grunde war ihr Leben von ständiger Unsicherheit geprägt, von Gefahren und Not, von Gewalt und Kampf um sie herum, und dennoch gelang es ihrer Mutter - und ihrem Vater, wann immer er Zeit für sie erübrigen konnte -, ihr einen festen Halt in dieser chaotischen, von Aufruhr und Umsturz bestimmten Zeit zu geben. Ihre wichtigste Erfahrung aus der wirren Welt ihrer Kindheit war die, dass man aus jeder noch so verfahrenen Situation etwas machen konnte - wenn man es nur wollte.
Der Mann am Pranger
Ah! ça ira, ça ira, ça ira!Les aristocrates à la lanterne.
Lied der französischen Revolution
Er hatte seinen Blick dem Dom zugewandt, aber er sah ihn nicht. Höllisch schmerzte ihn die linke Schulter, in die ihm der Scharfrichter das glühende F gebrannt hatte. Die Arme hatten sie ihm hinten um den Pfahl geschlossen, und weitere drei Stunden musste er nun noch auf dem Prangergerüst ausharren. Dabei konnte er von Glück sagen, dass er sich nicht allzu viele Feinde gemacht hatte. Bisher war niemand auf die Idee gekommen, ihn mit stinkendem Unrat zu bewerfen. Nur mitleidige Blicke oder höhnische Bemerkungen hatte er zu hören bekommen. Vor allem seine ehemaligen Kommilitonen ließen es sich nicht nehmen, an ihm vorbeizuflanieren.
Cornelius versuchte, sie zu ignorieren. Er war sich seiner Schande nur zu bewusst. Vor drei Jahren hatte man ihn der Universität verwiesen. Er hatte den Fehler begangen, sich mit der Frau eines Professors einzulassen. Es war entdeckt worden, und mit seiner trotzigen Haltung machte er alles nur schlimmer. Doch war er nicht unglücklich gewesen, das Studium aufgeben zu müssen. Der Theologie, so hatte sein Vater verlangt, sollte er sich widmen, um der Familientradition folgend die geistliche Laufbahn einzuschlagen. Aber weder fühlte Cornelius sich zur Religion hingezogen noch zu den kirchlichen Ämtern. Obwohl sie einem jüngeren Sohn gewisse Annehmlichkeiten verschafften. Die Revolution, die Frankreich erschütterte und nun ihre Wirkung auch in Köln entfaltete, hatte indessen sowieso alles geändert. Die Geistlichkeit war ihrer reichen Pfründe verlustig gegangen, sie erhielten keine Sonderrechte mehr, keine lukrativen Anstellungen. Ja, es war sogar verboten, die Religion öffentlich zu praktizieren.
Dennoch ergab sich ein großer Nachteil aus dem Abbruch seiner akademischen Ausbildung, denn er hatte damit den Zorn seines Vaters auf sich gezogen. Der strich ihm seine Apanage und wies ihn kurz und bündig an, er möge gefälligst selbst für seinen Unterhalt sorgen. Das wäre vermutlich nicht allzu unbequem gewesen, hätte doch sein Pate, Hermann von Waldegg, sogar ein gewisses Verständnis für sein Handeln aufbringen können und ihn weiterhin unterstützt. Nur - der Domkapitular weilte zu jener Zeit zusammen mit der hohen Geistlichkeit in Arnsberg, wohin die Domschätze kurz vor dem Einmarsch der Franzosen verbracht worden waren, um sie vor den erwarteten Plünderungen zu schützen. Cornelius fand sich mit zwanzig Jahren auf sich selbst gestellt. Findig wie er war, tat sich ihm ein Weg auf, diese Selbstständigkeit auszubauen - leider einer, der ihn ins Unglück führte. Durch Vermittlung eines Freundes begann er eine Lehre als Buchdrucker bei dem Verlag Lumscher auf dem Heumarkt. Daran fand er sogar Gefallen, vor allem die Holz- und Kupferdruck-Technik hatte es ihm angetan. Doch der Lohn, den er als Lehrling, später als Geselle erhielt, war mehr als dürftig und nicht dazu angetan, ihm seinen gewohnten Lebensstil zu finanzieren. Er besserte ihn auf ungewöhnliche Weise auf - er spielte Karten. Und zwar gut. Sein präziser, mathematisch geprägter Verstand, seine leidenschaftslose Haltung zum Spiel und seine beherrschte Miene machten ihn oft zum Gewinner. Aber die kleinen Beträge, die er Studenten oder Reisenden abnahm, reichten noch immer nicht. Er lernte von einem Franzosen, einem professionellen Spieler, wie man mit gezinkten Karten die Gewinnchancen erhöhen konnte. Gewitzt, wie er war, erschienen ihm die Methoden des Abschleifens und Einknickens der Karten zu primitiv. Lumscher stellte - nicht unter seinem Namen, aber als gewinnträchtiges Nebenprodukt - auch Spielkarten her, und hier fand Cornelius die perfekte Form, sich Kartendecks zu verschaffen, die nur für ihn sichtbare Zeichen auf der Rückseite trugen.
Vor zwei Monaten hatte er einmal zu oft gewonnen.
Man hatte ihn des Falschspiels überführt und angeklagt. Das F auf seiner Schulter würde ihn sein Leben lang daran erinnern, wie leichtsinnig er gewesen war.
Ein sehr junges Mädchen in einem hellen, mit Blumen bestickten Kleid und einer Strohschute auf den goldblonden Locken schlenderte vor dem Domportal vorbei und blieb, die Augen nach oben gewandt, stehen. Ein hübsches Ding, dachte Cornelius und bemühte sich, so unscheinbar wie möglich zu werden, um nicht ihr Augenmerk auf sich zu lenken. Trotz aller Schmach und Schande, trotz aller Schmerzen und allen körperlichen Elends - hübschen Mädchen wollte er lieber gefallen, als von ihnen verachtet zu werden.
Es gelang ihm nicht. Sie drehte sich um und starrte ihn mit großen Augen an. Dann kam sie langsam näher. Neugier spiegelte sich in ihrem Gesicht, als sie ihn aufmerksam musterte.
Cornelius war ein ansehnlicher junger Mann, groß und hager, doch hielt er sich aufrecht und hatte breite Schultern. Sein Haar trug er seit Langem kurz geschnitten, des Zopfes hatte er sich schon früh entledigt. Jetzt fielen seine dunkelbraunen, fast schwarzen Haare ungekämmt auf seine Schultern. Sein Gesicht war es allerdings, das die Aufmerksamkeit vieler Menschen auf sich zog. Denn die Laune der Natur wollte es, das sich seine rechte Braue höher wölbte, als die linke, der nämliche Mundwinkel sich aber ein wenig mehr nach unten zog als der andere, und selbst die Nase neigte sich eine Idee weiter nach rechts, sodass er von der einen Seite betrachtet wie ein gut aussehender, aber gelangweilter junger Mann aussah, von der anderen Seite jedoch einen reichlich sardonischen Ausdruck zeigte. Janusköpfig hatte man ihn oft genannt, nach dem römischen Gott der zwei Gesichter.
»Haben Sie sich an meinem Elend nun genug ergötzt?«, fragte er das Mädchen, als es nahe an das Holzgerüst mit dem Schandpfahl herangetreten war.
Sie fuhr zusammen und errötete. »Verzeihen Sie. Ich wollte nicht unhöflich sein.«
»Sie sind es aber.«
Sie nickte und sah dennoch herausfordernd nach oben, um zu entziffern, was auf dem Zettel an dem Pfahl geschrieben stand.
»Hermann Cornelius von der Leyen, Falschspieler«, las sie laut. Dann sah sie die Wunde. »Mein Gott, man hat Sie gebrannt!«
»Das tut man mit Verbrechern, mein Fräulein.«
»Es muss entsetzlich schmerzen.«
»Das stimmt.«
Das Mädchen schüttelte den Kopf, kramte in seinem Retikül herum und förderte ein Taschentuch zu Tage. Sie sah noch einmal zu ihm hin, als ob sie sich vergewissern wollte, dass er nicht fortlief, und eilte dann zu dem nahen Brunnen, um das Leinen ins Wasser zu tauchen. Mit dem nassen Tuch kehrte sie zurück und legte es sacht auf die brennende Stelle. Cornelius seufzte unwillkürlich.
»Tue ich Ihnen weh?«
»Nein, mein Fräulein. Es hilft. Danke. Aber Sie sollten so etwas nicht tun. Es gehört sich nicht.«
»Ich weiß.«
Trotz allem musste Cornelius lächeln. »Eine barmherzige Samariterin.«
»Ich wünschte, ich hätte einen Becher. Sie haben bestimmt auch Durst.«
»Habe ich, aber in Anbetracht der Umstände möchte ich lieber nichts trinken. Ich muss noch weitere drei Stunden hier ausharren. Eine volle Blase erleichtert das nicht eben.«
»Oh.«
Er grinste sie herausfordernd an.
»Sie haben natürlich Recht«, antwortete sie mit Würde und brach dann in ein kleines Kichern aus. »Man denkt so wenig über solche Sachen nach, wissen Sie.«
»Ehrbare Bürgerinnen wie Sie brauchen das auch nicht. Bleiben Sie also auf dem Pfad der Tugend, mein Fräulein.«
»Ich werde es mir überlegen. Werden Sie auf besagten Pfad zurückkehren, Herr von der Leyen, wenn man sie hier losmacht?«
»Mein Weg ist vorgezeichnet.«
»Was werden Sie tun? - Entschuldigen Sie, ich bin grässlich neugierig.«
»Ich werde meine Strafe antreten.«
»Wie bitte? Ist das hier nicht Strafe genug?«
»Nein, mein Fräulein, man befand mein Vergehen schwer genug, um über mich weitere zehn Jahre eine Kettenstrafe im Bagno zu verhängen.«
»Allmächtiger Gott!«
»Keine rosigen Aussichten, ich weiß.«
»Das ist entsetzlich! Das ist barbarisch!«
»Das ist das geltende Recht. Ob es gerecht ist …?« Er hob die unverletzte Schulter und verzog die Lippen zu einem bitteren Lächeln.
»Haben Sie denn keine Freunde, die Ihnen helfen können?«
»Man verliert schnell seine Freunde, wenn man Pech hat. Sie sollten nicht hier bei mir bleiben. Es ist sicher nicht im Sinne Ihrer Eltern, wenn Sie alleine über den Richtplatz wandern.«
»Sie werden von ihrem Platz im Himmel über mich wachen, stelle ich mir vor.«
»Eine Waise? Sie verloren Ihre Eltern?«
Das Mädchen wies auf den Dom. »Er forderte das Leben meines Vaters. Sein totgeborener Sohn das meiner Mutter.«
Cornelius kam nicht mehr dazu, ihr zu antworten. Aus den Passanten trat eine ältere Dame in einem nüchternen grauen Kleid hervor und zischte zu dem Mädchen hoch: »Sarah Susanne! Komm sofort da herunter!«
»Sogleich, Madame«, beschied sie die Aufgebrachte und wandte sich noch einmal an Cornelius. »Meine Gouvernante. Ein Brechmittel.«
»Der Ruf der Tugend, Fräulein Sarah Susanne. Hören Sie auf ihn.«
»Er ist aber so langweilig.«
»Da mögen Sie Recht haben, aber ich glaube, Sie würden nicht mit mir tauschen wollen, um jener Langeweile zu entgehen.«
»Nein, sicher nicht. Leben Sie wohl. Ich werde für Sie beten, Herr von der Leyen.«
»Und ich werde an Sie denken, Sarah Susanne. Vielleicht hält mich das am Leben.«
»Sarah Susanne!«, kam es scharf und ungehalten von der Gouvernante.
»Bleiben Sie gesund, und kommen Sie wieder.« Susanne hüpfte mit undamenhaft gerafften Röcken von dem Holzgerüst und wurde sogleich mit festem Griff am Arm weggeführt, wobei ihr heftigste Vorwürfe in die Ohren gezischelt wurden. Cornelius sah ihr lange nach. Frauen würde es so bald in seinem Leben nicht mehr geben.
In der nächsten Stunde war er dankbar für die rasch über den Himmel ziehenden Wolken, derentwegen er nicht ständig der brennenden Sonne ausgesetzt war. Dafür aber stellten sich etliche Gaffer ein, die sich an seinem Anblick ergötzten. Der Domhof war, seit das neu gegründete Kriminalgericht 1798 seinen Dienst aufgenommen hatte, der Platz, an dem die Urteile vollstreckt wurden. Nicht nur der Schandpfahl wurde hier aufgebaut, auch die neuartige Guillotine, die man sich aus Frankreich hatte liefern lassen. Vor drei Monaten, im Mai, hatte sie das erste Mal ihre Effizienz bewiesen. Schaulustige promenierten daher gerne über den Domplatz.
Kurz bevor Cornelius’ Zeit am Pranger vorüber war, bewegte sich die hohe Gestalt des Domkapitulars Hermann von Waldegg eilig auf das Gerüst zu. Er war Anfang fünfzig, trug sein graues, lockiges Haar ungepudert, doch stand es ihm wie immer wirr vom Haupt ab. Cornelius hatte seinen Paten seit fünf Jahren nicht mehr gesehen, und tiefe Scham überfiel ihn.
»Junge, was hast du nur getan?«, murmelte Waldegg, als er das Strafgerüst erklomm. »Du hättest zu mir kommen sollen, als du in Geldnöten warst.«
»Es war nicht nur das, Cousin Hermann.«
»Nein, ich weiß. Ich habe weiß Gott versucht, sie dazu zu bringen, das Urteil zu mildern. Ich habe mit Pape, dem Gerichtspräsidenten, gesprochen und mit Anton Keil, dem Ankläger. Ich habe mit Kormann geredet, der zu den Geschworenen gehört und war eben sogar bei dem Regierungskommissär Lakanal selbst. Irgendwie musst du dir einen Feind gemacht haben, Cornelius. Es hat alles nichts genützt.«
Cornelius schwieg. Wie hätte er seinem wohlmeinenden Paten verständlich machen können, dass sein Intervenieren vermutlich sogar das Strafmaß hochgesetzt hatte? Schließlich hob er noch einmal resigniert die unverletzte Schulter.
»Es sind überzeugte Republikaner, Cousin. Adligen stehen sie mit keinem großen Wohlwollen gegenüber.«
»Einige von ihnen gehören meiner Loge an.«
»›Brüder, reicht die Hand zum Bunde …‹«, spottete Cornelius bitter. »Haben sie getan. Gräm dich nicht, Cousin Hermann. Wer weiß, vielleicht habe ich es verdient.«
»Hast du gewiss nicht. Ich heiße selbstredend das Glückspiel nicht gut und Falschspielerei erst recht nicht, aber es ist kein Totschlag oder gewalttätiger Überfall.«
»Diebstahl ist es. Dafür hat man auch schon das Fallbeil bemüht. Bedenke, andernorts hing man die Adligen an die Laternen. Ich lebe noch.«
»Ja, du lebst noch. Cornelius. Man sagt, der Dienst in den Häfen sei hart. Aber sie begnadigen diejenigen, die sich gut führen. Versuche, dein Temperament zu zügeln. Möglicherweise kannst du Gnade erwirken. Du bist nicht dumm. Setz deinen Verstand ein.«
»Ich ertrage Demütigungen nicht besonders gut«, wandte Cornelius leise ein.
»Du wirst es lernen. Um zu überleben. Außerdem - die Zeiten ändern sich wieder einmal. In Paris gärt es im Directoire. Wer weiß, was daraus wird.«
»Eine Wendung zum Schlimmeren?«
»Nicht unbedingt. Warten wir es ab. Cornelius, ich habe in deiner Wohnung vorbeigeschaut und deine Habseligkeiten zusammengepackt. Wenn du zurückkommst, wirst du alles bei mir finden.«
»Falls ich zurückkomme. Dennoch, danke. An so etwas habe ich seit meiner Verhaftung nicht mehr gedacht.«
»Schon gut, mein Junge. Ich habe auch deinem Vater geschrieben, aber er hat nicht darauf reagiert.«
»Er wird mich kommentarlos aus der Familienbibel gestrichen haben.«
»Ich bedaure seine Hartherzigkeit. Bevor ich von Arnsberg zurückgekommen bin, habe ich ihn besucht. Darüber habe ich erst erfahren, dass du die Universität verlassen hast. Von deiner Mutter. Sie war sehr betrübt deswegen, bedauerte dich aber. Er hingegen hat keine einzige Frage nach dir beantwortet. Und du bist genauso stur. Du warst wie vom Erdboden verschwunden, Cornelius. Warum hast du mich nicht aufgesucht? Du musst doch von meiner Rückkehr gehört haben.«
»Hörte ich. Ich wusste von deiner Heirat. Ich wollte mich nicht aufdrängen.«
»Cornelius... Du warst mir nie lästig. Und Elena - nun, sie wird verstehen müssen, wie wichtig du und David mir seid. Wichtiger als alles andere im Leben.«
Leicht überrascht musterte Cornelius seinen Paten von der Seite. Der hatte die Augen niedergeschlagen, und seine Finger umfassten mit krampfhaftem Griff den silbernen Knauf seines Spazierstocks. Eine seltsame Ahnung überkam ihn.
Sie konnten nicht mehr weiter miteinander sprechen, denn der Scharfrichter traf ein, um den Delinquenten vom Pranger zu lösen. Waldegg schob ihm einen ordentlichen Betrag zu, damit er die Ketten, die Cornelius ab jetzt zu tragen hatte, nicht zu fest um dessen Beine schloss.
Cornelius aber sah die Tränen in den Augen des Älteren, und er nahm mit den schweren Eisen die Verpflichtung auf sich, nicht nur zu überleben, sondern auch, sobald er einen Weg fand, zurückzukehren.
Der Trossbub
Am Abend wird man klugFür den vergangenen Tag,doch niemals klug genug,für den, der kommen mag.
Vierzeilen, Rückert
1798, als Toni acht Jahre alt war, erschütterte ein weiterer Verlust ihr Leben. In den letzten Kämpfen um Philippsburg fiel Corporal Wilhelm Dahmen. Pitter und Stephan gerieten in Gefangenschaft, und eine zutiefst unglückliche Elisabeth hatte kaum mehr die Kraft, sich von ihrem Lager zu erheben. Ihre Söhne Jupp und Franz saßen Tag und Nacht bei ihr, aber auch sie wussten sich keinen Rat. In all dieser Trauer und Ratlosigkeit war es schließlich Toni, die sich auf den Weg machte, den Mann zu suchen, von dem ihr Vater immer behauptet hatte, er sei der beste Offizier, den er je kennengelernt hatte - den Oberstleutnant von Klespe. Sie fand den Offizier, erschöpft, von Krankheit und Hunger gezeichnet, wie alle anderen, die die Belagerung der Stadt überstanden hatten. Erstaunlicherweise erkannte er den kleinen Burschen und hörte ihn an. Da er ein Mann war, der sich für seine Leute verantwortlich fühlte, begleitete er Toni zum Marketenderzelt und führte dort eine lange Unterredung mit der Witwe seines Corporals.
Als Folge davon packten sie, als die Straßen wieder passierbar wurden, ihre Habseligkeiten auf den Wagen und traten die Reise ins Hessische an. Hier hatte Elisabeth schon zu der Mainzer Zeit den einen oder anderen Ort kennengelernt, und mit dem Geld, das von Klespe für sie von der Regimentskasse gefordert hatte, mieteten sie sich in Pfungstadt, in der Nähe von Darmstadt, ein winziges Häuschen mit einem verwahrlosten Gemüsegarten.
Der Jahrhundertwechsel ging unbemerkt an ihnen vorüber, und die Jahre 1800 und 1801 verbrachten sie in einem vergleichsweise friedlichen Ländchen. In Frankreich war, wie Toni, die jede Zeitung las, derer sie habhaft wurde, ein neuer Machthaber aufgestiegen, ein korsischer General, der im Juni 1800 bei Marengo einen außerordentlichen Sieg errungen hatte. Nicht immer verstand sie alles, was in den Berichten stand. Elisabeth bezog keine eigene Zeitung, aber alte Blätter wurden manchmal als Einwickelpapier verwendet oder fanden sich, zerlesen und zerfleddert, bei den Abfällen. Es war ein krauses Sammelsurium an Nachrichten, das Toni damit zusammentrug, aber da sie nun am Marktstand mithalf, gelang es ihr, sich aus den Gesprächen der Kunden, dem Geschwätz der anderen Marktfrauen, den Ansichten der Bauern und Viehhändler und dem Schwadronieren der Invaliden und Veteranen in den Wirtshäusern ein recht stimmiges Bild von der Welt zu machen, in der sie lebte. Ihre Brüder hatten diesen Ehrgeiz nicht. Sie waren nur an einem interessiert - in den Krieg zu ziehen. Knapp siebzehn waren sie jetzt und ausgemachte Pferdenarren. So klangen denn die Verlockungen der Werber immer köstlicher in ihren Ohren. Kurz nach Ostern 1802 standen die Zwillinge eines Nachmittags in der schmucken grünen Uniform der Hessisch-Darmstädtischen Chevauxlégères in der Tür. Toni juchzte auf und betastete mit Begeisterung die roten Aufschläge und Kragenspiegel, paradierte bewundernd um die großen Brüder herum und überschüttete sie mit Dutzenden von Fragen.
Ihre Mutter zeigte weit weniger Enthusiasmus.
»Es musste ja so kommen, nicht wahr, Jupp? Franz?«
»Ja, Mama. Wir können doch nicht ewig Kohlköpfe verkaufen.«
»Nein, das könnt ihr wohl nicht. Hoffen wir aber, dass uns der Frieden erhalten bleibt.«
Altklug mischte sich Toni ein: »Sie haben in Lunéville beschlossen, den Franzosen das ganze linke Rheinufer zu überlassen. Die Fürsten hier auf der Seite werden für die Gebiete entschädigt, die sie dadurch verlieren. Ihr werdet bestimmt irgendwohin marschieren müssen, um die neuen Länder zu besetzen.«
»Wo schnappst du nur immer solche Sachen auf, Toni?«, fragte Jupp erstaunt.
»Der alte Feldwebel mit der Augenklappe hat es mir erklärt.«
»Kind, du sollst dich nicht in den Wirtsstuben herumdrücken«, mahnte Elisabeth sie.
»Hab ich gar nicht. Er hat draußen auf den Stufen gesessen.«
Franz legte Toni die Hand auf die Schulter. »Sie könnte wohl Recht haben, Mama. Aber es wird sicher so bald keine Kämpfe geben. Wir werden erst einmal unsere Ausbildung machen. Hier, das haben wir für dich. Kauf dir und Toni etwas Hübsches davon.« In zwei Lederbeuteln übergaben die Zwillinge ihrer Mutter das Handgeld, das sie von den Werbern erhalten hatten. Dann verabschiedeten sie sich, um sich auf den Weg nach Darmstadt zu machen.
Eine Weile saß Elisabeth bewegungslos auf der schmalen Bank neben dem Kamin, während Toni eifrig die Goldstücke zählte.
»Antonia!«
Toni sah verblüfft auf. Lange nicht mehr hatte sie jemand mit ihrem Mädchennamen angeredet. Sie ging zu ihrer Mutter, die sie an sich zog.
»Nun bist du alles, was mir bleibt«, seufzte sie leise und strich ihrer Tochter durch die kurzen, lockigen Haare.
»Du bist traurig, weil sie jetzt Soldaten sind.«
»Natürlich. Ich habe es seit einiger Zeit geahnt. Wir werden sehen müssen, wie wir zurechtkommen, nicht wahr?«
Toni schmiegte sich an sie. Elisabeth war sechsunddreißig Jahre alt, eine kräftige Frau, deren kastanienbraune Haare noch kein Grau aufwiesen. Sie war hübsch, doch der Kummer hatte einige Fältchen in ihr Gesicht gegraben. Den Verlust ihres Mannes hatte sie zwar nicht überwunden, aber sie arrangierte sich damit. Tatkräftig und erfindungsreich war sie immer gewesen, und nur die vier Monate nach Wilhelms Tod war sie lethargischem Nichtstun anheim gefallen. Inzwischen hatte sie wieder einen kleinen Marktstand eröffnet, der sich bei den Dorfbewohnern großer Beliebtheit erfreute.
»Du wirst allmählich erwachsen, Toni, wir müssen auch darüber nachdenken. Du kannst nicht weiter als Junge herumlaufen. Zwölf Jahre wirst du im Dezember. Bald wird sich dein Körper verändern.«
»Ich will aber kein Mädchen sein. Die müssen in solch dummen Kleidern herumlaufen und benehmen sich wie blöde Ziegen.«
Toni galt in der Umgebung als Junge und hegte eine ausgesprochene Verachtung für die gleichaltrigen Mädchen, mit denen sie die Dorfschule besuchte.
»Du kannst es nicht vermeiden. Wir werden uns etwas einfallen lassen, wie wir den Wandel begründen.«
Toni grinste ihre Mutter plötzlich an. »Das wird runde Augen geben, wenn ich plötzlich mit Schleifen im Haar und Rüschenröckchen auftauche.«
»Ich fürchte auch. Vielleicht sollten wir von hier fortziehen.«
»Willst du wieder als Marketenderin arbeiten, Mama?«
»Nein, Toni. Obwohl es gutes Geld gibt.«
»Auch nicht, wenn Jupp und Franz Order bekommen, auszurücken und ein fremdes Gebiet zu besetzten?«
Nachdenklich betrachtete Elisabeth ihre Tochter. Sie war eine lebenserfahrene Frau, die ein gutes Gespür für Menschen und Situationen entwickelt hatte. Sie nahm ihre Tochter, die so begierig Nachrichten aus der großen Welt sammelte, durchaus ernst, wenngleich sie ihren Wissensdurst selbst nicht teilte. Ihre Welt war kleiner und rankte sich um das tägliche Überleben. Schließlich nickte sie.
»Manchmal bist du beinahe zu klug für dein Alter, Toni. Ich werde mich umhören, was man dazu zu sagen hat.«
Das taten sie beide. Einige Tage später betrachteten sie ihre Ausbeute bei einer heißen Honigmilch.
»Es heißt, im Reichs... depu … dingsbums wird darüber verhandelt, wer von den Fürsten auf der rechten Rheinseite welche Gebiete an die Franzosen auf der linken Rheinseite abzugeben hat und welche sie als Entschädigung erhalten. Das habe ich hier gelesen.« Toni breitete einen halbzerrissenen Fetzen Zeitung aus.
»Der Reichsdepu …?« Auch Elisabeth hatte ihre Schwierigkeiten mit dem Wortungeheuer Reichsdeputationshauptschluss, das vermutlich kein Mensch in der Lage war, ohne Stottern und Speichelversprühen auszusprechen.
Toni ergänzte die nüchterne Information mit den Mutmaßungen, die sie aufgeschnappt hatte.
»Es ist die Versammlung der rechtsrheinischen Landesfürsten. Unser Landgraf Ludewig soll mit Napoleon ausgehandelt haben, dass er ein Stück von Westfalen erhält. Ich habe mir das von Ernst auf der Karte zeigen lassen. Dieses Westfalen liegt ziemlich weit im Norden von hier und hat eigentlich keine Verbindung mit der Grafschaft Darmstadt.«
Ernst war ein Unteroffizier, der eine gewisse Zuneigung zu Elisabeth entwickelt hatte, die zu erwidern sie nicht abgeneigt war. Er war, wann immer sein Dienst es erlaubte, zu Gast in ihrem Haus.
»Mir hat Ernst erzählt, es sollen angeblich alle Kirchen aufgelöst und verkauft werden«, fügte Elisabeth hinzu. »So, wie sie es in Frankreich gemacht haben. Sie reißen all die schönen Bilder herunter und schmelzen das goldene Messgerät ein. Auf dem Markt erzählen sie, sie plündern sogar die Reliquien.«
Das schmerzte sie beide sehr, denn sie beteten gerne in prächtig ausgestatteten Kirchen und hatten ihre Freude an glitzerndem Metall und funkelnden Edelsteinen - Kostbarkeiten, die sie sich selbst nicht leisten konnten, an deren Anblick sie sich aber erfreuten.
»Mhm!« Toni überlegte, dann leuchteten ihre Augen auf, als sie eine Schlussfolgerung gezogen hatte. »Mama, du erzählst immer, Köln sei eine Stadt mit reichen Kirchen und Klöstern.«
»Ja, das ist richtig.«
»Angeblich gehört das Stück Westfalen, das der Landgraf haben will, zu Kurköln. Es gibt da wohl etliche Klöster und Stifte, meint Ernst.«
»Vermutlich ebenfalls reich.«
Elisabeth mochte keine gebildete Frau sein, aber die menschliche Natur kannte sie. Ob Bauer oder Offizier, ob Fuhrknecht oder Landgraf - in manchen Dingen waren sie alle gleich. Von Ludewig dem Zehnten hatte sie bisher nur Gutes gehört, er war ein Landesvater, der sich um seine Kinder kümmerte und den Ruf hatte, ein sehr kultivierter Mann zu sein. Er umgab sich gerne mit Kunst und sammelte sie mit Leidenschaft, sagte man. Die alten kurkölnischen Klöstern und Stiften beherbergten vielerlei Kunstgegenstände.
»Er wird die Kirchenschätze haben wollen. Das ist vermutlich mehr Entschädigung als das bisschen Land, was er dort erhält. Er wird sie sogar ziemlich schnell haben wollen. Die Habgier ist ein starker Antrieb und macht auch vor reichen Landgrafen nicht Halt«, sann sie laut vor sich hin.
»Jupp und Franz werden also bald aufbrechen«, folgerte Toni ganz richtig.
»Ich werde mich um eine Lizenz als Marketenderin bewerben.«
Toni grinste zufrieden. »Und ich werde weiter Hosen tragen.«
Ihre Mutter seufzte ergeben.
Im August war es in der Tat so weit. Das Heer rückte aus und machte sich in der Sommerhitze auf den Weg nach Westfalen. Elisabeth und Toni folgten der Kolonne, die von Oberst von Schaeffer geführt wurde. Es war ein beschwerlicher Marsch, die Soldaten und ihr Tross litten unter der brennenden Sonne und dem Staub, den Stiefel und Räder aufwirbelten, obwohl der Weg durchgehend über gut gehaltene Chausseen führte. Nur hin und wieder boten schöne Pappelalleen kühlen Schatten. Dennoch hörte man nur wenig Murren. Die Bevölkerung nahm die Truppen gastfreundlich auf, man versorgte sie mit Nahrungsmitteln und gab ihnen Unterkunft. Die Offiziere hielten strenge Disziplin, selten gab es unliebsame Zwischenfälle. Abends kamen oft Jupp und Franz zu Elisabeth und erzählten ihr von ihrem neuen Leben. Sie brachten ihre Kameraden mit, und sie fanden immer eine nahrhafte Suppe und meist auch ein Fässchen Bier oder Wein vor.
Anfang September erreichten sie die Grenze zu Westfalen und machten am Fuße eines waldigen Bergrückens Halt. Hier sollte sich die gesamte Truppe versammeln.
Die Chevauxlégères fanden in Altenkleusheim, einer kleinen Ansiedlung von strohgedeckten Häusern und Katen, Quartier, und auch Elisabeth richtete sich dort ein. Es würde mehrere Tage dauern, bis alle Truppenteile beieinander waren, es stand also Zeit zur Verfügung, die zahlreichen anstehenden Arbeiten zu erledigen, die auf dem Marsch liegen geblieben waren. Die Frauen im Tross machten sich über die Wäsche her, die Soldaten kümmerten sich um ihre Pferde, Waffen und Uniformen, und Toni, die sich gerne vor der Wäsche drückte, durchstreifte alleine oder mit anderen jüngeren Mitgliedern des Trains die Dörfchen, die Heide und den Wald. Selten kam sie ohne Beute zurück. Ihre Brüder hatten ihr beigebracht, mit einer Schleuder zu jagen, und der eine oder andere Hase fiel ihr zum Opfer. Vor allem aber hatte sie es auf Pilze abgesehen. Die suchte sie jedoch am liebsten alleine, um die reichsten Fundstellen nicht teilen zu müssen.
Als sie am vierten Abend von ihren Streifzügen zurückkam, hatte sich der Unteroffizier Ernst am Marketenderzelt eingefunden und trank, in der Abendsonne sitzend, sein Bier.
»Elisabeth, du solltest Toni nicht alleine umherziehen lassen. Das mag zwar hier ein friedliches Örtchen sein, aber ich habe Gerüchte gehört, dass eine Bande Gauner die Gegend unsicher macht.«
»Ich werde Toni in Ketten legen lassen müssen. Das Kind entwischt mir immer wieder.«
Toni grinste ihn an und stellte dann den Korb mit Pfifferlingen auf den Tisch.
»Was sollten die Gauner wohl mit einem schmutzigen kleinen Jungen anfangen wollen, Ernst?«
»Toni!« Der Unteroffizier sah sie sehr eindringlich an. »Du würdest dich wundern, was diese rohen Gesellen mit dir anstellen könnten. Fänden sie heraus, was du wirklich bist, würde es dir mehr als schlecht ergehen.«
Ernst wusste natürlich um Tonis Verkleidung und hieß sie im Grunde gut. Er war aber mehr an Elisabeth interessiert, das Mädchen war ihm eher gleichgültig. Nichtsdestotrotz sah er sich gezwungen, sie diesmal zu ermahnen.
»Es gibt hier einige Fuhrleute, die sich mit ihren Transporten über die Grenze ordentliches Geld verdienen. Sie kennen alle Nebenwege und kommen weit herum. Aber vor Kurzem ist eine Fuhre direkt am Wirtshaus oben an der Hecke überfallen und geplündert worden.«
»Dann sind die Diebe sicher über alle Berge.«
»Nicht unbedingt, Toni. Wenn es sich gelohnt hat, werden sie vielleicht ihr Glück noch einmal hier versuchen.«
»Was hatte die Fuhre denn geladen?«
»Darüber habe ich nichts gehört. Nur, dass sie nach Frankfurt unterwegs waren. Also muss es wertvoll gewesen sein. Wegen einer Ladung Heu wird man sie nicht beraubt haben.«
»Aber Mama, mit all den Soldaten hier herum wird es schon keine Überfälle geben.«
Doch Elisabeth schüttelte nachdrücklich den Kopf.
Toni war kein unwissendes Jungferchen, ihr war klar, was sich zwischen Männern und Frauen abspielte. Man lebte nicht auf engem Terrain mit Soldaten, Wäscherinnen und Trosshuren zusammen, ohne nicht auch deren delikatere Beschäftigungen kennenzulernen. Elisabeth hatte ohne Scheu ihre Fragen dazu beantwortet. Sie hatte sie gewarnt, und zwar nicht nur vor den Männern, die sich an den Frauen vergriffen, sondern auch vor jenen, die ihr Augenmerk auf hübsche Buben richteten. Toni nahm es zwar ernst, aber eine Bedrohung hatte sie bisher nicht erfahren, und so hielt sich ihre Angst in Grenzen.
Sie wäre dennoch nicht so weit in den Wald eingedrungen, hätten sie nicht eines Tages die Steinpilze so sehr gelockt, dass sie darüber den Blick zum Himmel vergaß. Die Ausbeute war reichlich, und Tonis Korb füllte sich. Noch war ihr die Gegend vertraut, immer wieder blieb sie stehen, um sich den Rückweg zu merken. Doch als sie ein paar reife, dicke Brombeeren aus den Büschen pflückte, bemerkte sie plötzlich, dass die Sonne verschwunden war. Ja, es verfinsterte sich zusehends. Schwarzes Gewölk zog auf, und schon rauschte eine kräftige Windbö durch die Blätter. Toni steckte ihr Messer ein und nahm den Korb auf, um sich zügig auf den Heimweg zu machen.
Ein Donnerschlag ließ die Welt erbeben. Dann brach das Gewitter mit aller Gewalt los. Blitze zuckten auf, es grollte und krachte Schlag auf Schlag, und ein gewaltiger Regenguss setzte ein. Hagel durchschlug mit dicken, harten Eissplittern die Laubbäume, sie boten keinen Schutz mehr. Toni ließ den Korb fallen und lief, die Hände schützend über dem Kopf, auf die dunklen Tannen zu, deren dichtes Geäst nicht ganz so durchlässig war. Zusammengekauert hockte sie sich auf den mit trockenen Nadeln bedeckten Boden und gestand sich eine erbärmliche Angst ein. Sie hielt sich mit einem Aufschluchzen die Ohren zu, doch die Donner ließen die Luft erbeben. Noch tiefer versuchte sie sich im Unterholz zu verkriechen.
Das erwies sich letztlich als ein Fehler.
Das Gewitter zog weiter, das Grollen wurde zum fernen Grummeln, die Sonne ließ ihre Strahlen wieder durch die Zweige fallen. Aber Toni hatte die Orientierung vollständig verloren. Sie irrte lange umher, ohne eine bekannte Stelle zu finden. Schließlich entdeckte sie die mit Grassoden bedeckten Köhlerhaufen und die einsame Hütte. Erleichtert lief sie darauf zu, in der Hoffnung, hier Hilfe und Auskunft zu erhalten.
Auf ihr Klopfen an der aus groben Planken zusammengezimmerten Tür antwortete niemand. Sie schob den Riegel zur Seite und lugte ins Innere. Die Hütte war kaum mehr als ein Unterstand und vermutlich nur bewohnt, wenn die Köhler ihrer Arbeit nachgingen. Ein Strohlager und ein paar Decken, eine Bank und ein wackeliger Tisch bildeten die Einrichtung. Vollkommen unpassend stand die schön geschnitzte Truhe daneben.
Die Angst war vergessen, die Neugier erwachte. Toni trat ein und betrachtete die Truhe. Sie war mit Metall beschlagen, doch die beiden Schlösser waren mit Gewalt aufgebrochen worden. Der Deckel ließ sich aufheben, und im Inneren leuchteten Toni glühende Farben entgegen.
»Oh!« Ein Ausruf des Entzückens kam von ihren Lippen. Vorsichtig hob sie die Pergamentstapel heraus und betrachtete die farbenprächtige Malerei. Die Einbände der Bücher waren roh entfernt worden, vermutlich waren sie mit Gold und Edelsteinen besetzt gewesen. Die einzelnen Blätter lösten sich aus der Bindung, als sie es auf den Tisch legte. Die Aufmachung hingegen begeisterte sie. An den Rändern umgaben wunderschöne Blumenranken die Seiten, und die akkurat geschriebenen Texte waren mit zierlichen Schnörkeln versehen. Die Schrift selbst machte ihr Mühe, und das Wenige, was sie entziffern konnte, waren Worte in einer ihr nicht geläufigen Sprache. Trotzdem behandelte sie die Werke mit Achtung. Sie waren so schön. Noch schöner fand sie die Bilder. Sie leuchteten wie die Glasfenster einer Kirche aus einer dunkelblauen Umrandung. Einige Szenen waren ihr aus den Heiligengeschichten vertraut, die sie von Elisabeth gehört hatte. Dort watete ein Christophorus mit dem Kind auf der Schulter durch die Fluten, hier litt ein von Pfeilen verwundeter Sebastian, David trat mit seiner Schleuder gegen Goliath an und Ursula traf mit ihren Frauen am Stadttor von Köln ein.
Ein Eichelhäher kreischte auf, und Toni zuckte zusammen. Plötzlich war ihr bewusst, was sie hier in den Händen hielt - Diebesgut.
Denn was hätte ansonsten dieses kunstreich bemalte Pergament in einer Köhlerhütte zu suchen gehabt? Schnell sortierte sie die Seiten wieder zusammen und wollte sie in die Truhe zurücklegen. Da fiel ihr die Lederrolle auf, die ebenfalls darin lag. Sie lauschte nach draußen, trat vorsichtig vor die Tür und vergewisserte sich, dass keine Menschenseele in der Nähe war. Dann machte sie die Rolle auf und staunte über das fest zusammengewickelte Pergament. Sie zog es heraus und rollte ein Stückchen davon auf. Doch welche Enttäuschung war das gegenüber den bunt illuminierten Handschriften. Nur ein mit bräunlicher Tinte gezeichnetes Kirchenportal sah sie, dann Bogenfenster, Wimperge, Säulen, Fialen. Enttäuscht rollte sie es zusammen und steckte es in seinen Behälter. Dann legte sie auch die Buchseiten zurück in die Truhe. Wie der Zufall es wollte, löste sich dabei das Blatt mit dem Abbild der heiligen Ursula. Toni konnte nicht widerstehen. Diebesgut war es, und sicher ein Unrecht, etwas davon mitzunehmen. Aber dieses Bild wollte sie nun einmal gerne besitzen. Vorsichtig drehte sie es zusammen und steckte es in ihre Jacke. Dann verließ sie die Hütte und machte sich erneut, diesmal mit mehr Glück, auf die Suche nach dem Heimweg.
Das Donnerwetter, das Elisabeth ihr angedeihen ließ, war von ähnlicher Heftigkeit wie das Gewitter am Nachmittag. Gebührend zerknirscht ließ Toni den Kopf hängen und versprach, keinen Schritt mehr alleine zu unternehmen.
»Wirst auch keine Gelegenheit haben dazu. Am Montag brechen wir auf«, verkündete ihre Mutter, und zog das Mädchen dann an sich. »Verdammt, ich hatte solche Angst um dich!«
»Ich weiß, Mama. Es tut mir so leid.«
Von ihrem Fund in der Köhlerhütte jedoch verriet sie nichts. Es hätte, vermutete sie, ihre Mutter nur weiter aufgeregt zu wissen, dass es wirklich Diebe gegeben und sie Teile ihrer Beute gefunden hatte.
Im Dorf ging es lebhaft zu, denn die restlichen Heereskolonnen waren inzwischen eingetroffen. Den Sonntag verbrachte man noch im Quartier, dann würden sie die Grenze nach Westfalen überschreiten.
Toni wurde von Elisabeth angehalten, zur Beichte und zur Messe zu gehen, und in der kleinen Pfarrkirche von Altenkleusheim erleichterte Toni ihr Gewissen. Nur das Blatt mit dem Bildnis der heiligen Ursula verschwieg sie dem Priester. Schweigen war ja nicht lügen, oder?
Kettenpartner
Pour qui ces ignobles entraves,Ces fers dès longtemps préparés?Für wen diese gemeinen Fesseln,Diese seit Langem vorbereiteten Eisen?
Marseillaise
Der Weg nach Brest war grauenvoll und dauerte mehrere Wochen. Zwei Tage haderte Cornelius mit seinem Schicksal, dann hatte sich irgendetwas in ihm in eine dunkle, ferne Höhle zurückgezogen, und er versuchte nur noch zu überleben. Selbst die Schmerzen der Brandwunde, die aufgeriebenen Stellen, wo der Eisenring in sein Bein einschnitt, die vielen Schrammen und Kratzer, die sich entzündeten und eiterten, und die neugierigen Gaffer mit ihren Schmährufen am Wegesrand nahm er nur unbeteiligt wahr. Er trottete neben den anderen der fünfzehn Mann starken Truppe voran oder saß auf dem Karren, der holpernd und ungefedert über das Pflaster rollte. Er aß, was man ihm reichte, ohne sich um den Geschmack zu kümmern, er schlief auf dem harten Boden von Scheuern oder in geplünderten Kirchen. Und er schwieg. Was sollte er auch sagen? Die Männer, die mit ihm zogen, waren primitive Gesellen, einige waren des Mordes angeklagt, andere hatten Raubüberfälle unterschiedlicher Schwere begangen.
Anfang Dezember erreichten sie endlich Brest. Ein am Kai festgemachtes, rot angestrichenes Schiff war ihre erste Unterkunft. Regungslos erduldete Cornelius die rohe Säuberung. Man schor ihm Bart und Haare und übergab ihm derbe, rot gefärbte Kleidung. Auf der Mütze war ein Schild mit der Nummer sechshundertvierundneunzig befestigt, mit der er fürderhin angebrüllt, beschimpft und verflucht wurde. Dann brachte man ihn in einen kahlen Raum, in dem ein mächtiges Schmiedefeuer brannte, und stieß ihn auf eine Bank. Mit einer Fußkette, die ihnen kaum Bewegungsfreiheit ließ, fesselten sie ihn an einen anderen, müde aussehenden Mann. Anschließend wurden sie zu der Pritsche geführt, die sie zukünftig miteinander teilen würden. Jeder von ihnen erhielt eine Decke.
Cornelius setzte sich auf die harte Holzbank und strich sich über den kahlen Kopf. Zumindest war er nun sauber. Er hatte sich in den vergangenen Monaten an vieles gewöhnt, an Hunger und Schmerzen, permanente Müdigkeit, die beständige Gegenwart anderer und den eigenen Gestank. Es galt zu überleben. Nichts weiter. Dennoch war er froh um die rudimentäre Hygiene, die im Bagno herrschte.
Zwei weitere Männer, gerade aneinandergekettet, begannen einen lautstarken Streit. Der eine brüllte in einem breiten französischen Dialekt, der andere in einem selbst für Cornelius kaum verständlichen Deutsch. Die Argumente gingen ihnen schnell genug aus, und die Fäuste sprachen ihre Einheitssprache. Zwei Aufseher gingen dazwischen.
»Es wird die Hölle für sie werden«, erklärte der Mann neben ihm. »Es ist besser, man kooperiert.«
Cornelius starrte seinen Kettenpartner mit unbewegter Miene an. Er hatte sich in den langen Tagen und Nächte ein Verhalten zurechtgelegt, mit dem er hoffte, gewisse Vorteile zu erhalten. Vor allem wollte er nicht zu erkennen geben, dass er die französische Sprache beinahe fließend beherrschte, in der Hoffnung, andere wären daher unvorsichtig mit den Gesprächen, die sie in seiner Gegenwart führten. Es mochte ihm mehr Informationen bringen als höfliche Fragen. Seine Theorie bestätigte sich, der andere sprach in ruhiger Stimme weiter.
»Mein Name ist Pierre, junger Freund, und ich bin gestern hier angekommen. Im Gegensatz zu dir habe ich allerdings schon vier Jahre im Gefängnis von Vannes hinter mir, und ich kann dir versichern, das hier ist eine Erleichterung. Auch wenn du es im Moment nicht so siehst.«
Das tat Cornelius auf gar keinen Fall, doch blieb er stumm und verfolgte unter gesenkten Lidern die beiden Streithähne. Sie hatten Prügel bezogen und schleppten sich, einander mit hasserfüllten Blicken musternd, zu ihren Pritschen.
»Sie werden sich gegenseitig das Leben schwer machen. Ein Horror, den wir um jeden Preis vermeiden sollten, meinst du nicht?«
Cornelius rang mit sich. Er musste dem Mann an seiner Seite Recht geben, zusätzliche Quälereien sollte man in ihrer Lage vermeiden. Aber er wollte seine Haltung nicht ohne Not aufgeben. Immerhin, die Stimme seines Partners war kultiviert, sein Französisch gewählt und frei von Akzenten. Er sprach langsam und deutlich. Wenn auch sein ausgemergeltes Aussehen, die schlecht sitzende Kleidung und die müden Augen ihn mit den anderen Kettensträflingen gleichmachte, hatte er doch ein fein geschnittenes Gesicht, das vage bekannte Züge trug. Aristokratische Züge. Und er war beharrlich. Obwohl sich Cornelius noch immer jede Reaktion verbot, sprach er weiter auf ihn ein.
»Ich möchte dich nicht mit Nummer sechshundertvierundneunzig anreden, darum solltest du mir deinen Namen nennen. Sie legen es darauf an, unsere Persönlichkeit zu vernichten, und nichts ist schlimmer, als sie zu verlieren. Es raubt einem im Laufe der Zeit jedes Selbstbewusstsein, weißt du?« Es musste ein winziges Aufzucken des Verstehens in Cornelius’ Gesicht zu erkennen gewesen sein, denn der Ältere lächelte ihn an. So, dass der Aufseher es nicht hören konnte, murmelte er: »Du verstehst mehr, als du zugeben willst. Das mag klug sein, mein Freund. Keine Angst, ich verrate dich nicht. Wir müssen das hier gemeinsam durchstehen, vermutlich für viele Jahre. Wir sind gezwungen beieinanderzubleiben, und das ist demütigend genug. Wir schlafen auf einer Pritsche, wir arbeiten und essen nebeneinander, und wir werden gemeinsam die Latrine benutzen. Versuchen wir, so weit es geht, unsere gegenseitige Würde zu wahren.«
Cornelius lehnte sich an die Wand und schloss die Augen. Möglicherweise meinte es dieser Pierre wirklich gut. Aber zu viel Freundlichkeit machte ihn misstrauisch. Er hatte seine Beobachtungen und Erfahrungen auf dem langen Weg zum Bagno gemacht. Trotzdem sah er die Notwendigkeit ein, eine friedfertige Beziehung zueinander aufzubauen, um zu überleben. Darum flüsterte er: »Nenn mich Cornelius. Zehn Jahre, wegen Falschspielens.«
»Gut, Cornelius. Danke.«
Danach respektierte Pierre sein weiteres Schweigen.
Sie mussten arbeiten, schwer arbeiten. Es galt Holzbalken für den Schiffsbau zuzurichten, und Pierre stellte sich nicht besonders geschickt dabei an. Cornelius, jünger und kräftiger, hatte zumindest schon einmal Holz gehackt und mit einem Hobel gearbeitet. Pierre hingegen verstand die meist in breitem örtlichem Dialekt erteilten Anweisungen besser, und gemeinsam schafften sie es, weitgehend unauffällig das ihnen aufgetragene Pensum zu erledigen.
Dennoch war es für Cornelius eine schwer zu ertragende Zeit. Dann und wann erinnerte er sich daran, dass er erst dreiundzwanzig Jahre alt war und sich sein Leben wegen einer Dummheit zerstört hatte. Zehn Jahre - eine Ewigkeit! Tagein, tagaus würde er Balken schleppen, Planken hobeln, grauen Brei essen, in der Kälte frieren und in der Hitze schwitzen, die Pöbeleien der anderen und die Schikanen der Aufseher ertragen müssen. Wieder zog er sich mehr und mehr in sich zurück, auf keine Bemerkung reagierte er. Sein Gesicht blieb unbewegt, seine Augen waren ausdruckslos. Er war zu einem dumpfen Gesellen geworden, dessen Geistesfunke erloschen schien.
Nur einmal durchbrach er seine Dumpfheit. Als Pierre, erschöpft von der schweren Arbeit, beinahe zusammengesunken wäre, schob er ihm abends die Hälfte seiner Essensration zu. Sein Kettenpartner wollte sich weigern, mehr als er zu essen, aber er murrte nur leise: »Iss! Ich will mich bei der Plackerei nicht auch noch mit einem halbtoten Esel belasten.«
Pierre schnaubte, es hätte fast ein Lachen sein können. Aber er aß, was ihm angeboten wurde, und überließ Cornelius dankbar die schwersten Arbeiten. Nach einigen Tagen ging es ihm besser. Und er beobachtete Cornelius noch aufmerksamer.
In einer kalten Nacht, eine Woche später, als sie in ihre Kleider und Decken gehüllt auf der Pritsche nebeneinanderlagen, hörte Cornelius dann Pierre leise wispern:
»Arma virumque cano, Troiae qui primus ab oris
Italiam fato profugus Laviniaque venit litora, multum ille et terris iactatus et alto...«
»… vi superum saevae memorem Iunonis ob iram, multa quoque et bello passus …« setzte Cornelius die Verse fort. Pierre drehte sich zu ihm um.
»Ich dachte es mir doch. Ich habe es fast bis zum Buch drei geschafft.«
»Großer Gott, und ich versuche gerade die ersten fünfhundert Zeilen zusammenzubekommen«, flüsterte Cornelius.
»Dann besingen wir gemeinsam den Kampf des Helden, der einst von Trojas Küsten floh und von Junos erbittertem Zorn durch Länder und Meere geschleudert wurde.«
Seit geraumer Zeit hatte Cornelius angefangen, Texte zu memorieren, die er während seiner Schulzeit auswendig lernen musste. Da er eine klassische Bildung erhalten hatte, war es nicht so überraschend, dass er, ähnlich wie Pierre, auf Vergils Aeneis verfallen war. Es passte irgendwie zu ihrer Situation. So arbeiteten sie sich in leisen Rezitationen durch die Irrfahrten des Aeneas, als ein Mittel, der stumpfsinnigen Fron zu entgehen und ihren Geist beweglich zu halten. Cornelius fand in Pierre einen hochgebildeten Mann, in der Literatur weit bewanderter als er selbst. Er lernte viel von ihm, und im Gegenzug überraschte er seinen Kettenpartner mit seinem mathematischen Wissen und seiner Lust am Lösen schwieriger Logikprobleme. Gelegentlich spielten sie aus dem Gedächtnis Schach miteinander. Vor allem aber unterhielten sie sich. Damit die anderen sie nicht verstanden, taten sie es oft in Latein. Cornelius erzählte von seinem Elternhaus auf der Burg Adendorf, wo er als der zweite von drei Brüdern aufgewachsen war, von Köln, wohin er mit zehn Jahren zu seinem Paten, dem Domherren von Waldegg, übersiedelt war, um Gymnasium und Universität zu besuchen. Vor allem aber vertraute er Pierre seinen Kummer darüber an, dass er sich nicht an Waldegg gewandt hatte, als sein Vater ihn verstieß.
»Er war mir immer sehr viel mehr ein Vater, als es mein leiblicher Vater war. Er ist der Sohn meines Großonkels mütterlicherseits, meine Mutter und er sind Vetter und Base. Sie war fünf Jahre verheiratet, als ich geboren wurde. Manchmal, Pierre, frage ich mich, ob ich nicht vielleicht... Aber was immer geschehen sein mochte, hat man wohl vertuscht. Das würde aber zumindest diese abgrundtiefe Abneigung meines Vaters mir gegenüber erklären und sein kaltes Wesen gegenüber meiner Mutter.«
»Nicht unbedingt, Cornelius. Kälte und Distanz, manchmal sogar Abneigung, kommen in vielen Familien vor. Söhne und Töchter werden oft aus Gründen verheiratet, die nichts mit der gegenseitigen Neigung zu tun haben. Auch ich nahm ein Weib der passenden Beziehung wegen. Und eine Mätresse der Leidenschaft wegen. Wir handhaben es so und verschwenden keine Bitterkeit darauf.«
»Das mag vernünftiger sein.«
»Nun ja, Frauen - sie sind hier ein seltenes Gut, und einsame Männer fangen an, sich in Fantasien zu steigern. Sei vorsichtig damit, Cornelius.«
Die Warnung war nicht ganz unberechtigt. Das junge Mädchen, das sich mit ihm am Pranger unterhalten hatte, wollte ihm nicht aus dem Sinn gehen, und manche Nacht hatte er sich ausgemalt, wie es sein würde, wenn er sie wiederträfe. Es waren schmerzhafte Vorstellungen, geboren aus frustrierter Enthaltung und gesundem Geschlechtstrieb.
Er versuchte, diese Bilder nicht mehr aufkommen zu lassen. Ganz gelang es ihm nicht. Aber er konzentrierte sich darauf, seinem Freund aufmerksam zuzuhören. Er vermutete inzwischen, dass er einen ganz anderen Namen als Pierre trug. Denn er war einer der Überlebenden der Kämpfe auf der Halbinsel Quiberon, wo die französischen Emigranten, die nach England geflohen waren, 1795 zusammen mit den Briten und den bretonischen Chouans versucht hatten, einen Aufstand gegen die französische Republik zu organisieren. Doch die Truppen unter General Hoche hatten sie vernichtend geschlagen. Die meisten Anführer, bourbonentreue Aristokraten, waren hingerichtet worden, andere hatte man in das Gefängnis nach Vannes gebracht.
»Es war ein Versuch, ein tapferer, törichter Versuch«, kommentierte Pierre es.
»Du wärst besser auf der anderen Seite des Kanals geblieben. Wenn man bedenkt - inzwischen hat man den blutrünstigen Robespierre geköpft und eine moderatere Regierung gebildet.«
»Später ist man klüger.«
»Wie bist du dem Terror überhaupt entkommen?«
»Mit knapper Not und Bestechung. Wir, meine Frau und ich, hatten Freunde, die uns frühzeitig gewarnt hatten. Wir sind über Belgien zur Kanalküste gezogen, verkleidet als Bauern. Wir waren nicht besonders gut darin, wie arme Landleute aufzutreten, wie du dir vorstellen kannst. Aber einige gütige Menschen versteckten uns, und einer deiner Landsmänner verhalf uns zu einer Passage über den Kanal. Gegen gutes Gold versteht sich. Aber warum sollte ich ihm das verdenken. Es war ein Risiko. Den Mann werde ich nie vergessen, ein Frédéric Kormann, aus Köln - wie du, Cornelius.«
Cornelius sog scharf die Luft ein.
»Kay Friedrich Kormann. Tatsächlich.«
»Du kennst ihn?«
»Kennen ist zu viel gesagt. Er war ein Bekannter meines - mh - Paten. Ein Freimaurer wie er, und daneben ein überzeugter Jakobiner. Ich fand damals die Kombination schon seltsam. Er scheint ein Mann mit ziemlich wechselnden Überzeugungen zu sein. Ausgerechnet er soll royalistischen Flüchtlingen geholfen haben? Das ist erstaunlich.«
»Das mag seine tolerante Seite gewesen sein.«
»Möglich. Aber er ist 1794 mit den Besatzungstruppen nach Köln zurückgekommen und hat in der Verwaltung eine steile Karriere gemacht.«
»Ein Opportunist. Das ist in Zeiten wie den unseren nicht unüblich. Wem kann man es verdenken, Cornelius?«
»Er saß als Geschworener im Gericht, vor dem ich verurteilt wurde.«
»Und ließ keine Gnade walten?«
»Vermutlich nicht. Ich hatte ihm kurz vorher beim Kartenspiel gründlich die Hosen ausgezogen.«
Pierre gab sein charakteristisches Schnauben von sich. »Das Schicksal erlaubt sich zuweilen eigenwillige Kapriolen.«
»Leider! Deine Frau ist noch in England?«
»Nein, sie ging vor mir zurück, schon 1791. Sie hatte den wahnsinnigen Wunsch, ihrer Königin beizustehen. Man enthauptete sie im Herbst zweiundneunzig.«
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