Krieg in Europa - Unser schlimmster Albtraum - Andreas Dripke - E-Book

Krieg in Europa - Unser schlimmster Albtraum E-Book

Andreas Dripke

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Beschreibung

Europa ist zum Schlachtfeld eines erbarmungslosen Stellvertreterkrieges zwischen den Supermächten geworden. Der Krieg ist 2022 ausgebrochen, aber abgezeichnet hat sich diese Entwicklung schon seit mehr als zwei Jahrzehnten. Nach dem Ende des Kalten Krieges hat sich Westeuropa um einen Friedensprozess in Osteuropa bemüht. Die Ostpolitik der Bundesrepublik Deutschland steht exemplarisch dafür. Russland wurde zum Partner, beinahe sogar zum Freund. Doch gleichzeitig hat sich die NATO unter US-Führung immer weiter nach Osten ausgedehnt. Diese Entwicklung hat den Friedensprozess zum Erliegen gebracht und schließlich umgekehrt. Heute stehen sich Russland und die USA in Europa unversöhnlich gegenüber. Der russische Einmarsch in die Ukraine im Frühjahr 2022 hat auf absehbare Zeit jedwede friedliche Verständigung zwischen Europa und Russland unmöglich gemacht. Europa ist fest an die Seite der USA gebunden - und das nicht nur gegenüber Russland. Denn diese Front soll nach dem Willen der USA auch gegenüber der Volksrepublik China in Stellung gebracht werden. Diese fatale Entwicklung hängt entscheidend damit zusammen, dass es Europa nicht gelungen ist, sich eine eigenständige und unabhängige Position in der Weltpolitik zu verschaffen. Der "Alte Kontinent" ist in eine Abhängigkeit von den USA, Russland und China geraten, aus der es kein Entrinnen zu geben scheint. Europa ist zum Spielball der Supermächte geworden. Der Kampf um Europa ist entbrannt.

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Der nachfolgenden Generation gewidmet

Dieses Werk ist unseren Kindern, Neffen und Nichten gewidmet.

Sie alle repräsentieren die nächstfolgende Generation. Mögen sie in Frieden und Freiheit aufwachsen und als Erwachsene dafür Sorge tragen, dass die ihnen nachfolgende Generation ebenfalls in Frieden und Freiheit gedeihen kann.

Andreas Dripke, Hang Nguyen, Jamal Qaiser, Dr. Horst Walther

„Gefühllose Menschen, die die Nöte des Volkes nicht sehen und sie sich nicht zu Herzen nehmen, dürfen keine Leitungsfunktionen ausüben.“

Michail Gorbatschow, 1987

„Europa ist kein Ort, sondern eine Idee.“

Bernhard-Henri Lévy, 1995

„Europa befindet sich also in der Schwebe zwischen einer Vergangenheit, die es zu überwinden sucht, und einer Zukunft, die es noch nicht definiert hat.“

Henry Kissinger, 2014

„Russland ist nicht mehr als eine Regionalmacht, die alleine steht.“

Barack Obama, 2014

„Der Krieg hat in Deutschland eine Gesellschaft überrascht, die sich seit langem in oft öden privatistischen Debatten verloren hat. Es ging um sprachliche Austarierungen, Geschlechtergerechtigkeit und vielerlei Spielarten des Das-darf-man-nicht. Wer mochte, konnte dort mit wenig Lebenserfahrung und viel moralischem Gestaltungswillen mitmachen, keine große Sache. Für eine Debatte über Krieg und Frieden scheint uns jetzt der Lebensernst zu fehlen.“

Boris Palmer, 2022

Inhalt

Vorwort

Der abhängige Kontinent

Stellvertreterkriege auf europäischem Boden

Alte Welt und neue Abhängigkeit

Die Vorstellung eines friedlichen Europas

Europa verliert die Äquidistanz

Freiheit versus Unfreiheit

Der freie Westen gegen die sino-russische Achse

Erster und Zweiter Weltkrieg

Die vielen Toten

Die vielen Kriege

„Alle wissen, der Dritte Weltkrieg wird nuklear sein“

Quo vadis Europa?

Was Europa (uns) bedeutet: Die zerrissene Einheit

Warum wir Europa brauchen

Der Euro war die letzte gemeinsame Großtat

Das Artensterben schreitet voran

Klimawandel: häufig beschrieben, wenig getan

Der Ressourcenverbrauch wächst und wächst

Das Dogma von der Wachstumsökonomie

Überbevölkerung: Wir sind zuviele

Die wirtschaftliche Ungleichheit wächst

Potenziale für Konflikte gibt es genug

Europa braucht die demokratische Legitimation

Europa benötigt mehr Gewicht

Europa muss eine eigene Position vertreten

Europa muss sich eine klare Mission geben

Wie wir Europa erschaffen können

Europa schaut vor allem auf sich selbst

Allgemeine Erklärung der Menschenrechte

Menschenrechts-Verletzungen in der EU

Globale Machtzentren

Das Recht der Völker

Grundlage für eine bessere Welt

Der Sicherheitsrat verfängt sich in der Vetofalle

Multilateralismus am Ende

Der Wiener Kongress als Grundlage der Diplomatie

Abkehr der USA von internationalen Organisationen

Seit 24. Februar 2022 ist die EU wieder „in“

Die NATO ist gefragt

Niemand hat den Dritten Weltkrieg ausgerufen

Die neue Weltordnung der Angela Merkel

Russland zwischen den Stühlen

Russland mischt Europa auf

Das russische Weltbild

Perestroika und Glasnost

Putin träumt von Großrussland

Der Kampf um die Ukraine begann 2004

Die UNO schaltet die OSZE ein – vergebens

Krim gehörte zu Russland seit Katharina der Großen

Die Heimat der Schwarzmeerflotte

Russland greift nach Syrien

Vier Jahrzehnte Assad

Der Plan der UNO für Syrien

Private Söldner auf dem Vormarsch

Russlands Charme-Offensive in Afrika

Putins Weltgeschichte als Kinderfilm

Operation „Eiserne Faust“

Die russische Invasion in der Ukraine

Der deutsche Schmusekurs mit Russland

Kampfgeist der Ukrainer und des Westens

Deutschland bereitet sich auf den Krieg vor

Es geht um Gas und Geld

Die „Heilige Verpflichtung“ Amerikas

Der Mut der Ukrainer und ihres Präsidenten

Komiker, Korrumpist, Kriegsheld

Die Welt stimmt gegen Russland – China nicht

Bündnisvertrag zwischen China und Russland 2022

Millionen Flüchtlinge aus der Ukraine

Wladimir Putin: „die Schwachen schlägt man“

Putin erobert die Herzen der Deutschen

Kopfgeld auf Wladimir Putin ausgesetzt

Kriegstreiber Joe Biden

Viele Waffen provozieren viel Krieg

Russland macht in der Ukraine nicht Halt

China kauft Europa: die Seidenstraße

Die neue Seidenstraße – ein Traum wird wahr

Europa fällt Land um Land an China

Italien am Start, die europäischen Zwerge folgen

17 plus 1

Europa ist ein militärischer Zwerg

Europas-Beschützernation USA fällt zurück

Hypothetischer Angriff auf Europa

Der Westen wehrt sich: Die NATO

Die NATO schlingert

Nine Eleven – der erste Bündnisfall

Europäische Armee vor gewaltigen Hürden

Die Welt rüstet auf

Killer-Roboter im Anmarsch

Wettrüsten im Weltraum

Cyber War – der Krieg im Internet

Warnung an die digitale Gesellschaft

Geheimdienste machen die Cyberwelt unsicher

Angriff auf die Impfstoffe

Hacker greifen Putin an

Atomkrieg: Niemand will ihn, oder?

Das Kriegstriumvirat

USA: Erster Kernwaffentest 1945

Kubakrise – die Welt am Abgrund

Ausstieg aus der Abrüstung

Raketen gegen China – und zurück

Die Vernichtung der Erde

Wege zum Frieden

Der Dritte Weltkrieg ist nicht unausweichlich

Glücklicher Ort und Nichtort Utopia

Über die Autoren

Andreas Dripke

Hang Nguyen

Jamal Qaiser

Dr. Horst Walther

Bücher im DC Verlag

Über das Diplomatic Council

Quellenangaben und Anmerkungen

Vorwort

Am 24. Februar 2022 begann der Krieg in Europa. So wird häufig behauptet, weil an diesem Tag die russische Armee die Grenze zum Nachbarland Ukraine überschritt.

Nun stellte dieser Schritt zweifelsohne eine Zäsur für Europa dar. Aber man kann es schwerlich als den Beginn einer völlig überraschenden Entwicklung bezeichnen. Europa war schon lange zuvor in eine Art Agonie verfallen, in eine Schläfrigkeit, aus der uns der russische Einmarsch in der Ukraine indes aufgeweckt hat. Wir wollen in diesem Buch nachzeichnen, wie Europa zu diesem verschlafenen Paradies geworden ist, welche Folgen uns dadurch drohen, wie real die Kriegsgefahr in Europa wirklich ist. Zu diesem Themenkomplex gehört natürlich das Versagen der Europäischen Union, aber auch anderer internationaler Organisationen, allen voran der Vereinten Nationen.

Der abhängige Kontinent

Wir haben dieses Buch in drei Teile aufgespalten. Im ersten Teil geht es um all die Sorgen und Nöte Europas vor dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine. Schließlich bestehen alle diese Herausforderungen weiterhin unverändert. Die Probleme des „alten Europa“ werden vom Krieg überdeckt, aber nicht gelöst. Dazu gehört die über Jahrzehnte gewachsene Abhängigkeit Europas – von den USA sowieso, von Russland, wie uns seit dem Frühjahr 2022 bewusster als je zuvor ist, und von China, was wir seit vielen Jahren verdrängen. Die seit 2021 grassierenden Lieferengpässe bei vielen Produkten, die ganze Industriezweige Europas bedrohen, haben uns indes diese Abhängigkeit erstmals deutlich vor Augen geführt. Ohne Software aus den USA, Chips aus Asien und Energie aus Russland ist der Wohlstand in Europa gefährdet. Die EU – und übrigens auch die Bundesrepublik Deutschland – hätte viel Zeit gehabt, diese Abhängigkeit zu verringern. Doch stattdessen hat sie sich in einer „Welt der Freunde“ gewähnt, deren Nachschub wie selbstverständlich erschien, solange man nur dafür bezahlt. Infolge dessen steht Europa heute abhängiger und unselbstständiger dar als jemals zuvor.

Im zweiten Teil steht der tobende Krieg in Europa im Mittelpunkt. Dabei wollen wir aufzeigen, dass dieser keineswegs erst 2022 begann, sondern mindestens bereits im Jahr 2014. In diesem Zusammenhang spielt auch die Frage nach einer eigenständigen europäischen Armee eine Rolle, die wir in diesem Buch diskutieren. Denn spätestens seit 2022 ist klar: Europa ist gar nicht der Lage, sich selbst zu verteidigen.

Im dritten Teil schließlich wenden wir uns den Kriegsgefahren zu, die gar nicht von Europa ausgehen, aber Europa wie auch andere Teile der Welt unmittelbar betreffen. Dazu gehört zweifelsohne die Gefahr eines Atomkriegs ebenso wie die möglichen Folgen des verheerenden Wettrüstens im Weltraum. In allen diesen Fällen ist Europa sicherlich nicht der Initiator, aber auch nicht einmal ein Mitspieler auf Augenhöhe auf der Bühne der Weltpolitik.

Doch unser Blick geht weit über die unmittelbare militärische Auseinandersetzung hinaus. Es geht maßgeblich auch um die Frage nach der Eigenständigkeit Europas. Der „wirtschaftliche Einmarsch“ Chinas in Europa unter der Bezeichnung „Neue Seitenstraße“ findet friedlich statt, ist aber dennoch von fundamentaler Bedeutung. Das gilt umso mehr, als spätestens nach dem Ausbruch des Ukraine-Krieges Europa geopolitisch näher an die Vereinigten Staaten von Amerika herangerückt ist.

Im Powerplay der Supermächte, auf der einen Seite die USA mit einem unverhohlenen Allmachtsanspruch auf die ganze Welt, und auf der anderen Seite die aufstrebende Volksrepublik China und das wiedererstarkende Russland, die sich der USDominanz keineswegs zu unterwerfen gedenken, ist Europa wie ein Spielball, der von den Wellen der globalen Auseinandersetzungen hin- und hergetrieben wird, ohne selbst aktiv am Spiel teilzunehmen geschweige denn Spielführer zu sein.

Stellvertreterkriege auf europäischem Boden

Bei den Kriegen in und um Europa handelt es sich daher vor allem um Stellvertreterkriege, Auseinandersetzungen zwischen den Supermächten, die auf europäischem Boden und zum Leid der europäischen Bevölkerung ausgetragen werden, bei denen es aber im Grunde gar nicht um Europa geht.

Staaten wie Vietnam und Korea haben erleben müssen, wie diese blutigen Stellvertreterkriege zwischen der freien Welt, dem Westen, auf der einen und den autoritären Machtblöcken auf der anderen Seite, ihre Länder zugrunde gerichtet haben. Heute hat sich die Situation geändert: Europa ist zum Schauplatz – man kann auch sagen zum Schlachtfeld – dieser Auseinandersetzung geworden.

Wir haben dieses Buch in der Hoffnung geschrieben, dass sich vieles, was wir hierin skizzieren, als falsch herausstellt, dass der Lauf der Geschichte eine andere Wendung nimmt, dass die europäischen Werte, auf die wir zu Recht stolz sein können, in der Welt wieder mehr Gehör finden.

Andreas Dripke, Hang Nguyen, Jamal Qaiser, Dr. Horst Walther

Alte Welt und neue Abhängigkeit

Die „Alte Welt“ ist eine historische Bezeichnung für die Kontinente der Erde, die den Europäern vor der Entdeckung Amerikas 1492 bekannt waren: Europa, Afrika und Asien. Im Grunde genommen ist Europa (altgriechisch Εὐρώπη Europē) gar kein eigener Kontinent, sondern lediglich ein Subkontinent, der mit Asien zusammen den Kontinent Eurasien bildet. Indes ist der Begriff „Europa“ nicht rein geographisch definiert, sondern bezieht sich auch auf historische, kulturelle, politische, wirtschaftliche, rechtliche und ideelle Aspekte. „Kein Ort, sondern eine Idee… eine Kategorie des Geistes, nicht des Seins“, charakterisierte der französische Philosoph Bernard-Henri Lévy Europa im August 1789 im Zuge der Französischen Revolution.1 Dieses kulturelle Europa ist in der Regel auch gemeint, wenn man vom „Alten Kontinent“ spricht. Der Begriff verdeutlicht Europas Verwurzelung in der griechischen Kultur sowie seine Prägung durch das Römische Reich und das Christentum, drei Einflüsse, die bis heute die europäische Kultur maßgeblich bestimmen.

In der Antike vereinigte das Römische Reich zeitweise das südliche Europa mit den anderen Küstenländern des Mittelmeerraums zu einem Großreich. In der Spätantike wurde das Christentum zur Staatsreligion erhoben, was bis heute fortwirkt. In dieser Zeit drängten eine Vielzahl von meist germanischen Stämmen wie Angelsachsen, Franken und Goten in das westliche Europa und bildeten den Grundstein für zukünftige Nationen wie England, Frankreich und Spanien. All diese Jahrhunderte hindurch war Europa ein Ort der Kriege, der keineswegs als Vorbild für was auch immer taugte.

Erst im 18. Jahrhundert setzte die Bewegung der Aufklärung neue Akzente und forderte Toleranz, die Achtung der Menschenwürde, Gleichheit und Freiheit. Wenn wir heutzutage von „europäischen Werten“ sprechen, dann meinen wir damit die Zeit von vor rund 300 Jahren. Der „Alte Kontinent“ in dieser heute gern angesprochenen Tradition reicht also lediglich bis etwa 1798 zurück – das Jahr der französischen Revolution. Dabei werden die „dunklen Flecken“ seit dieser Zeit, vor allem der Erste und der Zweite Weltkrieg, häufig mehr oder minder ausgeblendet, um die „europäischen Werte“ als „edel und gut“ zu preisen.

Die Vorstellung eines friedlichen Europas

Erst nach dem Zweiten Weltkrieg manifestierte sich allmählich die Vorstellung eines geeinten oder zumindest friedlichen Europas. Am 9. Mai 1950 entwickelte der damalige französische Außenminister Robert Schumann in einer Rede in Paris die Idee einer überstaatlichen europäischen Institution zur Verwaltung und Zusammenlegung der Kohle- und Stahlproduktion. In seiner Vision sollte diese neue Art der politischen Zusammenarbeit Kriege zwischen den europäischen Nachbarn verhindern.2 Sein Vorschlag, der ein Jahr später in Form der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl umgesetzt wurde, gilt als Grundstein der heutigen Europäischen Union. Bis dahin war es indes noch ein langer Weg. 1951 schlossen sich Belgien, die Niederlande, Luxemburg, Deutschland, Italien und Frankreich zur Montanunion bzw. EGKS (Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl) zusammen. Der Versuch, eine Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) sowie eine Europäische Politische Gemeinschaft (EPG) zu gründen, scheiterte 1954 an der französischen Nationalversammlung. Daraufhin wurden 1957 mit den Römischen Verträgen die Europäische Atomgemeinschaft (Euratom) sowie die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) gegründet. Seit dem EG-Fusionsvertrag 1967 teilten sich die drei Europäischen Gemeinschaften (EGKS, Euratom und EWG) die gemeinsamen Institutionen Kommission, Rat, Parlament und Gerichtshof. Mit dem Vertrag von Maastricht 1993 wurde die EWG in Europäische Gemeinschaft (EG) umbenannt. Zugleich wurde die Europäische Union gegründet, die die drei Gemeinschaften umfasste und um zwei zwischenstaatliche Politikbereiche, die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und die Zusammenarbeit im Bereich Justiz und Inneres, erweiterte. 2002 wurde die EGKS aufgelöst und ihre Funktionen wurden von der EG übernommen. Durch den Vertrag von Lissabon ging die EG zum 1. Dezember 2009 vollständig in der EU auf.

Nach der Ost-Erweiterung in den Jahren 2004, 2007 und 2013 sowie dem Austritt Großbritanniens 2020 zählt die EU gegenwärtig 26 europäische Mitgliedsstaaten, der 27. Mitgliedstaat, die Republik Zypern, zählt geographisch zu Asien.3 Alle diese Zahlen, Entwicklungen und Institutionen gehören für jeden, der sich ernsthaft mit Europa befasst, zur Allgemeinbildung. Der „Schnelldurchgang“ durch die Geschichte lässt den Eindruck entstehen, dass Europa seine jahrhundertealte Zerstrittenheit überwunden hat und sich auf dem Weg zu einer Einigung, einem Vereinten Europa, befindet.

Das wäre schön – doch tatsächlich steht Europa vor Herausforderungen, die die Zukunft des „Alten Kontinents“ weniger rosig erscheinen lassen. Das hängt damit zusammen, dass Europa stärker in der Vergangenheit verhaftet ist als sich um seine Zukunft zu kümmern. Die europäische Gesellschaft hat kaum eine Vision für die Zukunft des eigenen Kontinents, geschweige denn der Welt.

Die europäische Politik folgt weitgehend dieser Fantasielosigkeit der Gesellschaft, die im Grunde nur den heutigen Wohlstand bewahren und ihr bequemes Leben weiterführen will. Allerdings beschleicht immer mehr Menschen in Europa die Ahnung, dass diese Bequemlichkeit und Visionslosigkeit zum Abstieg Europas führen werden. Dieser Denkprozess begann nicht erst mit dem Kriegsausbruch in der Ukraine 2022. Schon lange vorher war die Vision eines paradiesischen Europas an die Seite gedrängt worden von dem Gezänk über die Nationalstaatlichkeit, das Bangen um die Stabilität des Euro als paneuropäischer Währung (neu angeheizt durch das Gespenst der Inflation), die ausufernde Brüsseler Bürokratie, das offensichtliche Versagen Europas bei praktisch allen Aspekten der unser gesamtes Leben überrennenden Digitalisierung, die Diskussionen um Migration und die Gefährdung unserer europäischer Werte sowie die schwindende Bedeutung Europas im geopolitischen Maßstab und damit zusammenhängend die Abhängigkeit des „Alten Kontinents“ von Amerika und Asien, vor allem den Vereinigten Staaten von Amerika und China. Damit einhergehend verfestigte sich die Erkenntnis, dass die sogenannten Internationalen Institutionen mit ihrem Konzept des Multilateralismus gar nicht so mächtig sind, wie sie sich häufig selbst geben – von der Europäischen Union bis zu den Vereinten Nationen. Die mit diesen Institutionen vermeintlich verbundene Sicherheit erscheint häufig eher vorgegaukelt denn Realität.

Eine zusätzliche Schockwelle löste zudem bei vielen Menschen die Erkenntnis aus, dass der Raubbau an unserer Natur zu einer globalen Klimakatastrophe führen könnte, die Europa nicht verschonen wird. Daraus resultierende neue Migrationsströme, Abhängigkeiten und potenzielle Kriege um die Ressourcen sind ins Blickfeld geraten und erscheinen heute realer als jemals zuvor.

Europa verliert die Äquidistanz

Mit Verweis auf amerikanisches Machtgehabe und die Unzulänglichkeiten der US-Politik wurde über Jahre hinweg der Eindruck erweckt, Europa könne eine neutrale, sozusagen äquidistante Position zwischen den USA auf der einen und Russland sowie vor allem China auf der anderen Seite einnehmen. In höchsten europäischen Regierungskreisen wurde die Idee einer eigenständigen europäischen Armee vorangetrieben, um nicht länger die Rolle des Juniorpartners im nordatlantischen Militärbündnis NATO spielen zu müssen.

Die russische Invasion in die Ukraine am 24. Februar 2022 hat alle diese Überlegungen ad absurdum geführt. Ohne die wirtschaftliche, technologische und vor allem militärische Unterstützung der Vereinigten Staaten von Amerika ist Europa verloren. Man mag das beklagen, aber es zu ignorieren, wäre im wahrsten Sinne des Wortes tödlich, wie das ukrainische Volk auf dramatische Weise erfahren musste.

Freiheit versus Unfreiheit

Man muss sich klar machen: Sowohl die Sowjetunion, von der momentan „nur“ noch Russland übriggeblieben ist, als auch die Volksrepublik China basieren auf einem grundsätzlich anderen Menschenbild als der freie Westen. Der „alte Kampf“ zwischen dem Westen und den beiden ehemals kommunistischen Staaten ist keineswegs beendet, wie es nach dem Ende des Kalten Krieges den Anschein hatte. Er war nur aus den Schlagzeilen verschwunden, aber im Hintergrund hat das Wettrüsten der Supermächte unverändert stattgefunden.

Zählen wir nach und gewichten wir: Es gibt drei Supermächte, nämlich die Vereinigten Staaten von Amerika, Russland als Kern der ehemaligen Sowjetunion und die Volksrepublik China. In zwei davon, Russland und China, sind freie Meinungsäußerung, Menschenrechte und die weiteren uns bekannten Merkmale einer freien Gesellschaft praktisch nicht vorhanden. In Russland sind zwar Ansätze der Demokratisierung und in beiden Ländern Ansätze des Kapitalismus festzustellen – die russischen Oligarchen sprechen für sich. Aber die einzige demokratische und kapitalistische Supermacht sind die USA. Es ist illusorisch zu glauben, angesichts dieser Machtverhältnisse könne Europa eine neutrale Position einnehmen, die Vorzüge der Freiheit und Demokratie in Anspruch nehmen und gleichzeitig „gut Freund“ mit den von einem völlig anderen Menschenbild geleiteten Staaten Russland und China sein.

Man mag die Auswüchse des Kapitalismus beklagen – und es gibt zweifelsohne sehr viele davon. Aber daraus die Schlussfolgerung zu ziehen, im russischen oder gar chinesischen Weltbild ließe sich besser leben, war und bleibt ein Trugschluss.

Deutschland sollte es besser wissen: Das Land war 40 Jahre lang in einen freien Westen und einen unfreien Osten geteilt. Der Osten, die sogenannte Deutsche Demokratische Republik, wurde von der DDR-Regierung eingezäunt, um zu verhindern, dass die Menschen in Scharen geflohen wären. Noch deutlicher, als Menschen wie Tiere einzusperren, kann man die Unfreiheit wohl nicht dokumentieren.

Denn genau dies ist ein, wenn nicht der entscheidende Unterschied: die Freiheit! Der Westen geht von der Freiheit des Einzelnen als Menschenbild aus. Das beinhaltet die Freiheit, aus seinem Leben etwas zu machen, sein Glück zu finden, aber beklagenswerterweise auch die Freiheit, sein Leben zu „versauen“, um es salopp zu formulieren, im Elend zu verenden. Doch daraus den Schluss zu ziehen, man könne das Glück der Menschen von staatlicher Seite aus sozusagen erzwingen, allen Menschen zu einem staatlich garantierten guten Leben zu verhelfen, ist unmenschlich.

Ein politisches Regime, das einen tatsächlichen oder auch nur einen unsichtbaren Zaun um „seine“ Bevölkerung ziehen muss, damit die Menschen nicht in Scharen fliehen, ist per se ein Unrechtsregime. Ein Staat, dessen Regierung „seine“ Bürger soweit wie möglich auf ihre Staatstreue hin überwachen und maßregeln will, ohne sich einer unabhängigen Gerichtsbarkeit zu unterwerfen, kann für sich nicht in Anspruch nehmen, ein Rechtsstaat zu sein.

Wenn wir die globalen Machtverhältnisse unter diesem Blickwinkel betrachten, gibt es nur eine einzige rechtsstaatliche Supermacht mit freiheitlichen Bürgerrechten: die USA. Zweifelsohne gibt es viele und gute Gründe, Kritik an den Vereinigten Staaten von Amerika zu üben. Aber die Alternativen – Russland als Kern der ehemaligen Sowjetunion und die Volksrepublik China – stellen eben keine Alternativen dar – jedenfalls nicht, wenn man die Freiheit des Einzelnen und die Rechtsstaatlichkeit einer Gesellschaft als Ausdruck von Gerechtigkeit als Maßstäbe heranzieht.

Der freie Westen gegen die sino-russische Achse

Aus diesem Grund stellt ein gemeinsames oder auch nur abgestimmtes Vorgehen der beiden Supermächte China und Russland – eine sino-russische Achse – die wohl größte Bedrohung des freien Westens, also vor allem Nordamerikas und Europas, dar. In dieser Lage wäre es im wahrsten Sinne des Wortes tödlich, würde sich Europa der Illusion einer Äquidistanz hingeben. Deutschland und Europa gehören in dieser Lagerbildung, die beklagenswert, aber kaum änderbar ist, eindeutig ins westliche Lager.

Allerdings ist selbst bei einer Einigkeit keineswegs ausgemacht, dass der Westen einen sich künftig zuspitzenden Konflikt gegen die Volksrepublik China und Russland in der Lage sein wird zu gewinnen. Die Supermächte mögen nicht die „engsten Freunde“ sein, ebenso wenig wie Europa und die USA, aber sie folgen einer ähnlichen Ideologie und die Gefahr einer Blockbildung ist zum Greifen nahe. Sollte sich das sino-russische Kartell erheben, hätte der Westen einen schweren Stand. Es wäre wünschenswert, wenn Europa in dieser Situation einen klaren Standpunkt hätte.

Erster und Zweiter Weltkrieg

Kriege gibt es seit Menschengedenken. Aber noch nie starben so viele Menschen in so kurzer Zeit wie im Ersten und im Zweiten Weltkrieg. Es ist wohl nicht zuletzt das Grauen davor, dass in einem Dritten Weltkrieg noch mehr Menschen in noch kürzerer Zeit ihr Leben lassen müssten, das Friedensaktivisten ebenso wie verantwortliche Politiker überall auf der Welt umtreibt, die dritte Wiederholung zu verhindern.

Die vielen Toten

Knapp 20 Millionen Menschen verloren im Ersten Weltkrieg ihr Leben, darunter circa 9,7 Millionen Soldaten und etwa 10 Millionen Zivilisten. Die Verluste waren aus sehr vielen Ländern zu beklagen: Australien (61.900 Tote), Belgien (104.900), Bulgarien (187.500), Deutsches Reich (2,46 Millionen), Dänemark (720), Kanada (66.900), Republik Frankreich (1,697 Millionen), Königreich Griechenland (176.000), Vereintes Königreich (994.100), Britisch-Indien (74.000), Königreich von Italien (1,24 Millionen), Japan (415), Montenegro (3.000), Österreich-Ungarn (1,567 Millionen), Osmanisches Reich (5 Millionen), Neuseeland (18.000), Neufundland (1.200), Norwegen (1890), Portugal (89. 200), Königreich Rumänien (680.000), Russisches Kaiserreich (3,311 Millionen), Königreich von Serbien (725.000), Schweden (870), Südafrikanische Union (9.400), Vereinigte Staaten von Amerika (117.400). Hinzu kamen geschätzt 21 Millionen Verletzte, die Folgen aus dem Krieg davongetragen haben.4

Im Zweiten Weltkrieg wurde alles noch schlimmer, viel schlimmer. Die Kampfhandlungen begannen, abgesehen von einzelnen Scharmützeln an der deutsch-polnischen Grenze, am 1. September 1939, als das Linienschiff „Schleswig-Holstein“ das Feuer auf die Westerplatte bei Danzig eröffnete, und endeten am 8. Mai 1945 um 23.01 Uhr. Das sind 2077 Tage oder 49.842 Stunden und 16 Minuten. In dieser Zeitspanne starben in jeder Stunde rund 1.000 Menschen. Insgesamt forderte der Zweite Weltkrieg das Leben von rund 50 Millionen Menschen, darunter etwa 39 Millionen Zivilisten. Andere Schätzungen gehen sogar von bis zu 80 Millionen Toten im Zweiten Weltkrieg aus.5

Die Opfer kamen aus zahlreichen Ländern: Australien (30.000 Tote), Belgien (60.000), Bulgarien (32.000), China (13,5 Millionen), Deutschland (6,355 Millionen), Finnland (91.700), Frankreich (360.000), Griechenland (180.000), Großbritannien (332. 825), Indien (3,024 Millionen), Italien (300.000), Japan (3,76 Millionen), Jugoslawien (1,69 Millionen), Kanada (43.190), Neuseeland (10.000), Niederlande (220.000), Norwegen (10.000), Südafrika (9.000), Philippinen (100.000), Polen (6 Millionen), Rumänien (378.000), Sowjetunion (27 Millionen), Tschechoslowakei (90.000), Ungarn (950.000), USA (407.316).6

Weit mehr als 100 Millionen Tote und Verletzte in zwei Weltkriegen binnen rund 30 Jahren. Soldaten, Zivilisten, Männer, Frauen, Kinder, zerstörte Leben, verlöschte Hoffnungen, unbeschreibbare Gräuel, unendliches Leid – im Angesicht dieser gigantischen Zerstörungswut wollte die Weltgemeinschaft mit einer „weltweiten Friedensorganisation“ alles daransetzen, das weitere Töten zu verhindern oder zumindest einzudämmen. Schon nach dem Ersten Weltkrieg mit rund 20 Millionen Toten gründete die internationale Staatengemeinschaft den Völkerbund mit einem einzigen Ziel: einen Zweiten Weltkrieg zu verhindern. Der Völkerbund versagte leider. Rund 20 Jahre später begannen die Vorbereitungen für den Zweiten Weltkrieg, der über 50 Millionen Menschenleben kostete.7

Die Organisation der Vereinten Nationen (United Nations Organisation) wurde ins Leben gerufen, um einen Dritten Weltkrieg zu verhindern.8

Ist ihr das bislang gelungen? Ja, insofern, als bislang niemand den Dritten Weltkrieg ausgerufen hat. Nein, insofern, als heute mehr Kriege auf der Welt toben als je zuvor. Die weltweite Zahl der militärischen Konflikte steigt seit Jahren stetig an, ebenso wie die Zahl der Opfer und der Flüchtlinge, die den Kriegen entkommen und ihr Leben retten wollen.9 Der Einmarsch Russlands in die Ukraine am 24. Februar 2022 hat deutlich gemacht, wie nah das Kriegsgeschehen an Europa herangerückt ist. Doch schon lange zuvor tobten Kriege beinahe rund um den Erdball.

Die vielen Kriege

Die Zählungen des Heidelberg Institute for International Conflict Research wiesen zwischen 2011 und 2020 im Durchschnitt 18 Kriege aus, die Jahr für Jahr an vielen Orten auf der Welt stattfanden.10 Dabei bezog sich das Institut lediglich auf „echte Kriege“, nicht auf bloße militärische Auseinandersetzungen oder Konflikte, in denen gelegentlich auch Gewalt zur Anwendung kommt. Das Institut zählte 21 Kriege in 2020, 15 in 2019, 16 in 2018, 20 in 2017, 18 in 2016, 19 in 2015, 21 in 2014, 18 in 2012 und 20 in 2011. Vor dem Jahr 2011 sah es deutlich besser aus: Im Jahr 2010 gab es demnach „lediglich“ sechs Kriege, im Jahr davor „nur“ sieben Kriege. Neben diesen „echten Kriegen“ erfasste das Heidelberger Institut auch sogenannte „begrenzte Kriege“, die zu den „echten“ hinzuzuzählen sind. Hier waren die Zahlen ähnlich hoch: 19 begrenzte Kriege in 2020, 23 in 2019, 25 in 2018, 20 in 2017 und 2016, 24 in 2015, 25 in 2013 und 2012, 18 in 2011, 22 in 2010 und 24 in 2009. Eine um den Faktor zehn höhere Größenordnung ergibt sich, wenn man zusätzlich die Konflikte auf der Welt in Betracht zieht. Das Heidelberger Institut benannte 319 Konflikte im Jahr 2020, von denen mehr als die Hälfte – 180 – als gewalttätig eingestuft wurden.11

Ähnlich hoch lagen die Zahlen in den Vorjahren: 385 Konflikte in 2019, davon 196 gewalttätig, 374 Konflikte in 2018, davon 214 gewalttätig, 385 Konflikte in 2017, davon 222 gewalttätig, 402 Konflikte in 2016, davon 226 gewalttätig, 409 Konflikte in 2015, davon 223 gewalttätig, 424 Konflikte in 2014, davon wiederum 223 gewalttätig, 414 Konflikte in 2014, davon 221 gewalttätig.

War es früher besser? Die Analysen des Heidelberger Instituts für internationale Konfliktforschung sagen „ja“. 1992, im ersten Jahr, als das Institut die Forschungsreihe gestartet hat, wies der damalige Report über 100 Konflikte und fünf Kriege aus. 1993 waren es bereits 119 Konflikte und 23 Kriege. Ohne die Methodik des Instituts hier im Detail darzustellen oder die Definitionsfrage nach den Unterschieden zwischen „echten Kriegen“, „begrenzten Kriegen“ und „gewalttätigen Konflikten“ detailliert zu diskutieren, lässt sich eines feststellen: Die Gewalt nimmt weltweit zu, nicht etwa ab. Menschen werden entwurzelt, verletzt, getötet. Jeden Tag kommen im Schnitt 500 Menschen durch gewalttätige Konflikte ums Leben, das sind 182.000 Kriegstote pro Jahr. Das sind zusammen weit mehr als 12 Millionen Tote seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs.12

Diese Zahlen könnten möglicherweise sogar noch zu konservativ sein. Eine Untersuchung von Global Research legt nahe, dass seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs in 37 Staaten mindestens 20 Millionen Menschen allein durch Kampfhandlungen ums Leben gekommen sind, die unmittelbar auf die USA zurückzuführen sind. Die Länder wurden entweder direkt angegriffen oder durch geheimdienstliche Tätigkeiten der USA in Bürgerkriege getrieben.13

Alle diese Zahlen basieren auf Schätzungen, unterliegen Definitionsfragen und sind häufig auch politisch motiviert. Die entscheidende Frage in Bezug auf das Thema des hier vorliegenden Buches ist allerdings einfach: Wird das Machtgebaren der USA und ein Zusammenprallen des westlichen Lagers einerseits und der beiden Mächte China und Russland andererseits zu einem weiteren „ganz großen Krieg“, einem Weltkrieg, führen – und wird Europa zum Kriegsschauplatz werden?

„Alle wissen, der Dritte Weltkrieg wird nuklear sein“

Man mag die Vielzahl der Konflikte rund um den Globus zu recht beklagen, aber um wieviel größer wäre das Leid eines Dritten Weltkrieges, in dem Atomwaffen zum Einsatz kämen? Im Kalten Krieg zwischen den westlichen Nationen unter Führung der USA und dem sowjetischen Ostblock unter Führung Russlands war es gelungen, eine atomare Auseinandersetzung zu verhindern.

Doch es gibt keine Gewähr dafür, dass es im derzeitigen Konflikt zwischen China, Russland und den USA wiederum gelingen wird, den Kampf mit Atomwaffen zu vermeiden. Im Zuge der russischen Invasion in die Ukraine im Frühjahr 2022 standen sowohl ein „Atomkrieg“ als auch ein „Dritter Weltkrieg“ im Raum – genauer gesagt, wurden beide Begriffe verwendet.

So erklärte der russische Außenminister Sergej Lawrow unverblümt: „Alle wissen, dass ein Dritter Weltkrieg nur ein nuklearer sein kann. Diese Frage stelle sich aber nur in den Köpfen westlicher Politiker und nicht in denen der Russen.14 Tatsächlich schockierte jedoch Russlands Präsident Wladimir Putin die Welt mit der Ankündigung, die Nuklearstreiftkräfte seines Landes in Alarmbereitschaft zu versetzen.15 China hat hingegen derzeit keinerlei Interesse an einer globalen kriegerischen Auseinandersetzung. Nicht, weil die Volksrepublik vom Frieden beseelt ist, sondern schlichtweg, weil China auf absehbare Zeit noch gar nicht bereit ist, in einer umfassenden militärischen Auseinandersetzung mit den USA auch nur eine Chance zu haben. Deswegen hat China die Rivalität (vorläufig) auf andere Gebiete wie Wirtschaft und Technologie verlagert.

In dieser Gemengenlage gilt es eine Antwort auf die Frage zu finden, wo sich Europa beim Kräftemessen der drei Weltmächte befindet und welche Rolle Europa dabei spielen kann.

Quo vadis Europa?

Der Kampf der Kontinente – Amerika, Europa, Asien – ist nichts Neues. Doch in unserer Zeit der globalen Abhängigkeiten und der blitzschnellen Vernetzung sind die Auswirkungen dieser Entwicklungen rascher und umfassender spürbar als je zuvor.

Was Europa (uns) bedeutet: Die zerrissene Einheit

„Ach Europa!“ titelt ein Buch von Hans Magnus Enzensberger, dass er etwa ein halbes Jahrhundert nach Ende der letzten großen Katastrophe der europäischen Zivilisation geschrieben hatte.16 Seine Diagnose des „Paradox Europa“ lautet: „Die Irregularität, der Wirrwarr macht die Stärke Europas aus. Die Einheit des Kontinents, so wie sie in der Logik der Konzerne, der Parteien, der Bürokratien verstanden wird, nämlich als Projekt der Homogenisierung, erweist sich als Chimäre. Europa ist als Block undenkbar.“

Das war sein nachsichtiger Blick in das Innenleben der Europäer. In einem fiktiven, um 19 Jahre in die Zukunft projizierten Interview mit dem ebenso fiktiven US-Botschafter Murphy in Bonn, lässt er den Ich-Erzähler in der Rolle eines amerikanischen Ex-GI und Journalisten ein weniger freundliches Bild im Außenblick zeichnen: „Die Europäische Gemeinschaft? Hören Sie auf, Murphy! Sie tun so, als hätten wir es mit einem Weltreich zu tun. Sie wissen so gut wie ich, dass die Europäische Gemeinschaft ein Hühnerstall ist, ein Knäuel von immer kleiner werdenden Staaten – wenn man das, worin sich die Europäer eingerichtet haben, überhaupt noch als Staaten bezeichnen kann.“

„Ach Europa!“ möchte man da ausrufen, sollte nur ein wenig davon zutreffend sein. Aber was ist Europa wirklich? Und, wie sollte es sein? Und wie realistisch ist die Hoffnung, dass der Kriegsausbruch in der Ukraine 2022 Europa wieder stärker zusammenschweißt angesichts eines gemeinsamen Feindbildes.

Europa (griechisch Εὐρώπη) ist geographisch gesehen nur ein Subkontinent des Kontinents Eurasien. Diese Halbinsel, die etwa ein Fünftel der eurasischen Landmasse einnimmt, erstreckt sich nach allgemeiner Übereinkunft vom Norwegischen Kinnarodden im Norden bis zum Spanischen Punta de Tarifa im Süden, vom Cabo da Roca in Portugal im Westen bis zum Ural im Osten. Zum Nachbarn Asien ist Europa nicht klar abgegrenzt und stand somit für allerlei Völkerwanderungen offen.

So ist denn auch nach einer bekannten Formulierung von Bernard-Henri Lévy Europa „kein Ort, sondern eine Idee“.17 Daran sollten wir uns orientieren – an den historischen, kulturellen, politischen und ideellen Aspekten.

Es soll hier aber weder die Geschichte nacherzählt noch ein Überblick über die kulturellen Strömungen oder die politischen Bewegungen während der unruhigen Jahrhunderte geben werden, die Europas Völker seither durchlebt haben. Aber es ist wichtig hervorzuheben, was Europa einzigartig macht, ein Merkmal, das uns nachhaltig vom Rest der Welt unterscheidet, auf das wir stolz sein können, das wir notfalls zu verteidigen bereit sein sollten – und wie spätestens seit 2022 klar ist, wir auch gegen Angriffe von außen verteidigen müssen, um es zu erhalten.

Die Rede soll von den so oft bemühten Europäischen Werten sein. Nur, was sind diese Ideen und Werte?

Gerne wird Europa mit dem „Christlichen Abendland“ gleichgesetzt – in deutlicher Abgrenzung zum (muslimischen) Morgenland. Ist dieses besondere Merkmal also das Christentum? Die Antwort darauf ist ein klares „nein“. Zwar ist das Christentum erst im Gefolge des Aufstiegs europäischer Staaten zu Weltmächten auch zu einer Weltreligion geworden, seine Wurzeln und seine frühe Verbreitung hat es bekanntermaßen jedoch in einem ganz anderen Kulturkreis, und zwar im Nahen Osten.