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Von der Autorin des Weltbestsellers "Things we never got over" "Nur weil ich nicht jeden Tag mit einem dummen Grinsen im Gesicht herumlaufe, heißt das nicht, dass ich mürrisch bin." Ryan Sosa, mürrischer ehemaliger Unternehmensbuchhalter, hat die Nase voll von Überraschungen. Dass er gefeuert wurde, hat er nicht kommen sehen. Und schon gar nicht hat er damit gerechnet, dass er quer durchs Land in die fröhlichste und nervigste Hippie-Stadt der Welt fliegen würde, um seinem Großonkel bei einem mysteriösen Notfall zu helfen. Blue Moon sieht aus wie ein Wintermärchen-Wunderland. Aber Ryan hat keine Zeit für Feiertage. Nicht, wenn er eine Farm zu retten hat und insbesondere ein Schaf, das er möglicherweise mit seinem Mietwagen angestoßen hat. Und wenn er sich mit einer Kleinstadttierärztin herumärgern muss, die ihm sagt, dass sie das Tier nicht behandeln kann. Dr. Sammy Ames hat eine Praxis zu führen und eine Spendenkrise zu bewältigen. Für einen Großstadtmuffel, der sich nicht daran erinnert, dass er damals ihr erster Kuss war, hat sie keine Nerven. Schon gar nicht, wenn er ihr ein Schaf namens Stan aufhalsen will. Daraus wird also nichts. Egal wie süß - und nackt - Ryan ist, wenn er betrunken ist. Außerdem wird er, sobald er das Problem seines Onkels gelöst hat, ohnehin den ersten Flug aus Blue Moon nehmen und nie wieder zurückkehren. Es bedarf eines Weihnachtswunders oder vielleicht der Einmischung des Komitees für Lebensqualität, damit sich die beiden unter dem Mistelzweig wiedersehen ...
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Seitenzahl: 391
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Küsse unterm Mistelzweig
Lucy Score
Widmung
Elaine aus meinem Newsletter.
Die Fürsorge, die du deinem Mann entgegenbringst, ist ein schönes, wahres Beispiel für echte Liebe.
Zuerst 2020 erschienen unter dem Titel Blue Moon – The Mistletoe Kisser.
Titel: Küsse unterm Mistelzweig
ISBN eBook: 978-3-910990-55-5
Autorin: Lucy Score
Übersetzung: Katharina Stegen
Cover: Jamie Art
Deutsche Erstveröffentlichung: Berlin 2023
© 2020 Lucy Score
Von Morgen Verlag
Alle Rechte vorbehalten.
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Epilog
Und jetzt?
Verlosung
Nachwort der Autorin
Danksagung
23. Dezember, vor fünfzehn Jahren
Blue Moon Bend, Staat New York
Sammy Ames beging die Feiertage, ohne zu ahnen, dass sich die Richtung ihres Lebens ändern würde. Nie wieder würde sie heiße Schokolade, Mistelzweige und Schafe auf dieselbe Weise betrachten können.
Es schien, als wäre die ganze Stadt zum traditionellen Wintersonnenwende- und multikulturellen Feiertagsfest erschienen. Wie immer. Auf beiden Seiten des gewundenen Weges waren die gleichen Essensstände aufgebaut wie jedes Jahr. Die gleichen Nachbarn, die dahinter standen und mehr oder weniger köstliche Speisen ausgaben. Die gleiche wilde Sammlung von Kunsthandwerk und Selbstgemachtem. Die gleichen Grüße, die mit dampfenden Atemwolken überbracht wurden.
Der Dezember in Norden des Staates New York war kalt. Wirklich verdammt kalt.
Aber es war den Bewohnern nie in den Sinn gekommen, dass die Feste vielleicht bei wärmerem Wetter stattfinden oder – wie es in normalen Städten üblich war – in die Häuser der Bewohner verlegt werden sollten, wo jede Familie selbst entscheiden konnte, ob sie Weihnachten, Chanukka, Kwanzaa, die Sonnenwende oder eine säkulare Familienzeit oder gar nichts feiern wollte.
Das war Blue Moon. Niemand tat etwas auf eigene Faust. Selbst wenn sie es wollten.
Stattdessen hüllten sie sich in Parkas und Fäustlinge und standen in der Schlange für Latkes, Linsen und Lasagne. Es gab Feiertage zu feiern. Kulturen zu respektieren. Vielfalt zu schätzen.
Mit vierzehn Jahren schätzte Sammy insgeheim das Durcheinander. Insgeheim gefiel ihr, dass die Mission ihrer Heimatstadt darin bestand, einzubinden und nicht auszugrenzen.
Nach eigenen Angaben war sie ein durchschnittliches Mädchen mit durchschnittlichem Aussehen und einer durchschnittlichen Persönlichkeit. Die Menschen um sie herum, sowohl Gleichaltrige als auch ihre Familie, schienen immer lebendiger als sie zu sein, selbstbewusster in dem Raum, den sie beanspruchten.
Aber auch wenn sie nicht sicher war, wo sie hingehörte, machte Blue Moon immer noch Platz für sie in dieser winzigen Ecke der Welt.
„Warum müssen wir das jedes Jahr machen?“, fragte ihre beste Freundin Eden Moody und stampfte mit den Füßen, um sich warm zu halten. Ihre schwarze Strumpfhose, die das Mädchen darin unübersehbar als eine angehende Rebellin ankündigte, war nicht so warm wie Sammys praktische lange Unterwäsche und Jeans.
Sammy überlegte, ob sie selbst eine Rebellion anzetteln sollte. Natürlich in angemessener Kleidung für das Wetter. Gegen irgendwelche Erwartungen zu rebellieren, bedeutete schließlich nicht, dass sie erfrieren musste.
Während Edens Eltern den Wunsch ihrer Teenager-Tochter unterstützten, sich auszudrücken und die Konsequenzen davon zu tragen, schien Sammys Mutter Dr. Anastasia Ames entschlossen, sie dazu zu bringen, still innerlich aufzugeben.
„Ich baue diese Tierarztpraxis für uns auf, Samantha.“
„Ich zähle auf dich, dass du das Erbe weiterführst, das ich begonnen habe, Samantha.“
„Nein, du darfst nicht dem Friedenskorps beitreten, statt aufs College zu gehen, Samantha.“
Es wäre schön gewesen, wenn sie Sammy nach ihrer Meinung gefragt hätte, bevor sie ihr ganzes Leben für sie entschied. Nur weil Sammy Tiere liebte, hieß das nicht, dass sie in der Tierarztpraxis ihrer Mutter arbeiten wollte. Vielleicht wollte sie ein Pferdezuchtprogramm astarten oder Schildkröten auf den Galapagosinseln erforschen.
Aber ihre Mutter schien mehr an ihrem Ruf interessiert zu sein und daran, was es für diesen Ruf bedeuten würde, wenn ihre Tochter eines Tages die Praxis übernahm.
„Gefällt es dir hier gar nicht?“, fragte Sammy ihre erstarrte Freundin.
Edens Augen folgten dem Hintern von Beckett Pierce, der zusammen mit seinem ebenso niedlichen jüngeren Bruder Jack vorbeischlenderte. Moon Beam Parker, Edens Cousine, ging im Gleichschritt mit Beckett und machte ihm Hundeaugen.
Eden befand sich auf dem schnellsten Weg in Richtung Erwachsensein. Ihren ersten Kuss hatte sie mit zwölf Jahren gehabt – mit Amir Lubarnas auf der Rollschuhbahn während Nancy Finkelsteins Geburtstagsparty. Die noch immer ungeküsste Sammy wünschte sich manchmal, sie hätte eine Moon Beam Parker in ihrem Leben, die sie dazu zwang, ihre Komfortzone hinter sich zu lassen.
„Ich bin fast fünfzehn“, sagte Eden lässig. „Ich erforsche meine hormonell bedingte Verachtung für das Leben.“
Die Lehrpläne für die Gesundheits- und Sexualerziehung im Blue Moon Schulbezirk waren peinlich umfassend.
„Pubertät wie aus dem Lehrbuch“, witzelte Layla. Obwohl sie die langbeinige, blonde Sexbombe der Gruppe war, interessierte sich Layla weniger für Jungs als vielmehr dafür, ihre Freundinnen vor ihnen zu beschützen ... und vor sich selbst. Sie war sehr verantwortungsbewusst und schien die Teenagerjahre komplett übergangen zu haben, um direkt ins Erwachsenenalter zu springen.
Sammy fiel genau zwischen die beiden. Sie war weder eine Rebellin noch wahnsinnig tugendhaft. Sondern einfach nur ein Mädchen, das sich selbst finden wollte. Und darauf wartete, dass das Universum ihr sagte, wer sie sein sollte.
Ein Mädchen, das langsam keine Lust mehr aufs Warten hatte.
„Sieh nicht hin, aber hinter uns steht jemand, der aussieht wie Ryan Phillippe“, flüsterte Eden.
Das war neu. Niemand in Blue Moon sah aus wie der gelangweilte, wohlhabende Junge aus Cruel Intentions. Das bedeutete Frischfleisch. Layla spähte zuerst hinüber. Als sie sich wieder zu ihnen umdrehte, stimmte die Höhe ihrer Augenbrauen mit Edens Einschätzung überein.
Sammy schaute beiläufig über ihre Schulter und wurde von einem großen, schlaksigen Jungen in einem gelben Parka angegrinst. Seine blonden Haare fielen ihm kunstvoll in die Stirn. Lange Wimpern umrahmten amüsierte braune Augen. Er trug eine Zahnspange und einen weichen, moosgrünen Schal, den er sich flott um den Hals gebunden hatte. Eindeutig ein Ryan Phillippe-Typ.
Als er merkte, dass sie ihn schon länger anstarrte, schenkte er ihr ein schwaches Lächeln und drehte sich um, um nach vorne zu schauen.
„Sauber, Sammy“, neckte Layla sie.
Eden stieß den kaum hörbaren, hohen Schrei einer Teenagerin aus, die sich für eine Freundin freute. „Er steht total auf dich“, flüsterte sie wissend.
„Ja. Das glaube ich nicht“, wehrte Sammy ab. Sie war es gewohnt, die uninteressanteste in ihrer kleinen Gruppe zu sein. Layla war die vollbusige Göttin von nebenan, die sich nicht einmal anstrengen musste. Eden war die mutige Rebellin, die zu sehr damit beschäftigt war, nach ihrer eigenen Pfeife zu tanzen, um sich darum zu kümmern, ob jemand sie süß fand.
„Hey“, sagte eine Stimme hinter ihnen. Eine süße, jugendliche Jungenstimme.
Sie wirbelten gemeinsam herum.
„Hey“, sagte Eden mit beneidenswerter Gelassenheit.
„Hey“, sagte Layla mit deutlichem Misstrauen.
„Hallo“, quietschte Sammy.
Der Junge grinste wieder und sah sie direkt an. „Und, wie ist das Essen hier?“, fragte er und deutete auf den Stand mit gebratenem Tofu vor ihnen.
„Toll“, sagte Eden. „Layla und ich müssen los. Wir kommen später zu dir, Sammy.“ Sie hakte ihren Arm bei Layla ein, selbst als Sammy den Kopf schüttelte. Sie war nicht darauf vorbereitet, im Stich gelassen zu werden.
„Bist du neu hier?“, fragte Layla den Jungen und grub die Absätze ihrer Turnschuhe in den Boden. Es ging ihr nicht um persönliches Interesse. Sie wollte sichergehen, dass der Fremde, der sich für ihre Freundin interessierte, kein zukünftiger Krimineller war.
„Ja“, sagte der Junge. „Ich bin in der Stadt und besuche meinen Großonkel. Ziemlich lahm“, sagte er mit einem koketten Lächeln. Diesmal warf er den Kopf ein wenig hin und her, bevor er sich die Haare aus dem Gesicht strich, die über sein Auge gefallen waren.
Sammy fragte sich, warum er sie nicht einfach kürzer schneiden ließ. Wahrscheinlich tat ihm am Ende des Tages der Nacken weh, weil er seinen Kopf so viel herumwarf.
„Wer ist dein Onkel?“, wollte Layla wissen, während Eden noch entschlossener an ihrem Arm zerrte.
„Es ist egal, wer sein Onkel ist“, zischte Eden.
Sammy hatte Mitleid mit Laylas zukünftigen Kindern – falls sie sich entschied, welche zu bekommen. Jeder Versuch, Dates nach Hause zu bringen, um die Eltern kennenzulernen, würde in einer Katastrophe enden.
„Mein Onkel ist Carson Shufflebottom“, sagte er und musterte ihre Freundinnen, als wären sie eine Nebenattraktion in einem Billigzirkus. „Er lebt auf einer Farm außerhalb der Stadt.“
Alle Informationen, die er nach „Carson“ erwähnte, waren natürlich unnötig, denn dies war Blue Moon und jeder kannte jeden.
„Wie alt bist du?“, fragte Layla.
„Fünfzehn.“
„Also gut. Wir sind in der Nähe“, sagte sie drohend, als Eden sie an der Kapuze ihrer Jacke packte und wegzog.
Sammy wartete einen Moment und riss sich dann zusammen, um sich dem gleichaltrigen Herzensbrecher zu stellen. Aus der Nähe war er extrem süß.
„Deine Freundinnen sind ... interessant“, bemerkte er. Dann, als wollte er dem Urteil die Schärfe nehmen, schenkte er ihr wieder dieses Lächeln.
Sie spürte, wie ihre Hormone in Aufruhr gerieten. Auf der einen Seite sah er sehr gut aus. So gut wie Jason Priestley in 90210. Normalerweise stand sie eher auf den grüblerischen Luke-Perry-Typ, aber sie war bereit, eine Ausnahme zu machen.
„Das sind sie“, stimmte sie zu. „Ich bin übrigens Sammy.“
„Ja, das habe ich mir schon gedacht“, sagte er amüsiert. „Ich bin Ryan.“
Einer, der aussieht wie Ryan Phillipe und Ryan heißt? Ja, bitte!
„Ich komme aus Des Moines“, fügte er hinzu, als ob er ihr dadurch geografisch überlegen wäre.
„Ich bin von hier“, sagte sie und forderte ihn innerlich heraus, sich darüber lustig zu machen.
Stattdessen erwärmte sich sein Blick. „Also, Sammy ‚von hier‘ mit den schönen blauen Augen. Was hältst du davon, wenn wir den gebratenen Tofu vergessen?“
Schöne blaue Augen. Schluck. Okay, sie könnte auf einen Brandon-Walsh-Typ stehen, wenn er solche Komplimente verteilte.
„Woran hattest du gedacht?“, fragte sie. Sie mochte zwar schwer verknallt sein, aber das bedeutete nicht, dass Dr. Anastasia Ames eine Idiotin aufgezogen hatte. Wenn die nächsten Worte lauteten: „Willst du dir den Wagen meines älteren Bruders ansehen?“, war sie weg, egal wie süß er war und wie viele Komplimente er machte.
Er schaute sich um. „Heiße Schokolade? Ich lade dich ein“, bot er an und warf erneut die Haare zurück. Dieses Mal fand sie es liebenswert.
Ryan aus Des Moines hielt ihr die Hand hin. Sie sah ihn an und überlegte. Entweder fand er sie süß oder er hielt sie für eine verirrte Achtjährige, die wieder mit ihren Eltern vereint werden musste.
„Ich bin vierzehn“, platzte es aus ihr in Richtung seines Skihandschuhs heraus.
„Wirklich? Ich dachte, du wärst mindestens sechzehn.“
Es war offiziell: Sammy war verliebt. Sie schob ihren Fäustling in seinen Handschuh und genoss die Tatsache, dass sie, Samantha Ames aus dem Wissenschaftsclub und mit der langen Unterwäsche, mit einem süßen Fremden Händchen hielt. Und dass der auch noch dachte, sie sähe aus, als hätte sie einen Führerschein.
Sammy tat ihr Bestes, um mit ihm Schritt zu halten, als sie in Richtung der heißen Schokolade gingen. Seine Beine waren länger, aber er ging langsamer als sie. Sie war es gewohnt, nur sich selbst vorwärtszutreiben. Die Masse eines anderen Menschen im Schlepptau zu haben war gewöhnungsbedürftig.
Schließlich kamen sie – etwas unbeholfen – an ihrem Ziel an, einem aufgemotzten Airstream-Wohnwagen. Das Pärchen aus den beiden Schokoladenliebhaberinnen Winona und Bettina verbrachte seinen Ruhestand damit, durch Neuengland und Teile Kanadas zu reisen. Im Winter verkauften sie heiße Gourmet-Schokolade. Im Sommer stellten sie auf Bio-Limonade und Eistee um.
Sie bestellte bei Bettina eine Butterfinger-Schokolade mit Schlagsahne.
Ryan zog eine Grimasse und bestellte dasselbe. „Ich vertraue dir, Blauauge“, sagte er ihr.
Bettina zwinkerte ihr zu und Sammy freute sich über die Bestätigung, dass sie sich den Flirt nicht eingebildet hatte.
Sie nahmen ihre dampfenden Becher mit den köstlichen Leckereien und begannen einen langsamen Spaziergang durch den Park. Da ihre Hände immer noch ineinander verschlungen waren, war sie gezwungen, mit ihrer linken Hand zu trinken. Der Verzicht auf ihre dominante Hand ließ sie sich auf eine Weise erwachsen fühlen, wie es die Brüste, die im letzten Sommer zu sprießen begonnen hatten, nicht getan hatten.
„Frohe Weihnachten, Sammy“, rief Frau Nordemann von ihrem Platz in der Schlange am Stand für gewürzten Cider und Eierlikör. Sie trug einen knöchellangen schwarzen Mantel, ellbogenlange Handschuhe und eine schwarze Strickmütze.
„Frohes Chanukka, Frau Nordemann“, sagte Sammy und hob ihre Tasse an.
„War das eine Weihnachtshexe?“, fragte Ryan ungläubig.
„Nein. Sie ist Jüdin, keine Wicca. Sie ist im Stadtrat.“
Sammy fiel es immer schwer, ihre Mooner für Außenstehende zu beschreiben. Keine Auflistung von Fakten könnte sie jemals vollständig erfassen.
Sie hätte Ryan sagen können, dass Frau Nordemann an Halloween die besten Süßigkeiten verteilte. Aber was, wenn Fünfzehnjährige in Des Moines nicht mehr für Süßes oder Saures von Haustür zu Haustür gingen? Sie hätte ihm sagen können, dass Frau Nordemann beim Tod von Sammys Großmutter eine große Flasche Wein für ihre Mutter und eine Packung Eis für Sammy mitgebracht hatte. Aber was wäre, wenn er es komisch fände, wegen einer Großmutter traurig zu sein?
„Dieser Ort ist wirklich seltsam“, sagte er. Bevor sie etwas sagen konnte, fügte er hinzu: „Aber wenn ich gewusst hätte, dass Onkel Carson Zugang zu Mädchen wie dir hat, hätte ich nicht so lange mit meinem Besuch gewartet.“
Ruck mit dem Kopf.
Ruck im Herzen.
Sammy prägte sich das Kompliment ein, damit sie es später vor Eden und Layla wiederholen konnte.
„Hallo, Sammy.“ John Pierce, gutaussehend und robust in einem Flanellmantel und Gummistiefeln, grüßte sie aus dem Streichelzoo seiner Farm. In einem provisorischen Zaun waren zwei wollige Schafe, ein halbes Dutzend flauschige Hühner und eine schwankende Jersey-Kuh mit einem „Muh-rry Christmas“-Tuch um den Hals untergebracht.
John war zu alt, um der unerwiderte Schwarm einer Teenagerin zu sein. Aber sie liebte den Mann trotzdem. Er war ruhig, gelassen und nur ein bisschen mürrisch.
„Kennst du alle hier?“, fragte Ryan, als Joey Greer, eine Schönheit mit langen Beinen und dunklen, glatten Haaren, ihr zuwinkte. Sie und Jack, der jüngste Pierce, führten das Ponyreiten in einer behelfsmäßigen Manege an.
Sie zuckte mit den Schultern. „Die meisten.“
Carter Pierce, der Älteste und ihrer Meinung nach der Hübscheste, arbeitete hinter einem Klapptisch und tauschte Bargeld gegen Tickets ein. Beckett – der Mittlere und das Objekt von Moon Beam Parkers aktueller Zuneigung – verteilte Tütchen mit Biofutter an die Teilnehmer.
„Ich kenne nicht einmal meine Nachbarn“, sagte Ryan ihr. Sie konnte nicht sagen, ob er mit dieser bedauernswerten Tatsache prahlte oder nicht.
„Wie ist es in Des Moines?“, fragte sie.
Während er die Stadt beschrieb, beobachtete sie, wie einer der Bowler-Zwillinge, ein unruhiger Vierjähriger mit abgelenkten Eltern, seinen biologisch abbaubaren Behälter mit gebratenem Tofu auf dem Gehweg vor dem Streichelzoo umstieß. Er zerrte am Ärmel seiner Mutter und verkündete, dass er mit dem Essen fertig war und einen Nachtisch haben wollte. Mrs. Bowler war gerade dabei, mit Bruce und Amethyst Oakleigh zu plaudern und tätschelte dem Jungen geistesabwesend das Gesicht.
Ryan war zu den Vorzügen seiner Schule übergegangen, die ein gutes Wrestling-Team und einen Hochgeschwindigkeits-Internetzugang im Schreibmaschinenraum hatte. Sie tat ihr Bestes, um begeistert zu wirken, als eine Gruppe von Moonern vorbeischlenderte und angeregt über den neuen Film Crouching Tiger, Hidden Dragon diskutierte.
Sie erkannte Bill „Fitz“ Fitzsimmons, einen dünnen, bebrillten Hippie. Er lief rückwärts, führte eine Art Kampfsport-Choreografie vor und hielt dabei einen Slushie in der Hand, als die Sohle seiner Winter-Birkenstocks genau auf dem Hügel mit gebratenem Tofu landete.
Alles geschah in Zeitlupe. Sein Fuß rutschte unter ihm weg. Er versuchte vergeblich, sein Gleichgewicht zu halten. Sein anderer Schuh landete in dem nun abgeflachten Matsch und wischte hindurch. Wie in einem Cartoon trat, rutschte und krabbelte er ein halbes Dutzend Mal, bevor die Schwerkraft schließlich siegte. Mit rudernden Armen kippte Fitz nach hinten und stürzte in den provisorischen Zaun des Streichelzoos. Lila Slushie flog durch die Luft, bevor es auf dem größeren Schaf landete, das sich über das unerwartete Bad wunderte.
Der Zaun undFitz gingen mit einem Krachen beziehungsweise einem „Uff“ zu Boden.
„Wow“, sagte Ryan und brach die Beschreibung seiner Sneakersammlung ab.
„Oh-oh“, sagte Sammy. Sie drückte Ryan ihre heiße Schokolade in die Hand.
Chaos brach aus. Beide Schafe stürzten sich auf die Öffnung. Das lila Schaf sprang den liegenden Fitz nicht an, eher überrollte es ihn. Fitz quiekte, und die Schafe rannten blökend den Parkweg hinunter. Die Hühner waren die nächsten und gackerten verzweifelt über ihre neu gewonnene Freiheit. Die Kuh trabte vorwärts und gewann langsam an Geschwindigkeit.
Carter sprang über den Tisch und stürzte sich auf die Kuh, als sie auf die Öffnung zustürmte. Beckett schnappte sich das nächstgelegene Huhn. John stürzte sich auf das normalfarbige Schaf, das stehen geblieben war, um an Fitz’ Socken zu knabbern.
Die Ponys auf der Reitbahn beäugten das Durcheinander böse, bis Fitz, der versuchte, sich aufzurichten, versehentlich das Tor öffnete.
„Halt die Zügel fest!“, rief Sammy Jack zu, der das Chaos vom Zaun aus beobachtete und weder auf das gescheckte graue Pony, das er führte, noch auf die kleine Becky Halgren im Sattel achtete. Ein Huhn flatterte Beckett mitten ins Gesicht. Die kleine Reiterin stieß ein schrilles Lachen aus und erschreckte das Pony. Es raste davon, während sich seine Möchtegern-Reiterin noch immer lachend mit klebrigen Fingern an den Sattel klammerte.
Der Bauer in ihm und sein väterlicher Instinkt mussten John vor der möglichen Katastrophe gewarnt haben. Er gab es auf, Carter zu helfen, die Kuh zurück ins Gehege zu treiben und drehte sich gerade noch rechtzeitig herum, um Becky vom Rücken des Ponys zu pflücken.
„Ich hole das lila Schaf“, rief Sammy.
„Du holst was? Willst du nichts über meine Air Jordans hören?“, fragte Ryan, aber sie lief schon den Bürgersteig hinunter. Sie entdeckte Eden und Layla, die auf einer Parkbank saßen und das Geschehen mit einer Tüte Popcorn beobachteten. „Ich muss mir das mal ausleihen“, sagte Sammy und schnappte Layla das Popcorn weg.
„Hey!“
„Schaf auf der Flucht!“, brüllte sie über ihre Schulter.
„Wo brauchst du uns?“, rief Eden ihr nach und sprang auf die Füße.
„Schneid ihm zwischen dem Weihrauchstand und dem Latkes-Truck den Weg ab. Versuch es abzufangen. Ich komme an der Flanke nach und wir treiben es zurück zu den Pierces.“
Sie trennten sich, und Sammy schlüpfte um die Seite von Velma Flinthorns Freilandhühner-Eierstand herum. Das Schaf schien seine Freiheit zu genießen und tobte begeistert im Zickzack durch das Gras und den Schnee. Eden und Layla sprangen ihm in den Weg und erschreckten das Tier. Es machte eine 180-Grad-Wendung und trottete von ihnen weg in Sammys Richtung.
Geistesgegenwärtig sprang Sammy aus ihrem Versteck und streute Popcorn auf den Boden vor sich. „Komm schon, Schaf. Komm und iss einen Snack.“ Sie schüttelte die Tüte. „Wer will Popcorn?“
Zum Glück war das lila Schaf hungrig. Es trabte herbei und verschlang die ersten Körner.
„Braver Junge oder braves Mädchen“, sagte sie.
„Von hier aus gesehen ist es eindeutig ein Junge“, sagte Eden und betrachtete das Hinterteil des Schafes.
„Folg mir und dem Popcorn“, wies Sammy das Tier an und streute weitere Körner auf den Boden.
„Was machen wir jetzt?“, fragte Layla.
„Geh mit ausgestreckten Armen hinter ihm her, falls er sich umdreht und versucht wegzurennen“, sagte sie, schüttelte den Beutel und ging rückwärts. „Und sag mir, wenn ich in etwas hineinlaufe.“
„Pass auf das Huhn auf“, rief Eden.
„Das was?“
Sammy blinzelte, als das nächste Stück Popcorn von einer roten Henne verschlungen wurde, die auf den Snackzug aufspringen wollte.
„Ist das ein Pierce Acres Huhn oder das Freilandhuhn von jemand anderem?“, fragte Layla.
Es kostete einiges an Geduld und jedes einzelne Popcornkorn, aber sie schafften es mit dem Schaf und den Hühnern zurück zum Streichelzoo. Ein grinsender Beckett öffnete das Tor und Sammy kippte den Rest des Popcorns auf den Boden.
Als alle offiziell versammelt waren, umarmte der sonst so stoische John Sammy fest und einarmig. Seine Frau Phoebe, die das Geschehen verpasst hatte, weil sie mit ihrer Freundin Elvira Eustace Glühwein getrunken hatte, gab ihr einen lauten Kuss auf die Stirn.
„Was würde Blue Moon ohne dich tun, Sammy?“, fragte Phoebe.
Sammy spürte, wie ihre Wangen bei diesem Lob rot wurden.
„Gut gemacht, Kleine“, sagte Carter, zerzauste ihr das Haar und ließ sie noch atemloser werden.
„Es war eine Teamleistung“, sagte sie bescheiden zu ihren Schuhen. Das Chaos war besiegt, die Tiere waren wieder eingesammelt. Und die zopfbewehrte Becky Halgren bekam einen zweiten Ritt umsonst, um das erste Beinahe-Desaster wiedergutzumachen.
„Danke, Mädchen, für eure Heldentaten. Das letzte Mal, als dieses Schaf geflohen ist, hat es sich auf halbem Weg nach Cleary verirrt. Wer hätte gedacht, dass David Bowie ein so großer Fan von Popcorn ist?“, meinte Phoebe nachdenklich.
„Äh. Ist er das?“, fragte Sammy.
„Sie hat das Schaf David Bowie genannt“, erklärte John und gab dem Tier einen Klaps auf den Hintern. „Du kannst verdammt gut mit Tieren umgehen, Sammy.“
Das Lob ließ sie innerlich warm werden.
„Du scheinst auch einen Fan zu haben“, bemerkte Phoebe und nickte in Richtung der anderen Seite des Parkwegs. Dort stand der süße Ryan mit zwei Tassen heißer Schokolade in der Hand, die Haare immer noch im Auge.
„Der Junge braucht einen Haarschnitt“, brummte John. Phoebe stieß ihn mit dem Ellbogen in den Bauch.
Eden gab Sammy einen Schubs in Ryans Richtung. „Geh und mach mit ihm rum.“
Sammy warf den Pierces und ihren Freunden einen Abschiedsblick zu, bevor sie zu Ryan ging.
„Das habe ich für dich aufgehoben“, sagte er und hielt ihr die heiße Schokolade hin.
„Danke“, sagte sie und versuchte, den Schnee und Schlamm von ihren Handschuhen abzuwischen. Sie machte nur noch mehr Dreck, also gab sie auf und stopfte die Handschuhe in ihre Taschen. Begleitet von eindeutigen Bewegungen von Eden nahm sie den Becher entgegen und zog Ryan von der Menge weg.
„Ist dir kalt?“, fragte er.
Sie schüttelte den Kopf. Die Schafsjagd hatte sie tatsächlich ein wenig ins Schwitzen gebracht. „Mir geht es gut“, sagte sie.
„Hier.“ Er wickelte seinen Schal ab und legte ihn ihr um den Hals.
Es war so weich und roch nach Eau de Cologne. Sie wusste nicht, aus was für einem Material er war, aber es fühlte sich teuer an. Sie hoffte, dass ihr Schweiß es nicht ruinieren würde. „Äh. Danke.“
„Du warst ziemlich cool im Umgang mit den Tieren“, sagte er zu ihr, als sie zum Ende des Parks schlenderten und die Menschenmenge sowie den Geruch von Lasagne und Patchouli-Weihrauch hinter sich ließen.
„Danke. Meine Mutter ist Tierärztin“, erklärte sie ihm.
„Cool. Meine Eltern besitzen eine Hausverwaltungsfirma. Sie wollen, dass ich in ihre Fußstapfen trete und in das Familienunternehmen einsteige. Aber ich weiß nicht.“
Sammy spürte einen Funken der Gemeinsamkeit. „Ich kenne das Gefühl“, sagte sie. „Sind alle Eltern so? Ich meine, gibt es eine Regel, die besagt, dass du die richtigen Entscheidungen getroffen hast, wenn deine Kinder auf dasselbe College gehen wie du oder deinen Beruf ergreifen?“
„Wow, Blauauge. Das ist tiefsinnig“, stichelte er.
Ein Rinnsal Schweiß bahnte sich seinen Weg in ihren Nacken und sie hoffte, dass es kein Loch in den Schal brennen würde. „Willst du in die Immobilienverwaltung gehen?“, fragte sie, um das Gespräch von potenziell unangenehmen philosophischen Fragen wegzulenken.
Ryan schien sich wohler zu fühlen, wenn sich das Gespräch um ihn drehte. Und sie fühlte sich wohler, wenn sich andere Menschen wohlfühlten.
Er zuckte mit den Schultern. „Ist schon okay. Aber wenn ich mich entschließe, das zu tun, was sie wollen, kann ich es immer noch zu meinen Bedingungen tun, oder?“
Sie blieb abrupt auf dem Weg stehen. „Richtig“, sagte sie, und die Wahrheit traf sie wie ein Blitzschlag.
Während er davon sprach, dass er nicht fünf Tage die Woche arbeiten und zusätzliches Geld für Shopping wollte, zerbrach sich Sammy den Kopf.
Es gab nichts, das besagte, dass sie wie ihre Mutter an die Ohio State Universität gehen musste. Oder dass sie eine Karriere als Tierärztin nutzen musste, um ein Vermächtnis und einen Ruf aufzubauen. Sie konnte es so machen, wie sie eswollte. Sie musste nicht einmal in die Praxis ihrer Mutter eintreten. Sie konnte Tiermedizin praktizieren, wie immer sie wollte, und das nicht nur, weil ihre Eltern es sagten.
Vielleicht, nur vielleicht, konnte sie einen Mittelweg zwischen Rebellion und Anpassung finden.
„Oh. Hey. Sieh dir das an.“
Sammy folgte der Richtung, in die er zeigte. Geradeaus nach oben.
„Mistelzweig“, sagte sie und ihr Puls flatterte. Oh Mann. Oh Mann. Oh Mann. Sie vergaß alles über ihre mögliche Zukunft und konzentrierte sich auf den gegenwärtigen Moment.
Sie hatte sich in einen süßen Kerl verknallt, ein Schaf gerettet und möglicherweise ihre eigene Debatte über „Rebellion oder Anpassung“ gelöst. Und dann geriet sie aus Versehen in die Mistelzweig-Ecke.
Es war ein abgelegener kleiner Teil des Parks, in dem eine große Fichte mit Hunderten von bunten Weihnachtslichtern geschmückt war. Vor dem Baum spannte das Dekorationskomitee immer einen Lichterbaldachin auf, der mit Mistelzweigen durchsetzt war.
Vielleicht war der Zauber der Sonnenwende noch nicht vorbei.
Sie befeuchtete nervös ihre Lippen und überlegte, ob sie den ersten Schritt machen sollte. Wusste sie, was der erste Schritt war? Sollte sie auf Zehenspitzen stehen? Ihren Kopf neigen?
Während sie darüber nachdachte, was sie mit ihren Händen machen sollte, beugte sich Ryan nach unten. Der blonde Haarschopf fiel ihm wieder in die Stirn. Das war das letzte, was sie sah, bevor seine Lippen die ihren berührten.
Ihr erster Kuss war die absolute Perfektion. Unter dem Mistelzweig, vor einem Hintergrund aus Weihnachtsbeleuchtung. Sie erwartete halb, dass es zu schneien beginnen würde, um das Wunder der Sonnenwende zu bestätigen.
Aber statt fetter, fallender Flocken hörte sie einen Schrei des Entsetzens von einer hochgewachsenen Frau in einer bauschigen, lindgrünen Jacke und einer gelben Skimütze.
„Ryan Shufflebottom! Beweg deinen Hintern sofort hierher!“ Die Frau stürmte auf die Lichtung wie eine Schuldirektorin, die gerade dabei war, Schüler zum Nachsitzen zu verdonnern.
Sammy sprang schuldbewusst zurück.
„Oh-oh“, sagte Ryan.
„Ja, oh-oh“, stimmte die Frau zu. „Du hast Hausarrest! Wir gehen jetzt. Jetzt!“
Sammy wünschte sich, der Boden würde sie verschlucken. War er in Schwierigkeiten, weil er sie geküsst hatte? Würde er denken, dass es die Strafe wert war? Oder bereute er es bereits?
„Man sieht sich, Blauauge. Vielleicht sehen wir uns ja wieder“, sagte ihr Teenager-Lothario, zwinkerte ihr zu und warf noch einmal seine Haare zurück.
Sie sah zu, wie Ryan Shufflebottom aus Des Moines von seiner Mutter weggezerrt wurde, die das Wort „Militärschule“ wie ein Mantra aufsagte.
„Was zum Teufel ist gerade passiert?“, fragte sie sich laut.
Freitag, 20. Dezember, heute
„Was zum Teufel ist hier los?“, knurrte Ryan, als ein weiterer VW-Bus fröhlich hupte und der Fahrer ein Friedenszeichen in seine Richtung machte. „Hör auf zu winken. Ich kenne dich nicht.“
Seiner Meinung nach war es zu kühl für Freundlichkeit. Es lag tatsächlich Schnee auf dem Boden. Nicht die Art von flockigem Mist, der in Weihnachtsfilmen vom Himmel fiel. Sondern gefrorene Krusten, die wie eisige Todesfallen in der schwindenden Nachmittagssonne glitzerten.
Er machte sich keine Gedanken darüber, warum er dem Fahrer halbherzig zuwinkte – trotz der Tatsache, dass sein Leben implodiert war, war er kein kompletter Mistkerl – aber er dachte darüber nach, warum es in diesem Hippie-Höllenloch so viele VW-Busse gab.
Es kam ihm unnatürlich vor, genau wie alles andere in seiner derzeitigen Situation. Dazu gehörte auch die Tatsache, dass seine Knie in seinen Achselhöhlen steckten, weil der letzte Mietwagen auf dem Parkplatz wie ein Kinderspielzeug konstruiert worden war und nicht für einen ein Meter neunzig großen Mann.
„Bieg rechts in die Dharma Street ein“, verkündete die hochnäsige französische GPS-Stimme des Autos.
Ryan nahm widerwillig die Kurve. Er war wütend, verunsichert und hatte noch einige andere Adjektive im Kopf. Die Reise war er aus einer Laune heraus angetreten. Er hatte keine Launen. Er hatte Pläne. Ziele. Listen. Launen führten zu Situationen wie dieser.
Nach einem sich ewig hinziehenden Langstreckenflug raste er in einer Thunfischdose durch das Hinterland von New York – wo es deutlich kälter war als in der Innenstadt von Seattle im Dezember – und fuhr ins Ungewisse.
Großer Fehler.
Er hätte den Tag in seinem bequemen, organisierten Büro verbringen sollen, um sich mit Kunden zu treffen, ihnen Geld zu sparen und ihr Imperium aufzubauen. Aber seit letzter Woche war das nicht mehr möglich. Stattdessen hatte er sich in ein lächerliches Elektroauto gepresst, um seinen Großonkel aus irgendwelchen Schwierigkeiten zu befreien, in die er sich gebracht hatte – Ryans Mutter hatte sich da etwas vage ausgedrückt.
Zurück in Seattle lag sein sorgfältig geplantes und minutiös ausgeführtes Leben in Trümmern.
Er fühlte sich wie eines dieser zerstörten Casinos in Las Vegas. Ein Knopfdruck, und jahrelange harte Arbeit wurde durch eine Asbestexplosion vernichtet.
Anstatt in seinem üblichen Restaurant zu Abend zu essen, nachdem er wie üblich zehn Stunden am Freitag gearbeitet hatte, fuhr er durch Blue Moons Downtown. Dort hatten eindeutig Elfen auf Halluzinogenen die Häuser geschmückt.
Zu seiner Linken befand sich der übliche Kleinstadtpark. Nur dass die normale Freifläche und die verschlungenen Wege durch ein Heer von aufblasbaren Festtagsspielereien ersetzt worden waren. Darunter befand sich ein rot-grünes Friedenszeichen, eine drei Meter hohe Menora und etwas, das aussah wie eine Kwanzaa-Einheitsschale.
In den gefrorenen Boden gehauene Schilder verkündeten Botschaften wie „Oy an die ganze Welt!“, „Eine cooles Julfest!“ und „Frohe Weihnachten!“
Er betrachtete die riesige Fichte, die von der Spitze bis zum Stamm mit Tausenden von bunten Lichtern geschmückt war, als sein Telefon klingelte. Er brauchte einen halben Häuserblock und drei Versuche, bevor er die Antworttaste auf dem winzigen Touchscreen des Autos drücken konnte.
„Ja?“, schnauzte er.
„Ryan! Mein Lieblingsneffe“, keuchte die Stimme seines Großonkels Carson blechern aus den Lautsprechern des Autos.
Sie kamen aus einer großen Familie. Ryan bezweifelte, dass er überhaupt zu den fünf beliebtesten Neffen zählte.
„Hey, Carson. Ich bin fast da“, sagte er und überprüfte die GPS-Route. Die zu freundliche, zu feierliche Stadt lichtete sich und verschwand langsam in seinem Rückspiegel. Er schwor sich inständig, niemals zurückzukehren.
„Genau das“, sagte Carson. „Ich werde nicht da sein, um dich zu begrüßen. Du kannst dich selbst reinlassen. Die Tür ist nicht verschlossen.“
„Ich kann draußen auf dich warten“, beharrte Ryan und versuchte, seine Ungeduld zu verbergen. Er war nicht die Art von Mensch, die einfach in das Haus eines anderen hineinplatzte.
Carsons Gackern hallte im Inneren des kürbisorangenen Mikroautos wider. „Du wirst lange warten müssen, Junge! Meine Schwester hatte einen Notfall. Ich bin auf dem Weg, um ihr zu helfen.“
Ryans Stirnrunzeln vertiefte sich.
„Sofort links abbiegen“, verkündete der französische GPS-Roboter zügig.
Er trat auf die Bremse und schaffte es gerade noch, auf einen ungepflegten, zerfurchten Weg ins Nirgendwo abzubiegen.
„Du hast keine Schwester“, erinnerte er Carson. Es war eine große Familie, aber die obligatorische Teilnahme am jährlichen Shufflebottom-Treffen sorgte dafür, dass alle Generationen einigermaßen miteinander vertraut waren.
Jetzt würde er seiner Mutter berichten müssen, dass ihr drittliebster Onkel Anzeichen von geistigem Verfall zeigte. Verdammt toll.
„Habe ich Schwester gesagt? Ich meinte die Cousine zweiten Grades mütterlicherseits. Sie ist wie eine Schwester für mich“, sagte Carson. „Egal, deshalb bin ich im Flugzeug nach Boca.“
Ryan kam in der Mitte der Fahrbahn abrupt zum Stehen. „Du bist was?“, fragte er.
„In einem Flugzeug.“
„Ich dachte, du wärst derjenige mit dem Notfall“, meinte Ryan.
Er war umsonst quer durchs Land geflogen und hatte das dümmste Clown-Auto der Welt gemietet, ohne zu schlafen. Er hätte in Jogginghosen zu Hause sein können, mit der teuren Flasche Whiskey, die er für einen besonderen Anlass aufgespart hatte, der nie eintrat.
„Ich habe einen Notfall“, betonte Carson. „Aber das heißt nicht, dass ich anderen nicht helfen kann. Das ist die Art von Blue Moon. Der Notfall meiner Schwester ...“ Die Stimme seines Onkels brach ab, und Ryan glaubte, am anderen Ende noch jemanden murmeln zu hören. „Ich meine, meine Cousine hat sichgerade ihr Fesselgelenk gebrochen. Sie muss operiert werden.“
Fesselgelenk? Ryan war ein Buchhalter, kein Chirurg. Trotzdem war er sich zu siebenundneunzig Prozent sicher, dass es im menschlichen Körper keine Fesselgelenke gab.
„Okay“, sagte er, holte tief Luft und zählte von zehn rückwärts. Es war nicht Carsons Schuld, dass er durchgedreht war. „Warum bin ich quer durchs Land geflogen, wenn du nicht einmal hier bist?“
„Während ich meiner Cousine helfe, hilfst du mir“, rief Carson aus den Lautsprechern. „Ich brauche dich, um meine Farm bis Heiligabend zu retten.“
Heiligabend war nur noch vier Tage entfernt.
„Das ist kein Notfall, Carson“, sagte Ryan, kniff sich in den Nasenrücken und fragte sich, ob sich so ein Aneurysma anfühlte. „Das ist ein verdammter Weihnachtsfilm.“
Er hatte den Fehler gemacht, mit Marsha auszugehen, einer Liebhaberin von TV-Weihnachtsfilmen. Es hatte ihn viel Überwindung gekostet, über ihre obszöne Vorliebe für kitschige, vorhersehbare Unterhaltung hinwegzusehen. Aber ihre Vorzüge hätten diese lästige Macke ausgleichen müssen. Sie war eine kluge, praktische, gut gekleidete Aktuarin mit einem beeindruckenden Rentenkonto.
Auf dem Papier machten sie Sinn. Aber im wirklichen Leben passten sie einfach nicht zusammen. Die ganze Beziehung war ein Fehltritt, der ihn ein ganzes Jahr hinter seinen Plan zurückwarf, eine Partnerin fürs Leben zu finden, bevor er Partner in der Firma wurde.
Sie hatten sich letztes Jahr drei Tage vor Heiligabend getrennt, als er sie dabei erwischt hatte, wie sie das perfekte Outfit für den überraschenden Heiratsantrag am Weihnachtsmorgen geplant hatte, den sie erwartete. Offensichtlich war Marsha nur bei ihrer Karriere und ihrer Garderobe praktisch veranlagt, nicht aber in ihrem Liebesleben.
Ein lächerlicher, romantischer Heiratsantrag nach nur sechs Monaten Beziehung war nicht in seinem Lebensplan vorgesehen.
Ryans Lebensplan
1. Partner in der Firma werden.
2. Eine größere Eigentumswohnung mit gutem Wiederverkaufspotenzial kaufen.
3. Eine geeignete Freundin finden, mit der du 18-24 Monate zusammen bist, bevor du ihr einen Antrag machst. Vielleicht eine Anwältin oder eine Finanzberaterin. Weihnachtsfilmfans ausgeschlossen.
„Weihnachtsfilm? Du warst schon immer ein Witzbold“, keuchte Carson.
Ryan war noch nie in seinem Leben beschuldigt worden, ein Witzbold zu sein.
„Ich zähle auf dich, Kleiner“, fuhr sein Onkel fort. „Ich stecke in einer finanziellen Klemme.“
Mit zusammengebissenen Zähnen tuckerte Ryan weiter die Straße entlang. Niedrige Schneewälle auf beiden Seiten erschwerten die Sicht auf das, was hinter der Einfahrt lag. Er verachtete es nicht zu wissen, wohin er fuhr.
„Was für ein Problem? Will ein böser Immobilienentwickler deine Farm übernehmen und einen Haufen umweltfeindlicher Eigentumswohnungen bauen?“ Sarkasmus war Ryans zweite Sprache. Er hatte denFilm schon vier Mal gesehen. Oder vielleicht waren es auch vier Filme mit demselben Handlungsstrang. Auf jeden Fall spielte in allen eine der Schauspielerinnen aus Full House mit.
„Hm. Ja. Das!“, sagte sein Onkel fröhlich. „Alles, was du brauchst, ist im Haus. Es ist nicht abschlossen. Ich zähle auf dich.“
„Zählst auf mich wofür?“
„Rette die Farm. Rette den Tag. Du bist meine einzige Hoffnung. Oh-oh. Die Verbindung. Ist. Schlecht. Durch ... Tunnel.“
Diesmal hörte Ryan ganz eindeutig jemand anderen im Hintergrund zischen. „Das ist kein Tunnel, du Trottel! Du bist in einem Flugzeug.“
„Oh, richtig. Das Flugzeug fliegt durch einen Lufttunnel. Tschüss!“
Der Anruf wurde im selben Moment unterbrochen, als seine Scheinwerfer die Düsternis durchschnitten und ein weißes Bauernhaus mit Schindeln und eine Scheune beleuchteten, die schon bessere Tage gesehen hatte. Die Dämmerung hatte sich wie eine schwere, nasse Decke über das Gebäude gelegt, da es keine Straßenlaternen gab.
Auf der vorderen Veranda stand ein einsamer Schaukelstuhl. Eine schlaffe Girlande hing ungleichmäßig vom Geländer herab. Er hoffte, dass es sich bei den unnatürlich blinkenden orangefarbenen Flammen in den Fenstern um elektrische Kerzen und nicht um mehrere kleine Brände handelte, denn er hatte nicht die Energie, Feuerwehrmann zu spielen.
Romantisch veranlagte Besucher würden wahrscheinlich von der ländlichen Einfachheit der verschneiten Szene bezaubert sein. Für den pragmatischen und müden Ryan sah es aus wie ein Ort, an dem unschuldige Stadtbewohner ermordet wurden.
Er wollte wirklich nicht reingehen. Wenn er einen Fuß auf die Veranda setzte, musste er tatsächlich die Nacht dort verbringen, anstatt zum Flughafen zu fahren und ein Rückflugticket nach Hause zu kaufen.
Aber er hatte sein Wort gegeben.
Er musste aufhören, das zu tun.
Er stieg aus dem Auto aus und verfluchte den Schnee, der seine teuren Slipper durchnässte, und die winterliche Kälte, die ihn wie eine Faust zusammenpresste. Er murmelte jedes Wort mit vier Buchstaben in seinem Wortschatz, kramte seine Taschen aus dem Auto und stieg mürrisch die Stufen zur Veranda hinauf.
Auf der Willkommensmatte stand „Danke fürs Vorbeikommen“. Er wischte seine Füße fester als nötig über den fröhlichen Spruch. Er wollte nicht, dass ihm dafür gedankt wurde, „vorbeigekommen“ zu sein. Er hatte gar nicht erst „vorbeikommen“ wollen. Als er den vernarbten Messingknauf betätigte, war die Haustür wie versprochen nicht verschlossen.
Er warf seinen Koffer und seine Aktentasche kurzerhand auf den abgenutzten Teppich hinter der Tür und suchte nach einem Lichtschalter. Er fand ihn unter einem Haufen Klebezettel. Die Zettel schienen in keiner bestimmten Reihenfolge angeordnet zu sein.
Neue Overalls kaufen.
Denk daran, Kerzen und Kamin auszuschalten.
Ryan Anweisungen zum Füttern von Hühnern hinterlassen.
Frühstück mit dem KfL.
Das Wohnzimmer war ein beengendes Rechteck. Eingebaute Regale voller Traktor- und Hühnerfiguren umgaben einen klobigen Fernseher, der auf einem Ständer mit eingebautem Elektrokamin stand. Neben einem alten Sessel lag ein Stapel vergilbter Monthly Moon-Zeitungen. Die Couch sah aus wie etwas, das eine betrunkene Neunzigjährige für ihre Wohnung in Florida ausgesucht hatte. Im Jahr 1984. Sie war mit orangefarbenen und rosafarbenen Blumen verziert und hing in der Mitte unter dem Gewicht von etwa zwei Dutzend Schuhkartons durch.
Ein Klavier versperrte teilweise das vordere Fenster, das den Blick auf die Veranda erlaubte und auf was für eine grässliche Landschaft man auch immer bei Tageslicht sehen konnte.
Zu seiner Rechten führte eine eichengebeizte Treppe mit einem abgenutzten grünen Teppich in den zweiten Stock. Geradeaus konnte er die Küche und das Esszimmer sehen.
„Home sweet home“, brummte er in das leere Haus. Wie auf ein Stichwort hin flackerte der elektrische Kamin auf. Offensichtlich verstanden leere Häuser keinen Sarkasmus.
Der Erschöpfung nachgebend ließ er sich auf den Sessel fallen und schmiedete einen neuen Plan.
Ryans neuer Plan
1. Einen Spirituosenladen finden.
2. Eine halbe Flasche Whiskey trinken.
3. Mom anrufen und ihr die Nachricht überbringen, dass ihr drittliebster Onkel offiziell seinen Verstand verloren hat.
4. Einen Flug nach Hause buchen.
Er fühlte sich bei allem gut, außer bei Nummer 3. Aber er war sehr effizient, wenn es darum ging, unangenehme Aufgaben zu erledigen.
Ein rosa und lila gefärbter Briefkopf auf dem metallenen TV-Tablett an seinem Ellbogen fiel ihm ins Auge und er hob ihn auf. Das Papier roch wie das Innere eines Ladens, der Brieföffner mit Drachenköpfen und Bongs verkaufte.
Lieber Mr. Shufflebottom,
Mit großem Bedauern muss die Blue Moon Bank dich daran erinnern, dass die Schlussrate deines Kredits an Heiligabend um 23:59 Uhr fällig ist.
Wenn du nicht in der Lage bist, die angehängte Zahlung zu leisten, sind wir gezwungen, die Sicherheiten – deinen Hof – einzuziehen und dich vom Grundstück zu entfernen.
Wir wünschen dir und den Deinen ein frohes Fest zur Sonnenwende! Vergiss nicht, bei der Handelskammer für uns als lokale Bank des Jahres zu stimmen!
Beste Wünsche,
Rainbow Berkowicz, Präsidentin der Blue Moon Bank
Ryan blätterte zu der beigefügten Mitteilung. Der fällige Betrag ließ ihn sich wieder in die Nase kneifen.
„Verdammt.“
Neue Nummer 4: Die Farm von Großonkel Carson vor der Zwangsversteigerung retten.
Er musste eine Kopie des Kredits sehen, die Kontoauszüge. Vielleicht hatte die Bank einen älteren, nicht ganz so taufrischen Farmer übers Ohr gehauen? Es wäre nicht das erste Mal, dass ein Finanzinstitut den kleinen Mann über den Tisch zog. Der buchhalterische Teil seines Gehirns begann, mögliche Taktiken zu durchzugehen.
Er konnte einen Sieg gebrauchen. Auch wenn es gegen eine nach Patchouli duftende Kleinstadtbank war, die wahrscheinlich noch nie etwas von mobilen Einzahlungen gehört hatte.
Der Stapel von Schuhkartons auf der hässlichen Couch fiel ihm wieder ins Auge. Er schob sich aus dem Sessel, um sie zu untersuchen. Jeder einzelne war beschriftet: Quittungen, wichtige Papiere, Familiensachen, weitere Quittungen und Papiere, Dinge, die ich vielleicht mal brauchen werde.
Oben auf der ersten Kiste war ein Klebezettel.
Ryan, alles, was du brauchst, ist hier.
Neugierig hob er den Deckel an. Die Schachtel war vollgepackt mit zerknitterten Quittungen, einer Sammlung von Gummibändern und Gutscheinen für Seife, die 1988 abgelaufen waren.
„Nö. Erst der Whiskey“, beschloss er.
Er schnappte sich seinen Mantel und seine Schlüssel, ging zurück nach draußen in die eisige Dezemberluft, stieg in seinen Rollschuh von einem Auto und fuhr langsam die verschneite Straße hinunter.
Ein großer, weißer Fleck tauchte einige Meter vor ihm aus der Dunkelheit auf. Der Sensor des Autos piepte hektisch. Ryan trat gerade auf die Bremse, als die französische Stimme des Navigationssystems ein „Objekt auf der Straße“ meldete.
Der dumpfe Schlag schien eine Sekunde zu spät zu kommen, aber er drehte ihm trotzdem den Magen um.
Dr. Sammy Ames’ festlicher Weihnachtsmannkittel roch nach Katzenpisse. Der Knutschfleck eines wütenden Papageis pochte ein wenig unter dem Verband mit den Zuckerstangen-Streifen. Und ihr Peace of Pizza-Mittagessen war schon vor Stunden in einem weihnachtlich geschmückten Pausenraum kalt geworden.
Ihr Tierarztassistent würde sich vor Lachen krümmen, wenn er sie jetzt sehen könnte. Aber Demarcus feierte Chanukka mit seinen Schwiegereltern, so dass es keine Zeugen für ihren vorübergehenden Ausflug in die klinische Veterinärmedizin gab.
Es war kein schlechter Tag gewesen, beschloss sie und nahm einen weiteren Bissen von der abgestandenen Pizza.
Sie hatte die Herausforderung genossen, in der Tierklinik einzuspringen. Aber sie freute sich sehr darauf, am Morgen in ihre eigene Großtierpraxis zurückzukehren. Ihre Tage waren normalerweise gefüllt mit Hausbesuchen, um Tiere zu impfen, Ultraschalluntersuchungen bei trächtigen Stuten durchzuführen und Kälber zu gebären. Sie war mehr draußen als drinnen, ihre Patienten waren viel größer als die, die sie heute gesehen hatte, und ihre Kunden waren bodenständige Bauern.
Sie ließ die Schultern hängen und sah auf der Katzenuhr an der Wand nach, wie spät es war. Ihre Augen tickten nach links und ihr Schwanz neigte sich nach rechts. In siebenundzwanzig Minuten war Feierabend. Das bedeutete, dass sie nur noch etwa eine Stunde von einer heißen Dusche, einem sauberen Schlafanzug und etwas Zeit zum Basteln entfernt war. Wenn sie ihren Hintern nicht demnächst in einen Bastelladen bewegte und sich in den nächsten drei Tagen ein paar Stunden Zeit nahm, würde ihre „tolle Spendenaktion“ ein gigantischer Reinfall werden.
„Hey, Dr. Sammy. Nochmals vielen Dank, dass du für Dr. Turner eingesprungen bist“, begrüßte Nimbus Miller sie, als er den Raum betrat und auf den Verkaufsautomaten zuging. Der dunkelhäutige Mann war ein ehemaliger Highschool-Football-Star, und jetzt Tierarzt. Die Kugel am Ende seiner Weihnachtsmannmütze wackelte, als er darüber nachdachte, was er sich aus dem Automaten ziehen sollte.
„Das war kein Problem“, sagte sie. „Ich hoffe, es geht ihm besser.“
„Ich wette, das nächste Mal denkt er besser über das Hot-Dog-Wettessen mit der Familie nach“, meinte Nimbus und drückte die Knöpfe für einen Apfel-Walnuss-Müsliriegel.
Dr. Turner hatte den Gefallen am Abend zuvor um Mitternacht eingefordert. Die Diagnose: Listerien-induzierter Durchfall. Er war in der Klinik für eine Zwölf-Stunden-Schicht eingeteilt. Noch halb im Schlaf hatte Sammy sich im Geiste von ihrem eigenen freien Tag verabschiedet und zugestimmt, seine Schicht zu übernehmen.
Dadurch geriet sie beim Projekt Feiertagskranz noch weiter in Verzug, aber so konnten alle Termine eingehalten und die Tiere ohne Verzögerung behandelt werden. Das war schließlich das Wichtigste.
„Oh, hey. Glaubst du, du hast Kränze mit kleinen Eiszapfen?“, fragte er.
„Ich heb einen für dich auf“, versprach sie und notierte sich, dass sie Plastik-Eiszapfen kaufen musste.
Ihr Telefon surrte auf dem Tisch. Nimbus warf ihr einen Gruß zu, während er auf dem Weg zur Tür die Hälfte des Müsliriegels in einem Bissen herunterschlang.
Sie wischte sich die Hände an ihrer Hose ab und nahm das Gespräch an. „Hey, Mom.“
„Samantha.“ Dr. Anastasia Ames schaffte es, mit einem Wort eine ganze Menge auszudrücken: Verärgerung, Erwartung und eine vage Genervtheit, die ihre Gespräche mit ihrer Tochter immer begleitete.
„Was ist los?“, fragte Sammy und unterdrückte einen Seufzer.
„Zunächst einmal habe ich gehört, dass du heute in der Turner-Klinik arbeitest.“
Ihre Mutter hatte sich aus der Praxis zurückgezogen, um sich mehr akademischen Herausforderungen zu widmen. Diese Herausforderungen machten es erforderlich, dass ihre Eltern näher an New York City wohnten, aber der Blue-Moon-Klatschteppich war lang und verworren und versorgte ein breites Netzwerk von ehemaligen und aktuellen Moonern mit Klatsch und Tratsch.
„Du hast richtig gehört. Dr. Turner hatte einen medizinischen Notfall – einen menschlichen“, erklärte Sammy. „Er nimmt dafür meine Anrufe an Heiligabend entgegen.“
„Ich verstehe nicht, wie du den Ruf deiner eigenen Praxis aufbauen willst, wenn du zu sehr damit beschäftigt bist, deine Schichten mit einer gewöhnlichen Kastrationspraxis zu tauschen.“
„Mmm“, brummte Sammy und nahm einen weiteren großen Bissen von der kalten Pizza, in dem Wissen, dass ihre Mutter nicht wirklich eine Antwort erwartete.
„Ich muss dich sicher nicht daran erinnern, wie hart ich daran gearbeitet habe, die Praxis aufzubauen, die du jetzt leitest.“
„Natürlich nicht“, stimmte Sammy zu und nahm den Saatgutkatalog des Gartencenters in die Hand.
„Ganz zu schweigen davon, dass ich denke, dass es ein großer Fehler ist, deine Aufmerksamkeit weiter aufzuteilen, indem du diese gemeinnützige Organisation gründest“, fuhr Anastasia fort.
Während ihre Mutter durch die Liste der Enttäuschungen ging, blätterte Sammy durch den Katalog. Einige Töchter bekamen Schuldgefühle, weil sie nicht schnell genug heirateten oder Enkelkinder zeugten. Sammy dagegen wurde darüber belehrt, wie man die Familienehre weiterführte. Dr. Anastasia Ames hatte zwar aufgehört, Tiermedizin zu praktizieren – sie lehrte sie und sprach auf Konferenzen darüber –, aber sie erwartete immer noch, dass Sammy sie irgendwie stolz machen würde ... natürlich, ohne die ursprüngliche Dr. Ames in den Schatten zu stellen.
Es dauerte drei Seiten voller Luzernen und Grassamen, bis der Vortrag ihrer Mutter zu Ende war.
„Oh. Solange du noch dran bist“, fügte sie dann hinzu, „dein Vater und ich werden Heiligabend nicht kommen. Ich halte am Abend vorher einen Vortrag in Boston und wir sind zum Brunch mit dem Landwirtschaftsminister eingeladen. Ich möchte mich nicht beeilen müssen. Dein Vater wird deine Geschenke mit der Post schicken und wir werden uns nach den Feiertagen melden, um den Termin zu verschieben.“
Nur Anastasia würde „Übrigens, ich verbringe Weihnachten nicht mit meinem einzigen Kind“ in den Hintergrund stellen und stattdessen einen Vortrag über Pflicht und Familienverantwortung halten.
„Okay. Ich werde euch vermissen“, sagte Sammy, weil es erwartet wurde.
„Ja, gut. Fröhliche Weihnachten“, sagte Anastasia, weil auch das erwartet wurde. „Wir sprechen uns bald.“
Und damit war ihre Mutter weg. Dr. Ames war eine wichtige, viel beschäftigte Frau, die keine Zeit für Dinge wie Abschiede hatte.
Sammy hatte das Telefon noch nicht einmal weggelegt, als es in ihrer Hand surrte. Es war eine Textnachricht von ihrem Vater.
Dad: Ich vermisse dich jetzt schon, Sammy Girl! Ich hatte große Pläne, deine Mutter mit Eierlikör abzufüllen, damit sie früh ins Bett geht und wir zusammen Stirb Langsam schauen können, ohne dass sie sich über „unrealistische Stunts“ beschwert.
Nach dem Text kam eine Reihe von Zeichen und Sammy vermutete, dass er versucht hatte, ein finsteres Gesicht zu senden.
Sammy: Ich werde dich auch vermissen! Vielleicht können wir uns den Film nach Neujahr gemeinsam ansehen?
Dad: Klingt nach einem Plan. Viel Glück mit deiner Spendenaktion! Schick uns Bilder von deinem ausverkauften Stand! Frohe Weihnachten, Kleine. Hab dich lieb.
Sammy: Frohe Weihnachten, Pops. Ich liebe dich.