Lamir - Welt der Begabten: Der verfluchte Talisman - T.M. Wulf - E-Book

Lamir - Welt der Begabten: Der verfluchte Talisman E-Book

T. M. Wulf

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Beschreibung

Der Zauber eines Augenblickes katapultiert den so gar nicht gewöhnlichen Dominic Keller von der Erde des Jahres 2019 in eine neue und aufregende Welt. Die Welt Lamir. Diese Welt bietet verfolgten Lebewesen mit paranormalen Fähigkeiten eine Zufluchtsstätte. In einem Universum des Chaos bringt das mächtige Wesen namens Hork, Begründer der Gemeinschaft der Begabten, mit seinen ausgebildeten Teams Linderung in Zeiten katastrophalster Nöte. Als Lamir selbst vor der größten Bedrohung in der Geschichte ihrer Gemeinschaft steht, stellt er ein ganz besonderes Team um Dominic Keller zusammen. Um die paranormalen Fähigkeiten der Mitglieder zu perfektionieren, durchlaufen sie eine harte Ausbildung. In dieser müssen die Lernenden die mächtigen Talismane von Lamir, durch die ihre Kräfte noch verstärkt werden, erringen. Schon während ihrer Ausbildung geraten sie in einen Kampf, der ihren Kräften alles abverlangt und erfahren dabei, dass nicht alle Talismane gut sind. Ein fantastisches All Age Abenteuer für alle großen und kleinen Fantasy-Liebhaber und Liebhaberinnen, die fremde Welten lieben.

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Lamir

Welt der Begabten

Der verfluchte Talisman

 

T.M. Wulf

 

Impressum:

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek. Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Veröffentlicht bei Infinity Gaze Studios AB

2. Auflage

Juni 2024

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2024 Infinity Gaze Studios

Texte: © Copyright by T.M. Wulf

Cover & Buchsatz: Valmontbooks

Veröffentlicht über Tolino Media

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung von Infinity Gaze Studios AB unzulässig und wird strafrechtlich verfolgt.

Infinity Gaze Studios AB

Södra Vägen 37

829 60 Gnarp

Schweden

www.infinitygaze.com

Widmung

 

„Next stop: Everywhere…“

- Doctor Who

 

 

 

Für dich, Theresa.

Danke für deine Hilfe und Unterstützung

in allen Bereichen (vor allem wenn es darum geht,

auf Lesungen meine Erzählerin zu sein).

Denn du bist: „DAS TEAM“.

 

Manchmal bekommt „das Team“

Verstärkung durch Moni und Günter;

vielen Dank an euch.

 

Danke an den „Doctor“, der mir eine Inspiration war

und mich Fliegen in fremde Welten gelehrt hat.

 

Kapitel 1

 

Der geheimnisvolle Zuhörer

 

LAMIR WIRD FALLEN!

Den ganzen Tag waren ihm die Worte im Kopf herumgespukt, mit denen er am Morgen vor dem Klingeln des Weckers besorgt aus einem tiefen Schlaf aufgeschreckt war.

Nicht zum ersten Mal fragte er sich seitdem: Wer oder was ist Lamir?

Diesen Begriff hatte er niemals zuvor gehört. Die Stimme, die ihm die Warnung zugeschrien hatte, war ihm wie eine Vision erschienen und hatte sich unangenehm in seinen Schädel gebohrt. Leise Vorahnungen, die sich erfüllten, war er gewohnt, aber das hier war anders; eindringlicher. Es hatte mit einer Aufforderung geendet.

Oder war es eher ein Befehl? Das fragte er sich ebenfalls zum wiederholten Male.

RETTE DIE ZUFLUCHT! RETTE LAMIR!

Was für ein seltsamer Traum. Ob er wichtig ist? Aber was könnte ich denn schon machen? Ich weiß doch gar nicht, worum es geht.

»Nicky!«

Eine diesmal sehr reale Stimme ließ ihn aus seinen Gedanken hochfahren.

Auch das noch. Annika, dachte er mit Grausen.

Ihr oberflächliches Gequatsche hatte ihm gerade noch gefehlt. Bei ihr ging es immer nur um Jungs und Klamotten. Was wer wann trug und wer mit wem zusammen war, wer gerade in und wer gerade out war. All das interessierte den ernsthaften Jugendlichen keineswegs.

Gerne ging er auf die Probleme seiner Mitlernenden ein, die zu ihm kamen, um ihre Gedanken mit ihm zu teilen. Er nutzte seine Fähigkeit der Empathie, die bei dem jungen Telepathen besonders ausgeprägt war, einfühlsam dazu, ihnen diplomatisch mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Das war sein Ding, das tat er gerne. Aber Annika und ihrer Clique konnte er nichts abgewinnen.

So reagierte der schmächtige Junge auf den Ruf des Mädchens, indem er seinen Schritt beschleunigte.

»Niiickyyy!« Die schrille Stimme hallte unangenehm durch den Flur des Schulgebäudes.

Der dunkelhaarige Dominic Keller zuckte leicht zusammen und zog den Kopf ein. Dadurch machte er sich noch ein Stückchen kleiner, als er es für seine fünfzehn Jahre ohnehin schon war.

Oh Gott. Nix wie weg, trieb er sich selbst an.

Er wollte dem ersten Impuls nachgeben und schnellstens davonlaufen, aber das wäre zu auffällig gewesen. In der Hoffnung, sich rasch genug durch die rettende Tür mit dem Schild „Ausgang Berliner Petrinum Gymnasium“ verdrücken zu können, ging er zügig weiter, als hätte er nichts gehört. Die Ausgangstür war zum Greifen nahe. Er streckte eine Hand aus, um ihr einen Schubs zu geben. In diesem Moment packten ihn lange Finger und umklammerten einen seiner Arme; es war zu spät.

»Dominic! Bleib doch mal stehen! Ich muss dir was erzählen!«

Die Fingernägel des Mädchens bohrten sich schmerzhaft durch seinen eigentlich recht dicken Pulli, der trotzdem noch zu dünn war, um ihn vor Annikas scharfen Krallen zu schützen. Da er überhastet versucht hatte, einer Begegnung mit ihr aus dem Weg zu gehen, hatte er auf das Anziehen seiner Winterjacke verzichtet, die unnütz über seinem linken Arm hing. Draußen hätte er die Kälte unangenehm gespürt, aber das war ihm egal gewesen. Das rächte sich nun. Er verzog vor Schmerz kurz das Gesicht. Mit einem Ausdruck des Bedauerns in den dunklen Augen schaute er auf die Tür, die dicht, aber unerreichbar vor seiner Nase ragte.

Annika war, selbst wenn er es auf seine nette Art ausdrücken würde, ... etwas nervig, etwas sehr nervig. Doch Dominic war viel zu höflich, daher drehte sich der Fünfzehnjährige mit einem leisen, resignierten Seufzer zu dem gleichaltrigen Mädchen um, das durch das übertrieben geschminkte Gesicht mindestens drei Jahre älter wirkte.

Mit einem aufgesetzten Lächeln begrüßte er es: »Hey, Annika. Wie geht‘s ...«

Die angefressene Annika unterbrach ihn ihrerseits mit diesem vorwurfsvollen Blick, den sie bewundernswert gut draufhatte: »Warum läufst du denn einfach weiter, wenn ich dich rufe?«

Er überlegte, auf eine Notlüge zurückzugreifen und ihr zu sagen, dass er es ziemlich eilig hatte. Verwarf sie aber, denn er war sich sicher, seine Ausrede würde sie null interessieren. So hatte Dominic keine für sie passende Antwort parat und zuckte ratlos mit den Schultern.

Wie zur Bestätigung wischte sie seinen unausgesprochenen Einwand achtlos mit einer perfekt manikürten Hand zur Seite. Damit war das kleine Ärgernis für sie erledigt.

Ohne darum gebeten worden zu sein, erzählte sie ihm von dem Typen, in den sie gerade verliebt war: »Kennst du Noah?«

Ohne auf eine Antwort zu warten, plapperte sie begeistert weiter: »Klar kennst du ihn. Er ist voll krass, oder? Er sieht super gut aus und ist ein mega Sportler.«

Wenige Augenblicke mit diesem Mädchen und er wünschte, er wäre davongelaufen: Wenn ich das nächste Mal die Chance habe abzuhauen, dann mache ich es. Scheiß was auf die Höflichkeit. Nee, das geht gar nicht. Ihr Gesäusel über diesen ach so tollen Burschen ist unerträglich. Ha, ein Arsch ist er, nichts weiter.

In Erinnerung wie der athletische Noah und seine Clique - angefangen bei Annika bis zu ihrer Busenfreundin Emma - ihn immer wegen seiner dürren Figur verspotteten, verzog Dominic den Mund zu einem starren Grinsen, ließ sich seine Gedanken aber nicht anmerken. Diese waren weit entfernt von seiner üblichen Ausdrucksweise. Aber die gesamte Gruppe ließ ihn jedes gute Benehmen vergessen, das seine Eltern ihn gelehrt hatten.

»Leider«, teilte sie ihm vertraulich mit, »hat auch Emma ein Auge auf ihn geworfen. Er möchte aber mit mir ins Kino gehen. Was soll ich bloß tun?« Betrübt schaute sie ihn mit ihren klaren blauen Augen an, ihre blonden Haare waren bis ins kleinste Detail durchgestylt.

Ihm kam der Gedanke, wie hübsch sie war: Nervig, aber voll hübsch.

»Er mag mich und das ist so was von abgefahren. Ich freue mich riesig darüber. Ich werde die Einladung annehmen, beste Freundin hin oder her.« Annika strahlte über das ganze Gesicht. »Danke, dass du mit mir geredet hast. Es geht mir schon viel besser.«

Klar, war ja mein Vorschlag, die beste Freundin zu hintergehen. War ein super Gespräch, jederzeit wieder, dachte er ironisch.

Sie drehte sich um und ging davon. Unfreiwillig bewundernd sah er ihr nach. Plötzlich stutzte er und griff sich mit der rechten Hand an die Schläfe, dann schaute er sich suchend um. Der telepathisch begabte Jugendliche fing einen unerfreulichen Gedanken auf, den jemand in der Nähe dachte.

Sarah erkannte hier eine Gelegenheit: Das muss ich sofort Emma erzählen.

Sie stand einen Gang weiter und hatte das Gespräch belauscht. Und schon rannte sie den Flur entlang.

Da Dominic erst seit wenigen Monaten auf diese Schule ging, waren ihm noch nicht alle Gesichter geläufig, aber die unscheinbare Sarah war ihm schon des Öfteren unangenehm aufgefallen. Ständig drängte sie sich Emma auf. Sie wollte einem der beliebtesten Mädchen der Schule unbedingt gefallen. Wenn sie dafür Tratsch verbreiten musste, dann tat sie es. Und jetzt kam ihr diese Möglichkeit gerade recht.

Mist. Sie hat alles gehört, war sein erster beunruhigter Gedanke. Ihm waren die Gespräche heilig, die jemand vertraulich mit ihm führte, auch wenn es, wie in diesem Fall, ein aufgezwungenes war, aber niemand anderer sollte von dem Inhalt erfahren.

Dann ließ er die Hand sinken und hob die Schultern ergeben in die Höhe. Ich kann leider nichts dagegen machen. Wenn Sarah etwas zum Tratschen findet, bringt sie keiner davon ab. Der schlaksige Junge schlenderte sorglos durch die Tür hinaus. Interessiert mich das überhaupt? Nicht wirklich. Sollen sie das doch unter sich ausmachen.

Irrtümlicherweise dachte er: Nicht mein Problem.

 

 

Zwei Tage später stieß Dominic auf eine verheulte Annika. Er machte sich Sorgen: Ist etwas Schlimmes passiert? Aber ihr Verhalten beruhigte ihn, denn dieses änderte sich schlagartig, als sie ihn sah.

Mit einem gruseligen Blick schaute sie ihn an und stürzte sich wie eine wilde Furie auf ihn, als wollte sie ihm ins Gesicht springen. Mit vor Wut verzerrtem Gesicht schaute das ein paar Zentimeter größere Mädchen auf ihn herab. Er zuckte zurück.

»Du ...«

Annika war sauer auf ihn, merkte er, denn ihr schienen die Worte zu fehlen.

Wahrscheinlich zum ersten Mal in deinem Leben, dachte er mit einer gehörigen Portion Gehässigkeit, die ihm gar nicht ähnlichsah.

Er starrte sie konzentriert an. Mann Annika, kannst du mal einen zusammenhängenden Satz denken? Entspann dich! Vielleicht sollte ich dich ein wenig beruhigen.

Kurz kam er in Versuchung, sie zu beeinflussen. Aber dieser Moment verging so rasch, wie er gekommen war. Seine Fähigkeit als Empath, mit der er die Gefühle anderer Leute beeinflussen konnte, musste er gar nicht anwenden, denn langsam nahmen ihre Gedanken eine Form an, aus der er schlau wurde.

Er tauchte in ihren Gedankengang ein, der sie bis zu diesem Augenblick geführt hatte, in dem sie auf ihn losging: Als Emma alles erfahren hat, hat die fiese Kuh Noah dazu gebracht, mit ihr auszugehen. Sie ist so sauer auf mich, dass sie nicht mehr mit mir befreundet sein will. Pah, die Zicke kann mir gestohlen bleiben. Noah ist schließlich nicht ihr Eigentum. Ich bin so enttäuscht von ihm. Ich dachte, er würde mich mögen.

Insgeheim schüttelte Dominic über die Naivität ihres letzten Gedankens den Kopf: Na, das hätte ich dir vorhersagen können, und dazu brauche ich noch nicht einmal eine besondere Fähigkeit zu haben. Jeder weiß, dass dieser oberflächliche und wankelmütige Kerl hinter jedem Mädel her ist, das gut aussieht. Ihm ist doch egal, mit welchem davon er seinen Spaß hat.

Es hat schon seinen Grund, warum du Emma nichts über dein Date erzählen wolltest, denn sie gehört nicht umsonst zu der Clique um Noahs Fußball-Mannschaft. Sie ist hübsch, vielleicht sogar hübscher, als du es bist, und das ist dir selbst klar. Und sie steht schon lange auf Noah. Das weiß ja sogar ich, und mir ist eure Clique so was von latte.

Fasziniert stellte er in diesem Moment fest, dass ihre selbstmitleidigen Gedanken über die Enttäuschung durch den zwei Jahre älteren Noah eine komplette Kehrtwendung machten. Nun gab sie ihm die Schuld: Es kann nur so sein, dass Dominic mit Emma über unser Gespräch geplaudert hat. Dieser Verräter.

Als sie sich soweit beruhigt hatte, um reden zu können, fauchte sie ihn an: »Du hast mich verraten. Ich hatte keine Chance, es Emma vorher zu erzählen. Jetzt denkt sie, ich wollte ihr den Jungen ausspannen.«

Mit einer gehörigen Portion Sarkasmus dachte er: Ach, echt jetzt? Warum sollte sie so etwas Schlechtes von dir denken? Lass mal überlegen. Vielleicht, weil es genau das ist, was du vorhattest? Schließlich hattest du zwei Tage Zeit gehabt, ihr deine Verliebtheit in ausgerechnet den Kerl zu gestehen, in den auch sie verliebt ist. Was du aber versäumt hast, ihr zu sagen. Stattdessen wolltest du hinter ihrem Rücken mit diesem Vollpfosten ausgehen. Böses Mädchen. Die Schuld suchst du ja niemals bei dir. Aber ich werde mich hüten, dir diese glorreiche Erkenntnis ins Gesicht zu sagen.

Auch wenn er nicht guthieß, was Annika mit Emma abgezogen hatte, setzte er an, um ihr zu erklären, dass er so einen Vertrauensbruch wie das Ausplaudern von vertraulichen Gesprächen niemals begehen würde. Aber er kam nicht dazu, denn sie drehte ihm abrupt den Rücken zu und stolzierte mit hocherhobenem Haupt davon.

Dominic zuckte ohne große Besorgnis mit den Achseln und ging gemütlich weiter, völlig bedenkenlos in Hinsicht auf die Konsequenzen, die sein kleiner Disput mit Annika nach sich ziehen könnte. Er schlurfte an Aushängen aller Arten von Ankündigungen vorbei, die an den Wänden befestigt waren. Einer war ein richtiger Blickfang, der irgendeine der zahlreichen Veranstaltungen anpries, die seine neue Schule zuhauf feierte. Mit großen bunten Lettern lockte er: Feiert mit uns am Samstag, 23. Februar 2019 in der Aula.

Ohne es näher zu betrachten, schüttelte er den Kopf. Eine Party nach der anderen, die kriegen scheinbar nie genug.

Nicht lange nach diesem Vorfall gab es eine neue beste Freundin an Annikas Seite. Und sie tat alles, was in ihrer Macht stand, um Dominic fertigzumachen. Von da an behielten seine Mitlernenden ihre Probleme und tiefsten Gedanken für sich, er wurde zum Außenseiter. Und es war erst ein Halbjahr vom Schuljahr um. Das zweite weigerte sich, umzugehen.

Doch jede Qual hatte einmal ein Ende, so auch die neunte Klasse eines Gymnasiums. Dominic war froh, endlich Ferien zu haben. Er liebte es, zu Hause sitzend in fantastischen Welten zu versinken, waren seine Eltern doch begnadete Geschichtenerzähler. Fest verankert in ihren Gedanken, tauchte er tief in die Abenteuer ein, die sie schrieben. Wie an diesem ersten Ferientag, als das Unmögliche geschehen sollte.

 

Kapitel 2

 

Die Geschichtenerzähler

 

Dominics Mutter Emilie saß an diesem Tag, an dem sich das Weltbild ihrer Familie grundlegend verändern würde, an ihrem Schreibtisch vor dem Computer und schrieb mit einem unglaublichen Tempo an einer Geschichte. Die kleine, zierliche Figur mit den dunkelbraunen Haaren und den dunklen Augen versank in dem für sie viel zu großen Schreibtischsessel.

Der hochgewachsene Mann, der ihr gegenüber an einem Zeichentisch saß, war äußerlich das genaue Gegenteil. Die blonden, längeren Haare kräuselten sich bis in den Nacken und die hellblauen Augen starrten angespannt auf den Tisch. Der Tuschestift, der zwischen seinen langen Fingern fast verschwand, tanzte über das Papier eines Zeichenblockes. Paul zeichnete ebenso schnell Skizzen zu der Geschichte, wie seine Frau sie zuvor auf ihrem Laptop getippt hatte. Die beiden konzentrierten sich auf die Story, die erst in Emilies Kopf entstand und dann in seinen Bildern Gestalt annahm.

Das begabte Ehepaar Keller arbeitete an einem gemeinsamen Auftrag. Große Verlage rissen sich um die jugendlich gebliebenen Mittvierziger, da ihre Romane und die Illustrationen perfekt aufeinander abgestimmt waren. Das war kein Wunder, waren sie zu jeder Zeit ihrer Schaffensperiode telepathisch miteinander verbunden. Was Emilie dachte, das dachte Paul und umgekehrt. Die Rohfassung eines Buches entwarfen sie gemeinsam. Bevor Paul mit seiner Arbeit beginnen konnte, mussten sie die Handlung, die Charaktere und das Aussehen der Figuren festlegen.

Die beiden bevorzugten fantastische Geschichten. In diesem Genre erschufen sie Welten mit Magie und Zauberei. In ihrer Fantasie konnten ihre erdachten Wesen, die außergewöhnliche Fähigkeiten besaßen, Gegenstände durch die Luft fliegen lassen, telepathisch miteinander kommunizieren und viele andere irre Dinge tun, ohne dass sie deswegen verurteilt wurden. Auf ihren Welten nannte man sie Magier oder Zauberer. Doch im realen Leben auf der Erde wurden Menschen wie die Kellers, von der Wissenschaft zwar harmlos als paranormal bezeichnet, von normalen Leuten als Missgeburten gefürchtet. In der Vergangenheit waren sie oftmals von ihnen angefeindet worden, wenn wieder ein Fünkchen ihrer Fähigkeiten in der Öffentlichkeit aufgeblitzt war.

 

 

Dominic war sieben Jahre alt, da musste die Familie erneut umziehen. Der Junge bekam es zum ersten Mal bewusst mit.

»Mama, warum muss ich weg von meinen Freunden?«, fragte er unglücklich.

»Schätzchen, es muss sein. Für dich ist es ganz normal, wenn Papa und ich unsere Kräfte benutzen. Aber es gibt Menschen, denen macht es Angst. Dein Vater musste jemanden vor einem Auto schützen, das den Mann sonst überfahren hätte. Frau Weber stand direkt neben Papa und sah, wie er ihn mit einem Ruck beider Arme aus dem Weg schubste, obwohl er auf der anderen Straßenseite ging. Er war wohl etwas übereifrig, denn der Schubs ist heftiger ausgefallen, als er es beabsichtigt hatte. Dabei verletzte sich der Mann stark. Frau Weber war sehr erschrocken darüber, wie er zwei Meter durch die Luft fliegen konnte, ohne dass ihn jemand angefasst hat. Sie brachte die Geste von Papa, die er zuvor mit den Armen ausgeführt hat, damit in Verbindung. Das sagte ihr dann alles; sie erzählte ihre Beobachtungen den Nachbarn. Und jetzt fürchten sie sich vor uns.«

»Aber Papa hat dem Mann doch geholfen.«

»Das spielt für sie keine Rolle, denn er hat ihn auch verletzt.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Ich versuche, es dir mit einem Beispiel zu erklären. Wenn du wütend bist, dann passiert manchmal etwas. Ein Spielzeug fliegt an die Wand und zerbricht, aber niemand ist in der Nähe, der es berührt. Du machst das allein mit deinen Gedanken, aber durch deine Wut hast du keine Kontrolle darüber. Die Menschen fragen sich, was wäre, wenn unsere Kraft unkontrolliert auf sie trifft. Wir könnten sie dann verletzen. So wie du, wenn du ungewollt jemanden mit dem Spielzeug triffst. Und so wie Papa, als er dem Mann half, der dann leider schwer verletzt ins Krankenhaus kam, weil dein Vater zu heftig reagiert hat.«

»Aber das war doch keine Absicht.«

»Natürlich nicht. Aber es ist passiert.«

In diesem Moment wurde Emilie klar, dass die Zeit gekommen war, ihm Näheres zu ihren Begabungen zu erklären.

Emilie erzählte ihm von dem Tag, als sie Paul kennengelernt hatte: »Ich habe deinen Vater auf einer Party getroffen, auf der ich ungewollt gelandet bin. Ich wollte da eigentlich nicht hingehen, denn ich war in diesen Tagen sehr verwirrt und unsicher. Ich mochte keine Menschen treffen, aber eine Freundin hat mich mitgeschleppt. Sie hat gesagt, ich sollte endlich mal wieder unter Leute gehen.«

Dominic schaute sie mit seinen großen dunklen Augen an. »Warum wolltest du da nicht hin?«

»Meine Kräfte machten sich bemerkbar. Ich war wie diese Menschen, ich hatte Angst davor. Es war unerklärlich und unnatürlich. In dieser Zeit nannte ich sie einen Fluch, denn ich nahm ihre Gefühle so wahr, als wären es meine eigenen. Außerdem bewegten sich Gegenstände in meiner Umgebung, die keiner angefasst hatte. Eine Vase flog einfach an die Wand, ich war auf irgendetwas wütend gewesen. Worauf, das habe ich vergessen. Du kennst das ja von dir. Ich war nicht so jung wie du, und Oma und Opa sind keinesfalls so wie wir.«

»Nee, aber so gar nicht«, lachte er trotz des ernsten Themas auf.

»Deine Eltern sind zwei Telepathen, deswegen sind deine Kräfte früher erwacht, als es bei mir der Fall war. Du hast uns, die dir alles erklären, aber ich hatte damals erst einmal niemanden. Ich wusste nur, die lästigen Fähigkeiten waren eines Tages aufgetaucht und waren zu meinem Leidwesen geblieben.«

»Dann kam Papa?«

»Ja, genau. In den folgenden Monaten brachte er mir alles bei, was er über das Unerklärliche wusste. Und das war eine Menge. Schon bald konnte ich die fremden Gedanken von mir fernhalten, gleichzeitig lernte ich, meine eigenen zu blockieren.«

»Das war nett von ihm.«

Sie lachte und nahm ihren kleinen Sohn in den Arm. »Ja, das war es durchaus.«

Was sie ihm nicht erzählte, die beiden hatten sich vom ersten Tag an zueinander hingezogen gefühlt. Im Laufe des Jahres hatten sie sich unsterblich ineinander verliebt und geheiratet.

 

 

Da die Rohfassung des Romans fertig war, schrieb Emilie an den einzelnen Szenen und Paul setzte diese in Bilder um. Sie hatten Stunden gearbeitet, als sich Emilie zurücklehnte und ihre Handgelenke schüttelte, um sie zu entkrampfen. Sie stand auf und ging zu ihrem Mann hinüber, der die letzten Skizzen anfertigte. Während sie ihm über seiner Schulter dabei zusah, staunte sie über die Detailverliebtheit, mit der er arbeitete. Dann war Paul so weit, er legte den Stift zur Seite.

»Möchtest du sie sehen?«

»Natürlich. Ich bin aufgeregt wie ein kleines Kind vor der Bescherung.«

Er zog die Blätter unter dem Zeichenblock hervor. Seine Stimme nahm einen vorwurfsvollen Tonfall an: »Schau sie dir an. Hier, die Städte, die du beschrieben hast. Du hast sie in deinen Gedanken in den unmöglichsten Regionen unserer Welt entstehen lassen. Danke dafür.«

Sie sah ihn mit einem bezaubernden Lächeln entschuldigend an. Emilie wusste, sie konnte ihn damit beschwichtigen.

Trotzdem setzte er beinahe quengelig nach: »Das war eine echte Herausforderung für mich.« Er zählte die ungewöhnlichen Orte auf, die er zeichnen musste, und legte ihr bei jedem ein Blatt Papier vor: »Es gibt sie in der Wüste, im Eis, in einem undurchdringlichen Dschungel und eine ist sogar in eine riesige Klippe gehauen. Sie sind mit allen möglichen Wesen der irdischen Mythologie bevölkert. Dazu kommen die fremdartig aussehenden Lebewesen, die wir uns ausgedacht haben.«

Er breitete die Blätter vor seiner Frau aus und Emilie war überzeugt, alles, was darauf abgebildet war, sei ihrer beider Fantasie entsprungen. Der Gedanke, von außen manipuliert zu werden, war ihr fremd. Paul und Emilie sollten aber bald erfahren, dass es Mächte dort draußen gab, die Unvorstellbares leisten konnten.

»Ist alles so, wie du es dir vorgestellt hast?«

Vor Rührung hatte Emilie Tränen in den Augen, so nah kam er ihren Vorstellungen mit den Bildern.

Ängstlich fragte Paul: »Wow, sind sie so schlecht?«

»Nein, sie sind wunderbar. Ich liebe deine Arbeit, Schatz.« Zur Belohnung massierte sie ihm die verspannten Schultern und schaute sich dabei weiter über seinen Kopf hinweg die Bilder an.

»Sie sind großartig.«

»Das ist also der Grund, warum du mich geheiratet hast. Du willst mich als billige Arbeitskraft ausbeuten.«

»Verständlich, du weißt selbst, wie teuer gute Illustratoren sind.«

»Und ich bin der Beste.«

»Bescheidenheit ist zwar anders. Aber ja, du bist der Beste.« Sie knetete stärker.

Er stöhnte wohlig auf: »Damit kannst du ewig weitermachen.«

»Oh nein, kann ich nicht.« Mit der flachen Hand versetzte sie ihm einen Klaps auf die Schulter. »Ich denke, wir haben uns eine kleine Pause verdient. Ich koche frischen Kaffee.«

Während Paul aufstand und zu ihr trat, um sie in die Arme zu nehmen, schwebte eine Glaskanne wie durch Zauberhand von der kleinen Anrichte zu der Spüle in der Ecke.

Der Wasserhahn wurde auf- und wieder zugedreht, die volle Kanne schwebte zurück zur Kaffeemaschine, das Wasser wurde umgefüllt und der Knopf der Maschine stellte sich auf „an“.

Da beide ohne Kaffee nicht existieren konnten, hatten sie sich eine kleine Küchenzeile in ihr Arbeitszimmer, in dem sie viele Stunden des Tages verbrachten, einbauen lassen.

Kapitel 3

 

Der Zauber eines Augenblickes

 

Dominic saß nebenan in seinem Zimmer und hatte es sich in einem Sessel bequem gemacht. Wenn seine Eltern schrieben und zeichneten, brauchte er kein Buch, um sich zu beschäftigen, denn er erlebte die Geschichten in ihren Gedanken mit. Nichts tat er in seinen Ferien lieber.

Der Fünfzehnjährige hatte eine schwere Zeit in der Schule. Zwar war er ein ausgezeichneter Schüler, Freunde hatte er dort allerdings keine gefunden. Bedingt durch die vielen Umzüge, zu denen er und seine Eltern regelmäßig gezwungen waren, konnte er niemals lange genug an einer Schule bleiben, um wahre Freundschaften zu schließen.

Er galt als seltsam und das war eine der harmloseren Bezeichnungen, die die Lernenden für ihn fanden und sich nicht scheuten, diese auch zu benutzen. Und dabei war es ihnen egal, ob er sie hören konnte. Es waren nicht wirklich sein Aussehen oder die Klamotten, die er trug. Wobei die Nerd-Shirts mit seinen Lieblingscomichelden darauf, die er mit Vorliebe zu tragen pflegte, für sein Alter schräg waren. Das, was seine Mitlernenden an ihm störte, war die Art, wie er sie ansah. Mit seinen dunklen Augen starrte er ihnen direkt in ihre Seelen. Sie hatten das Gefühl, ihre Geheimnisse würden vor ihm offengelegt werden, um dann nicht länger geheim zu sein. Unbewusst hatten sie im ersten Halbjahr der neunten Klasse in seiner Gegenwart einfach drauflosgeredet.

Vor dem Vorfall mit Annika war er für sie ein aufmerksamer und verständnisvoller Zuhörer gewesen. Sie hatten ihm all ihre Probleme ohne zu zögern mitgeteilt. Bis das beliebteste Mädchen der Schule ihnen eingeredet hatte, er würde ihre Geheimnisse ausplaudern, um Zwietracht unter ihnen zu säen. Danach hatte ihn niemand mehr angesprochen, obwohl er unschuldig gewesen war. Er wäre nie auf die Idee gekommen, anderen ihm anvertraute Dinge zu erzählen, das widersprach hundertprozentig seiner Natur. Doch es hörte ihm niemand zu. Natürlich hätte er sie mit seinen paranormalen Fähigkeiten zwingen können, seine Freunde zu sein. Aber Emilie und Paul hatten ihm, seit seine immensen Kräfte im vergangenen Schuljahr erwacht waren, eingebläut, diese keinesfalls zu missbrauchen und gegen die Menschen zu richten. Niemals wäre ihm so ein Vorgehen in den Sinn gekommen, denn auch das wäre wider seine Natur.

Als seine Mutter aufstand, konnte Dominic sich nicht aus den Gedanken seiner Eltern lösen. Er betrachtete die Bilder seines Vaters mit den Augen von Emilie.

Was für eine verrückte Welt ist das denn? Verrückt, aber total krass. Genau meins. Ich wäre gerne dort, dachte er begeistert.

Unbewusst stand er auf, ging zu ihnen ins Arbeitszimmer und wurde in die innige Umarmung einbezogen. Ihre Gedanken bildeten eine Einheit; fest versunken in die Welt, die Emilie und Paul auf dem Papier erschaffen hatten. Dominic verspürte ein leichtes Kribbeln, das über seinen Körper lief.

Die drei traten einen Schritt zurück und sahen sich an. Seine Eltern schienen es ebenfalls gespürt zu haben.

»Was geht hier ab?«, fragte Dominic überrascht.

Ein schwaches Energiefeld umgab jeden von ihnen, sanft leuchtete es auf. Dominic wurde von einem Schwindelgefühl erfasst, aus dem schnell eine rasante Karussellfahrt wurde. Fremdartige Eindrücke brachen über ihn herein. Hunderte, nein, abertausende Farben stürzten auf ihn zu und die Fahrt, die sie durch einen Tunnel aus grellen Farbtönen führte, wurde immer schneller. Bis diese plötzlich schlagartig endete und die zwei Erwachsenen und der Junge dadurch ins Straucheln gerieten. Sie hielten sich aneinander fest, um sich gegenseitig Halt zu geben.

Dominic konnte unmöglich sagen, wie lange es - was immer es gewesen war - gedauert hatte. Ein Blick in die Gesichter seiner Eltern bestätigte ihm, es ging ihnen genauso wie ihm.

Im nächsten Moment schauten sie sich erstaunt und mit weit aufgerissenen Augen um. Ihre Umgebung hatte sich komplett verändert. Wo zuvor die geschmackvolle Tapete des Arbeitszimmers gewesen war, umgaben sie nun massive Mauern aus Stein. Offensichtlich befanden sie sich in einer Bibliothek, da sich Tausende Bücher in Wandregalen bis unter die hohe Decke aneinanderreihten. Jede Wand des Raumes schmückte eins davon. Dominic ließ den Blick darüber schweifen. Die meisten waren in Sprachen verfasst, die für ihn nicht entzifferbar waren. Er ging mit seinen Eltern an den Bücherwänden vorbei zu einem breiten Fenster. Die Kellers befanden sich in einem Raum hoch oben in einem Turm.

Was Dominic sah, überwältigte ihn, und Emilie und Paul offenbar ebenfalls, denn sie standen stocksteif da und schauten fassungslos hinab. Ein wunderschönes Tal mit einem Teppich aus wogendem blauem Gras und den herrlichsten, fremdartigsten Blumen lag tief unter ihnen.

»Wie sind wir hierhin gekommen?« Dominic sah die beiden fragend an, die den Blick mit großen Fragezeichen auf den Gesichtern erwiderten.

Dann kam ihm der Gedanke: Teleportation.

Waren sie in der Lage, sich durch Gedankenkraft von Ort zu Ort zu beamen? Eigentlich hatte er sich das anders vorgestellt. In der Fachliteratur der Parapsychologie war nie die Rede von einem Wurmloch. Aber was sollte es sonst gewesen sein, was sich vor ihnen geöffnet hatte?

 

Kapitel 4

 

Ein zauberhafter Ort

 

Eine aus schwerem Holz gefertigte Tür schwang vor Dominic und seinen Eltern auf und ein befremdlich wirkendes, reptilienartiges Wesen in einer dunkelroten Robe, das auf zwei Beinen ging, betrat den Raum. Es lächelte.

Wenn das Lächeln freundlich wirken soll, hat es sein Ziel sowas von verfehlt, dachte Dominic.

Denn er erhaschte einen Blick auf eine Vielzahl kleiner spitzer Zähne, wodurch der Eindruck schnell verschwand. Er wie auch Emilie und Paul schluckten hart.

Ohne dass es das Unbehagen der Menschen vor sich zu bemerken schien, sprach das Wesen sie arglos an. Dominic sah keine Lippenbewegungen, trotzdem erklang in seinem Geist eine ruhige Stimme: Der Ausdruck „beamen“ ist mir zwar unbekannt, aber der Gedanke an Teleportation ist richtig, mit meiner Hilfe konntet ihr euch zu uns teleportieren. Ich bin jedes Mal aufs Neue erstaunt, wie aufgeklärt die Menschen des 21. Jahrhunderts sind. Und leise klang der Kommentar: Kennen die Begriffe Teleportation und Wurmlöcher. Erstaunlich, absolut erstaunlich, in seinem Kopf nach.

Mit der kleinen Bewegung einer Klaue, deren gruseliger Anblick den Fünfzehnjährigen zum Erschauern brachte, ließ es den Energieschild um ihre Körper verschwinden. Ohne diesen Schutz wärt ihr auf der Reise in dem Tunnel, der euch eine lange Strecke durch das Weltall geführt hat, erstickt oder zermalmt worden, wahrscheinlich aber vorher erfroren.

Ach, wenn’s weiter nichts ist, dann geht’s ja, erreichte der sarkastische Gedanke Pauls den Jungen.

Sicherlich wollte sein Vater den Gedanken „leise“ denken, aber dieser kam offensichtlich ebenfalls bei seiner Mutter an, denn Emilie starrte ihren Mann strafend an. So als wollte sie ihn auffordern, sich in der prekären Situation, in der sie sich zweifelsohne befanden, zurückzuhalten, da sie es eindeutig mit einem telepathisch begabten Wesen zu tun hatten. Paul zuckte gelassen mit den Schultern, seine Frau grinste daraufhin leicht.

Ungeachtet der erschreckenden Tatsache, es mit einem Außerirdischen zu tun zu haben und sich auf einem fremden Planeten zu befinden, hatte Dominic merkwürdigerweise keine allzu große Angst. Trotz des extraterrestrischen Aussehens des kleinen Humanoiden, der männlich und sehr alt zu sein schien, fühlte er sich freundlich aufgenommen. Nach der Szene zu urteilen, die sich zwischen seinen Eltern abgespielt hatte, hielt sich ihre Angst ebenfalls in Grenzen.

Na, eigentlich seid ihr hier die Außerirdischen, aber wir wollen uns nicht über Spitzfindigkeiten streiten. Der alte Mann winkte ab. Ich möchte mich vorstellen:Ich bin der Boss auf diesem Planeten und alle nennen mich Hork oder „Sessin“ für die Meisteranrede. Die richtige Bezeichnung, die unsere Lernenden benutzen, wäre dann Sessin Hork. Mit einer trotz seines Alters sehr eleganten Bewegung verbeugte er sich. Willkommen auf Lamir. Ihr befindet euch in der Stadt Katana, unserer Hauptstadt.

Dominic sah die Bedeutung des Wortes Katana in seinen Gedanken: Vielfältigkeit. Diese Vielfältigkeit würde er in Zukunft häufig in vielem erkennen, das mit dem Planeten zu tun hatte.

Er konnte zusätzliche Informationen in Horks Kopf sehen. Instinktiv wusste er, dass Hork einen Fehler machte, der ihm praktisch nie unterlief; er unterschätzte die telepathischen Fähigkeiten eines potenziellen Schülers ganz gewaltig. Er ließ Dominic etwas sehen, das sicherlich keineswegs für ihn bestimmt war: Der Junge selbst sollte das erste Mitglied von vieren eines neuen Teams werden, das Hork zusammenstellte. Von diesem Team versprach er sich eine ganze Menge, es würde das beste werden, das jemals auf dem Planeten ausgebildet worden war.

Die Zeiten, die vor den Lamiranern lagen, drohten schwer zu werden. Er hatte diese außergewöhnlichen Begabten nach langer Suche ausfindig machen können. Dafür hatte er auf mannigfaltigen Planeten nach ihnen Ausschau gehalten. Für ein Talent sogar in einer anderen Zeit. Es nach Lamir zu bringen, würde ihn sehr viel Kraft kosten. Umso erleichterter war Hork, den stärksten Begabten, den er je ausgebildet hatte, an seiner Seite zu wissen; Tobias Falk.

Wer war das?, fragte sich Dominic. Nach dem Aussehen zu urteilen, das er ansatzweise sah, und dem Namen nach, den Hork in englischer Sprache dachte, war dieser ein Mensch wie er. Vielleicht war er Brite oder Amerikaner.

Hork schien weiterhin ahnungslos darüber zu sein, dass der menschliche Jugendliche seine Gedanken aufschnappte. Dominic sah beunruhigende Gedanken in dem Kopf seines Gegenübers: Es galt zuallererst, die Familie Keller zu überzeugen, hier bei ihnen zu bleiben. Der Sohn sollte die Ausbildung bekommen, die nötig war, um siegreich aus der bevorstehenden Katastrophe hervorzugehen. Vielleicht hatten sie noch ein paar Jahre in Ruhe und Frieden, aber länger würde er Lutec, den Unerbittlichen, unmöglich von seiner Heimat fernhalten können. Sein einst bester Freund kam näher und er würde versuchen, all das zunichtezumachen, für das Hork sehr hart gearbeitet hatte. Davon war er überzeugt, auch wenn er nicht die Gabe seiner Präkogs besaß, in die Zukunft sehen zu können.

Dominic wurde von der kurzen Gedankenverschmelzung mit Hork, die keine fünf Sekunden gedauert hatte, überwältigt. Er bekam zittrige Knie und hätte sich am liebsten hingesetzt.

Abrupt, als hätte der alte Mann etwas Ungewöhnliches bemerkt, war dessen Geist für Dominic verschlossen. Er sah keine weiteren Fragmente seines Denkens. Er dachte über die Mimik Horks nach, der die drei Mitglieder der Familie nacheinander nachdenklich musterte. Dadurch war dem Jungen klar, seine Eltern hatten die Gedanken des Wesens ebenfalls auffangen können. Dominic spürte, wie Hork eine innere Barriere errichtete, die aus Beton hätte sein können, so bombenfest war sie.

Hork wollte die Kellers auf keinen Fall abschrecken. War es zu spät? Hatten sie mehr gesehen, als er zuzulassen bereit war? Er war der mächtigste Telepath seiner Zeit, und es war ein Leichtes für ihn, jedes Lebewesen zu beeinflussen. Niemals wäre es ihm möglich gewesen, eine Zuflucht für die Verfolgten zu erschaffen, wenn er zimperlich mit seiner Macht umgegangen wäre. Ja, häufig war er dabei skrupellos vorgegangen. Das machte ihn alles andere als glücklich, aber das Wohlergehen seiner Schutzbefohlenen hatte für ihn Vorrang; oftmals auch vor seinen ethischen Grundsätzen. Doch nie würde er einem Wesen die Freiheit nehmen, selber zu entscheiden. Einen kurzen Moment noch ließ er seine Abschirmung herunter.

Für diesen letzten flüchtigen Gedanken, den Hork ihm noch gewährte, war Dominic dankbar. Er beruhigte ihn ungemein. Und er war sich sicher, seine Eltern empfanden ebenso. Er fühlte einen tastenden, forschenden Impuls des alten Mannes, der herausfinden wollte, inwieweit er sie erschreckt hatte. Der Junge öffnete sich ihm und übermittelte Hork ein leichtes Gefühl des Gruselns, aber gleichfalls die Neugierde auf das, was da auf ihn zukommen möge. Dominic schaute spannungsvoll abwartend in die Zukunft. Er registrierte, wie sich der alte Mann erleichtert aus ihren Köpfen zurückzog, offenbar gingen seine Eltern weiterhin unbesorgt mit der Situation um. Ihm fiel ein Stein groß wie ein Felsbrocken vom Herzen, denn Dominic wollte auf keinen Fall nach Hause und diese wundervoll aufregende Welt verlassen.

Mit einem verständnisvollen Blick schaute Hork ihn an, um gleich darauf mit seiner Erklärung fortzufahren: Ein gemeinsamer Wunsch nach einer Welt mit Magie war nötig gewesen, um eure Kräfte zu bündeln und sie auf Lamir zu fokussieren. Und mit einer kleinen Unterstützung meinerseits und der von Tobias Falk konntet ihr zu uns transportiert werden. Lamir ist eine von unzähligen Welten, ähnlich wie die eures Heimatplaneten Erde.

Aus seinem Mund – oder eher aus seinen Gedanken - hörte es sich sehr einfach an. Er strahlte sie an, und wieder zuckten sie ein wenig vor dem Horror-Anblick zurück.

Oh, glaubt nicht, es wäre leicht gewesen, auch wenn es sich vielleicht so angefühlt hat. Das zeigt, wie groß eure eigenen Kräfte sind, die wir angezapft haben. Sein Tonfall wurde ernster. Er erklärte ihnen, warum er sie hergeholt hatte: Es tut mir in der Seele leid, dass es auf den Welten dort draußen eine große Anzahl von Verfolgten gibt. Der Großteil der Bevölkerungen ist voller Feindseligkeit gegenüber den mutierten Minderheiten ihrer eigenen Spezies. Wir heben uns von den normalen Wesen ab, da wir Telekinese oder Telepathie beherrschen oder manche, wie in eurem Falle, zusätzlich ein hohes Potenzial für weitere Fähigkeiten aufweisen. Für all die Verfolgten habe ich Lamir als Zufluchtsstätte begründet. Die talentierten Lebewesen, die außerstande sind, aus eigener Kraft zwischen den Welten zu „reisen", so wie es bei eurer kleinen Familie noch ist, sollen jedoch auch die Chance bekommen, den wunderbaren Planeten Lamir kennenzulernen. Euch biete ich ebenfalls an, unter Euresgleichen leben zu können. Jeder Neuankömmling lernt, seine Kräfte zu nutzen und sie voll auszubilden. Ich war der Erste unserer neuen Gesellschaft, der die Welt, die zu unserer Heimat geworden ist, betreten hat. Und wir heißen jedes Wesen mit friedlichen Absichten aufs herzliche Willkommen.

Aus jedem Satz hörte Dominic den immensen Stolz heraus, den Hork empfand. Er schloss seinen kleinen Vortrag mit dem Gedanken: Natürlich würde Dominic eine ganz normale Schulausbildung bekommen, die in etwa dem heutigen Wissensstandard der Erde entspricht. Die Schule beginnt in knapp sechs Wochen unserer lamiranischen Zeitrechnung. Solange habt ihr Bedenkzeit. Ihr könnt euch alles ansehen, dann entscheidet ihr, ob meine Heimat zu eurer werden soll. Die Grundausbildung der Schüler, Schülerinnen und der geschlechtslosen Schüler dauert eineinhalb Jahre.

Emilie hob eine Hand und signalisierte, dass sie eine Frage hatte. Hork unterbrach sich und schaute die kleine Frau fragend, mit schräggestelltem Kopf und diesem gruseligen Grinsen auf den schmalen Lippen an. Eingeschüchtert von der ganzen Situation, die sie zu überwältigen schien, zitterte ihre Stimme leicht: »Was hätte Dominic nach diesen anderthalb Jahren für Möglichkeiten?«

Mehrere Alternativen stehen ihm offen: Er kann eine wissenschaftliche Laufbahn einschlagen und besucht unsere „Akademie der denkenden Künste“. Oder er kann ein festes Mitglied eines unserer Teams werden und wird als Kämpfer weiter angeleitet. Besonders starke Telepathen – und Dominic ist ein sehr starker – werden dazu ausgebildet, auf Missionen zu gehen. Unsere Präkogs ...,er machte kurz Halt in seiner Erklärung, um auf die unausgesprochene Frage Dominics zu antworten, der den Mund vor lauter Staunen nicht zu bekam. Ja, tatsächlich handelt es sich um Hellseher. Gerne können wir den auf der Erde gebräuchlichen Begriff für diese Begabten benutzen. Also, unsere Hellseher sehen durchaus Katastrophen voraus, aber sie sehen längst nicht alles. Wir stellen uns nach einer Vision immer folgende Fragen: Ist es eine natürliche Katastrophe, an der niemand die Schuld trägt? Was wird dann zu dieser führen? In solchen Fällen arbeiten wir mit den Krisenteams der jeweiligen Welten zusammen, die auf mein Anraten hin ins Leben gerufen werden. Ist die Katastrophe unnatürlichen Ursprungs und es stecken Lebewesen dahinter, fragen wir uns: Welche Wesen werden für diese verantwortlich sein? Manchmal sehen unsere Hellseher klare Bilder, manchmal sind die Gesichter verschwommen. Unsere Teams müssen vor Ort oft wahre Detektivarbeit leisten, um die Verursacher zu bestimmen. Gelingt ihnen das, ziehen sie die Schuldigen aus dem Verkehr, bevor Lebewesen in Mitleidenschaft gezogen werden. Diese verbrecherischen Wesen unterscheiden sich völlig von uns. Sie besitzen meist keine Begabungen, sie handeln aus Habgier oder aus Böswilligkeit. Einige sind religiös motiviert, andere politisch. Nichtsdestotrotz müssen sie unschädlich gemacht werden. Wir verhindern Naturkatastrophen oder bekämpfen Verbrechen. Das ist unsere Aufgabe.

Kurz blitzte in Dominics Kopf das Bild einer Hochsicherheitsanlage auf. Wesen, die in Zellen eingesperrt waren. „Maranturena“ war der Name der Stadt, in der die Gefangenen verzweifelt ihr Leben fristeten. Der Jugendliche spürte noch etwas; ganz hinten in Horks Kopf. Unterdrückt zwar, doch für ihn deutlich spürbar. Hork war zutiefst betrübt darüber, solch unerbittliche Maßnahmen ergreifen zu müssen. Aber es musste sein, um die Welten vor den bösartigen Kreaturen, die dort eingesperrt waren, zu schützen. Daran glaubte das kleine Wesen aus einer festen Überzeugung heraus.

Mit einem erstaunten Gesichtsausdruck verschloss Hork seinen Geist erneut. Was hatte diese Familie für extreme Kräfte? Ständig musste er seine Blockade verstärken. Dergleichen hatte Dominic nicht sehen sollen. Diese harten Tatsachen waren für ihn tabu. Der Junge war zu unschuldig, um es verstehen zu können. Das kleine Menschlein war jetzt bereits sehr viel stärker, als er vermutet hatte. Das würde Hork in Zukunft berücksichtigen müssen, er würde ihn niemals mehr so unterschätzen, wie er es am heutigen Tage getan hatte.

Er beobachtete seinen neuen Schützling unauffällig aus den Augenwinkeln heraus, als er fortfuhr: Ebenso kann er auf die Erde zurückkehren und dort weiter eine schulische Ausbildung verfolgen und dann studieren oder auf anderen Welten, was immer er möchte, lernen. Mein guter Freund Tobias Falk – übrigens ein Schotte – lehrt Parapsychologie an einer Universität in London. Ganze Welten stehen Dominic offen. Die kommenden eineinhalb Jahre werden unsere Lernenden prägen. In dieser Zeit stellen sie mit unserer Hilfe die Weichen für ihr weiteres Leben.

Dominic war wie erschlagen von den Informationen. Wie soll ich mich bei all den Möglichkeiten für eine entscheiden?

Hork legte ihm beruhigend eine Hand auf die Schulter. Du hast genügend Zeit, deinen Weg zu finden. Du wirst die richtige Entscheidung treffen.

Detektiv zu werden, wäre schon cool.

Kühl? Warum sollte es kühl sein? Ah, verstehe den Ausdruck. Dazu wirst du auf jeden Fall befähigt sein. Aber die Alternativen würdest du ebenso herausragend meistern können, da bin ich mir absolut sicher. Lass dir Zeit bei deiner Auswahl.

Und an alle gerichtet sprach Hork in ihre Gedanken hinein: Es steht den Lernenden folglich frei, wieder auf ihren Heimatplaneten zu leben oder unter Lebewesen mit ähnlichen Fähigkeiten. Allerdings verlange ich eine Gegenleistung für die Ausbildung, die ich ihnen angedeihen lasse: Sie müssen ihre Kräfte Lamir in Krisensituationen zur Verfügung stellen. Jetzt kennt ihr meine Bedingung. Hat sie euch sehr abgeschreckt? Sodass ihr sofort wieder zurück möchtet?

Dominic war völlig überwältigt und nach den Gesichtern seiner Eltern zu urteilen, waren diese es ebenfalls. Wie benommen schüttelten sie die Köpfe.

Daraufhin verbeugte sich Hork kurz. Mit einem wissenden Lächeln wandte er sich der Tür zu, um diese mit einem beiläufigen Wink seiner Klaue zu öffnen.

Bluma wird euch die Zimmer zeigen, damit ihr euch frisch machen könnt. In einer Stunde gibt es Essen.

Ein bezauberndes Wesen betrat die Bibliothek. Es schien zu schweben und schillerte in sämtlichen Regenbogenfarben. Große, bunte Augen schauten sie freundlich an. Herzlich willkommen auf Lamir. Bitte folgt mir. Die Stimme klang weiblich in den Köpfen der Neuankömmlinge.

Das Wesen namens Bluma führte sie eine steinerne Treppe hinunter und aus dem Turm hinaus. Sie überquerten einen Weg aus blauem Gras. Dann ging es durch einen hohen Rundbogen in einen weiteren Turm hinein, der den Abschluss eines Wohnblocks bildete. Es war für Dominic seltsam anzusehen, wie dieser mittelalterlich anmutende Turm im krassen Gegensatz zu der hochmodernen Anlage stand, die sie betraten. Er erwartete, Zimmer vorzufinden, die genauso altmodisch wie die Bibliothek eingerichtet waren, aber da täuschte er sich gewaltig. Die Betten waren modern und hatten bequeme Matratzen.

Emilies Blick fiel auf eine offene Tür. Im Nebenzimmer sah sie einen Schreibtisch mit einem ultramodernen Computer. Staunend betrat sie den Raum und befand sich mitten drin ... in ihrem eigenen Arbeitszimmer. Der Kaffee stand fertig auf der Anrichte. Sprachlos fragte sie sich, ob sie wütend über die Einmischung in ihr Leben sein sollte oder erfreut über die Möglichkeit, die sich ihnen bot.

Sie war verständlicherweise komplett geflasht und sprach im Stillen mit sich selbst: Ein Planet voller paranormal begabter Aliens, die uns entführt haben? Aber angeblich haben wir uns selbst hierhin gewünscht? Häh? Sie schüttelte verständnislos den Kopf. Langsam kam sie zu der Überzeugung, dass sie jeden Moment aufwachen würde, und zwar auf der Erde in ihrem Bett, und alles würde sich als ein absurder Traum herausstellen. Wie konnte es sonst sein? Außerirdische? Mit paranormalen Kräften? Nein, das ging einfach nicht in ihren Kopf. Doch als Emilie in die Gesichter ihrer beiden geliebten Männer sah, dachte sie, es könnte niemandem schaden, eine Zeit lang auf dieser eigenartigen Welt zu leben.

Sie sah zwei heftig nickende Köpfe und in Gedanken stimmten die beiden ihr freudig zu. Ihre Entscheidung war gefallen, sie wollten hierbleiben. Vor der kleinen Familie lag eine aufregende Zeit, die ihnen nicht nur Angenehmes bringen würde.

Kapitel 5

 

Die Zuflucht

 

Nachdenklich schaute das jahrhundertealte Wesen den Kellers hinterher. Als sich die Tür hinter ihnen schloss, trat Hork aus dem Geschlecht der Assas von der Welt Porta auf den Balkon der Bibliothek. Er sah von dem Turm herab auf eine Welt, die er jahrzehntelang verzweifelt gesucht hatte. In dieser Zeit der Suche war er ein Verfolgter, ein von der Gesellschaft Gefürchteter gewesen, allein seiner Gabe wegen. So hatte er schon in jungen Jahren lernen müssen, seine Fähigkeiten zu verbergen.

Damals auf Porta lebte er mit seiner Schwester Marian ständig in Furcht, entdeckt zu werden. Eine längere Zeit gelang es ihm, unauffällig zu bleiben, da er es meistens vermeiden konnte, seine besonderen Kräfte in der Öffentlichkeit zu benutzen. Die Abschnitte aber, in denen sein Leben ohne Probleme verlief, waren in den letzten Jahren bedenklich kürzer geworden. Denn die Zeiten wurden für alle Portaner gefährlicher. Mit der stetig wachsenden Bevölkerung stieg die Verbrechensrate und Naturkatastrophen häuften sich aufgrund der Verschmutzung des Planeten.

Geriet Hork in eine Situation, aus der er sich oder andere einzig und allein mithilfe seiner Fähigkeiten befreien konnte, zögerte er niemals, sie anzuwenden. Nach der Entdeckung war er erneut gezwungen, alles zurückzulassen und zu fliehen. Wie oft hatte er sich ein Leben aufgebaut, das er zum wiederholten Male aufgeben musste? Längst hatte er aufgehört mitzuzählen. Eines aber wusste er, es war viel zu oft gewesen. Die Zeit war gekommen.

Die Toleranzgrenze, es hinzunehmen, sich ständig verstecken oder fliehen zu müssen, sank bis zur Nulllinie.

Er lernte Lutec kennen und dieser brachte ihn mit einer Gruppe von Leuten zusammen, die ähnliche Fähigkeiten wie er besaßen. Diese Freiheitskämpfer und Freiheitskämpferinnen liefen nicht davon. Sie kämpften für ihr Recht, in Ruhe und Frieden leben zu können. Es veränderte sein ganzes Leben. Gewalt und Hass bestimmten von nun an sein Dasein. Zehn Jahre hielt er durch, bis er Lutec und die Widerstandsbewegung verließ, da sein gutmütiges Wesen es nicht mehr ertrug. Und weitere beinahe fünfzig Jahre dauerte es, bis er Lamir fand.

Heute zählte sein Leben vierhundertachtundachtzig Sonnenumläufe und die Begründung seiner Gesellschaft lag vierhundert Zyklen lamiranischer Zeitrechnung zurück. Hork sah sich einen überwältigend schönen Sonnenuntergang an. Auf einer Welt, wie es keine zweite im Universum gab; voller Frieden und Glückseligkeit. Vor langer Zeit hatte er ihr den Namen Lamir, „Begabung“, gegeben. Die Behausungen schmiegten sich in die Wälder und in die umliegenden Hügel oder entstanden in Höhlen. Sie waren eins mit der Natur geworden und störten das Auge des Betrachters in keiner Weise. Mithilfe ihrer Energiekristalle, die sie Talismane nannten, erweiterten die Begabten die Bäume zu wahren Kunstwerken. Der Umgang der Lamiraner mit der Natur war so behutsam und unauffällig, wie es überhaupt möglich war.

Hork ging den Balkon entlang zu der Seite des Turmes, die er mit seiner Vertrauten Julana bewohnte. Der in die Jahre gekommene Portaner sah auf das riesige Anwesen hinab, das seit Jahrhunderten beständig gewachsen war. Die Lernenden, die hier lebten, waren auf seinen Schutz angewiesen.

Bisher habe ich meine Sache doch sehr gut gemacht, wie ich finde, lobte er sich in Gedanken selbst.

Hork gab ihnen Hoffnung. Und manchmal fing er Schwingungen von ganz besonderen Lebewesen auf, die mit ihren immens starken Fähigkeiten das Schicksal Lamirs verändern konnten. Er bildete sie für ein höheres Ziel aus. Eine mächtige Welt, und Lamir gehörte zu den mächtigsten im Universum, er schuf sich auch Feinde, die ihrer Bewohner habhaft werden wollten. Einer davon war Lutec, einst sein bester Freund.

Sie waren zu erbitterten Gegnern geworden, als Hork einen anderen Weg eingeschlagen hatte. Während Lutec die Kräftelosen bekämpfte, wollte er ihnen mit seinen Teams in Krisensituationen zur Seite stehen. Der Führer der Widerstandsbewegung versuchte seit Ewigkeiten, Lamir zu finden, um die Zusammenkunft so vieler Begabter dazu zu nutzen, seine Feinde endgültig zu besiegen. Doch Hork würde mit allen Mitteln zu verhindern suchen, dass irgendjemand, der seinen Schützlingen feindlich gegenüberstand, Lamir betrat. Eine sehr lange Zeit hatte er Erfolg gehabt, aber ein Gefühl sagte ihm, es würde keineswegs immer so bleiben. Würden seine Bemühungen in Zukunft weiterhin ausreichen? Nicht zuletzt Dominics Vision vor ein paar Monaten ließ ihn Schlimmes befürchten.

Er ignorierte die leisen Zweifel. Zuversichtlich und mit einem Lächeln auf den Lippen wandte Hork sich ab und betrat sein Gemach. Bald sollten weitere „Auserwählte" zu ihnen stoßen. Aber bevor das geschah, musste er selbst eine Reise antreten. Es war in den letzten Jahrzehnten selten vorgekommen, dass er Lamir verlassen hatte, aber der Ausgang dieses Abstechers zur Erde war von größter Wichtigkeit für die kommende Mission. Daher musste er dringend seinen alten Freund aufsuchen.

Auch Tobias Falk hatte vor vielen, vielen Jahren einmal zu den Auserwählten gehört, die Hork um sich versammelte. Und er half ihm bereits dabei, die Teammitglieder nach Lamir zu bringen, aber das genügte für die Zukunft nicht. In ein paar Wochen sollte die Ausbildung ihrer Kräfte beginnen und der alte Mann hoffte, Falk als ihren Ausbilder gewinnen zu können.

Hork nahm seine engste Vertraute mit. Julana, seine taubstumme Begleiterin, war schon an seiner Seite. Er griff zu dem Stab, der mit geheimnisvollen Runen verziert war, die in eine graue Metalllegierung eingraviert waren.Das Metall war das härteste, das er auf seinen Reisen finden konnte; es war praktisch unzerstörbar.

Der kristallene Talisman, der zusätzlich in einen kostbaren Edelstein an der Spitze des Stabes eingebettet war, leuchtete kurz in einem strahlenden Weiß auf. Die schlanke Frau neben ihm beobachtete ihn genau. Für Hork war ihre Präsenz immer spürbar. Vor einer halben Ewigkeit waren sie eine Verbindung eingegangen, die über jedes körperliche Empfinden hinausging. Die große Humanoide war sein Gewissen, sie hielt alle schlechten Emotionen von ihm fern. So sahen und fühlten die Gesprächspartner ausschließlich seine ausgeglichene Art. Er war jederzeit Herr der Lage, nichts und niemand konnte ihn aus der Ruhe bringen; und das hatte er ihr zu verdanken.

 

Kapitel 6

 

Die Kriegerin

 

Die taubstumme Kriegerin Julana stammte von dem rauen Planeten Sulan. Um darauf zu überleben, entwickelten die Bewohner außerordentliche körperliche Kräfte. Ausnahmslos die Starken konnten den größtenteils unerbittlichen Bedingungen standhalten. Daher formten sich kriegerische Völker mit wilden Emotionen, die ihre Gesellschaft an den Rand der gegenseitigen Ausrottung führten. Um der endgültigen Vernichtung zu entgehen, lernten die Sulaner ihre starken Gefühle zu bändigen, indem sie sie unterdrückten. Ohne diese extreme Maßnahme wäre ihre Gesellschaft im Chaos versunken.

Aber Julana unterdrückte nicht allein ihre eigenen Emotionen, sie blockierte ebenfalls spezielle Gefühle Horks, die ihn bei der Ausführung seiner Aufgaben behindern konnten. Dadurch hatte er die Freiheit, sich ganz darauf zu konzentrieren, seine Gefolgsleute zu beschützen und Entscheidungen für sie zu treffen, die oft hart ausfielen. Nach außen hin wirkte die Sulanerin gefühlskalt, aber sie liebte den alten Mann weit mehr als ihr Leben und opferte sich für ihn auf. Zwanzig Sonnenumläufe alt war sie, als sie nach Lamir gekommen war. In den darauffolgenden Jahren hatte Hork sie voll und ganz in sein Leben integriert. Sie kannte seine Gefühle, die er für sie empfand. Julana wusste, er liebte sie wie eine Tochter, und bald schon war ihre Anwesenheit selbstverständlich für ihn geworden. Er verließ sich auf die durchtrainierte Kriegerin und vertraute ihr bedingungslos. Und das bereits seit beinahe dreihundert Jahren.

Die Sulanerin füllte die große Lücke aus, die durch den Fortgang seiner Schwester Marian, die ein Leben in einem religiösen Tempel auf Porta gewählt hatte, entstanden war. Julana folgte ihm seitdem wie ein Schatten. All das wusste sie, aber ihr war keineswegs bewusst, welcher Natur ihre eigene Liebe für ihn entsprach. Sie würde es beizeiten herausfinden.

Jeder Lamiraner nahm ihre Anwesenheit hin, sie gehörte an die Seite des Oberhauptes von Lamir, niemand dachte weiter darüber nach. Durch ihre grauen, sehr kurz geschnittenen Haare und ihre ebenso grauen Augen wirkte sie absolut farblos. Auch ihre Kleidung entsprach genau dieser Farbe. So schien sie durch ihr unscheinbares Äußeres und ihr unauffälliges Auftreten fast unsichtbar zu sein. Dabei war sie groß gewachsen. Trotz ihrer überlangen Gliedmaßen bewegte sie sich elegant wie eine Raubkatze. Horks Besucher schauten meist einfach durch ihre große Gestalt hindurch und beachteten sie nicht weiter. Das war ihr absolut recht.

Wenn Julana jedoch von einem Wesen fasziniert war, fokussierte sie ihr ganzes Sein auf dieses. Ihre riesigen, ausdrucksstarken Augen waren wie ein Sog, der alles, einem Wirbel gleich, anzuziehen vermag. Da der taubstummen Sulanerin keine andere Möglichkeit zur Verfügung stand, musste sie die Gesprächspartner in ihren Kopf lassen. Normalerweise kratzten sie allenfalls an ihren oberflächlichen Gedanken, wie es für Telepathen üblich war. Aber ließ sie jemanden weit genug vordringen, sah er ihre Gefühle, die sie tief in sich verborgen hielt. Ehe er sich versah, ertrank er in ihnen, spürte diese unbändigen Emotionen. Dadurch fühlte er sich stark und unbesiegbar. Es war wie eine Droge und berauschte ihrem Partner die Sinne.

Doch wenn die wilde Kriegerin ihre Gedanken wieder vor ihm verschloss, was meist früher als später geschah, fühlte er sich schwach und bedeutungslos, aller Selbstsicherheit beraubt. Sie ließ nicht oft jemanden in ihren Kopf und nur wenige waren stark genug, es zu verwinden. Aber sie hatte ebenfalls Bedürfnisse, deshalb teilte sie ab und an ihr Bett und ihre Gedanken mit jemandem, und dabei bevorzugte sie keinerlei Geschlecht.

Sie sprach mit ihrer leidenschaftslosen Stimme direkt in Horks Kopf: Ist es so weit, brechen wir auf, Sessin?

Die Kriegerin umfasste ihr breites Schwert, nachdem er zugestimmt hatte. Die Waffe wirkte klobig und unelegant; völlig schmucklos, wie Julana selbst es auch war. Das einzige Schmuckstück war ihr Talisman, der den Griff der Waffe zierte. Er schimmerte in einem leichten Grau. Doch was der Betrachter niemals vermutete, war, dass sie das Schwert aus dem sehr leichten und widerstandsfähigen Metall gefertigt hatte, mit dem Hork seinen alten Stab von Porta überzogen hatte. Lässig ließ sie die Waffe in die Lederscheide an ihrer Hüfte gleiten. Für die Sulanerin war es selbstverständlich, mit ihm auf die Reise zu gehen, denn er brauchte sie. Und so machten die beiden zusammen einen Schritt nach vorne. Hork hielt seine Gefährtin fest an der Hand, denn sie war unfähig, sich aus eigener Kraft zu teleportieren. Dabei glühte sein Energieschild weiß und ihrer grau.

 

Kapitel 7

 

Der fast unsterbliche Mann

 

Tok, Tok, Tok.

Der große, dürre, aber dennoch muskulöse Mann ging in einer Seitengasse mit seinem altmodischen Spazierstock, der auf skurrile Art unpassend für dieses Jahrhundert war, auf und ab. Ein leises Tok begleitete ihn. Das Geräusch entstand, wenn die Metallspitze des Stockes den Boden berührte. Mit langen Fingern strich er sich die braunen, etwas längeren Haare aus dem Gesicht.

Die Gasse war auf beiden Seiten von Hochhäusern umgeben. Etwas weiter zur Straße hinaus hörte er die gedämpften Geräusche der Großstadt Berlin. Der gutaussehende, nicht mehr ganz junge Mann stoppte, hob den Kopf und lauschte. Dicht gedrängt fuhren die Autos und hupten sich entweder als Warnung oder zur Begrüßung an. Nach einer Weile nahm er seinen Gang wieder auf. Seine immerwährenden Bewegungen besagten, dass er es hasste stillzustehen.

Tok, Tok, Tok.

Dann, als hätte er etwas wahrgenommen, blieb er erneut stehen und starrte auf eine Stelle. Gelassen erwartete der Mann Hork und seine Begleiterin, die im nächsten Moment aus dem Nichts erschienen. Tobias Falk war der einzige Mann, der eine Bindung mit Julana halbwegs normal überstanden hatte. Die Beziehung hatte für die Verhältnisse der Sulanerin recht lange angedauert.

Als sein Name noch John Fraser gelautet hatte, hatte er Lamir das erste Mal betreten. Falk alterte nicht, wie normale Lebewesen alterten. Die Gabe eines besonders langen Lebens war gleichermaßen ein Segen und ein Fluch für den ungewöhnlichen Mann. Beides begleitete ihn seit seinem zwanzigsten Lebensjahr. Geboren im Jahre 1691 in Schottland und getauft auf seinen Geburtsnamen, änderte er Fraser bei seiner letzten Wiederkehr. Seit mittlerweile über hundertsiebzig Jahren kannte man ihn unter dem Namen Tobias Falk, und er besaß die außergewöhnlichste Gabe von allen: Er wurde nur dann geringfügig älter, wenn er starb. Dann glitt er durch einen Tunnel zu einem Ort, der sich in einem Tal umgeben von Felsen befand. Immer landete er in einem Bach mit energiereichem Wasser, das ihn heilte und ihm neues Leben schenkte. Die Energie, die er auf der Reise dorthin verbrauchte, ließ ihn um genau fünf Jahre altern.

Im Laufe der Jahrhunderte hatte er es vermeiden können, allzu häufig zu sterben. Die ersten vier Mal waren in einer gefährlichen Zeit gewesen, nach dem fünften Mal im Jahre 1797 kam er in einer zivilisierten Epoche an, sodass er einem erneuten Tod aus dem Wege gehen konnte.

Für seine Ableben im 18. Jahrhundert hatte er als John Fraser keinerlei Erklärung. Heute, im Jahre 2019, wusste Falk von mehreren Theorien, eine davon war das Modell der Einstein-Rosen-Brücke, auch Wurmloch genannt. Zumindest den Tunnel konnte er sich damit ansatzweise erklären, keinesfalls jedoch den wundersamen Ort, zu dem er am Ende gelangte und der ihn um genau die Zeitspanne in die Zukunft schickte, die er in einer Wiederkehr gelebt hatte. So war er bei seiner letzten Wiederkehr in dem Jahr 1849 und nicht 1797 zurück ins Leben gekommen, denn er hatte von dem vierten bis zum fünften Tod zweiundfünfzig Jahre ohne eine gewaltsame Unterbrechung gelebt. Warum er nicht zu dem Zeitpunkt seines Ablebens zurückgeschickt, sondern immer in die Zukunft versetzt wurde, war unerklärbar für ihn.

Durch eine weitere Fähigkeit, die des Teleportierens, war er nicht nur auf die Erde beschränkt. Er lernte zahlreiche Planeten mit den merkwürdigsten Wesen kennen, dadurch wurde ihm klar, dass seine Gabe der Wiedererweckung sehr selten war, denn er fand nie ein ähnliches Wesen wie sich selbst.

Den Farmer William Fraser hielt er bis zu seinem zwanzigsten Lebensjahr für seinen biologischen Vater. Erst als seine Mutter Martha, die der hochwohlgeborenen Familie der Buchanans abstammte, im Sterben lag, teilte sie ihm mit, dass dies eine große Lüge war. Damals war sie verstoßen und William ihr als Ehemann aufgezwungen worden, weil sie mit ihrem ersten Sohn unehelich schwanger gewesen war. Viel konnte sie ihm allerdings nicht über seinen Erzeuger sagen, denn ihr war selbst nur Ungenaues über dessen Herkunft bekannt. Als sie ihn das letzte Mal gesehen hatte, war er in einem gleißenden Licht verschwunden. Vom einen auf den nächsten Moment hatte er sich in Luft aufgelöst. Keine weiteren Anhaltspunkte hatte Falk über seinen Vater. Selbst auf seinen Reisen erfuhr er nichts, was das Geheimnis lüftete.

Aufgewachsen als Sohn eines Farmers hatte sich John Fraser im Laufe der Jahrzehnte zu einem schottischen Edelmann gemäß seiner mütterlichen Abstammung gemausert. In dem bedeutungsvollen Jahr 1765 irdischer Zeitrechnung hatte der langlebige Mann Lamir betreten. Sein Körper war bereits seit Jahrzehnten schon der eines vierzigjährigen Mannes geblieben.

 

 

Ordentlich wie aus dem Ei gepellt materialisierte er sich in seinem besten Ausgehanzug direkt vor Julana. Ungeachtet der Tatsache, niemals zuvor ein ähnliches Wesen gesehen zu haben, fühlte er sich durch ihr befremdliches Äußeres nicht abgestoßen. Seltsamerweise dachte er sofort in der weiblichen Form von ihr. Er betrachtete sie näher. Sie hatte aschgraue, schmale Striche als Lippen und ihr Gesicht war eher unscheinbar, flach mit einer winzigen Erhebung da, wo er die Nase vermutet hätte. Es gab keine Ohren, nur Vertiefungen an den Seiten, und die Augen lagen tief in den Höhlen, keine Augenbrauen verzierten sie. Aber noch nie hatte er in solch schöne Augen geblickt, die von zarten Wimpern umrahmt waren. Und ihr langer, filigraner Hals übte vom ersten Moment an eine erotische Faszination auf ihn aus, die er sich nicht erklären, der er sich aber keinesfalls entziehen konnte. Er sprach sie mit tadellosen Manieren an, wie es sich für einen wohlerzogenen Mann des 18. Jahrhunderts gehörte: »Entschuldigen Sie bitte mein Eindringen, aber wo bin ich hier?«

Sie antwortete ihm in seine Gedanken hinein: Du wirst erwartet. Folge mir!

Etwas pikiert über den Befehlston, wunderte er sich: Wie kann ich erwartet werden? Ich kenne diese Welt doch überhaupt nicht.

Perplex folgte er ihr auf dem Fuße. Gespannt, wohin sie ihn führte. Er musste sich in einer burgähnlichen Anlage befinden, denn der Gang, in dem er aufgetaucht war und den das merkwürdige Wesen ihn entlangführte, war sehr hoch und aus unverputztem Gestein.

Nachdenklich zog er eine Augenbraue in die Höhe. Wenn er jetzt genau darüber nachdachte, dann hatte sie wartend dort gestanden: Wie soll das möglich sein? Ist sie eine Hellseherin? Handelt es sich bei diesem Lebewesen überhaupt um eine Sie?

In diesem Moment öffnete sich eine hohe Tür direkt vor ihnen, ohne dass sie irgendjemand angefasst hatte.

Das graue Wesen, das vor ihm die Bibliothek betrat, zog sich in eine Ecke zurück.

Er schaute es sich ganz genau an und kam zu dem Ergebnis: Ja, definitiv, es ist eine Sie.

Obwohl die Frau durch und durch entspannt wirkte, schien ihr Körper jederzeit zum Sprung bereit zu sein. Wie eine Raubkatze, die ihre Beute beobachtete, waren ihre Augen wachsam auf den Gast gerichtet.

Ein alter Mann in einer roten Robe trat auf ihn zu, und eine ironische Stimme begrüßte ihn direkt in seinem Kopf: Auch dir ein herzliches Willkommen - tj, tj ... alter Mann! Also wirklich, das ist aber gar nicht nett. Ich bin schließlich erst zweihundertvierunddreißig Sonnenumläufe jung.

Entsetzt überlegte John, ob er seinen ersten Eindruck über das Wesen vor ihm laut ausgesprochen hatte.

Nein, aber wir sind hier alle Telepathen. Sei allzeit gewarnt: Wenn unser Gegenüber unfähig ist, seine Gedanken zu blockieren, dann schnappen wir sie schon mal auf, ohne es verhindern zu können. Ich bin Hork und noch einmal: herzlich willkommen. Du bist auf Lamir und verzeih mir, wenn ich mich in deine Privatsphäre eingemischt habe, aber ich habe dich hierher gelotst.

Und wieder zog John erstaunt eine Augenbraue hoch. Merkwürdigerweise war er völlig entspannt, obwohl er gerade von seiner Entführung erfahren hatte.