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Ein Serienmörder, der das Töten genießt und eine Ermittlerin, die Rache will …
Der Auftakt der nervenaufreibenden Thriller-Reihe über die Abgründe der Menschlichkeit
Als die Leiche eines Mädchens in einem verlassenen Gebäude gefunden wird, hält man den Fall zunächst für eine missglückte Entführung. Doch kurz darauf wird der vermeintliche Kidnapper mit dem Lösegeld tot aufgefunden und Detective Kay Hunter weiß, dass etwas nicht stimmt. Kays schlimmste Befürchtungen werden wahr, als ein zweites Mädchen verschwindet. Die Ermittlerin versucht alles, um den grausamen Serientäter zu stellen, muss dabei aber nicht nur ihre Karriere retten, sondern versucht verzweifelt ihr eigenes dunkles Geheimnis zu wahren. Es beginnt ein tödlicher Wettlauf, während dem der Killer jederzeit ein weiteres Leben fordern könnte …
Erste Leser:innenstimmen
„Die unvorhersehbaren Wendungen und die intensive Atmosphäre haben mich von Anfang bis Ende gefesselt.“
„Die Ermittlungen von Detective Kay Hunter sind hochspannend, und ihr persönliches Geheimnis fügt eine zusätzliche Dimension hinzu.“
„Die Mischung aus spannender Kriminalhandlung und persönlichem Drama macht es zu einem packenden Leseerlebnis.“
„Rachel Amphlett hat es geschafft, eine beklemmende Atmosphäre zu schaffen, die mich von Anfang an in den Bann gezogen hat.“
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Seitenzahl: 345
Als die Leiche eines Mädchens in einem verlassenen Gebäude gefunden wird, hält man den Fall zunächst für eine missglückte Entführung. Doch kurz darauf wird der vermeintliche Kidnapper mit dem Lösegeld tot aufgefunden und Detective Kay Hunter weiß, dass etwas nicht stimmt. Kays schlimmste Befürchtungen werden wahr, als ein zweites Mädchen verschwindet. Die Ermittlerin versucht alles, um den grausamen Serientäter zu stellen, muss dabei aber nicht nur ihre Karriere retten, sondern versucht verzweifelt ihr eigenes dunkles Geheimnis zu wahren. Es beginnt ein tödlicher Wettlauf, während dem der Killer jederzeit ein weiteres Leben fordern könnte …
Deutsche Erstausgabe Juli 2024
Copyright © 2024 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten
E-Book-ISBN: 978-3-98778-964-9 Hörbuch-ISBN: 978-3-98998-191-1
Copyright © 2016, Rachel Amphlett Titel des englischen Originals: Scared to Death
The moral rights of the author have been asserted (in translated language and in English)
Die Urheberpersönlichkeitsrechte der Autorin wurden geltend gemacht (in übersetzter Sprache und in Englisch)
Übersetzt von: Helga Köller Covergestaltung: Buchgewand unter Verwendung von Motiven von shutterstock.com: © Asylbek Serik, © Nancy Anderson, © Ladanivskyy Oleksandr stock.adobe.com: © masisyan Korrektorat: Marita Pfaff
E-Book-Version 01.10.2024, 11:00:42.
Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.
Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
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Ein Serienmörder, der Freude am Morden hat und eine Ermittlerin, die Rache will …Der nervenaufreibende Auftakt der neuen Thriller-Reihe für Fans von Lisa Regan
Yvonne Richards hielt sich so krampfhaft an dem Zettel fest, dass er knitterte. Die hastig darauf gekritzelte Schrift ragte über die blauen Unterteilungslinien des Blattes hinaus.
„Tony, beeil dich!“, forderte sie panisch.
„Schneller geht’s nicht, verdammt!“, knurrte er mit zusammengebissenen Zähnen und brachte sie fast zum Weinen. Er räusperte sich und fragte nach dem Straßennamen.
Als sie den Daumen von der Schrift hob, bemerkte sie, dass die Tinte verschmiert war. Sie musste die Augen zusammenkneifen, um die Adresse entziffern zu können. „Innovation Way“, antwortete sie und hielt sich den Zettel vors Gesicht, um noch einmal darauf zu schauen.
Tonys Handschrift war selbst an guten Tagen eine Katastrophe, jetzt war sie praktisch unlesbar, da er mit zitternden Händen geschrieben hatte, als der Anrufer die Adresse durchgab.
„East oder West?“, fragte er nach.
„West.“
Er bog zu früh ab und fuhr in eine Sackgasse. Nach wenigen Metern trat er so fest auf die Bremse, dass sie abrupt gegen den Sicherheitsgurt gedrückt wurden.
„Nein, nicht die, die nächste!“, kreischte Yvonne.
„Du hast gesagt, es wäre hier“, entgegnete Tony verteidigend.
„Nein, ich sagte West. Innovation Way West.“
Er fluchte leise, schaltete in den Rückwärtsgang und kehrte zur Hauptdurchgangsstraße zurück, bevor er an der nächsten Kreuzung abbog.
„Tut mir leid“, murmelte er kleinlaut.
„Nein, ist schon okay. Mir tut es leid“, erwiderte sie.
Sie ließ den Zettel in den Schoß sinken und umklammerte ihn, als fürchtete sie, ihn zu verlieren, bevor sie ihr Ziel erreichten. Als sie kurz aufschluchzte, streckte Tony ihr die Hand entgegen und sie packte sie nach Trost suchend. Doch sie fand keinen, denn seine Hände waren genauso feucht wie ihre und zitterten noch immer.
„Beide Hände ans Lenkrad, Tony“, flüsterte sie und drückte seine Hand, bevor er sie zurückzog.
Mit einem Kloß im Hals ließ sie den Blick über seine gebräunte Haut schweifen, während ihr das Herz schwer wurde. In der kurzen Zeit hatte die italienische Sonne sogar sein Haar aufgehellt. Währenddessen war ihr eigenes Haar von der feuchten Luft kraus, ihre Haut im Vergleich blass. Sie beneidete ihn um diesen gesunden Glanz, seit sie am Freitag aus dem Flugzeug gestiegen waren - bevor sie nach Hause kamen und den Anruf erhielten.
Er zog die Hand zurück, legte sie wieder ans Lenkrad und beschleunigte, als sie auf einen Verkehrskreisel zusteuerten.
Yvonne starrte aus dem Beifahrerfenster auf das Industriegebiet, das draußen vorbeizog. Es hatte sich nie vollständig von der Wirtschaftskrise erholt und bestand nur noch aus ein paar kleinen Unternehmen, die am Rande des Gebietes ums Überleben kämpften. Die Glas- und Betonpaläste der großen Konzerne, die einst das Herz des Industrieparks gebildet hatten, lagen verlassen vor ihnen. Dunkle Fenster starrten anklagend auf die umliegenden leeren Straßen, während verblichene Schilder von Vermietungsagenturen einsam an den Maschendrahtzäunen baumelten. Das einst gepflegte und ansehnliche Gelände glich nun einer chaotischen Ansammlung von tropischen Pflanzen, die deplatziert wirkten und langsam vom Unkraut überwuchert wurden. Yvonne erschauerte und wandte den Blick davon ab.
Plötzlich schrie sie auf, ließ den Zettel fallen und krallte die Hände in den Sitz. Tony steuerte direkt auf die Verkehrsinsel zu, riss das Lenkrad jedoch noch rechtzeitig herum und schrammte über den Bordstein, kurz bevor sie den Kreisel verließen. Er atmete erleichtert auf.
Sie lockerte den Griff, holte das Blatt aus dem Fußraum, legte es sich aufs Knie und glättete es.
„Tut mir leid“, murmelte er.
„Schon gut.“
Yvonne wusste, dass Tony nie ein großartiger Fahrer gewesen war und wurde sich bewusst, dass er wahrscheinlich zum ersten Mal in seinem Leben so schnell fuhr. In den zwanzig Jahren, seit sie zusammen waren, hatte er noch nie so aufs Gas getreten. Sie blinzelte, wischte sich die Tränen von den Wangen und versuchte ihre Nerven zu beruhigen. In Gedanken war sie bei Melanie, die eine Party zu ihrem Geburtstag geplant und sich schon darauf gefreut hatte.
„Es wird schon gut gehen“, meinte Tony.
Sie erwiderte nichts und konzentrierte sich auf die Straße.
„Welche Hausnummer ist es?“, fragte ihr Mann.
„Fünfunddreißig.“
„Bist du sicher?“
„Könnte auch sechsunddreißig heißen.“
Tony fluchte leise.
„Da steht fünfunddreißig. Ich bin mir sicher!“
Tony drosselte die Geschwindigkeit, während Yvonne aus dem Fenster spähte. „Ich kann die Nummern nicht erkennen.“
„Halt trotzdem die Augen offen.“
Sie schirmte die Augen gegen die Sonne ab, die hinter den Gebäuden aufstieg, und versuchte zu erkennen, wo sie sich befanden.
Die Industriebauten waren stellenweise mit aufgesprühten Graffiti überzogen. Alte Schilder warnten vor Überwachungskameras und Wachpersonal mit Hunden, das seit über zwei Jahren nicht mehr auf dem Gelände patrouillierte.
Yvonnes Mund wurde staubtrocken, während sie die heruntergekommenen Gebäude betrachtete und den Gedanken zu verdrängen versuchte, dass Melanie in einem dieser Häuser gefangen gehalten wurde. Sie hatte sie vor fünf Tagen zuletzt gesehen, da trug sie nur eine dünne Weste, ein Top und eine Jeans.
Am Freitagabend hatte kurz nach ihrer Rückkehr vom Flughafen das Telefon geklingelt, während Tony an der Kücheninsel mit einem Glas Wein und der Gratiszeitung saß. Yvonne hatte gerade ihre Tasche auf die Arbeitsfläche fallen lassen und das Glas genommen, das er ihr entgegenstreckte.
„Wo ist Mel eigentlich?“, hatte sich Yvonne erkundigt.
„Noch unterwegs, schätze ich.“
Mit einem Blick auf die Uhr hatte sie bemerkt: „Wenn sie nicht bald auftaucht, bekommt sie kein Abendessen.“
Tony hatte unverbindlich gebrummt und sich Wein nachgeschenkt. „Wahrscheinlich hängt sie wieder mit der Thomas-Göre ab.“
„Ich wünschte, sie würde das lassen.“
„Sag’s ihr doch, dann macht sie’s erst recht.“
Dann war dieser Anruf gekommen und hatte ihr Leben für immer verändert.
Yvonne stützte sich am Armaturenbrett ab, während sie einen weiteren, mit einem Vorhängeschloss versehenen Zaun passierten. „Hier ist es! Das ist das Haus!“
Tony lenkte den Wagen an den Straßenrand und schaltete den Motor aus. Er atmete so schwer durch den Mund, dass sie sich fragte, ob sie genauso schnaufte. Es war unmöglich festzustellen, denn das Hämmern ihres Herzens übertönte alles andere.
Er wollte gerade die Tür öffnen, da hielt sie ihn am Arm zurück. „Warte! Und wenn er noch drinnen ist?“
Tony zeigte mit dem Daumen über die Schulter. „Wir haben einen Umschlag mit zwanzigtausend Pfund zwei Meilen von hier abgeworfen“, blaffte er. „Du glaubst doch nicht im Ernst, dass er wartet, um sich zu bedanken.“
Yvonne spitzte die Lippen und schüttelte den Kopf.
„Na dann.“ Er streifte ihre Hand ab und wiegte den Kopf hin und her, als ob er sich hochputschen würde, dann öffnete er die Tür und sie stiegen aus.
Sie erreichten das Tor im Maschendrahtzaun und Tony griff nach der hindurch gefädelten Kette, die durch seine Finger glitt.
„Es ist offen“, stellte Yvonne fest.
„Das hat er doch gesagt.“
Jetzt hörte sie erst die Angst in seiner Stimme, die den schroffen, nüchternen Tonfall verdrängte, den er seit dem Verlassen des Hauses versucht hatte, aufrechtzuerhalten.
„Hat er gesagt, wo …“
„Ja, komm mit.“
Als sie instinktiv seine Hand ergriff, drückte er sie kurz und führte sie dann am Gebäude entlang. In diesem Moment wurde ihr klar, dass er eine Heidenangst hatte, denn es war eine Ewigkeit her, dass sie zuletzt Händchen gehalten hatten. In letzter Zeit hatten sie hauptsächlich gestritten und sich wegen Belanglosigkeiten angefahren. Während sie sich daran erinnerte, musste sie daran denken, dass Tony immer Melanie priorisiert hatte, und sie kämpfte gegen die aufsteigende Eifersucht an. Sie sehnte sich nach ihrer Tochter und wollte sie einfach nur wiedersehen.
Beim Gehen betrachtete sie ihre Spiegelbilder in den mit blickdichten Abdeckungen versehenen Fenstern. Sie hob den Kopf und betrachtete den dreistöckigen Betonmonolithen. Nachdem die Pächter die Gebäude geräumt hatten, wurde jegliche Firmenbeschilderung entfernt. Die ursprünglich cremefarbenen Wände hatten einen Grauton angenommen und verschwanden teilweise unter Dreck, Ruß und Graffiti, unterbrochen von verblichenen Schildern mit Hinweisen zu Evakuierungszonen und Notausgängen. Die Türen waren mit Brettern vernagelt und wirkten abweisend.
„Wie sollen wir reinkommen?“
„Er hat gesagt, dass eine Tür offen wäre.“
An der Rückseite des Gebäudes stießen sie auf eine solide Stahltür. Obwohl sie geschlossen war, lag auf dem pockennarbigen Asphalt ein offenes Vorhängeschloss. Tony packte den Türgriff.
„Warte!“, stieß Yvonne hektisch aus.
Er sah sie mit zusammengezogenen Augenbrauen an. „Was denn noch?“
„Du solltest dir was über die Hand ziehen. Falls die Polizei nach Fingerabdrücken sucht.“
„Ist mir egal, ich will meine Tochter zurück“, knurrte er und drehte den Knauf.
Er trat über die Türschwelle ins Dunkle, sie hielt jedoch inne und atmete tief durch, bevor sie ihm folgte. Genau wie Melanie hatte auch sie Angst vor ungewissen Situationen. Ihr schnürte sich die Kehle zu, wenn sie nur daran dachte, welche Ängste ihre Tochter hier durchstehen musste.
Tony zog eine Taschenlampe aus der Hosentasche und schaltete sie ein. Das Licht blendete ihre Augen und sie kniff sie zusammen, bevor er den Strahl senkte und auf einige ausgemusterte Büromöbel richtete. Sie wandte sich ab und versuchte sich an die Umgebung zu gewöhnen. Der beißende Gestank von Rattenkot und der feuchte Mief eines undichten Daches stiegen ihr in die Nase, sodass sie den Brechreiz unterdrücken musste.
Tony lief bereits zu einer Tür und Yvonne folgte ihm durch das verlassene Büro in einen schmalen Korridor, der sich über die Längsseite erstreckte. Er bog links ab und leuchtete den Weg mit seiner Taschenlampe voraus.
Am Ende des Flurs stießen sie auf eine Doppeltür. Er lehnte sich dagegen, die Tür öffnete sich ohne Weiteres. Sie amtete erleichtert auf. Doch als sie sich hinter ihnen schloss, bekam Yvonne Angst und sie drückte noch einmal dagegen, um sicherzugehen, dass sie nicht eingesperrt würden. Erneut öffnete sich die Tür.
„Sie hat einen automatischen Schließer“, stellte Tony fest und deutete darauf. „Komm schon, beeil dich!“
Yvonne biss sich auf die Unterlippe und folgte ihm, die Arme fest um den Körper geschlungen. „Was war früher hier drin?“, fragte sie.
„Eine Pharmaforschung. Erinnerst du dich an die Proteste vor dem Rathaus?“
Nach kurzem Überlegen überkam sie das Grauen. „Hier war das Tierversuchslabor?“
Statt darauf einzugehen, nickte er nur und ließ das Licht über die Wände wandern.
Obwohl kurz nach Einreichung der Baugenehmigung eine Petition mit mehreren tausend Unterschriften beim Stadtrat abgegeben worden war, hatte sich das biowissenschaftliche Unternehmen vor über zehn Jahren hier niedergelassen.
Eine Wand war mit schmutzig-weißen Kacheln gefliest und Aluminiumwaschbecken bestückt. Gegenüber befanden sich Regalreihen. Glasscherben knirschten unter ihren Füßen. Ihre Schritte hallten auf dem abgeschrägten Fliesenboden wider; Yvonne hatte Schwierigkeiten, darauf zu gehen.
„Warum ist der Boden so komisch?“, fragte sie mit zittriger Stimme.
„Weil er in einen Abfluss führt“, erklärte Tony und deutete auf das große vergitterte Loch in der Mitte des Bodens. „Das Wasser fließt automatisch dorthin.“ Er lief durch den Raum und glitt dabei mit den Händen über die Wände.
„Wo ist sie, Tony?“ Yvonnes Stimme hallte von den Wänden wider, sodass sie zusammenzuckte. Dann packte die Panik ihre Eingeweide und drückte erbarmungslos zu.
„Er hat gesagt, dass sie hier ist.“ Er strich weiter über die Kacheln. „Vielleicht gibt es eine Geheimtür.“
Yvonne schnappte nach Luft. „Hast du das gehört?“
„Was meinst du?“, fragte er und drehte sich zu ihr um.
„Pst“, zischte sie und hob einen Finger.
Yvonnes Angst um Melanie wuchs immer weiter. Sie war kein kräftiges Mädchen. Tatsächlich war sie dünn für ihr Alter, mit schmalen Schultern und Hüften, und sie wirkte so zerbrechlich und fragil, dass Yvonne sich wunderte, dass sie noch keine Knochenbrüche erlitten hatte.
„Tony?“ Sie deutete auf das Gitter in der Mitte des Raumes.
Er warf einen Blick darauf, wurde blass, fiel auf die Knie und steckte die Finger hindurch. „Ich kann nichts sehen.“
Yvonne bückte sich, legte ebenfalls die Finger darum und schaute ihm in die Augen. „Auf drei.“
Das Stahlgitter ächzte unter ihrem Griff und hob sich auf der rechten Seite ein wenig.
Tony packte fester zu und zerrte daran. „Jetzt!“
Das Gitter glitt zur Seite und gab den Blick auf eine dunkle Öffnung frei.
„Da ist eine Leiter“, sagte Yvonne und beugte sich in das Loch. Er richtete den Strahl der Taschenlampe hinein, damit sie etwas sehen konnten. Tony warf ebenfalls einen Blick in den Schacht und stieß einen gequälten Schrei aus, der von den Wänden des Labors widerhallte.
Detective Sergeant Kay Hunter klammerte sich an den Haltegriff der Autotür, während Detective Constable Ian Barnes den Wagen in einer scharfen Linkskurve beschleunigte.
„Eine Streife hat es vor zwanzig Minuten gemeldet“, sagte er, brachte den Wagen wieder in die Spur und nahm den Fuß vom Gas. „Wir sind am nächsten dran. Und jetzt darfst du raten.“
„Was?“
„Unser Tag geht gerade den Bach runter“, meinte Barnes lakonisch.
Kay schnaubte nur.
In einiger Entfernung sahen sie einen schwarzen Van und zwei Streifenwagen. Bei einem der Streifenwagen blinkte das Blaulicht, die Beifahrertür stand offen.
„Der Rechtsmediziner ist schon da“, bemerkte Kay erleichtert und schickte einen stummen Dank zum Himmel, dass die Kollegen, die zuerst am Tatort eingetroffen waren, mitgedacht hatten.
„Dann hat er wohl einen ruhigen Tag gehabt“, meinte Barnes und rasselte die bereits bekannten Informationen herunter, während sie sich den Fahrzeugen näherten. „Der Vater war offenbar völlig hysterisch, als er bei der Leitstelle anrief. Er und seine Frau haben ihre siebzehnjährige Tochter Melanie in einem Abflussschacht in einem der Gebäude gefunden.“
„Warum haben sie sie hier gesucht?“
„Sie wurde vor fünf Tagen entführt.“
„Verflucht, ich wünschte, sie hätten uns darüber informiert.“ Kay seufzte.
Barnes brummelte leise vor sich hin.
In Anbetracht der Drohungen, die von Entführern oft ausgesprochen werden, wurden in Großbritannien viele Kidnapping-Fälle erfolgreich gelöst. Dies geschah durch die unermüdliche Arbeit der Polizei, intensiven Ermittlungen und die Zusammenarbeit mit anderen Strafverfolgungsbehörden. Gelegentlich auch durch die Verhängung einer vollständigen Medienblockade, um die Verhandlungen zu schützen und die Sicherheit des Opfers zu gewährleisten.
Barnes hielt hinter einem Streifenwagen. Nachdem sie ausgestiegen waren, stellte Kay sich den beiden uniformierten Kollegen vor, die bei einem Paar mittleren Alters standen. Beide schienen unter Schock zu stehen.
Der ältere Polizist trat einen Schritt vor. „Ich bin Sergeant Davis. Mein Kollege und ich waren zuerst vor Ort.“
Kay begrüßte die beiden und entschuldigte sich dann bei dem Paar. Sie führte Davis über die Betonrampe des Gebäudes, um ungestört reden zu können. „Die beiden haben also ihre Tochter hier gefunden?“
Davis nickte. „Das Mädchen wurde entführt, als sie verreist waren. Nachdem sie vor etwa einer Stunde das Lösegeld abgegeben haben, erhielten sie eine Nachricht, dass ihre Tochter hier wäre. Sie haben ihre Leiche im Abfluss des alten Testlabors gefunden.“
Kays Blick fiel auf den schwarzen Van. „Haben Sie die Rechtsmedizin gerufen?“
„Ja. Sie sind zehn Minuten vor Ihnen eingetroffen.“ Davis zeigte mit dem Daumen über seine Schulter. „Sie sind jetzt da drin.“
„Und Sie konnten nichts mehr für das Mädchen tun?“
Seine Augen verschleierten sich, bevor er den Kopf schüttelte. „Üble Sache. Das Mädchen wurde mit einem Seil um den Hals in den Abflussschacht gehängt.“ Er runzelte die Stirn. „Es lässt sich leider nicht so ganz nachvollziehen, was die Eltern alles angefasst haben. Sie haben auf jeden Fall die Abdeckung entfernt, um an das Mädchen heranzukommen. Wir haben da drin nichts angefasst und den Tatort gesichert. Außerdem haben wir die Fingerabdrücke der Eltern genommen, damit die Spurensicherung sie ausklammern kann.“
„Prima, vielen Dank.“ Kay wandte sich an Barnes, der inzwischen neben ihr stand. „Ian, sprich du mit dem Vater. Ich kümmere mich um die Mutter.“
„Okay.“ Ihr Kollege nickte und schritt auf das Ehepaar zu.
Kay sammelte sich einen Moment lang, bevor sie zu der Frau ging. „Yvonne Richards?“
Die Frau nickte.
„Ich bin Detective Sergeant Kay Hunter. Mein aufrichtiges Beileid. Leider muss ich Ihnen einige Fragen stellen.“
Yvonne Richards warf einen Blick zu ihrem Mann, der bereits mit Barnes im Gespräch war. Er hob den Kopf, nickte und wandte sich wieder ihrem Kollegen zu.
Mrs Richards schien nicht zu bemerken, dass ihr eine Träne die Wange herablief und Kay musste sich zurückhalten, um sie nicht wegzuwischen. Stattdessen suchte sie in ihrem Notizbuch eine leere Seite und fuhr mit ruhiger Stimme fort. „Mrs Richards, Ihr Mann hat bei der Leitstelle gemeldet, dass Melanie vor fünf Tagen entführt wurde. Warum haben Sie die Polizei nicht früher informiert?“
Yvonne Richards unterdrückte ein Schluchzen und verschränkte die Hände. „Wir wussten es doch nicht. Wir sind am Freitag aus Italien zurückgekommen und an dem Abend hat der Mann angerufen. Er hat gesagt, dass er Melanie tötet, wenn wir die Polizei einschalten. Er hat gedroht, sie vorher zu vergewaltigen, und dass wir dabei zuhören müssten.“ Sie hob die zitternden Hände zum Mund und hielt inne. „Ich hab Tony das Telefon aus der Hand gerissen und den Mann angefleht, sie gehen zu lassen. Aber er meinte bloß, dass wir nicht zuhören würden. Dann hat er irgendwas mit ihr gemacht und sie hat geschrien.“
Kay warf einen Blick zu Barnes und Tony Richards hinüber. Sie runzelte verwundert die Stirn, da es so aussah, als würde Barnes Tony Richards stützen.
„Es tut mir leid, aber ich muss Ihnen diese Fragen leider stellen“, sagte Kay und richtete den Blick wieder auf Mrs Richards.
Die Frau wedelte mit der Hand. „Ich weiß, ich weiß. Oh Gott …“ Sie schniefte geräuschvoll. Kay gab ihr ein Papiertaschentuch und Yvonne Richards schnäuzte sich.
Kay wartete einen Moment, bevor sie fortfuhr. „Können Sie sich vorstellen, aus welchem Grund Melanie entführt wurde?“
Mrs Richards schüttelte den Kopf. „Wir sind nicht reich“, stieß sie hervor. „Auch wenn es vielleicht anders aussieht. Tony arbeitet nicht. Er kann zu Hause bleiben, weil mein Geschäft gut läuft.“ Sie schluckte krampfhaft. „Es tut Mel gut, dass jemand da ist, wenn sie nachmittags von der Schule kommt.“
„Welche Forderungen hat der Kidnapper gestellt?“
„Ein Lösegeld von zwanzigtausend Pfund.“
Kay notierte die Summe, ohne eine Miene zu verziehen, und versah sie mit einem Fragezeichen.
„Wie viel Zeit hat er ihnen gegeben, um das Geld zu besorgen?“
„Er wollte es heute haben.“ Yvonne Richards verzog das Gesicht. „Wir sollten es heute früh zwischen halb sieben und sieben abgeben.“
„Wie verlief die Übergabe?“
„Wir sollten es in einen gepolsterten Umschlag packen, und ihn in den Briefkasten an der Channing Lane hinter dem Industriepark stecken.“
„In einen Briefkasten?“
„Das Ende sollte aus dem Briefschlitz rausschauen.“ Yvonne Richards erschauerte. „Das musste Tony übernehmen. Meine Hände haben so gezittert, dass ich Angst hatte, ihn ganz einzuwerfen. Was hätten wir machen sollen, wenn er reingefallen wäre?“
Kay wandte sich an den uniformierten Beamten, der am nächsten bei ihr stand und mitgehört hatte. „Sperren Sie das Gebiet mit den Streifenwagen ab. Schnell!“
Der Mann rannte los und rief seinem Kollegen etwas zu. Sie spurteten zu einem der Wagen, kurz darauf blinkte das Blaulicht und die Sirene heulte auf, während sie sich vom Straßenrand entfernten.
Kay beobachtete, wie sie davonfuhren und konzentrierte sich wieder auf Yvonne Richards. „Wie ging es weiter?“
„Anschließend sind wir nach Allington gefahren, weil wir auf dem Parkplatz der Bibliothek auf den nächsten Anruf warten sollten. Irgendwann schickte er eine SMS mit Mels genauem Aufenthaltsort. Darin stand auch, dass wir uns beeilen sollten, weil die Zeit knapp wäre.“
Ein Fahrzeug mit laut aufheulendem Motor näherte sich, Kay drehte sich um und sah den weißen Kastenwagen der Spurensicherung neben ihrem zivilen Einsatzwagen bremsen. Der Fahrer legte den Rückwärtsgang ein und manövrierte den Wagen neben die Tore des ehemaligen Unternehmens. Eine Frau stieg aus und marschierte auf das Gebäude zu. Ein Mann im Schutzanzug kam ihr aus der Einrichtung entgegen und redete mit ihr.
„Wer ist die Frau?“, fragte Yvonne Richards mit bebender Stimme.
„Sie leitet das Team der Spurensicherung“, antwortete Kay. Sie führte Mrs Richards vom Gebäude fort und stellte sich so, dass die Frau den beiden Kollegen den Rücken zukehrte.
Kurz darauf öffnete sich die Schiebetür des Vans und das Team stieg aus.
Plötzlich brüllte Barnes nach Kay, ihr Kopf schoss herum. „Ruf einen Krankenwagen!“
Überrascht sah sie, wie Tony Richards zu Boden sank. Barnes griff nach dessen Arm, bremste den Sturz ab und half ihm, sich in eine sitzende Position zu bringen.
Kay reagierte sofort, nahm ihr Handy und informierte die Notrufzentrale darüber, was geschehen war, während sie mit Yvonne Richards zu ihrem Mann hinüberrannte.
„Was ist passiert?“, stieß sie aus.
Barnes hockte sich neben Tony Richards, nahm sein Handgelenk und legte den Zeigefinger darauf. „Schmerzen in der Brust.“
„Oh Gott, Tony.“ Yvonne Richards sank mit bleichem Gesicht neben ihrem Mann zu Boden und packte seine andere Hand.
Er gab ein Krächzen von sich und schloss die Augen, bevor er zur Seite kippte.
Kay riss sein Hemd auf, dass die Knöpfe davonflogen, ballte eine Faust und schlug ihm einmal fest auf die Brust. Barnes beugte sich über Tony Richards, nahm behutsam seinen Kopf und nickte Kay zu. Sie legte die Hände auf den Brustkorb des Mannes und begann mit der Herzdruckmassage. Obwohl sie sich minutenlang abmühte und ihr der Schweiß zwischen den Schulterblättern herunterlief, reagierte Tony Richards nicht.
„Sarge, soll ich übernehmen?“, bot Barnes an.
„Es geht schon“, stieß sie aus. Innerlich fluchte sie allerdings.
Auch wenn Tony Richards gesund gewirkt hatte, konnte man nie wissen, welche Folgen ein Schock auf einen Menschen hatte. Sie musste unbedingt die Ruhe bewahren. Seine Frau durfte auf keinen Fall merken, dass sie allmählich in Panik geriet. Sie machte bereits genug mit.
„Sarge, ich mache jetzt weiter!“ Barnes schubste sie beiseite und brachte sie ins Wanken, dennoch war sie dankbar für die Pause.
Als Tony Richards keuchte und die Augen öffnete, kreischte seine Frau seinen Namen, schob Barnes beiseite und schlang die Arme fest um die Brust ihres Mannes.
„Mrs Richards”, sagte Barnes und löste ihre Arme sanft von ihm. „Lassen Sie ihn doch atmen.“
Aus der Ferne ertönten Sirenen. Kay richtete sich in dem Moment auf, in dem der Krankenwagen um die Ecke schoss. Sie eilte ihm entgegen, um den Sanitätern den Weg zum Patienten zu zeigen. Dann folgte sie der Trage über den rissigen Beton. Das Rattern und Scheppern der Räder waren unerträglich.
Während Mr Richards’ Vitalparameter von den leise miteinander redenden Sanitätern überprüft wurden, blieb sie in der Nähe. Der ältere Sanitäter erhob sich und winkte sie heran, um außerhalb von Yvonne Richards’ Hörweite mit ihr zu sprechen.
„Er muss unbedingt ins Krankenhaus“, flüsterte er. „Sie haben ihn zwar fürs Erste reanimiert, aber hier kann er nicht bleiben. Wir können nicht warten. Wir geben im Krankenhaus Bescheid, dass man Sie auf dem Laufenden hält.“
Kay gab ihm ihre Visitenkarte und bedankte sich.
Er nickte und innerhalb kürzester Zeit wurde Tony Richards auf die Trage gelegt und gesichert und zum Rettungswagen geschoben.
Kay eilte zu Yvonne Richards, die mit weit aufgerissenen Augen und vor den Mund gehaltener Hand dastand und beobachtete, wie ihr Mann weggebracht wurde. Ihr Blick huschte zum Gebäude, in dem sich die Leiche ihrer Tochter befand, und dann zum Rettungswagen.
Kay legte die Hand auf ihren Arm. „Fahren Sie mit ihrem Mann. Ich bleibe bei Ihrer Tochter.“
Als Yvonne Richards Kay in die Augen blickte und sich ein verwirrter Ausdruck auf ihrem Gesicht breitmachte, wusste sie, dass es die richtige Entscheidung war. Die Frau musste ohnehin ins Krankenhaus, bevor der Schock einsetzte und sie ebenfalls ein medizinisches Problem bekam.
„Gehen Sie ruhig“, sagte sie bestimmt. „Steigen Sie in den Krankenwagen.“
Einer der Sanitäter winkte Yvonne Richards zu zum Rettungswagen zu kommen, dessen blaue Lichter über die Wand der biowissenschaftlichen Einrichtung flackerten. Die Frau drückte Kays Hand, flüsterte ein „Danke“ und eilte davon. Kurz darauf stieg sie in den Rettungswagen zu ihrem Mann.
Kay klappte ihr Notizbuch zu und steckte es in die Handtasche, zog ein Haarband von ihrem Handgelenk und band sich die schulterlangen blonden Haare zurück.
„So, du Dreckskerl“, murmelte sie vor sich hin. „Dann sehen wir uns mal an, was du ihr angetan hast.“
Kay klemmte ihre Tasche unter den Arm und nahm das Formular entgegen, das der uniformierte Beamte ihr auf einem Klemmbrett reichte, damit sie sich eintragen konnte. Danach zog sie Überschuhe und einen Overall an, die ihr ein Mitarbeiter der Spurensicherung gegeben hatte. Sie schob sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und zog die Kapuze über den Kopf.
„Durch den Korridor, dann links“, sagte der Beamte und deutete in die Richtung. „Die Tür ganz am Ende.“
Sie bedankte sich und zog Nitrilhandschuhe an, bevor sie die Plastikplane betrat, die auf dem Boden ausgelegt worden war, um eine Kontamination des Tatortes zu vermeiden. Mit raschelnden und dumpf hallenden Schritten durchquerte sie den Gang.
Obwohl Stimmen durch die offene Tür am Ende des Korridors zu hören waren, hatte das Gebäude etwas Gespenstisches, sodass ihr plötzlich ein Schauer über den Rücken lief. Von außen wirkte es wie die meisten verlassenen Gebäude auf dem ehemaligen Industriegelände. Einst der Inbegriff eines modernen Geschäftskomplexes, wirkte die heruntergekommene, verwitterte Fassade überholt und düster. Kay wandte den Blick von den veralteten Sicherheitshinweisen ab und versuchte nicht an die Experimente zu denken, die hier durchgeführt worden waren.
Sie erreichte eine Doppeltür, die von einem Keil offen gehalten wurde, damit die Ermittler leichter ein und aus gehen konnten. Von der Schwelle aus ließ sie den Blick durch den Raum schweifen. Er war von oben bis unten mit schmutzigen Kacheln ausgekleidet und wirkte wie ein Gefängnis. Von der Doppeltür abgesehen, gab es keine weiteren Ein- oder Ausgänge. Über den Waschbecken waren Wasserrohre entfernt worden, abgeklebte Anschlüsse ragten aus der Wand. In der Luft hing ein kupferartiger Geruch, der sich mit dem unverwechselbaren Gestank von Urin und Fäkalien vermischte, sodass Kay instinktiv den Atem anhielt.
Auf einer weiteren Plastikplane standen zwei Flutlichter und beleuchteten den Schlund eines Abflusses, der sich mitten im Raum befand. Daneben hockte der Rechtsmediziner Lucas Anderson mit zwei Kollegen. Sie untersuchten den Tatort, während er Anweisungen gab. Währenddessen ging eine Kollegin von der Spurensicherung durch den Raum und fotografierte alles, grelle Lichtblitze zuckten dabei über die Wände. Sie schritt zu einer Seite des Abflusses und entfernte sich ein Stück von Lucas und seinem Team. Als die Kriminaltechnikerin Kay entdeckte, winkte sie sie herüber. „Komm ruhig rein“, forderte sie Kay auf.
Lucas drehte sich um. „Morgen, DS Hunter.“
„Hallo, Lucas“, grüßte sie und nickte der Kriminaltechnikerin zu. „Morgen, Harriet.“
Kay umrundete Lucas’ Arbeitsbereich und trat zu ihm. Sie hielt sich mit Fragen zurück, da sie wusste, dass es noch zu früh für irgendwelche Erkenntnisse war. Lucas und Harriet würden ohnehin keine Vermutungen anstellen, bevor sie mehr Informationen hatten.
Ihr Blick fiel auf eine Leiter, um deren vierte Sprosse ein Seil gewickelt war, das straff gespannt in der Dunkelheit verschwand. An der oberen Sprosse hing ein kurzer Strick, an einem Knoten klebten Blutspritzer.
Lucas beendete das Gespräch mit seinen Assistenten und richtete sich auf. „Wir werden noch eine Weile hier zu tun haben“, sagte er. „Sie wurde mit dem Seil an der Leiter erdrosselt. Ihre Hände waren zu irgendeinem Zeitpunkt an der dritten Sprosse befestigt. Bis kurz vor ihrem Tod konnte sie die Füße auf den darunterliegenden Sprossen abstellen.“
Kay runzelte die Stirn. „Kurz bevor sie starb?“
Lucas nickte und zeigte auf die Gegenstände, die neben der Öffnung aufgereiht waren. „Der Täter scheint das Ende bewusst hinausgezögert zu haben, um ihre Qualen zu verlängern“, erklärte er mit erzürntem Blick. „Er hat einen Plastikschlauch zuerst in eine Flasche Motoröl und dann in den Abfluss gehängt. Dadurch konnte das Öl auf die Sprossen tropfen.“
„Also ist sie abgerutscht?“, fragte Kay und trat vor.
„Ja, letzten Endes schon“, bestätigte Harriet. „Er hat ihr die Schlinge um den Hals gelegt, ihre Hände vor der Brust zusammengebunden und das Öl den Rest erledigen lassen.“
Kay beugte sich vor. „Ist das … Ist da etwa eine Kamera befestigt?“
„Allerdings.“ Harriet ging in die Hocke und winkte sie heran. „Hat Ähnlichkeit mit einer Actioncam, wie Mountainbiker sie verwenden. Aus leichtem Material.“
„Er hat sie also gefilmt?“
Harriet nickte. „Da kein Aufnahmelicht leuchtet, gehe ich davon aus, dass die Kamera mit einem Fernauslöser bedient wurde. Ich werde das Technikteam so schnell wie möglich damit betrauen.“
„Und wie hat er sie beobachtet? Über einen Computer? Er hatte ja offensichtlich nicht vor, die Kamera zu holen.“
„Vielleicht hat er auch eine Handy-App verwendet.“
Kay seufzte, verschränkte die Hände hinter dem Rücken und verlagerte ihr Gewicht nach vorn, um in die Öffnung zu blicken. Der blasse Nacken des Mädchens war in einem unnatürlichen Winkel abgeknickt, dichtes rotbraunes Haar fiel in ihr Gesicht.
Kay bekämpfte den Drang, ihren Kragen zu lockern. „Wie lange hat es gedauert?“
„Wissen wir noch nicht, wir geben Ihnen aber Bescheid“, sagte Lucas. „Vielleicht können sich die Eltern erinnern, wann ihnen der Aufenthaltsort mitgeteilt wurde und wie lange sie gebraucht haben, um herzukommen. Das würde für eine erste Einschätzung genügen.“
„Ich werde sie fragen.“
Als hektische Schritte näher kamen, drehten sich alle um, und Lucas runzelte missbilligend die Stirn. „Wer immer das ist, läuft hoffentlich über die verdammte Plane“, brummelte er.
Barnes tauchte in einem verdrehten Schutzanzug auf, den er eilig übergeworfen hatte. Er hielt mit behandschuhten Fingern sein Handy in die Höhe. „Das Krankenhaus hat gerade angerufen, Sarge. Tony Richards ist bei der Ankunft verstorben.“
Kay eilte mit energischen Schritten über den Parkplatz zum Hintereingang des Reviers, während Barnes seinen Ausweis durch das Lesegerät an der Wand zog und ihr die Tür aufhielt. Gemeinsam stiegen sie die Treppe hinauf und durchquerten den mit Teppichfliesen ausgelegten Flur zu ihrem Großraumbüro.
Die Atmosphäre war gespannt, während sich das Team um ihren Schreibtisch versammelte, getrieben von einem Gefühl der Dringlichkeit.
Detective Inspector Devon Sharp kam zügig auf sie zu. Er war fünf Jahre älter als sie und seine stramme Haltung zeugte von seiner Ausbildung beim Militär. Kay schätzte seine gründliche und pragmatische Arbeitsweise, seit sie bei der städtischen Polizei angefangen hatte.
„In welchen Raum gehen wir?“, fragte Kay.
„Invicta“, erwiderte er knapp. „Aber zuerst muss ich Sie in meinem Büro sprechen.“
Kay gab Barnes mit einer Handbewegung zu verstehen, nicht auf sie zu warten, und folgte Sharp zu seinem kleinen Büro am Ende des Großraumbüros. Auf dem Weg dorthin fielen ihr die Papierstapel mit den laufenden Fällen auf den Schreibtischen der Ermittler auf. Vor Sharps Büro führten zwei ältere DCs eine hitzige Diskussion über das letzte Fußballspiel, Sharp warf ihnen einen scharfen Blick zu und sie verzogen sich.
Kay schloss die Tür und setzte sich auf den Stuhl gegenüber dem Schreibtisch. Sharp nahm mit verschränkten Armen Platz und betrachtete sie. „Sie haben gute Arbeit am Tatort geleistet“, begann er. „Sind Lucas und Harriet immer noch da?“
Kay nickte. „Ja, es wird wohl länger dauern.“ Sie berichtete von den Ereignissen, und dass sie den Tatort an Harriet übergeben hatte.
„Harriet ist eine ausgezeichnete Forensikerin. Wie geht es den Eltern?“
„Tony Richards ist während der Befragung zusammengebrochen. Wir haben sofort einen Rettungswagen gerufen und ihn erfolgreich reanimiert. Seine Frau Yvonne ist mit ihm ins Krankenhaus gefahren. Während ich mit Lucas und Harriet am Fundort von Melanies Leiche war, hat DC Barnes erfahren, dass Mr Richards bei der Ankunft verstorben ist.“
„Was für ein Schlamassel“, knurrte Sharp und fuhr sich mit der Hand durch sein kurzes braunes Haar. „Wie geht es Yvonne Richards?“
„Sie bleibt zur Beobachtung im Krankenhaus. Die Opferschutzbeauftragte ist vor einer halben Stunde dort eingetroffen. Barnes hat ihr seine Kontaktdaten gegeben, damit sie sich meldet, wenn es Neuigkeiten gibt.“
„Okay, halten Sie mich auf dem Laufenden. Wir werden Mrs Richards noch mal befragen müssen. Wann, entscheiden wir spontan.“
„Wer ist sonst noch im Team?“
Sharp lehnte sich zurück. „Sie, Barnes und Carys Miles. Auch wenn sie mit solchen Fällen keine Erfahrung hat, legt sie sich ins Zeug. Ich halte sie für eine Bereicherung.“
„Das sehe ich genauso.“
„Wir bekommen außerdem zwei Uniformierte, die uns bei der Beweismittelführung und der allgemeinen Administration unterstützen.“
„Gut.“
Wenn einige Kollegen den Papierkram erledigten, wurden die Detectives entlastet und konnten sich den wichtigeren Aufgaben zuwenden.
„Es gibt noch etwas“, sagte Sharp mit genervtem Blick.
Kay schaute ihn fragend an. „Und das wäre, Chef?“
„Detective Chief Inspector Angus Larch wird diesen Fall genau überwachen und unter die Lupe nehmen. Das kommt von ganz oben. Tut mir leid.“ Er deutete auf die Papiere auf seinem Schreibtisch. „Sie gehen wohl davon aus, dass die Medien sich auf den Fall stürzen, deshalb soll er von Anfang an ein Auge darauf haben.“
Sie fluchte leise, woraufhin Sharp eine Augenbraue hob. „Ist das ein Problem, Hunter?“
„Nein, Chef, ganz und gar nicht.“
Sein Mund zuckte. „Dann legen Sie los.“
Kay kehrte zu ihrem Schreibtisch zurück. Sie schnappte sich ihr Notizbuch, eine Flasche Wasser und einen zusätzlichen Stift und machte sich auf den Weg zum Besprechungsraum, der gerade in eine Soko-Zentrale umfunktioniert wurde. Die Besprechungsräume waren vor einigen Jahren modernisiert worden, um den Anforderungen bei umfangreichen Ermittlungen gerecht zu werden.
Ian Barnes und Carys Miles hatten bereits zwei Schreibtische zusammengeschoben, während der junge Constable Gavin Piper die Computer an das Stromnetz anschloss, um Zugriff auf HOLMES zu erhalten – der Fahndungsdatenbank des Innenministeriums.
Carys war vor sechs Monaten zum Team gestoßen, nachdem sie von Thames Valley hierher gewechselt hatte; sie schien sich gut eingelebt zu haben. Sie war Ende zwanzig, hatte dunkelbraunes Haar, das ihr herzförmiges Gesicht umrahmte, und grüne Augen, die selbst die hartgesottensten Typen durchbohren konnten. Kay hatte den Eindruck, dass eine vielversprechende Karriere vor ihr lag.
Mit Piper hatte sie bisher noch nicht zusammengearbeitet, Barnes jedoch schon. Sie wusste, dass der junge Constable es kaum erwarten konnte, seine Prüfung zu bestehen und als Detective zu arbeiten. Die blonden Strähnen in seinem hellbraunen Haar deuteten auf einen naturverbundenen Typen hin, der Kay als verlässliche Stütze in brenzligen Situationen erschien. Der breitschultrige Mann hatte von Anfang an Aufmerksamkeit auf dem geschäftigen Revier erregt, schien sich darüber aber gar nicht bewusst zu sein.
Kay hielt in der Tür inne und fühlte sich einen Moment lang von dem Gedanken erschlagen, dass sie es Yvonne Richards schuldig war, herauszufinden, wer das Leben ihrer Tochter auf dem Gewissen hatte. Sie wusste, dass die nächsten Stunden entscheidend sein würden und DCI Larch das Team drängen würde, schnellstmöglich Ergebnisse zu erzielen.
Als Sharp sich näherte, wich sie zur Seite und ließ ihn passieren. „Wie läuft’s?“, erkundigte er sich.
„Ich schätze, wir sind bereit.“
Sie legte ihre Sachen auf den Schreibtisch bei der Tür und ging zum Whiteboard, das PC Debbie West gerade von der Wand abrückte. „Morgen, Sarge“, grüßte sie, als Kay herankam.
„Morgen. Und nennen Sie mich bitte Kay. Haben Sie alles Nötige?“
„Ja. Die Verwaltung hat vor einer halben Stunde eine Ladung Büromaterialien hochgebracht“, erzählte Debbie und strich sich die Haare aus dem Gesicht. „Ich hab der IT Feuer unterm Hintern gemacht, damit wir einen zusätzlichen Drucker bekommen.“
„Hervorragend.“
Bunte Textmarker und ein Radierschwamm lagen unterhalb der Tafel bereit. Kay nahm den Schwamm und warf ihn auf die Arbeitsfläche, die sich über die gesamte Länge des Raumes erstreckte. Hier würde erst etwas weggewischt werden, wenn der Fall abgeschlossen war. Diese Regel gehörte zu einer von vielen, die Sharp ihr eingebläut hatte.
Als DCI Larch den Raum betrat, hoffte Kay einen neutralen Gesichtsausdruck zu wahren. Sie begegnete ihm zum ersten Mal, seit die Interne Dienstaufsicht das von ihm eingeleitete Verfahren gegen sie eingestellt hatte, und sie war sich nicht sicher, wie er sich verhalten würde.
Mit verkrampfter Kieferpartie ließ er den Blick über sie hinwegschweifen. Dann wandte er sich ab und musterte das Team, das sich vor dem Whiteboard versammelt hatte. Er steuerte einen Tisch bei der Tür an, setzte sich darauf, kreuzte die Fußknöchel und verschränkte die Arme vor der Brust.
Kay seufzte und entspannte ihre geballten Fäuste. Obwohl die Ermittlung vor vier Wochen zu den Akten gelegt worden war, schmerzte es immer noch, dass er ihr misstraute. Es tat genauso weh wie die Gerüchte, die in der Zwischenzeit die Runde gemacht hatten. Natürlich gab es Kollegen, die ihre missliche Lage ausnutzten und die Messer wetzten. So unangenehm es auch war, wusste sie jetzt wenigstens, wem sie vertrauen konnte und wer nicht an ihre Unschuld glaubte.
„Konzentrier dich, Kay“, murmelte sie vor sich hin.
***
„Laut Tony Richards hat der Entführer gedroht, Melanie zu verletzen, wenn die Polizei eingeschaltet wird“, berichtete Barnes. „Beim nächsten Anruf hat Melanie geschrien und Tony Richards zufolge klang sie nicht verängstigt, sondern eher als würde er ihr wehtun.“
„Lucas hat am Tatort festgestellt, dass der kleine Finger der rechten Hand abgetrennt wurde“, sagte Kay. „Er wurde offenbar mit einem Messer amputiert. Nach der Obduktion wissen wir mehr.“
Eine unbehagliche Stille legte sich über den Raum.
„Dreckskerl“, murmelte einer der uniformierten Beamten.
„Kann man wohl sagen“, bemerkte Sharp. „Irgendwelche spontanen Eingebungen?“
„In der näheren Umgebung wurden keine Fälle dieser Art gemeldet“, verkündete Carys. „Wir warten noch auf Rückmeldungen wegen nationaler Fälle.“
„Vielleicht gibt es eine neue Gang, die sich etablieren will“, schlug Barnes vor.
Sharp trat ans Whiteboard und sprach, während er schrieb. „Da Tony Richards ebenfalls gestorben ist, wird sich der Täter sicher bedeckt halten.“
„Zwanzigtausend Pfund sind aber keine besonders hohe Lösegeldsumme, Chef“, gab Kay zu bedenken. Obwohl sich einige Kollegen zu ihr umdrehten, ließ sie das Whiteboard nicht aus den Augen.
„Fahren Sie fort“, forderte Sharp sie auf.
„Yvonne Richards besitzt ein gut gehendes Geschäft. Außerdem haben sie ein Haus und waren in der Lage, das Geld relativ schnell zu beschaffen, ohne Hilfe in Anspruch zu nehmen. Wenn der Entführer während der Planungsphase die Familie beobachtet hat, wäre ihm doch aufgefallen, dass sie wohlhabend sind und er hätte die Summe höher angesetzt.“
Sharp nickte, notierte den Hinweis auf dem Whiteboard und versah ihn mit einem Fragezeichen. „Gutes Argument. Weitere Vorschläge?“
Erneut wurde es still.
„Na gut“, fuhr er fort. „Wir stehen noch am Anfang; im Laufe der Zeit wird sich mehr ergeben. Wir werden den momentanen Hinweisen nachgehen und zwei separaten Ermittlungssträngen folgen, bis wir einen davon ausschließen können. DS Hunter, Sie folgen der nicht monetären Spur und finden heraus, ob es persönliche Motive gibt. Dazu zählen unbezahlte Schulden, Drohungen gegen die Familie sowie Neid und Groll in Bezug auf das Geschäft. Miles, Sie nehmen die finanziellen Beweggründe unter die Lupe und halten Hunter über alle Entwicklungen auf dem Laufenden. Wir sehen uns täglich zur Dienstbesprechung um acht und achtzehn Uhr. Noch Fragen?“
Stille legte sich über den Raum, bis Sharp auf seine Uhr schaute und sich an DCI Larch wandte. „Haben Sie etwas hinzuzufügen?“
„Danke, DI Sharp“, dröhnte Larch und trat nach vorn. „Jeder Mord ist eine Tragödie. Wenn jedoch das Leben eines jungen Mädchens gefordert wird und in dem Zuge auch noch der Vater ums Leben kommt … Das ist wahrscheinlich der grauenvollste Fall, der mir je untergekommen ist.“ An Sharp gewandt sagte Larch: „Ich werde mich ans Telefon hängen und dafür sorgen, dass Ihnen mehr Ressourcen zur Verfügung gestellt werden.“
„Danke.“ Sharp warf den Whiteboard-Stift auf den Schreibtisch neben sich. „In Ordnung, Leute. Gebt euren Familien Bescheid, dass ihr euch eine Zeit lang rarmachen müsst. Wir werden nicht um Überstunden herumkommen.“
Kay nippte an ihrem Kaffee und warf einen Blick auf die Luftaufnahme an der Wand, in deren Mitte sich das Industriegebiet befand. Dann wandte sie sich dem Team zu und fragte: „Was habt ihr über das Gebäude herausgefunden, in dem Melanies Leiche entdeckt wurde?“
Carys blätterte durch die Papiere auf ihrem Tisch, bevor sie antwortete. „Bis vor zwei Jahren befand sich dort eine biowissenschaftliche Forschungseinrichtung. Sie führten Tierversuche durch, um die Toxizität neuer Medikamente zu bewerten, prüften aber auch Kosmetika wie hochwertige Make-up-Produkte, Shampoos und Ähnliches.“
„Und das Gebäude steht seitdem leer?“, fragte Kay.
Carys nickte und hielt ein Blatt Papier hoch. „Sie haben den Betrieb ein Jahr vor der Pressemitteilung der deutschen Zentrale eingestellt, in der sie bekannt gaben, dass sie ein Insolvenzverfahren in Eigenverwaltung beantragen würden. Laut den im Internet veröffentlichten Berichten finanzierte der Kosmetikbereich den biowissenschaftlichen Teil zur Hälfte. Nach der globalen Finanzkrise hat das Unternehmen sich nicht mehr erholt, da die Kunden keine hochwertigen Produkte mehr kauften und auf günstigere Alternativen zurückgriffen.“ Sie warf das Blatt auf den Tisch. „Das Gebäude wurde nie wieder vermietet.“
„Gibt es einen Wachdienst?“
„Ich habe mit der Vermietungsagentur des Industrieparks gesprochen. Nachdem die letzte Firma ausgezogen war, hat der Vermieter die Patrouillen eingestellt. Da er die Kosten auf niemanden umlegen konnte, wurde es zu teuer.“