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Weiße Weihnacht und eine zerbrechliche Liebe in New York Eigentlich liebt Claire weiße Weihnachten. Und eigentlich sollte sie jetzt mit ihrer Familie den Weihnachtsabend genießen. Eigentlich. Doch Claire kann nicht nach Hause, denn sie hat sich mit ihrer Mutter gestritten. Schon wieder. Deshalb sitzt die 22-Jährige zur besinnlichsten Zeit des Jahres alleine in einem New Yorker Hauseingang und friert sich die Zehen ab. Doch dann kommt zufällig Jamie vorbei und bietet ihr ein Zimmer in seiner Wohnung an. Jamie, ihr früherer Mitschüler, der schon in der Schule immer zu den coolen Kids gehört hatte. Widerwillig nimmt Claire sein Angebot an und wird seine neue Mitbewohnerin. Obwohl sie es nicht will, fühlt sie sich zu ihm hingezogen. Dabei glaubt sie schon lange nicht mehr an die Liebe. Und außerdem ist da noch Jamies Freundin, mit der Claire ein Geheimnis teilt …
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Seitenzahl: 464
Die AutorinNina Hirschlehner, geboren 1995 in Steyr (Oberösterreich), erhielt 2014 ihren Abschluss im Bereich Design und Produktinnovation. Neben dem Schreiben ist das Reisen eines ihrer größten Hobbys. Sie liebt es, neue Orte zu erkunden und Inspirationen für ihre Geschichten zu sammeln. 2014 erschien ihr erster Roman, seitdem gibt es für sie nichts Schöneres, als mit ihren Büchern Leser zu begeistern.
Das Buch
Weiße Weihnacht und eine zerbrechliche Liebe in New YorkEigentlich liebt Claire weiße Weihnachten. Und eigentlich sollte sie jetzt mit ihrer Familie den Weihnachtsabend genießen. Eigentlich. Doch Claire kann nicht nach Hause, denn sie hat sich mit ihrer Mutter gestritten. Schon wieder. Deshalb sitzt die 22-Jährige zur besinnlichsten Zeit des Jahres alleine in einem New Yorker Hauseingang und friert sich die Zehen ab. Doch dann kommt zufällig Jamie vorbei und bietet ihr ein Zimmer in seiner Wohnung an. Jamie, ihr früherer Mitschüler, der schon in der Schule immer zu den coolen Kids gehört hatte. Widerwillig nimmt Claire sein Angebot an und wird seine neue Mitbewohnerin. Obwohl sie es nicht will, fühlt sie sich zu ihm hingezogen. Dabei glaubt sie schon lange nicht mehr an die Liebe. Und außerdem ist da noch Jamies Freundin, mit der Claire ein Geheimnis teilt …
Nina Hirschlehner
Lass uns Träume sammeln
Roman
Forever by Ullsteinforever.ullstein.de
Originalausgabe bei Forever Forever ist ein Digitalverlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin November 2017 (1) © Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2017 Umschlaggestaltung: zero-media.net, München Titelabbildung: © FinePic® Autorenfoto: © privat ISBN 978-3-95818-222-6 Hinweis zu Urheberrechten Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben. In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Ullstein Buchverlage GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.
Mein Körper zitterte unkontrolliert. Die Kälte drang tief bis in meine Knochen vor, und sie schmerzte. Ich hatte das Gefühl, meine Fingerspitzen würden bald abfallen. Das war der kälteste Winter, den wir seit langem gehabt hatten. Seit Jahren wünschte ich mir weiße Weihnachten, und nun, wo es endlich so weit war, verfluchte ich jede Minute von diesem Heiligen Abend.
Die Versuchung, zurück nach Hause zu gehen und meine Mutter um Verzeihung zu bitten, wurde immer verlockender. Aber ich konnte nicht zurück. Nicht nur, weil sie diejenige gewesen war, die mich auf die Straße gesetzt hatte. Ich hielt es in diesem Haus einfach nicht mehr aus. Immer dieser Streit um nichts. Ich konnte mich nicht einmal mehr daran erinnern, wann wir das letzte Mal nicht gestritten hatten. Bestimmt war das schon ein paar Monate her.
Erschöpft ließ ich mich auf die Treppe vor einem Haus sinken. Hier war ich zumindest ein wenig geschützt vor dem ständig fallenden Schnee.
In meiner Tasche kramte ich nach der Thermoskanne, die ich vor meinem Aufbruch noch eingepackt hatte. Ursprünglich war darin Tee gewesen, mittlerweile hatte ich ihn durch etwas weitaus Stärkeres ersetzt.
Ich nahm einen kräftigen Schluck, in der Hoffnung, der Alkohol würde mich etwas aufwärmen. Aber natürlich tat er das nicht. Die Kanne war schon fast leer, und ich fror noch immer schrecklich.
Ich wollte nicht hier draußen sein. Ich wollte in einem wohlig warmen Wohnzimmer sitzen und Heiligabend mit meiner Familie verbringen, so wie es vermutlich alle anderen Menschen in New York gerade machten. Ob ich einfach wie Maria und Josef an den Türen klingeln und hoffen sollte, dass mich jemand hineinließ? Nein, ich wollte meinen Platz im Trockenen nicht riskieren. Am Ende würden mich die Hausbewohner noch von ihrer Treppe verscheuchen, und ich müsste zurück in den Schnee. Das wollte ich nicht. Da war es immer noch besser, alleine hier draußen zu frieren.
»Claire?«
Ich blinzelte gegen das Licht der Straßenlaternen, um etwas zu erkennen. Die Stimme kam mir nicht bekannt vor. Und auch nicht das Gesicht, das dazugehörte. Endlich konnte ich es ausmachen: Ich sah dichtes, dunkles Haar und Augen, die so hell strahlten wie die Scheinwerfer des Taxis, das mich vorhin um ein Haar überrollt hatte.
»Wer bist du?«, wollte ich wissen, um sicherzugehen, dass ich mir diese Gestalt nicht bloß einbildete. Vielleicht verwandelte sich mein Körper gerade in Eis, und Gott – oder wer auch immer dafür verantwortlich war – schickte mir einen Engel vorbei, um mir das mitzuteilen.
»Ich bin Jamie, erinnerst du dich? Wir sind auf die gleiche Schule gegangen.« Nein, das war bestimmt kein Engel, dazu war seine Stimme zu rau. Und zu sexy. »Ich habe dich auf der letzten Schulfeier gesehen. Weißt du noch? Du hast die Lehrer beschimpft und wurdest rausgeschmissen.«
Nun, ich hatte das Ganze etwas anders in Erinnerung. Aber es war auch schon einige Zeit her.
»Du musst mich verwechseln.« Ich schlang die Arme fester um meine Tasche und wandte den Blick ab, in der Hoffnung, er würde den Hinweis verstehen und sich vom Acker machen. Ich wollte im Moment niemanden sehen – außer, er steckte mir etwas Kleingeld zu. Jamie machte nicht den Eindruck, als hätte er das vor.
Ich spürte seinen Blick auf mir brennen. Zumindest wurde mir dadurch etwas wärmer. Um nicht zu sagen heiß.
Ärger machte sich in meinem Bauch breit. Warum konnte er nicht einfach verschwinden? Konnte er nicht verstehen, dass es mir unangenehm war, so gesehen zu werden? Den mitleidigen Ausdruck auf seinem Gesicht konnte er sich jedenfalls sparen. Ich wusste selbst ganz gut, wie beschissen meine Situation war. Er musste mich nicht auch noch darauf hinweisen.
»Was … machst du denn hier draußen?«, wollte er wissen, als ich nichts mehr hinzufügte.
Ich warf ihm einen kurzen, abschätzigen Blick zu. »Und du?«
»Mir war langweilig, und da dachte ich, ich mache einen schönen Spaziergang.«
»Im Schnee. Um diese Uhrzeit. Am Weihnachtsabend.«
Jamie grinste. Was war nur los mit ihm? Wie konnte man bei diesem Wetter so gutgelaunt sein? »Ich mag Schnee. Du nicht?«
Sah ich so aus, als würde ich Schnee mögen? Ich hasste ihn. Die Wolken versperrten den Blick auf den Himmel, und es war kein Stern zu sehen – ganz zu schweigen vom Mond. Sogar der hatte mich heute Nacht im Stich gelassen.
»Okay …« Jamie wirkte etwas unschlüssig, und ich betete, er würde sich nun endlich verabschieden und seinen schönen Spaziergang fortsetzen. »Willst du nicht mit mir kommen? Mein Appartement ist nicht weit von hier.«
Ich schüttelte den Kopf und wandte den Blick ab. »Gute Nacht, Jamie.«
»Komm schon, Claire. Auch wenn du es nicht zugeben willst: Du kennst mich. Du weißt, dass du nichts zu befürchten hast.«
»Gute Nacht, Jamie«, wiederholte ich nur und zog meine Tasche näher zu mir, um es mir bequem zu machen. Zumindest so bequem, wie es nur möglich war. Ich lehnte meinen Kopf gegen die kalte, harte Hauswand. So würde es schon irgendwie gehen. Ich musste nur darauf achten, weg zu sein, bevor die Bewohner des Hauses von meinem unerwünschten Besuch Wind bekamen.
Ich merkte, dass Jamie zögerte und mich immer noch etwas unschlüssig musterte, doch dann atmete er tief durch. »Na gut, wie du willst. Mein Angebot steht.« Er streckte mir eine kleine Karte entgegen, die ich erst prüfend begutachtete, bevor ich sie ihm abnahm. Es war eine Visitenkarte. Darauf standen seine Adresse, die Telefonnummer und E-Mail-Adresse. Ich besaß nicht einmal einen Computer, und ich hatte dementsprechend auch keine E-Mail-Adresse. Nicht, dass ich ihm schreiben wollte. Dann fiel mein Blick auf seinen Namen: Jamie Rushton. Und mit einem Mal flackerte ein Bild in meinem Kopf auf. Ich erinnerte mich an ihn.
»Für den Fall, dass du es dir anders überlegst.«
Der neue Morgen begrüßte mich mit den heftigsten Kopfschmerzen aller Zeiten. Ich konnte kaum die Augen öffnen, um herauszufinden, ob meine Tasche noch sicher neben mir lag. Ich hatte eindeutig zu viel getrunken, das war ein grober Fehler gewesen. Es war schon einfach, schlafende Leute auszurauben. Aber schlafende Betrunkene zu bestehlen, war schon fast lächerlich leicht. In diesem Zustand bettelte man doch schon fast darum, beklaut zu werden. Leider hatte ich mir das im Vorhinein nicht überlegt. Das Einzige, woran ich gedacht hatte, war, alles zu vergessen, was gestern passiert war. Aber auch das schien mir nicht gelungen zu sein … Zumindest nicht komplett.
Mein Blick wanderte über die Zimmerdecke, die ich nicht erwartet hatte. Ich hatte erwartet, dicke, dunkle Wolken über mir zu sehen, wenn ich aufwachte. Und ich hatte erwartet, halberfroren zu sein. Aber mir war wohlig warm.
Erschrocken fuhr ich hoch und sah mich um. Ich lag auf einer geradezu unverschämt weichen Couch in einem Raum, der gähnend leer war. Bis auf ihn.
»Guten Morgen.« Jamie grinste mich über die Schulter hinweg an. Er stand in der Küche vor dem offenen Kühlschrank, der im Gegensatz zum Rest der Wohnung zum Bersten voll war. Ganz automatisch begann mein Magen zu knurren, und ich verfluchte ihn. Genauso wie Jamie. Was hatte er getan? Wie war ich hierhergekommen? »Hast du gut geschlafen?«
»Was ist passiert?«, wollte ich wissen. Ungeduldig strampelte ich die Decke von meinen Beinen und ließ meinen Blick durch die Wohnung wandern, auf der Suche nach meiner Handtasche. Sie lag neben mir auf dem Boden. »Wie bin ich hierhergekommen? Ich hatte dir doch gesagt, dass ich dich nicht begleiten will.«
»Ich weiß.« Jamie schloss den Kühlschrank und versperrte mir damit den Blick auf die frischen Lebensmittel darin. Das war gut, sie lenkten mich ohnehin nur vom Wesentlichen ab. »Aber du warst betrunken.«
»Ach, und das bedeutete, dass meine Meinung nicht zählt?« Verärgert verschränkte ich die Arme vor der Brust. Was glaubte er, wer er war?
»Nein. Das bedeutet, dass dein Urteilsvermögen beeinträchtigt war. Außerdem habe ich mal gehört, dass man mit Alkohol im Blut schneller erfriert.«
Genervt verdrehte ich die Augen. Wie auch immer. Ich griff nach meiner Tasche. »Ein Tipp für die Zukunft: Hör auf, Leute zu entführen. Das sieht die Polizei nicht so gerne.«
»Hey, wo willst du hin?«
Ich war schon fast zur Tür hinaus.
»Weg«, gab ich zurück. Auch wenn ich es nicht wollte, brachte seine Stimme mich doch dazu, noch einmal stehenzubleiben. Das schlechte Gewissen in mir siegte, denn immerhin hatte ich dank ihm die Nacht nicht auf der Straße verbringen müssen. Mit einem tiefen Seufzen drehte ich mich zu Jamie um, der mich seinerseits mit hochgezogenen Augenbrauen musterte.
»Hör zu, es war wirklich nett, mich hier schlafen zu lassen. Aber es war nicht nötig. Ich komme schon alleine klar.«
»Das bezweifle ich nicht.«
»Gut.« Ich zögerte einen Moment, da ich mir nicht sicher war, wie er das gemeint hatte. War das eben Sarkasmus gewesen? Normalerweise war das doch mein Ding. »Also dann.«
»Aber das bedeutet nicht, dass du nicht bleiben kannst.« Eigentlich … »Du musst mir nicht sagen, was gerade bei dir los ist. Wirklich. Aber ich habe ein leeres Gästezimmer, und es wäre schade, es nicht zu nutzen.«
Einen Moment lang betrachtete ich Jamie, bevor ich mich endlich dazu überwinden konnte, ihm den Rücken zuzuwenden. »Vielleicht findest du ja noch jemanden, der Interesse hat. Viel Glück dabei.«
Auch wenn ich es gerne wollte – ich konnte nicht hierbleiben. Ich konnte seine Hilfe nicht annehmen, ich musste mich um meinen Kram selbst kümmern. Und dazu gehörte es auch, endlich wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Als ich gestern aus der Wohnung meiner Mutter gestürmt war, war ich wütend gewesen. Ich hatte nicht viel nachgedacht, und das war dumm gewesen. Schrecklich dumm. Ich wusste doch eigentlich ganz genau, dass Weglaufen keine Option war, es löste keine Probleme. Mir blieb also nur eine einzige Möglichkeit: Ich musste zurück.
Letzte Worte waren so eine Sache. Besonders, wenn sie zum Abschied fielen. Ich konnte mich nicht erinnern, was das Letzte war, das ich zu Mom gesagt hatte, bevor ich aus der Wohnung gestürmt war. Dabei war ich mir gestern noch absolut sicher gewesen, nie mehr zurückzukehren. Es wäre also gut möglich gewesen, dass diese Worte die letzten gewesen wären, die ich jemals an meine Mutter gerichtet hatte. Und ich hatte sie vergessen.
Vermutlich war es so etwas wie »Du siehst mich nie mehr wieder!« gewesen. Also eine Lüge. Auch das noch.
Mein Herz schlug schmerzhaft fest, als ich das alte Wohnhaus betrat und die Treppen hoch in den vierten Stock lief. Alles in mir sträubte sich dagegen, diese Wohnung zu betreten, und das aus gutem Grund: Hier drin folgte ein Streit auf den anderen. Mein Magen begann schon zu schmerzen, wenn ich nur daran dachte, meiner Mutter gegenüberzutreten. Aber es musste sein.
»Mom, ich bin wieder da.« Ich lauschte in die Stille. Dass meine Schwester nicht zu Hause war, wusste ich ja. Sie war über die Feiertage zu unseren Großeltern nach Baltimore gefahren. Ich hatte nicht mit ihr kommen wollen. Aus irgendeinem Grund kam sie einfach besser mit Dads Tod klar als Mom oder ich. Etwa vier Jahre war es nun her, dass er nicht von seiner Arbeit nach Hause gekommen war. Wenn ich die Augen schloss, konnte ich ihn noch deutlich vor mir sehen. Ich wollte die Feiertage nicht mit seinen Eltern verbringen und so tun, als wäre alles in Ordnung. Und das nur, damit sie uns in ein paar Tagen wieder hierher zurückschickten. »Mom, wo bist du?«
Langsam machte ich mich auf den Weg ins Wohnzimmer, wo ich sie vermutete. Obwohl es bereits hell war, war die Lichterkette am Baum noch eingeschaltet. Es handelte sich dabei um einen kleinen Baum aus Plastik, den sie jedes Jahr wieder aus dem Keller hervorkramte. Meine Schwester und ich hassten dieses Ding.
Meine Mutter schlief auf der Couch. Am Boden um sie herum lagen ein paar Flaschen Eierlikör verstreut. In der Wohnung stank es so stark nach Rauch, dass meine Augen zu brennen begannen.
Mit angehaltenem Atem zog ich den Stecker der Lichterkette aus der Steckdose und wandte mich dann zu meiner Mutter um. Etwas hilflos betrachtete ich sie. Wenn ich sie weckte, würde der nächste Streit nicht lange auf sich warten lassen. Vielleicht war es doch keine so schlechte Idee gewesen, einfach abzuhauen. Mit einem Mal erschien mir die Vorstellung, vor unserem Dauerkonflikt wegzulaufen, gar nicht mehr so feige und perspektivlos. Ich wusste ja, dass es keinen Sinn hatte, mit ihr zu diskutieren, also warum sollte ich damit meine Zeit verschwenden?
In dem Buchladen, in dem ich arbeitete, verdiente ich zwar nicht viel, aber es würde schon irgendwie für eine Wohnung reichen, in der meine Schwester und ich leben konnten. Im Notfall müsste ich noch einen Zweitjob annehmen, aber alles war besser als das hier. In ein paar Wochen würde meine Schwester achtzehn werden, und schon bald war sie mit der Highschool fertig. Dann konnte sie ihr Leben selbst in die Hand nehmen und war nicht mehr von unserer Mutter abhängig.
»Mom, wach auf.« Vorsichtig rüttelte ich an ihrer Schulter. Egal, wie oft und intensiv wir beide auch stritten, ich konnte nicht gehen, ohne mich bei ihr zu verabschieden. Ich wollte nicht, dass sie sich Sorgen um mich machte. »Wach auf.«
Offensichtlich widerwillig blinzelte sie mir entgegen. Als ich merkte, dass sie sich aufrichtete, machte ich einen Schritt zurück.
»Wie spät ist es?«, wollte sie wissen.
Mein Blick wanderte zur Stereoanlage. »Kurz vor zehn.«
»Und da weckst du mich? Heute ist ein Feiertag, Claire.«
Wenn es darum ging, lange zu schlafen, war für sie jeder Tag ein Feiertag. Seit dem Tod unseres Vaters ging es mit ihr bergab. Sie hatte ihren Job verloren und verließ kaum noch das Haus.
»Ich muss mit dir reden.«
Meine Mutter musterte mich etwas verwirrt. »Warum bist du denn schon angezogen? Willst du wo hin?«
Hatte sie denn schon vergessen, dass ich die Nacht nicht zu Hause verbracht hatte? Oder war ihr einfach entgangen, dass ich die Tür laut hinter mir zugeknallt und die Flucht ergriffen hatte?
Ich atmete tief durch, auch wenn der Rauch in meiner Lunge kratzte. »Ja. Ich gehe, Mom. Ich ziehe aus, ich dachte, das solltest du wissen.«
Ich wartete ab und gab ihr Zeit, das Gesagte zu verdauen. Ihr Blick ging ins Leere, und ich hatte das Gefühl, sie würde nicht so recht begreifen, was ich eben gesagt hatte.
»Mom? Hast du mir zugehört?«
»Hab ich.« Ohne mich dabei anzusehen, erhob sie sich von der Couch. Sie schwankte ein wenig, und ich hatte Angst, sie würde gleich wieder umfallen und erneut einschlafen. »Das wird ja auch Zeit. Du bist zweiundzwanzig Jahre alt, Claire. Ich dachte schon, du würdest mir ewig auf der Tasche liegen.«
Auch wenn ich mir vorgenommen hatte, ihre Worte nicht mehr an mich heranzulassen, konnte ich nichts gegen den Schmerz tun, der sich in meiner Brust ausbreitete. Ich wollte mich noch davon abhalten, aber da war es bereits zu spät. Die Worte verließen meinen Mund, ohne dass ich etwas dagegen tun konnte.
»Auf der Tasche liegen? Machst du Witze? Wer von uns geht arbeiten? Wer von uns macht den Einkauf und kümmert sich um Rose? Das bin ich, nicht du!«
Ohne mir eine Antwort zu geben, wandte meine Mutter mir den Rücken zu und stapfte aus dem Wohnzimmer und in die Küche. Fassungslos sah ich ihr hinterher. Das musste ich mir nicht bieten lassen! Ich ließ meine Tasche auf den Boden fallen und lief ihr hinterher. Am Küchenfenster hatte sie bereits ihren üblichen Platz eingenommen und griff nach der Packung Zigaretten, die dort bereitlag.
»Mom. Verstehst du, was ich sage? Ich gehe. Von nun an musst du dich selbst um alles kümmern. Du musst dir einen Job suchen und dein Leben auf die Reihe bekommen.«
Desinteressiert pustete meine Mutter den Rauch durch die Küche, und ich hatte das Gefühl, meine Brust würde vor Wut zerspringen. Hörte sie mir denn gar nicht zu? Glaubte sie, ich machte Witze? Ich konnte diese Gleichgültigkeit nicht mehr ertragen. Am liebsten hätte ich sie bei den Schultern gepackt und so lange geschüttelt, bis ihr altes Ich wieder zum Vorschein kam! Doch ich wusste, dass das keinen Sinn hatte.
Ich musste fest blinzeln, um die Tränen zurückzuhalten, die leider nicht alle vom Zigarettenrauch stammten. Meine Hand zitterte, als ich den Haustürschlüssel aus meiner Hosentasche hervorzog. Mit voller Wucht schlug mein Herz gegen meine Rippen. Wenn ich das hier durchzog, dann gab es kein Zurück mehr. Dann war meine Entscheidung endgültig.
»Wie du willst«, sagte ich und legte meinen Schlüssel auf dem Fensterbrett neben ihrem Aschenbecher ab. »Hier, den brauche ich nicht mehr. Ich wünsche dir alles Gute.«
Nur langsam wandte ich ihr den Rücken zu und machte mich auf den Weg zur Wohnungstür, um meiner Mutter die Chance zu geben, es sich anders zu überlegen. Ich wusste, dass es töricht war, aber ich war bereit, es noch einmal mit ihr zu versuchen, sollte sie die Gelegenheit nutzen, um sich zu entschuldigen. Oder zumindest etwas zu sagen, ganz egal, was. Vor der Tür verharrte ich noch eine Sekunde, doch nichts kam.
Mit fest zusammengebissenen Zähnen trat ich durch die Tür und schloss sie leise hinter mir, um die Nachbarn nicht zu wecken. Immer noch brannten meine Augen, diesmal war ich mir sicher, dass es nicht am Rauch lag. Wie konnte sie nur so sein? Wie konnte ihr alles so egal sein? Sie war doch unsere Mutter!
Ich hatte kaum drei Stufen hinter mich gebracht, als ich erschrocken in meiner Bewegung einfror. Meine Tasche. Ich hatte meine Tasche in der Wohnung vergessen! Wie hatte mir das passieren können?
Ich fuhr herum und starrte auf die verschlossene Tür vor mir. Alles, was ich besaß, war in dieser Tasche: mein Handy, mein Geld, alles! Und den Schlüssel hatte ich vor nicht einmal einer Minute zurückgegeben.
Langsam machte sich Panik in meiner Brust breit. Was sollte ich nur tun? Ich konnte nicht zurück! Ich konnte nicht an dieser Tür klingeln und meine Mutter darum bitten, mich noch einmal kurz in die Wohnung zu lassen. Mal ganz abgesehen davon, dass sie ohnehin nicht aufmachen würde. Am Ende nahm sie auch noch mein erarbeitetes Geld, um ihr Weinregal neu aufzufüllen. Allerdings war das im Moment meine geringste Sorge.
Ich dachte an gestern Nacht und die Kälte, die so tief in meinem Körper geschmerzt hatte. Das konnte ich nicht noch einmal durchstehen. Jamie würde mich bestimmt kein zweites Mal aus dem Schlamassel ziehen. Ich musste mich um mich selbst kümmern.
Auch wenn sich alles in mir dagegen sträubte, hob ich die Hand und klopfte gegen die fest verschlossene Tür.
»Mom!«, rief ich dabei. »Ich bin es. Ich weiß, der Moment ist beschissen, aber bitte mach die Tür auf. Ich hab meine Tasche vergessen. Ohne die muss ich heute Nacht auf der Straße übernachten.«
Vorsichtig legte ich meinen Kopf gegen die Tür, um zu lauschen. Es war absolut still in der Wohnung. Entweder Mom hatte mich nicht gehört, oder sie ignorierte mich. Vermutlich eher Letzteres.
»Mom, bitte.«
Leise Schritte drangen zu mir vor, und mein Herzschlag beschleunigte sich. Sie befand sich im Wohnzimmer, sie musste mich gehört haben! Vermutlich holte sie gerade die Tasche, denn ihre Schritte wurden lauter. Sie näherten sich der Tür.
Ich konnte meine Erleichterung kaum in Worte fassen. Auch wenn wir oft stritten, waren wir doch immer noch eine Familie. Es war also nicht zu spät, um die Beziehung zu kitten. Etwas Abstand würde uns beiden bestimmt guttun, und dann –
Mein Herz setzte einen Schlag aus. Das Geräusch, das ich vernahm, war nicht die Türklinke. Es war ein Klappern. Das Klappern der Türkette, die sich vorschob. Sekunden später hörte ich erneut Schritte, die sich langsam in der Wohnung verloren.
Ich konnte es nicht fassen. Sie hatte mich ausgesperrt. Ich hatte sie angefleht, mir zu helfen, und sie hatte mich einfach ausgeschlossen!
»Mom!« Ich klopfte fester gegen die Tür, verzweifelt. Ich spürte bereits die Kälte, die Angst vor dem, was auf mich wartete. »Mom, das kannst du mir nicht antun! Mach die Tür auf!«
Ich biss fest die Zähne aufeinander, um dem Brennen in meinem Hals und meinen Augen nicht nachzugeben. Am liebsten wäre ich an Ort und Stelle zusammengebrochen, die Tränen waren bereit zu fließen, doch ich musste mich zusammenreißen. Irgendwie würde ich schon einen Weg finden, zu überleben. Das tat ich doch immer. Hätte ich nach Dads Tod einfach aufgegeben so wie Mom, wer wusste, wo wir dann stehen würden? Wir hätten kein Geld gehabt, um Essen, geschweige denn die Wohnung zu bezahlen.
Wütend wischte ich mir die ersten Tränen aus dem Gesicht, die sich doch noch ihren Weg über meine Wangen gebahnt hatten.
Okay, ganz ruhig, versuchte ich, mich selbst zu besänftigen. Es war noch nicht zu spät. In ein paar Tagen kam Rosalie aus Baltimore zurück. Sie hatte einen Schlüssel für Moms Wohnung. Ich musste es nur schaffen, mich ein paar Tage durchzuschlagen, dann würde alles gut werden. Dann würde ich Zugriff auf meine Bankdaten haben und alles, was ich brauchte, um eine Wohnung oder zumindest ein Hotelzimmer zu mieten. Aber wie sollte ich bis dahin an Geld gelangen? Der Buchladen, in dem ich arbeitete, hatte über die Feiertage geschlossen. Und ohne einen Ausweis würde mich doch niemand einstellen …
Ich schloss die Augen. Konnte dieser Tag denn noch irgendwie schlimmer werden? Vermutlich nicht.
Während ich die Stufen hinunterlief, ging ich im Kopf meine Optionen durch: Eine Arbeit zu finden war im Moment so gut wie unmöglich. Kein Geld – keine Wohnung. Das bedeutete, wenn ich mich nicht unbedingt an den Straßenrand setzen und Leute anbetteln wollte, musste ich wohl oder übel jemanden um Hilfe bitten. Aber wen? Ich hatte kaum Freunde, und jeder, der mir eventuell helfen könnte, war über Weihnachten nach Hause zu seiner Familie gefahren. Eigentlich ließ das nur eine einzige Option offen, aber die wollte ich nicht wählen, wenn es nicht unbedingt nötig war. Vielleicht würde ich doch noch irgendwie eine andere Lösung finden.
Nur langsam schlenderte ich durch die vergleichsweise leeren Straßen der Stadt. Ich betrachtete die Auslagen in den Schaufenstern der geschlossenen Läden und verfluchte dabei die Tatsache, dass mit Abstand jede einen schöneren Weihnachtsbaum beinhaltete als unseren. Eigentlich war es meine eigene Schuld. Wenn ich einen schönen Baum gewollt hätte, dann hätte ich ihn selbst besorgen müssen. Aber ich hatte es nicht getan.
Warum eigentlich nicht? Es war schließlich nicht so, dass ich nicht daran gedacht hätte. Doch aus irgendeinem Grund hatte ich es mir dann anders überlegt. Vermutlich wegen Rosalie. Da meine Schwester über Weihnachten bei unseren Großeltern war, hatte ich es nicht für nötig empfunden, eine große Sache aus der Weihnachtszeit zu machen. Ich hatte weder die Wohnung dekoriert noch etwas Besonderes zu Essen geplant. Zum Glück.
Der Streit mit meiner Mutter lag mir immer noch im Magen. Und auch meine eigene Dummheit. Ich musste lernen, nicht so impulsiv zu handeln. Ich hatte ja gesehen, wohin mich das brachte.
Ich konnte einfach nicht fassen, dass sie mich so meinem Schicksal überließ. Ja, wir beide hatten im Streit Dinge gesagt, die wir vermutlich nicht so gemeint hatten, aber das hieß doch nicht, dass Mom mir nichts mehr bedeutete. Umgekehrt war es jedoch offensichtlich etwas anders …
Mein Blick wanderte hoch zum Himmel, von dem immer noch dicke Schneeflocken herabfielen. Ob der Schneefall in den nächsten Stunden nachlassen würde? Vermutlich nicht. Vermutlich wollte mir das Schicksal damit zeigen, was ich davon hatte, so stur zu sein.
Das hast du verdient, hörte ich die Stimmen in meinem Kopf, die immer auftauchten, wenn ich mich ohnehin bereits schlecht fühlte. Es war, als würde mein Unterbewusstsein die Gelegenheit nutzen und nochmal zutreten, wenn ich bereits am Boden lag.
An einer Ampel blieb ich stehen und wartete darauf, dass es Grün wurde. Um ehrlich zu sein, hatte ich keine Ahnung, wohin ich wollte. Ich spazierte nur durch die Gegend, um mich aufzuwärmen. Denn wenn ich stehenblieb, hatte ich das Gefühl, lebendig zu erfrieren. Darum zappelte ich auch am Straßenrand ungeduldig herum, während ich die Autos beobachtete, die an mir vorbeizogen.
Eines davon fuhr knapper am Randstein als die anderen, und bevor ich wusste, was passierte, spürte ich auch schon eine kalte Nässe auf meinem Mantel und meiner Hose.
Ungläubig wanderte mein Blick an mir herab. Der Wagen war mit voller Geschwindigkeit durch die Pfütze gefahren, die sich aus geschmolzenem Schnee angesammelt hatte und sich nun auf meinen Kleidern ausbreitete. Das war doch bestimmt Absicht gewesen!
Angewidert versuchte ich, den Schmutz von meiner Hose zu wischen, machte es dabei aber nur viel schlimmer. Genau das hatte mir noch gefehlt. Das machte diesen Tag vollkommen.
Wütend stapfte ich über die Straße und setzte dann meinen Weg fort. In meinem Kopf suchte ich dabei nach einer Lösung für mein Problem. Wenn ich doch nur jemanden hätte, bei dem ich die Nacht verbringen könnte …
Du hast aber keine Freunde, Claire.
Das wusste ich selbst.
Ernüchtert blieb ich stehen und sah mich um. Mein Blick wanderte in eine Nebenstraße, und meine Beine blieben ganz automatisch stehen. Da saßen Leute auf Pappkartons auf dem kalten Asphalt. Sie waren in dreckige Decken gewickelt und starrten vor sich hin, als würden sie nicht auf eine Backsteinwand, sondern auf einen Flachbildfernseher blicken.
Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken. Die letzte Nacht war bereits eine schreckliche Erfahrung für mich gewesen. Ich hasste die Kälte. Ich hasste sie so sehr. Die nächsten Stunden tatsächlich auf der Straße verbringen zu müssen wäre der reinste Alptraum. Besonders in nassen Kleidern. Ich hatte keine Lust, mir eine Lungenentzündung zuzuziehen.
Ich schluckte und wandte den Leuten den Rücken zu. Das alles wollte ich nicht. Ich wollte nicht so enden. Auch wenn es bedeutete, dass ich über meinen eigenen Schatten springen musste.
Widerwillig zog ich die Visitenkarte aus meiner Manteltasche.
Jamie Rushton.
Alleine der Name ließ mir eine kalte Gänsehaut über den Rücken laufen. Es war ein Risiko, ihn um Hilfe zu bitten. Immerhin waren wir zusammen zur Schule gegangen, und eigentlich versuchte ich seit meinem Abschluss, dieses Thema gänzlich aus meinem Kopf zu verbannen. Aber ich hatte wohl keine andere Wahl. Ich war nicht in der Position, Hilfe auszuschlagen.
Ich las die Adresse auf der Karte, bevor ich sie wieder in meine Tasche steckte. Heute Morgen war ich bereits aus seiner Wohnung gestürmt, daher wusste ich, wo er wohnte. Das war nicht das Problem. Eher, dass sich alles in mir dagegen sträubte, seine Hilfe anzunehmen. Ich wollte selbst zurechtkommen, wie ich es die letzten Jahre getan hatte, aber wie konnte ich das? Ohne Geld und ohne Dach über dem Kopf.
Ganz automatisch setzten sich meine Beine in Bewegung. Jamies Wohnung war nicht weit von hier, ich hatte sie also schnell erreicht. Die Eingangstür zu dem Gebäude stand offen, weshalb ich nicht läuten musste.
Mein Herz schlug schmerzhaft fest in meiner Brust, als ich die Treppen zu seiner Wohnung hochstieg. Was, wenn er es sich bereits anders überlegt hatte? Wenn ich ihn gekränkt hatte und er mir nun gar nicht mehr helfen wollte?
Aber einen Versuch war es zumindest wert.
Ich streckte bereits meine Hand nach der Türglocke aus, doch sein Name an der Tür ließ mich zögern. In der Highschool war er stets einer der Beliebten gewesen. Dass er mich überhaupt kannte, grenzte an ein Wunder. Und auch, dass er trotzdem nett zu mir war. Vor allem nach der letzten Schulfeier …
Na, Claire, wie ist es dir seit der Highschool ergangen? Das waren die Worte gewesen, die diesen Abend hatten eskalieren lassen.
Wie es mir seit der Highschool ergangen war? Schrecklich! Seit Dad in meinem Abschlussjahr gestorben war, war einfach alles den Bach runtergegangen. Plötzlich hatte ich mir jedes Wort, jede bissige Bemerkung zu Herzen genommen – egal, ob von Mitschülern oder meiner Mutter. Ich hatte das Gefühl gehabt, einfach gar nichts mehr richtig zu machen. Mom hatte sich immer weiter gehenlassen, und plötzlich hatte sämtliche Verantwortung auf meinen Schultern gelegen. All die Wut und die Angst, nicht gut genug zu sein, hatten sich in mir angestaut, bis sie sich dann bei dieser einen, gutgemeinten Frage entladen hatten.
Ich erinnerte mich nicht genau daran, was ich den Lehrern an den Kopf geworfen hatte. Das alles war einfach so schnell gegangen. Ich hatte mich in Rage geredet, und die Hälfte von dem, was aus meinem Mund gekommen war, vermutlich nicht einmal gemeint. Aber es hatte sich gut angefühlt, das alles endlich loszuwerden. Zumindest, bis ich wieder zu Sinnen gekommen war. Bis mir klargeworden war, welchen großen Fehler ich begangen hatte.
Rose hatte mir diesen Zwischenfall zum Glück verziehen, aber ich selbst bekam immer noch einen Knoten im Magen, wenn ich an die Feier zurückdachte.
Erschrocken machte ich einen Schritt zurück, als sich die Tür öffnete. Ohne es zu bemerken, musste ich die Türklingel betätigt haben.
»Claire.« Die Überraschung in Jamies Stimme war nicht zu überhören, als er mich entdeckte. Scheinbar war ich überzeugend gewesen, als ich ihm versichert hatte, dass ich seine Hilfe nicht brauchte. Nur mich selbst hatte ich leider nicht überzeugen können.
»Es tut mir leid.« Verärgert über mich selbst, wischte ich mir die Tränen aus den Augen, die plötzlich wie aus dem Nichts aufgetaucht waren. Meine Finger fühlten sich kalt und taub an, und die heißen Tränen brannten auf meiner Haut. »Ich weiß, ich war alles andere als freundlich zu dir, und eigentlich sollte ich es nicht einmal in Erwägung ziehen, hier aufzukreuzen. Aber … ich wusste einfach nicht, wo ich hinsollte. Und …«
Ich verstummte, als Jamie einen Schritt zur Seite machte.
»Komm doch erst einmal rein.«
Einen Moment lang zögerte ich, doch dann kam ich seiner Aufforderung nach. In der Wohnung war es angenehm warm, und es duftete nach Tannenzweigen. Der Baum in der Mitte des Wohnzimmers leuchtete hell und war kein Vergleich zu dem meiner Mutter. Die Erinnerung an den mickrigen Plastikbaum schmerzte. Aber nicht so sehr wie die an meine Mutter.
Ob sie wohl in der Zwischenzeit meine Tasche durchwühlt hatte?
»Wo warst du die letzten Stunden?«, wollte Jamie wissen, als er die Tür hinter mir schloss und mir die Jacke abnahm.
Schweigend verschränkte ich die Arme vor der Brust, da ich durch die durchnässte Kleidung immer noch fror. Mein Blick wanderte zu der Couch, auf der ich heute Morgen aufgewacht war, und zu der Wolldecke, die über der Rückenlehne lag. Ich konnte mich aber davon abhalten, danach zu greifen. Ich war zu Gast hier, ich konnte von Glück sprechen, dass Jamie mich überhaupt hereingelassen hatte. Besonders so, wie ich aussah.
»Heißt das, du willst nicht darüber reden?«
Nein. Ich vertraute meiner Stimme nicht. Außerdem war es mir peinlich, ihm zu erzählen, was in den letzten Stunden geschehen war.
Als ich weiterhin kein Wort sagte, näherte sich Jamie mir.
»Wie du willst. Aber mein Angebot steht: Du kannst hierbleiben, mein Gästezimmer steht dir zur Verfügung.«
»Ich habe aber kein Geld«, sagte ich, ohne ihn dabei anzusehen. Ich hasste es, das zuzugeben. Es war mir unendlich peinlich. »Ich habe gar nichts mehr. Ich kann dir also nichts geben.«
»Machst du Witze?« Jamie grinste. »Du musst mir nichts geben. Sieh es als kleines Dankeschön dafür an, dass du den Lehrern letztes Jahr all das an den Kopf geworfen hast, was wir anderen uns nie zu sagen getraut haben.«
Mein Gesicht begann zu glühen. Jamie war auf der Schulfeier gewesen, auf der ich mich bis auf die Knochen blamiert hatte. Dabei war das doch gar nicht meine Absicht gewesen. Mir waren einfach die Sicherungen durchgebrannt. Plötzlich war ich wieder achtzehn Jahre alt gewesen und hatte Angst davor gehabt, in die Schule zu gehen. Angst vor den Blicken und davor, verurteilt zu werden.
Du musst aufhören, so schlecht gelaunt zu sein. Du ziehst uns nur alle mit hinunter.
»Ich wusste nicht, dass du auch da warst.«
»Viele von uns waren dort«, meinte Jamie und machte es damit nicht besser. »Zumindest die, die Geschwister haben, die noch zur Highschool gehen.«
»Du hast also Geschwister?« Ich wusste nicht einmal, warum ich ihn das fragte. Es war nicht so, als wäre ich scharf darauf, ihn besser kennen zu lernen. Aber irgendwie erschien es mir unhöflich, hier zu stehen und auf keine seiner Fragen zu antworten.
»Nein, aber meine Freundin. Du müsstest sie eigentlich kennen. Ich glaube, ihr beide wart im selben Jahrgang …«
»Hey, kann ich deine Toilette benutzen?«
Um Jamie zu stoppen, wich ich einen Schritt zurück. Dieses Gespräch schlug eine Richtung ein, die mir nicht gefiel. Ich hasste es, über die Highschool zu reden. Alleine der Gedanke an diese Zeit brachte meinen Magen dazu, sich zu verknoten.
Etwas verwirrt blinzelte er mich an, bevor er in Richtung Wohnungstür zeigte.
»Den Gang entlang und dann links. Fühl dich wie zu Hause.«
»Danke.«
»Und hey, wenn du willst, kannst du auch gerne ein Bad nehmen.«
Augenblicklich wandte ich mich zu ihm um und fixierte ihn.
»Soll das heißen, ich stinke?«
»Nein, ich –« Er brach den Satz ab, und ich konnte zusehen, wie Jamies Wangen sich rot verfärben. »So habe ich das nicht gemeint. Du siehst erfroren aus, da dachte ich …«
»Schon gut.« Ich seufzte. Ich musste wirklich aufhören, in jedem Satz einen Vorwurf zu suchen, schließlich wohnte ich nicht mehr zu Hause. »Danke, ich überlege es mir.«
Als ich das Bad betrat, musste ich erst einmal stehenbleiben und das verdauen, was ich da sah. Es war riesig. Und so sauber. Normalerweise kannte ich so etwas nur aus Filmen.
Leise verschloss ich die Tür hinter mir und sah mich erst einmal um. Am Rand der Badewanne lagen haufenweise Seifen und Badebomben. Da ich wohl davon ausgehen konnte, dass Jamie so etwas nicht benutzte, vermutete ich, dass sie seiner Freundin gehörten.
Ganz automatisch verspannte sich mein Körper. Sie war in meinem Jahrgang gewesen. Wer sie wohl war? Vermutlich war es besser, wenn ich es nicht wusste. Ich hatte alle Mädchen aus meinem Jahrgang gehasst. Oder besser gesagt, sie hatten mich gehasst.
Du bist ein Niemand, Claire. Keinen interessiert es, was du sagst oder tust. Und das wird sich auch nie ändern.
Ich wandte mich an den Spiegel, der über dem Waschbecken an der Wand hing, und musste erst einmal schlucken. Ich war nicht nur obdachlos, ich sah auch noch so aus. Mein Make-up war durch den Schnee völlig verronnen, und meine Haare waren zerzaust. Ganz zu schweigen von dem dunklen Haaransatz, der das ausgewaschene Pastellblau überschattete. Ich benötigte dringend neue Farbe. Aber das war im Moment vermutlich mein geringstes Problem. Ich würde wohl mit dieser Frisur leben müssen, bis ich wieder etwas Geld angespart hatte.
Ich schnappte mir eines der Haargummis aus dem Regal und band mir die Haare hoch. Danach nutzte ich die Beautyprodukte aus dem Schrank, um mich abzuschminken. Diese Waschbäraugen konnte ich nicht mehr länger ansehen.
Widerwillig zog ich den Reißverschluss meiner Jacke auf. Mir war immer noch kalt, und ich hatte kaum Gefühl in den Fingern.
Morgen würde ich damit beginnen, mich auf die Suche nach einem vorübergehenden Job zu machen, der nicht illegal war. Vermutlich war das im Moment und unter diesen Umständen alles andere als einfach. Aber vielleicht hatte ich ja ausnahmsweise mal Glück.
Auch wenn ich es ursprünglich nicht geplant gehabt hatte, ließ ich nun doch dampfendes Wasser in die Wanne. Noch voll bekleidet, setzte ich mich an den Rand und begann, die Etiketten der Shampoos und Badezusätze zu lesen. Jamies Freundin hatte Geschmack. Am liebsten hätte ich alles ausprobiert, aber ich würde mich wohl oder übel für eines entscheiden müssen. Am besten etwas Beeriges.
Ich warf eine dunkelrote Badebombe in das Wasser und beobachtete dabei, wie sie sich sprudelnd zu Schaum verwandelte. Das Wasser verfärbte sich, und eine Schicht aus Glitzer bildete sich an der Oberfläche. Hoffentlich würde das nicht an der Haut kleben bleiben.
Als die Wanne voll war, schälte ich mich doch endlich aus meiner Kleidung und weichte meine schmutzige Hose in etwas Wasser und Seife im Wachbecken ein, um sie wieder sauberzubekommen. Schließlich war das alles, was ich noch hatte. Dann ließ ich mich in das heiße Wasser sinken. Es brannte schmerzhaft auf meiner kalten Haut, doch das war mir egal. Im Badezimmer duftete es himmlisch, und wer wusste, wann ich das nächste Mal die Gelegenheit bekam, ein Bad wie dieses zu nehmen?
Mein Blick wanderte zum Fenster, das neben der Badewanne lag. Ich betrachtete den bewölkten Nachthimmel. Schon wieder kein Mond. Wie sehr ich das doch hasste. Wo war er, wenn ich ihn am meisten brauchte? Wenn ich den Mond betrachtete, konnte ich meine Gedanken schweifen lassen. Aber so drehte sich alles in meinem Kopf nur um die Frage, welche der Mädchen in der Highschool jüngere Geschwister gehabt hatten. Ich wusste es nicht mehr. Und es konnte mir auch egal sein. Wenn ich Glück hatte, bekam ich Jamies Freundin gar nicht zu Gesicht. Wenn ich Glück hatte, war ich längst über alle Berge, bis sie nach Hause kam.
Wo sie wohl steckte? Heute Morgen war er alleine gewesen – bis auf mich, natürlich. Am Weihnachtsmorgen. Bedeutete das, dass sie längere Zeit weg war? Vielleicht war sie auch zu Besuch bei ihrer Familie. Offenbar war jeder froh, nach Hause zu kommen, bis auf mich. Ich wäre glücklich, wenn ich nie mehr wieder einen Fuß in diese Wohnung setzen müsste.
Ich betrachtete die schimmernden Schaumberge vor mir. Was würde ich geben, um ein Leben wie dieses führen zu können? Ich könnte versuchen, einen besser bezahlten Job zu finden, aber ich liebte meine Arbeit in dem kleinen Buchladen. Und im Moment war es mir eindeutig wichtiger, überhaupt an etwas Geld zu gelangen.
Dieser Gedanke erfüllte meinen Körper mit Unruhe. Ich musste etwas tun. Irgendetwas. Ich konnte nicht tatenlos hier herumliegen, während meine Zukunft den Bach hinunterlief. Und die von Rosalie gleich mit. Das durfte nicht passieren!
Obwohl ich viel lieber noch liegen geblieben wäre, kletterte ich aus der Badewanne und wickelte mich in den weißen, flauschigen Bademantel, der an der Rückseite der Tür hing. Ich wusste nicht, ob ich ihn benutzen durfte, aber Jamie hatte gemeint, ich sollte mich wie zu Hause fühlen. Also tat ich das auch, wenn auch nur für einen Abend.
Jamie saß immer noch auf der Couch, als ich aus dem Bad kam. Mittlerweile hatte er seinen Laptop auf dem Schoß und tippte konzentriert.
Einen Moment lang zog ich in Erwägung, kehrtzumachen, um ihn nicht zu stören, doch seine Stimme hielt mich zurück.
»Hey, ich bestelle mir gerade etwas zu essen«, sagte er, ohne dabei vom Bildschirm aufzusehen. »Willst du auch was?«
»Ich sagte doch, ich habe kein Geld.«
Sein Blick wanderte zu mir, und er beobachtete mich, als ich mich zu ihm setzte. »Das war nicht meine Frage. Hast du Hunger?«
»Ja.«
»Magst du Pizza?«
»Ja.«
Er grinste. »Dann ist dieses Problem gelöst. Tomaten, Käse, Schinken, Champignons?«
Verwirrt legte ich die Stirn in Falten. »Keine Champignons.«
»Na schön.«
Während er mit der Bestellung beschäftigt war, ließ ich meinen Blick noch einmal durch die Wohnung schweifen. Der Baum war darin der einzige Blickfang, ansonsten gab es hier fast gar nichts. Keine Bilder, keine Kerzen, nichts. Es war schon fast trostlos.
»Was?«, fragte ich, als mein Blick Jamie streifte und ich bemerkte, dass er mich ansah. »Was ist los? Ist es wegen des Bademantels? Ich dachte nur –«
»Du weißt schon, dass du dich auch abschminken kannst?«, fiel Jamie mir ins Wort. »Ich sagte doch, du sollst dich wie zu Hause fühlen.«
Eigentlich wollte ich beleidigt sein, aber meine Verwirrung war zu groß dafür.
»Ich bin abgeschminkt.«
»Nein, bist du nicht.« Jamie lachte und deutete mit der ausgestreckten Hand auf mein Gesicht. »Du hast noch deine Augenbrauen.«
Ich schnaubte. »Was weißt du schon über Augenbrauen?«
»Meine Freundin ist Beautybloggerin«, meinte er.
Das erklärte zumindest die Unmengen an Badebomben.
»Und Beautyblogger haben keine Augenbrauen?«
Grinsend schüttelte er den Kopf. »In der Regel nicht.«
Hat deine Freundin welche?, wollte ich wissen, doch ich bekam kein Wort hervor. Meine Gedanken kreisten um die Frage, welches Mädchen damals einen Hang zu Beautyprodukten gehabt hatte. Im Prinzip jedes außer mir. Aber welches hatte auch noch jüngere Geschwister?
Ich sollte ihn einfach fragen, wie seine Freundin hieß, dann hätte ich das hinter mir und müsste mir nicht mehr den Kopf darüber zerbrechen.
»Hast du denn auch einen Freund?«
Gerade noch rechtzeitig konnte ich mich davon abhalten, laut aufzulachen. Wieder kam ich zu dem Schluss, dass Jamie mich nicht richtig gekannt hatte. Ansonsten wüsste er nämlich, warum ich diesen Gedanken mehr als lächerlich fand.
Ich hatte doch nicht einmal richtige Freunde, geschweige denn einen festen Freund.
»Nein«, gab ich zurück, bemüht, so neutral wie möglich zu klingen. »Im Moment habe ich niemanden.«
»Oh.« Jamie klang bedrückt, als hätte er mit einer anderen Antwort gerechnet. »Bist du einsam?«
»Nicht jeder, der Single ist, ist einsam«, erklärte ich, unterbrach mich aber selbst, als ich den Ausdruck auf Jamies Gesicht bemerkte. Und nicht jeder, der in einer Beziehung ist, ist auch verliebt, fügte ich in Gedanken hinzu.
Ob Jamie einsam war? Bestimmt war es langweilig, alleine in dieser großen Wohnung zu leben. Grade wollte ich ihn fragen, wann seine Freundin wiederkäme, als Jamie den Laptop vor sich schwungvoll zuklappte.
»So, das Essen ist bestellt. Was willst du in der Zwischenzeit machen?«
Gar nichts.
»Möchtest du mir jetzt vielleicht erzählen, warum du gestern Nacht auf der Straße schlafen wolltest?«
Ich wandte den Blick von ihm ab. Als ob ihn das etwas anginge! Ich hatte keine Lust, darüber zu reden. Wenn Jamie das nicht akzeptieren konnte, dann musste ich wohl oder übel gehen. Auch wenn ich das sehr, sehr schade finden würde. Besonders, da meine Hose noch nicht trocken war.
»Schon gut, ich hab’s ja kapiert.« Mit einem tiefen Seufzen ließ er sich in die Couch zurücksinken. »Es hat mich nur so überrascht, dich auf diese Art und Weise wiederzusehen. Du warst doch gut in der Schule, ich hatte eigentlich erwartet, dich auf dem College anzutreffen.«
Ich schwieg. Nicht jeder konnte reiche Eltern haben, so wie Jamie. Ich erinnerte mich noch genau an ihn, er war zwei Jahre älter als ich, und im Gegensatz zu mir war er immer einer der Beliebten gewesen. Er hatte haufenweise Freunde gehabt und immer das Beste vom Besten besessen. Nie im Leben hätte ich erwartet, dass er sich an mich erinnern würde.
»Tut mir leid.« Offenbar etwas verlegen, fuhr er sich durchs Haar. »Anscheinend habe ich einen Hang dazu, das Falsche zu sagen. Wie wäre es, wenn ich ab jetzt einfach den Mund hielte, bis das Essen da ist?«
Das war eine ganz hervorragende Idee.
Mein Blick wanderte zu meinen Händen. Vorsichtig kratzte ich die letzten Splitter von Nagellack von meinen Fingernägeln. Mit einem Mal war es so still in der Wohnung – beinahe unerträglich.
Noch einmal sah ich mich um, doch es war immer noch so leer.
»Wohnst du schon lange hier?«
Jamie folgte meinen Blick und grinste. »Nein, wir sind gerade erst eingezogen. Wir hatten noch keine Zeit, um die Wohnung einzurichten.«
Ich nickte. Das ergab natürlich Sinn.
Eine Weile saßen wir schweigend nebeneinander, und da war wieder diese Stille. Krampfhaft versuchte ich, ein neutrales Gesprächsthema zu finden, aber ich konnte mich einfach nicht konzentrieren. Immer wieder schweiften meine Gedanken ab. Und auch Jamie schien nicht das Bedürfnis zu haben, einen neuen Gesprächsversuch zu unternehmen. Kein Wunder, ich hatte ihn verschreckt.
Willst du oder kannst du nicht reden?, hörte ich wieder diese Stimmen in meinem Kopf und betete, dass sie endlich mal die Klappe halten würden. Das war doch schon Jahre her. Ich war nicht mehr das schüchterne Mädchen, das vor Fremden keinen Ton hervorbrachte … Oder etwa doch?
Als es dann endlich an der Tür klingelte, sprang Jamie augenblicklich von der Couch auf. Er wirkte schon fast erleichtert über diese Störung.
»Das muss unser Essen sein«, meinte er. Schon als Jamie die Tür öffnete, strömte mir der verführerische Duft entgegen, und mein Magen begann zu knurren. Gott, ich konnte mich nicht daran erinnern, wann ich das letzte Mal etwas gegessen hatte. Es musste schon eine ganze Weile her sein.
»Also dann.« Jamie stellte die beiden Pizzaschachteln samt Pepsi-Dosen vor uns auf dem Wohnzimmertisch ab. Ich musste all meine Willenskraft aufbringen, um nicht sofort danach zu greifen. »Lass es dir schmecken.«
***
»Ich hab noch was zu tun«, meinte Jamie, nachdem er die Reste unserer Pizza in der Küche verstaut hatte. »Noch einen Termin. Ich hab aber gerade keinen Zweitschlüssel …«
»Kein Problem«, fiel ich ihm ins Wort. »Ich kann sowieso nirgends hin. Ich werde mich schon irgendwie stumm beschäftigen.«
»Gibt es etwas, das du gerne tust?« Jamie schien wirklich bemüht, etwas zu finden, um mich bei Laune zu halten.
Ich zuckte mit den Schultern. »Ich male gerne, aber –«
Aber ich kann auch fernsehen, wollte ich hinzufügen, doch Jamie kam mir zuvor.
»Wunderbar. Ich hab da noch eine Leinwand und Farbe, die ich nie verwendet habe, warte einen Moment.«
Perplex sah ich Jamie hinterher, der plötzlich den Gang hinuntereilte. Er hatte tatsächlich Malutensilien zu Hause?
»Hier.« Mit einer einen Meter großen Leinwand und einer Papiertüte kam Jamie zurück ins Wohnzimmer. »Da ist alles drin, Farben, Pinsel, Palette. Es dürfte dir an nichts fehlen.«
Immer noch etwas verwirrt, nahm ich ihm die Tüte ab.
»Danke.«
»Kein Problem.« Er grinste, bevor er sich auf den Weg zur Tür machte. »Ich bin gespannt, was du malst.«
Das war ich allerdings auch.
Als die Tür hinter Jamie ins Schloss fiel, wanderte mein Blick zur leeren Leinwand. Ich hatte keinen blassen Schimmer, was ich zeichnen sollte. Ich wusste nur, dass es unendlich guttat, wieder den Pinsel in die Hand zu nehmen.
Jamies Gästezimmer war ein Traum. Zwar hatte ich in dieser Nacht nicht viel geschlafen, aber immerhin mehr als in den Nächten davor. Das Bett war federweich, ich hatte das Gefühl, auf einer Wolke zu liegen. Auf einer wohlig warmen, kuscheligen Wolke, die ich am liebsten nie wieder verlassen wollte. Doch ich hatte vermutlich keine andere Wahl als langsam aufzustehen. Ich wusste nicht recht, wie spät es war, doch durch das Fenster konnte ich sehen, dass einige Sonnenstrahlen durch die stahlgraue Wolkendecke hervorblitzten. Es war Morgen.
Widerwillig kletterte ich aus dem Bett und warf noch einen kurzen Blick darauf. Es war doppelt so groß wie das in der Wohnung meiner Mutter. Aber eines hatten sie beide gemeinsam: Wenn ich erst einmal weg war, würde ich sie vermutlich beide nie mehr wiedersehen. Wer wusste, wie das nächste Bett aussehen würde, in dem ich schlafen würde?
Gegenüber dem Bett stand ein kleiner Schminktisch – auf den hatte Jamies Freundin vermutlich bestanden. Ich warf einen kurzen Blick in den Spiegel und band meine Haare neu zusammen, da sie vom Schlafen noch völlig durcheinander waren. Ein unerwartetes Grinsen stahl sich auf mein Gesicht, als ich mein Spiegelbild betrachtete. Auch wenn ich es gar nicht wollte, musste ich an das denken, was Jamie gestern über meine Augenbrauen gesagt hatte. Irgendwie wünschte ich, er hätte ein paar Fotos in der Wohnung – von seiner Freundin zum Beispiel. Und schon war das Lächeln wieder verschwunden.
Ich wollte wissen, wer sie war. Als ob das einen Unterschied machen würde. Mir reichte die Tatsache, dass sie einer der Gründe war, warum ich nachts kaum ein Auge zubekam. Mehr musste ich doch gar nicht wissen.
Beim Vorbeigehen warf ich einen kurzen Blick auf das abstrakte Gemälde, das ich gestern gefertigt hatte. Eigentlich war ich ganz zufrieden damit. Es war größtenteils in meinen Lieblingsfarben gehalten – Grau und Blau. Beim Malen konnte ich meine Gedanken schweifen lassen, ich liebte es einfach, die Farben miteinander zu vereinen und etwas Neues zu schaffen.
Jamie hatte ich das Bild allerdings noch nicht gezeigt, da ich mir gestern nicht sicher gewesen war, ob ich es nicht doch noch abändern würde. Heute erschien es mir allerdings gut, so wie es war.
Nervös zupfte ich an meinen schwarzen Jeans und meinem Beatles-Tanktop, die mittlerweile zum Glück getrocknet waren. Ich hatte Angst davor, dieses Zimmer zu verlassen. Ich wusste nicht, was mich draußen erwartete. Jamie, vermutlich. Aber würde er auch alleine sein? Und würde er mich daran erinnern, dass ich mir schnellstmöglich eine Wohnung suchen sollte? Das wusste ich doch selbst! Ich hatte auch gar nicht vor, seine Gastfreundschaft auszunutzen. Das hier war ein Notfall gewesen. Heute war ein neuer Tag und eine neue Chance für mich, alles zum Guten zu wenden.
Noch einmal atmete ich tief durch, bevor ich leise die Türklinke nach unten drückte und einen vorsichtigen Blick in das Wohnzimmer warf. Von Jamie war keine Spur zu sehen. Ob er noch schlief? Ich hatte keine Ahnung, wo sich das Schlafzimmer befand. Zu gerne hätte ich mich hier etwas umgesehen, aber das erschien mir unhöflich. Also schloss ich nur die Tür hinter mir und bewegte mich langsam durch das Wohnzimmer.
Ganz automatisch führten meine Beine mich auf den Weihnachtsbaum zu. Kleine, silberne Sterne hingen daran, von denen ich nicht die Augen lassen konnte. Sie waren so wunderschön. Einige von ihnen glitzerten sogar. Ohne dass ich etwas dagegen tun konnte, näherte sich meine Hand einem von ihnen.
Erschrocken zog ich sie allerdings wieder zurück, als sich die Wohnungstür öffnete und Jamie eintrat.
»Guten Morgen.« Er grinste – so wie immer. Ich wünschte, ich hätte so viel zu lachen wie er. »Hast du Hunger? Ich habe uns Frühstück besorgt.«
Eigentlich war ich noch satt von der Pizza gestern. Aber andererseits roch es verführerisch nach frischem Gebäck. Ich hatte einen langen Tag vor mir. Etwas Stärkung würde also bestimmt nicht schaden.
»Setz dich. Trinkst du Kaffee oder Tee?«
Während Jamie in der Küche verschwand, setzte ich mich auf die Couch und warf einen Blick in die Tüte, die er auf dem Tisch davor abgestellt hatte. Ich sah darin Heidelbeermuffins und Brötchen.
»Tee.«
»Wirklich?« Er klang amüsiert.
»Was ist daran so witzig?«, wollte ich wissen. Das Misstrauen in meiner Stimme konnte ich dabei kaum verbergen.
»Gar nichts«, meinte Jamie, und ich hörte, wie er Wasser in eine Kanne füllte. »Es überrascht mich einfach. Meine Freundin lebt für Kaffee. Manchmal habe ich das Gefühl, sie besteht aus nichts anderem.«
Kaffee und Beauty. Welch originelle Mischung.
»Ich mag keinen Kaffee«, erklärte ich.
»Ich auch nicht.« Mit zwei Tassen, in denen Teebeutel baumelten, kehrte Jamie aus der Küche zurück. »Da haben wir ja etwas gemeinsam.«
Wer hätte das gedacht?
»Danke für das Frühstück«, sagte ich, ohne ihn dabei anzusehen. »Es wäre nicht nötig gewesen, aber danke.«
»Machst du Witze? Du bist doch mein Gast.«
Ja, aber wie lange noch? So konnte das doch nicht weitergehen.
»Gleich nach dem Essen mache ich mich auf die Suche nach einem Job«, erklärte ich ihm. »Und nach einer Schlafmöglichkeit. Ich werde schon irgendetwas finden.«
»Und wie willst du das machen?« Er zog einen Muffin aus der Tüte und hielt ihn mir entgegen. »Du hast doch gesagt, du hast deine Sachen verloren. Wie ist das überhaupt passiert?«
»Ich habe sie zu Hause vergessen. Und dahin kann ich nicht zurück.«
Ich sah Jamie nicht an, als ich das sagte. Das konnte ich nicht. Er hatte mich heute Nacht hier schlafen lassen, darum schuldete ich ihm die Wahrheit. Das bedeutete aber nicht, dass ich gerne darüber sprach. Oder ausführlich.
»Ich kann erst in zwei Wochen wieder arbeiten gehen, aber das macht nichts. Ich finde schon einen anderen Job für zwischendurch.«
»Und wo willst du bis dahin wohnen?«
Jamie nahm einen Bissen von seinem eigenen Muffin. Meinen hatte ich noch nicht angerührt. Wenn ich über all diese Sachen nachdachte, verging mir der Appetit.
»Ich finde schon eine Lösung«, versicherte ich ihm. Es war ja nicht so, als hätte ich eine andere Wahl. Ich musste eine Lösung finden. Für mich und auch für meine Schwester. Alleine konnte ich sie nicht bei meiner Mutter lassen. Sie war zu jung, um sich um sie zu kümmern.
»Ich habe eine Lösung. Bleib hier, bis du genug Geld für eine Wohnung hast. Oder bis du wieder nach Hause kannst.«
Nachdrücklich schüttelte ich den Kopf. Nicht nur, dass das mit dem Nachhausegehen völliger Unsinn war. Aber ich konnte auch nicht hierbleiben.
»Ich habe es dir schon einmal gesagt: Ich kann dir nichts geben.«
»Das musst du auch nicht.«
»Ich will deine Gastfreundschaft nicht ausnutzen.«
»Und was willst du dann?«
Jamie legte seinen Muffin zur Seite und betrachtete mich, doch ich hielt den Blick abgewandt.
Was ich wollte? Ein normales Leben, zum Beispiel. Ich wollte meine Tasche zurück, damit ich eine Wohnung finanzieren konnte. Ich wollte, dass diese dummen Feiertage endlich vorbei waren!
»Ohne mich wirst du in einem Obdachlosenheim oder wieder auf der Straße landen. Ist es das, was du willst, Claire?«
Wieder. Seine Worte stachen wie Messer in meine Brust. Natürlich wollte ich das nicht. Er hatte doch keine Ahnung, wie es sich anfühlte, keine andere Wahl zu haben! Seine Eltern hatten genug Geld, um einen ganzen Wolkenkratzer für ihn zu kaufen. Ach, was sagte ich da? Für ihn bauen zu lassen. Er würde sich nie mit solchen Dingen herumschlagen müssen.
Kannst du dir etwa keine Farben leisten? Ich hatte das Gefühl, die Welt um mich herum würde stehenbleiben. Jamies Wohnzimmer schien sich zu verändern, und mit einem Mal fand ich mich in einem langen Korridor wieder – umgeben von einer Gruppe Mädchen.
»Geht dir das ganze Schwarz nicht langsam auf die Nerven?«, fragte eines davon, und mein Blick wanderte an mir hinab. Meine Hose war schwarz, meine Schuhe und mein T-Shirt auch. Ich trug gerne Schwarz. In knalligen Farben fühlte ich mich einfach nicht wohl. Darin hatte ich das Gefühl, unangenehm aus der Menge hervorzustechen, und das wollte ich nicht. Allerdings schien das Schwarz die Blicke der anderen noch stärker auf sich zu ziehen.
»Sei nicht so zu Claire«, sagte ein anderes Mädchen, von dem ich einst gedacht hatte, sie wäre meine Freundin. »Sie kann gemein nichts dafür, dass ihr Vater tot ist und ihre Mutter kein Geld hat.«
»Claire.«
Jamie sprach meinen Namen aus, aber ich reagierte nicht. Ich war zu sehr damit beschäftigt, darüber nachzudenken, was ich falsch gemacht hatte. Irgendetwas musste ich getan haben, um das alles zu verdienen. Vielleicht in einem anderen Leben? Ich wusste es nicht. Ich hatte schlichtweg keine Ahnung.