Leichtes Licht - Hans Pleschinski - E-Book

Leichtes Licht E-Book

Hans Pleschinski

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Beschreibung

Auf die Kanaren! Christine Perlacher, 42, Sozialarbeiterin in Hamburg, fühlt sich nicht nur von ihrem Single-Dasein überfordert, wobei in ihrem Liebesleben eher zuviel als zuwenig passiert. Aber irgendwo zwischen Zuviel und Zuwenig ist das richtige Leben verlorengegangen. Christine Perlacher ist zugleich überreizt und erschöpft und sehnt sich so unrettbar nach einer ganz bestimmten Bucht auf Teneriffa, daß sie eine Woche Urlaub auf dieser schönen Insel gebucht hat. Den Schal zweifach um den Hals geschlungen, begibt sie sich an einem frühen Februarmorgen auf den Hamburger Flughafen ...
In seinem neuen Roman „Leichtes Licht“, der Christine Perlachers Abreise aus Hamburg und ihre Ankunft auf Teneriffa erzählt, begibt sich Hans Pleschinski auf Augenhöhe mit einer an ihrer Ratlosigkeit und ihrem Informationsmüll erstickenden Gegenwart, wie sie sich im Erleben seiner sympathisch fluchtbedürftigen Heldin darstellt, die sich nach dem Nichts sehnt und nach der Liebe. Bissig und amüsant, sehr gegenwärtig und modern, mit melancholischem Unterton und nicht ohne Bosheit erkundet Hans Pleschinski unsere Lebenslandschaft, die mustergültig zerlegt wird. Aber aus dem Paradies der Jetztzeit, dem Nichts, entspringt neue Schönheit.
„Leichtes Licht“ ist ein unterhaltsamer, intelligenter Roman über das, was wir aus der Welt gemacht haben, und das, was sie ohne unser Zutun an Glück immer noch bereithält.

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HANS PLESCHINSKI

LEICHTES LICHT

ROMAN

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

C.H.BECK

Zum Buch

Auf die Kanaren! Christine Perlacher, 42, Sozialarbeiterin in Hamburg, fühlt sich nicht nur von ihrem Single-Dasein überfordert, wobei in ihrem Liebesleben eher zuviel als zuwenig passiert. Aber irgendwo zwischen Zuviel und Zuwenig ist das richtige Leben verlorengegangen. Christine Perlacher ist zugleich überreizt und erschöpft und sehnt sich so unrettbar nach einer ganz bestimmten Bucht auf Teneriffa, daß sie eine Woche Urlaub auf dieser schönen Insel gebucht hat. Den Schal zweifach um den Hals geschlungen, begibt sie sich an einem frühen Februarmorgen auf den Hamburger Flughafen …

In seinem neuen Roman „Leichtes Licht“, der Christine Perlachers Abreise aus Hamburg und ihre Ankunft auf Teneriffa erzählt, begibt sich Hans Pleschinski auf Augenhöhe mit einer an ihrer Ratlosigkeit und ihrem Informationsmüll erstickenden Gegenwart, wie sie sich im Erleben seiner sympathisch fluchtbedürftigen Heldin darstellt, die sich nach dem Nichts sehnt und nach der Liebe. Bissig und amüsant, sehr gegenwärtig und modern, mit melancholischem Unterton und nicht ohne Bosheit erkundet Hans Pleschinski unsere Lebenslandschaft, die mustergültig zerlegt wird. Aber aus dem Paradies der Jetztzeit, dem Nichts, entspringt neue Schönheit.

„Leichtes Licht“ ist ein unterhaltsamer, intelligenter Roman über das, was wir aus der Welt gemacht haben, und das, was sie ohne unser Zutun an Glück immer noch bereithält.

Über den Autor

Hans Pleschinski, geboren 1956, lebt als freier Autor in München. Er veröffentlichte u.a. die Romane „Leichtes Licht“ (C.H.Beck, 2005), „Ludwigshöhe“ (C.H.Beck, 2008) und „Königsallee“ (C.H.Beck, 2013), der ein Bestseller wurde, und gab die Briefe der Madame de Pompadour, eine Auswahl aus dem Tagebuch des Herzogs von Croÿ und die Lebenserinnerungen von Else Sohn-Rethel heraus. Zuletzt erhielt er u.a. den Hannelore-Greve-Literaturpreis (2006), den Nicolas-Born-Preis (2008) und wurde 2012 zum Chevalier des Arts et des Lettres der Republik Frankreich ernannt. 2014 erhielt er den Literaturpreis der Stadt München und den Niederrheinischen Literaturpreis. Hans Pleschinski ist Mitglied der Bayerischen Akademie der Künste.

Wer ermißt meine Freude, als sich, nachdem ichlange wie im Traum durch jenes bedrängende Talgewandert war, endlich die Felsen öffnetenund ein azurnes Meer erschien!

André Gide, Die Reise Urians

EINS

Salzwasserschleier.

Keine Termine.

Blitze entwichen dem Hirn, Krähen entschwirrten dem Kopf.

– Die Bucht.

Sonne. Endlich.

Der Urlaub war sauer verdient. Sauer? – Der Arbeitstag zählte mehr oder weniger acht Stunden. Manchmal schlief man todmüde, erschöpft, entnervt, mit allem Überdruß ein. Manchmal dominierten Freude, ein innerer Aufschwung. Natürlich war das Leben keine Rotkreuzveranstaltung. Vom regelmäßigen Lohn leistete man sich immerhin vier Wände und ab und zu ein Fondue mit Freunden.

Gewiß, kein Traumjob war es. Aber sie erledigte ihre Arbeit höflich und für die komplizierte Staatsgemeinschaft zufriedenstellend. Irgend jemand mußte ja für das Sozialamt durch die Stadt rauschen und den rechtmäßigen Empfang von Hilfszahlungen kontrollieren. Sie klingelte bei ihrer Kundschaft maximal unvoreingenommen und wünschte freundlich: «Guten Tag.» Dann ließ sie sich die Wohnung zeigen – immer einen Schritt hinter dem Stützeempfänger – und erkannte recht schnell, ob die Polstermöbel, die Schrankwand, der PC mit Zubehör bereits gebraucht waren oder ob es sich um eine Neuanschaffung handelte, die mit der Unterstützung nicht vereinbar war. Einnahmen oder Besitz wurden verschleiert. Delikte von Sozialbetrug ließen sich auf dreißig Prozent der Empfänger beziffern. Leider. Was Schmarotzer für sich abzweigten – deren ganzes Leben wurde glitschig und lügenhaft –, ging den tatsächlich Bedürftigen verloren. Faulheit auf Kosten anderer machte sich auch in Hamburg breit. Der Wunsch, träge durchzurutschen, war nachzuvollziehen, appetitlich war er nicht. Fälle schwerer Not mehrten sich, rapide, wo man jeden Euro benötigte, um eine Wohnung zu bezahlen, seine Würde aufrechtzuerhalten. – Erst kürzlich hatte sie eine Dauerempfängerin, arbeitslos seit Jahren, unangemeldet aufgesucht. Erika Hattschneider lebte weiter bei ihrem geschiedenen Ehemann und hatte angegeben: nur zur Untermiete. Der Betrag wurde ihr vom Amt überwiesen. In ihrem Hinterzimmer in Eimsbüttel fand sich jedoch kein Bett, und auch Frau Hattschneiders Blusen hingen im Schrank eines zweifelsfrei gemeinsamen Schlafzimmers. «Kümmern Sie sich doch um die großen Fische», hatte die Frau geflucht, und Christine Perlacher hatte beim Ausfüllen des Visiteprotokolls geantwortet: «Im Moment sind Sie dran.»

Aber, insgesamt, wer als Deutscher länger als drei Minuten über mörderische Ungerechtigkeit, ein Leben im schlimmsten Elend, über sein gnadenlos grausames Schicksal klagte, gehörte in den Tschad ausgeflogen. Doch was sollten die Tschadis mit uns meckrigen weißen Brötchen anfangen?

Kram des Alltags, Diffuses, Verwobenes, Lebenskurven. Sauve qui peut! Aber besaß nicht jedermann die Option, sich mit Anstand… Einfallsreichtum… sogar mit Eleganz durchzubringen?

Hamburg erwachte.

Nach der Sicherheitskontrolle steckte sie die Schlüssel wieder in die Hosentasche. Noch hatte sie den Schal zweifach um den Hals geschlungen, die Strickmütze über die Ohren gezogen. Muffige Kluft fürs strapazierte Februargemüt. Vor ihr schoben Passagiere ihre Gepäckkarren und erwachten, wie sie, langsam aus der Nacht. Andere dösten weiter auf den Sitzen vor den Check-ins der frühesten Flüge. An der Bar sammelten sich Unausgeschlafene mit hängenden Gesichtern. Der Kellner plazierte für den Tag die Edelstahlkugeln mit Zucker auf der Theke. Er und seine asiatische Kollegin waren Helden. Mehrmals die Woche quälten sie sich um vier Uhr früh aus den Betten, um ab sechs Cappuccino aufzuschäumen und Hot dogs anzuwärmen.

Ihr Gepäck hatte sie aufgegeben, es rollte irgendwo durch den Terminal und landete in ein paar Stunden mit ihr am Bestimmungsort oder verirrte sich nach… Lahore?

Es hatte keinen Sinn, eine Fehlzustellung und deren Folgen jetzt abzuwägen. Fürs Meer hatte sie wahrscheinlich wieder zu viele Klamotten eingepackt. Falls der Rollkoffer in Pakistan landete, konnte sie in einer Schnäppchenboutique ein paar Sachen kaufen.

Sie sah’s mit Schaudern. Ein Passagier am Tisch trank Bier. Kein Mann nach ihrem Geschmack. Andererseits bewies er Mut zum Bier vor Sonnenaufgang. So einem kühlen Pils mußte man sich um diese Uhrzeit schließlich innerlich stellen. Entweder war der Dicke ein völlig unbeschwerter Charakter – ein Leben nach dem Motto: schief, aber fidel – oder ein schwerer Alkoholiker. Leitete er seinen Urlaub immer mit einem kräftigen Schluck ein? Seine Begleiterin schien daran gewöhnt. Nicht nur das, sie schenkte sich auch ein Holsten ein. Säufer. Aber mit dem Begriff war das fettige Paar für den, der es in seinen Perspektiven und Abgründen erfassen wollte, sicherlich nicht annähernd erkundet. Er trug einen Filzhut, trachtenähnlich, eine Nummer zu klein.

Christine Perlacher schob ihren Wagen mit Handgepäck zur Bar.

Eine Woche Urlaub war ideal, um mit dem Rauchen aufzuhören. In völliger Ruhe konnte sie sich auf ihr Heil besinnen. Für die Gesundheit und ein langes Leben den entscheidenden Schritt unternehmen. Sollte sie auf Druck der amerikanischen Lustfeindlichkeit und des dauernden Fitneßgebots nicht mehr rauchen? Mit dem Verzicht leistete sie einer neuen Form der Sklaverei Vorschub. Mußte sie nicht vielmehr europäisch unkalkulierbar und lebhaft rebellisch bleiben? Nikotinabhängig, doch hellwach! Sie zündete sich eine Gauloise blonde an. Schon ein Zug zupfte die Nerven wach.

Der erste Aufruf, den sie wahrnahm, galt einem Flieger nach Paderborn. Dorthin sollte, wer nicht anders konnte.

Deutschland war grausam. Eine harte Maschine. Vieles funktionierte noch – die Bahn allerdings kaum mehr und das Hapag-Callcenter selten –, zudem allermeist in Regen und Kälte. Wohl dem, der zwischen Nachrichten und Terminen nicht mit einem Herzinfarkt an einem Autobahnpfeiler zusammensank. Geld! Man müsse viel Geld ausgeben, hatte der Kanzler in seiner Neujahrsansprache gefordert, damit die Arbeitslosigkeit besiegt würde. Bedeutendere Botschaften waren seiner Rede sonst nicht zu entnehmen gewesen. Eine ziemlich trostlose, eine bisher unerreicht elende Mitteilung zur förderlichen Gestaltung von Gegenwart und Zukunft. Ein Hauch mehr an öffentlicher Sinnstiftung wäre schon willkommen gewesen, wenn auch Politiker sich aus den privaten Lebensgestaltungen heraushalten sollten.

Diffuses, war alles heikel.

«Mit Milch, bitte.»

«Steht vor Ihnen.»

Mit dem schwarzgelockten Servicemann, der mit kräftig geäderter Hand und Blick aus Augen unter dunkel geschwungenen Brauen aufs Kännchen wies, gemeinsam aufzuwachen, sich noch einmal knurrend aneinanderzukuscheln, wäre ein erfreuliches Ereignis gewesen. Sie hätte geduscht, er hätte sich derweil rasiert. Sie hätten sich über den Frühstückstisch hinweg geküßt. Eine kleine Vollendung.

Die wohltuendste Handlung von Politikern wäre es – meinte der smarte Fabian, ihr Bürokollege –, zu versprechen, für vier Wochen das Maul zu halten. Der Staat besitze mehr als genug Gesetze, um einen Monat lang ohne jede Verlautbarung zurechtzukommen. Der Bürger würde sich während lautloser Wochen von Versprechungen, Worthülsen und Lügen erholen. Steuern umverteilt, Beiträge gleichfalls, dreimal am Tag wurde sich umentschieden und jeder Plan, der die Bürokratie mästete, jeweils als ein neuer Durchbruch verkündet, den fast niemand verlangt hatte. Früher sei, meinte Fabian, mit weniger Geschwafel und in korrektem Deutsch regiert worden; nun jedoch: In dieser Zeit, wo wir … Das aus dem Munde des Staatsoberhaupts!

Oder hatte sie Feinheiten der Rechtschreibreform und des angekündigten Schubs in der Bildung nicht mitbekommen?

Sie schneuzte sich.

Und woher sollten denn die ersehnten Arbeitsplätze kommen?

Nieselwetter seit Tagen.

Was sollte noch Ungedachtes produziert werden?

Immer um null Grad.

Das Land war bis unter die Dächer rappelvoll mit irgendwelchem Zeug. Fehlten noch viele Schallschluckfenster, Eieruhren und Rollerblades? Nun ja, man konnte, das Einverständnis der Mannheimer vorausgesetzt, Mannheim abreißen und es nach alten Plänen neu aufbauen. Die Stadt mußte einmal ein architektonisches Juwel gewesen sein … mit üppigen Rheinauen … zum Lustwandeln.

Es war alles zu kompliziert. Und ging sie nicht durchgehend etwas an.

Christine Perlacher schob sich auf den Barhocker.

«2 Euro 80.»

«Ich hab’s klein.» Sie fummelte die Münzen aus ihrer Geldbörse. Zu D-Mark-Zeiten hatte der Kaffee hier auch schon 2,80 gekostet.

Salzwasserschaum. Brandung.

Licht. Dem Nichts entgegen.

Auf dem Arm und in Buggys transportierten Mütter ihre schlafenden Kinder. Ein Baby plärrte zwischen Skiern über seinem Wagen, aber schwenkte seine Rassel.

Deutschland in der Krise. Möglicherweise. Gleichzeitig war es schwierig, einen Flug, beinahe egal, wohin, zu bekommen. Die Jets waren ausgebucht.

Mochte sich ein anderer einen Reim auf alles machen.

Und mittags Wein, über der Brandung.

Sonnencreme … sanft auf die Nase getupft.

Sie nahm einen Schluck aus dem weißen Porzellan. Ihre Großeltern stammten aus Augsburg. Na und? Perlacher klang ungewöhnlich für Hamburg. Wahrscheinlich war einst am Lech ein Ahn auf dem Perlachturm Feuerwächter gewesen. Es brennt! Es brennt in der Fuggerei! An die Eimer! Ein Perlacher hatte um 1550 Alarm geläutet.

Das schlichte Design der Tasse war schön. Sie lächelte. Bei jedem Anheben las sie, daß ein Gestalter den Gruß «Moin! Moin!» im Kreisrund und in kaffeebrauner Schrift in die Untertassenmitte hatte brennen lassen. Die Idee und Mühe hatten sich gelohnt. «Moin», flüsterte sie und lächelte abermals. Der Terminal füllte sich zusehends. Warum gab es noch so viele Duty-free-Shops? Die Grenzen war gefallen. Rentierten sich zollfreie Mitbringsel bei Flügen nach Asien? Lohnte es sich, nach Kapstadt Chanel und Schlipse mitzunehmen? Sie hatte den Verdacht, daß diese Läden längst, schon vor Europa, zu Luxusboutiquen mutiert waren; der Kunde meinte, billig zu kaufen, dabei war alles teurer als in der City. Die Zigaretten nicht.

Wer überhaupt kaufte spontan sündteure Lederjacken und Kristallvasen auf einem Flughafen? Die Welt bewahrte noch letzte Geheimnisse.

Sie lockerte ihren Schal nur ein wenig. Es war zugig. Die Biertrinker am Tisch orderten Helles nach. Sturzbesoffen und mit voller kalter Wampe ab in die Ferien! Das war die Sozialklientel auf Reisen. Das vielleicht 50jährige Gespann – aus Pinneberg? – lag nachts wahrscheinlich rülpsend und furzend im Doppelbett auf Mallorca. Sein Gesicht glühte explosiv. Die Partnerin zog nach einem vernehmlichen «Prosit!» ihr Schultertuch zurecht. Pferde galoppierten über die grüngerasterte Kunstseide. Ein glückliches Paar, bis zur gemeinschaftlichen Leberzirrhose.

Man hatte weder das Recht noch die Fähigkeit, alles zu bewerten. Harmlose Menschen genossen Holsten.

«Haben Sie Feuer?»

Christine Perlacher reichte ihr Feuerzeug der Frau auf dem Nebenhocker. Die Nachbarin trug ein enganliegendes schwarzes Kostüm. Eine schöne Wolljacke lag über dem abgestellten Köfferchen. Vielleicht nannte man ein solch minimales Gepäckstück aus Wildleder und mit Goldverschluß cofferette. Eine attraktive Frau auf dem Weg zu einer Beerdigung. Eine jener ranken Blondinen, die, wie die Alsterarkaden, zur Stadt gehörten. Beruflich war die Sitznachbarin gewiß steil auf dem Weg nach oben, privat nahm sie vielleicht den entgegengesetzten Weg, von einem Krach zum nächsten. Dieser Spagat verhärtete die Seele. Das war der Typ Aufsteigerin, die an der Dammtorkreuzung keinen Nebenfahrer vor sich auf die Spur einbiegen ließ.

«Hier darf man doch rauchen, oder?»

«Ich hab’ kein Schild gesehen.»

«Ich muß zur Beisetzung meiner Mutter … Ein böser Tag … Mein Mann konnte sich freinehmen, um aufs Kind aufzupassen. Wie steht man einen solchen Tag durch? Abschied. Für immer … Von der Mutter. Tschuldigung.» Die Fremde wischte sich Tränen aus den Augen. «Ich lass’ Sie jetzt. Ich geh’ ein bißchen herum … Der Kopf platzt. Ich krieg keine Luft.»

«Oh, das tut mir leid. Seien Sie tapfer.» Christine Perlacher fiel nichts Hilfreicheres ein. «Ich denk’ an Sie.»

«Das ist nett», wandte sich die blonde Frau mit der cofferette noch einmal um. Sie nahm ihre Jacke und entschwand im Menschenstrom.

Offenbar fuhren die Taxikolonnen vor. Dunkle Herren in offenen Mänteln drängten durch die Sicherheitsschleusen in die Halle. Von den Gates ging es nach Düsseldorf, München – Rheinmain. Die Firmen zahlten wahrscheinlich einen Haufen für passable Hotelunterkünfte, in denen ihre Angestellten neben abgestreiften Schuhen vorm Bett und dem Schlips über der Stuhllehne nächtigten. Heute in Hamburg, morgen in Düsseldorf – übermorgen natürlich «Ibis» in Frankfurt. Das Rückgrat der Republik telefonierte schon. Zwei Herren bissen zwischendurch in Bananen. Flughafenstaub schwebte über der Frucht. Sogar in der Morgenfrühe fand das Marketing Ansprechpartner für seine Handytelefonate. Oder grüßten die Männer ins halbleere Ehebett daheim? Ich fahre von Frankfurt nach Oberursel und bin gegen 21 Uhr zu Haus. Nein, du mußt mit dem Abendessen nicht warten. – Wenn Janine wieder nicht in die Schule will, dann setzt’s was. Bestell ihr das von mir. Oder gingen die Grüße an eine andere Adresse: Ich rufe gleich meine Frau an. Ich sag’ ihr, ich bleib’ in Chemnitz und melde mich dann wieder bei dir, Bussi, bis heute abend … Circa dreißig Herrschaften mit circa 28 Geräten am Ohr. Der Pulk hatte etwas von Vertriebenen, die hier jedoch im Kreis liefen. Ein paar Telefonierer wichen unweit der Bar einem Mitgeschäftler aus, der in sein Freisprechgehänge und damit in sämtliche umgebenden Gehirne hinein bestätigte: «300 Röhren für Bad Lauterberg. Von Butting aus Knesebeck. Rostfrei! Natürlich, alles von Butting ist rostfrei.»

Mußte jeder im Umkreis das wissen?

Sie zog ihre Strickmütze vom Kopf. Zugluft hin, Zugluft her, sie harrte schließlich nicht in der Tundra.

Entkrampfen!

Sand des Vulkans zwischen den Zehen.

Mittagsglast.

Auf dem Badetuch sich noch einmal umdrehen. Dann weiterschlafen.

Der Jahreskrampf reichte bis in die Haarspitzen.

Im Krampf selbst gewahrte man ihn natürlich nicht so drastisch wie dann aus dem Abstand.

Linderung, Zeit.

Und Licht, das nichts wollte.