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Lesbisch für Anfängerinnen geht weiter! Teil 2 der Reihe um Tina und ihre WG-Freundinnen Liebe, Mut und süße Küsse. Ein heiterer lesbischer Liebesroman. Für die frisch verliebte Tina hängt der Himmel voller Geigen. Bis Chiara auftaucht. Eine Frau, die nicht nur smart und schön ist, sondern auch folgenschwere Missverständnisse auslöst und damit Tinas heile Welt aus den Angeln hebt. Wer ist diese Frau und was hat sie vor? Wie steht sie zu Astrid und warum meldet die sich plötzlich nicht mehr? Tinas neue Nachbarin Julia, die als Privatdetektivin arbeitet, bietet ihre Hilfe an und überrascht mit verwirrenden Erkenntnissen. Damit nicht genug, taucht plötzlich Tinas Mutter auf, die noch gar nichts von der momentanen Lebenssituation Ihrer Tochter weiß, dafür aber beschließt, erst einmal bei ihr einzuziehen. Eine Situation, die sich als zunehmend kompliziert erweist. Die Ereignisse überschlagen sich, als Henriette von Lojewski, Inhaberin eines edlen Cateringservice, Tina in mehrfacher Hinsicht ein verlockendes Angebot macht. Denn das hat nicht nur mit Tinas beliebtem Kleingebäck, den Cappuccino-Küssen zu tun … Heiter, turbulent, romantisch
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Inhaltsverzeichnis
Vorwort zur Neuauflage
Vorwort zur Erstauflage
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Lesbisch für Anfängerinnen geht weiter!
Lesbisch für Anfängerinnen – wie alles begann …
Celia Martin
Lesbisch für Anfängerinnen 2:
Cappuccino-Küsse
Roman
Lesbisch für Anfängerinnen 2: Cappuccino-Küsse
Celia Martin
© 2012 Butze Verlag
© 2024 Celia Martin
Alle Rechte vorbehalten.
Cover unter Verwendung von Motiven
aus Canva und
©Shutterstock (716684365)
Dies ist eine überarbeitete Neuauflage der 2012 erschienenen Ausgabe
gleichen Titels, veröffentlicht im Butze Verlag, Uetersen
Dieses eBook, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt und darf ohne Zustimmung der Autorin nicht vervielfältigt, wiederverkauft oder weitergegeben werden.
Liebe Leserin, lieber Leser,
manchmal verfliegt die Zeit schneller, als man denkt.
Beim Erscheinen meines Erstlingswerks »Lesbisch für Anfängerinnen – Willkommen in der WG!« im Jahr 2008, das zunächst als Hörbuch, später auch in anderen Ausgaben, auf den Markt kam, war ungewiss, ob die Geschichte um die heterosexuelle Tina, deren Leben gehörig durcheinandergewirbelt wird als sie versehentlich in einer Lesben-WG landet, das Publikum mitreißen würde. Erfreulicherweise wurde das Buch ein großer Erfolg. Zwei weitere, unter anderem dieses hier, und eine Weihnachtsgeschichte rund um Tina und die WG-Frauen folgten. Dass ich immer noch so herzliche und positive Rückmeldungen dazu erhalte, freut mich sehr!
Der Butze Verlag, in dem die Erstausgaben erschienen, hat leider Ende 2023 sein Programm eingestellt, die Rechte der Reihe fielen an mich zurück. Sollte ich die Geschichten in der Schublade liegen lassen? Ganz sicher nicht, ich habe mich entschieden, sie zu überarbeiten und neu auf den Markt zu bringen.
Ich hoffe, dass die Erlebnisse von Tina und ihren neu gewonnenen Freundinnen weiterhin für unterhaltsame Lesestunden sorgen. Doch eines ist mir vorneweg wichtig: Geschrieben wurden die Bücher zu einer Zeit, seit der sich vieles verändert hat. Besonders die technischen Möglichkeiten einer zunehmend virtuellen Welt als auch die öffentliche Wahrnehmung queeren Lebens.
Zeitlos sind jedoch die Themen, die ich rund um das lesbische (Liebes-)Leben meiner Figuren aufgreife. Auch wünsche ich mir, dass Sie in den Texten das gelegentliche Augenzwinkern erkennen, mit denen ich viele Szenen geschrieben habe.
Viel Spaß bei der Lektüre wünscht
Celia Martin
April 2024
Wie geht es nun eigentlich weiter mit dem frisch verliebten Paar Tina und Astrid? Eine Frage, die nicht nur ich mir selbst immer wieder stellte.
Mit Romanfiguren ist es manchmal wie mit guten Freundinnen. Auch wenn man sich eine Weile nicht sieht, fühlt man sich einander doch eng verbunden. So geht es mir mit der kleinen Welt, die ich in „Lesbisch für Anfängerinnen – Willkommen in der WG!“ erschaffen habe. Und in die ich nun wieder eingetaucht bin. Auf einmal kamen Tina, Astrid, Käthe, Martha und viele andere wie selbstverständlich durch die Tür meiner Fantasie und gemeinsam und mit viel Spaß und Freude an der Sache haben wir die Geschichte weitergesponnen.
Jetzt wünsche ich mir, dass die Fortsetzung des Romans für alle wieder romantische, heitere, nachdenkliche und vor allem kurzweilige Momente bereithält.
Celia Martin
Mein Blick fiel auf einen süßen, kleinen Hintern, der, in ein dunkelblaues Höschen verpackt, unter der Bettdecke hervorlugte. Meine Freundin Astrid bewegte sich im Schlaf und bescherte mir diesen netten Anblick.
Ein Geräusch von draußen hatte mich an diesem Samstagmorgen ungewöhnlich früh geweckt, und nun stand ich am Schlafzimmerfenster und blickte in die herbstliche Welt hinaus. An den Bäumen, die die schmale Straße säumten, hingen noch die letzten bunten Blätter. Der Großteil bildete bereits am Boden einen braunen, feuchten Teppich. Ein paar Leute waren unterwegs, eingehüllt in dicke Jacken und bunte Schals. Ich fragte mich, wo meine Winterklamotten waren, denn ich würde sie bald benötigen. Ich war erst vor Kurzem umgezogen, zum zweiten Mal in diesem Jahr, und hatte noch nicht wieder den Überblick über alle meine Habseligkeiten erlangt. Eigentlich bin ich ein ziemlich ordentlicher Mensch, doch es hatten sich in den letzten Wochen Dinge in meinem Leben zugetragen, die definitiv mehr Aufmerksamkeit verlangten.
Mein Blick fiel wieder auf das zerwühlte Bett, aus dem ich gerade gestiegen war. Ein paar blonde, freche Haarsträhnen lugten unter der Decke hervor, und ich musste unwillkürlich lächeln. Astrid schlief noch, und ich kämpfte einen Moment lang mit mir. Sollte ich unter die heiße Dusche springen oder lieber mit ihr kuscheln? Durch die Entscheidung, die wenige Sekunden später zugunsten des warmen Bettes und der Frau darin gefallen war, wurde mir jedoch ein Strich gemacht. Das Telefon klingelte. Laut und unmissverständlich machte es mir klar, dass irgendjemand mich tatsächlich sprechen wollte. Schnell tapste ich ins Wohnzimmer, stieß mir dabei den großen Zeh an einem Stapel Bücher, die am Boden lagen statt im Regal zu stehen, und hob schließlich grimmig ab.
»Herzfeld«, meldete ich mich und hörte selbst, wie grollend meine Stimme klang.
»Hallo Tina, mein Schatz«, flötete es an mein Ohr. »Ich wollte mal deine neue Telefonnummer ausprobieren. Sie funktioniert!«
»Mutter!«, rief ich erschrocken und zog mich instinktiv mit dem Telefon etwas weiter vom Schlafzimmer zurück in die Küche. Ich benutzte noch ein altmodisches Telefon, so eines mit Kabel, und musste jetzt ein wenig daran zerren. Mutters hellwache Stimme drang durch den Hörer. Natürlich war zu erwarten gewesen, dass sie mich irgendwann anrief. Keine Frage.
Sie hatte sich in den letzten Monaten eher selten bei mir gemeldet, und auch ich hatte, aus verständlichen Gründen, nicht gerade vehement den Kontakt zu ihr gesucht. Immerhin war ich aus einer festen Beziehung heraus geflüchtet, während sie mich in ihrer Fantasie sicherlich schon vor dem Traualtar hatte stehen sehen. Mutter beschrieb meinen Ex immer noch begeistert in den glühendsten Farben und brachte wiederholt zum Ausdruck, wie sehr sie meinen Auszug bei ihm bedauerte. Ich hatte ihr meine Beweggründe noch nicht wirklich konkret geschildert, zumal wir gerade im letzten halben Jahr sehr wenig miteinander gesprochen hatten. Es war die Zeit, die ich in einer WG gelebt und dort neue Freundinnen gefunden hatte.
Diese Monate, unter lauter Lesben, hatten mich verändert. Wesentlich klarer und selbstbewusster war ich mir vorgekommen, als ich vor einigen Wochen eine eigene kleine Wohnung gemietet hatte. Tja, und es gab eine neue Liebe in meinem Leben, sie war so frisch, dass ich manchmal nachsehen musste, ob sie noch da war. Meine Gefühle für Astrid hatten mein Leben ganz schön auf den Kopf gestellt. Da war vieles andere auf der Strecke geblieben. Natürlich war mir das die ganze Zeit im Kopf herumgegeistert: Wie sag ich’s meiner Mutter? Aber wie so oft in solchen Dingen, es bestand ja keine Eile, dachte ich und schob den Augenblick der Wahrheit einfach stets ein wenig weiter nach hinten. Jetzt, mit Mutters munterem Geplauder am Ohr, dämmerte mir, dass es so ganz unendlich weit aufschiebbar nicht mehr wäre. Insbesondere, als ich sie sagen hörte: »... und dieses Jahr kommst du an Weihnachten und wir feiern entspannt en famille!« Mutter hatte schon immer einen Hang zum Französischen, aber das war es nicht, was mich mit einem Ruck wieder in die Wirklichkeit dieses Herbsttages brachte.
Weihnachten stand auf einmal bedrohlich nah vor der Tür. Es kam ja, wie üblich, immer so plötzlich und ich hätte es fast vergessen. So stammelte ich irgendetwas, das sie vermutlich als Zustimmung auffasste.
»Wie geht es Papa?«, fragte ich, doch Mutter wurde gerade jetzt scheinbar durch andere Dinge in Beschlag genommen.
»Oh, es klingelt!«, rief sie im selben Moment in den Hörer, und wir beendeten unser Gespräch mit dem gegenseitigen Versprechen, uns bald wieder zu melden. Sie dachte vermutlich daran, die Details des Weihnachtsfestes mit mir zu besprechen, und ich dachte an die nebenan friedlich schlummernde Astrid, und wie ich sie meinen Eltern als Schwiegertochter vorstellen sollte.
»So, ihr zwei, ich liebe jetzt eine Frau«, käme sicherlich etwas überraschend. »Das ist Astrid. Meine Freundin. Ihr wisst schon – Freundin«, würden sie vermutlich nicht verstehen.
Ich würde mir etwas einfallen lassen müssen. Mein Blick fiel auf den Kalender. Es waren noch über acht Wochen bis Heiligabend, die erfahrungsgemäß wie im Flug vergehen würden. Mir wurde flau im Magen, und ich stolperte in die Küche, um uns Kaffee zu kochen.
»Na, Süße!«
Astrid kam mit immer noch vom Schlaf verstrubbelten Haaren in die Küche. Ihre Nase kräuselte sich leicht beim Duft des frisch gebrühten Kaffees. Sie gähnte und rekelte sich ausgiebig und ungeniert, wobei sie die Arme weit nach oben hob. Fasziniert beobachtete ich, wie der Saum ihres T-Shirts dabei provozierend langsam an ihren schlanken, straffen Schenkeln entlangwanderte. Ich schluckte und versteckte meine Verwirrung hinter der Kaffeetasse. Es war mir immer noch nicht ganz geheuer, wie sehr ich auf meine Freundin abfuhr. In den paar Wochen, die wir inzwischen ein Paar waren, war mir das täglich voller Staunen bewusst geworden. Astrid, dieser kleine erotische Teufel, schien meine Nervosität zu spüren. Sie grinste mich auf ihre unverschämt selbstbewusste Weise an und senkte ihren Mund auf meinen Hals, wo sie Dinge tat, die mir sofort eine heftige Gänsehaut bescherten. Nicht nur an den Körperstellen, an denen ich nun ganz direkt ihren warmen Atem spürte ...
»Hatte nicht vorhin das Telefon geläutet?«, fragte sie plötzlich und richtete sich ruckartig wieder auf. Ich seufzte unwillig über diese Unterbrechung und erzählte ihr, wer angerufen hatte.
»Oh«, war ihr einziger Kommentar und schlagartig blickte sie ernst. »Du hast es ihr noch nicht gesagt, oder?« Während sie sich vorsichtig eine Tasse Kaffee eingoss und recht viel heiße Milch dazutat, schüttelte ich den Kopf.
»Irgendwie hatte ich noch keine Zeit dazu«, murmelte ich. Es war mir klar, wie bescheuert das klang. Astrid setzte sich mir gegenüber an den Küchentisch und trank, wobei sie ein wenig schlürfte. Das tat sie morgens immer, denn immer war ihre Tasse zu voll und ihr Kaffee zu heiß, aber das wusste ich erst seit Kurzem und war mir nicht im Klaren darüber, ob ich es niedlich oder nervig fand. Wie gesagt, wir befanden uns im Anfangsstadium unserer Beziehung. Es gab da sicherlich noch sehr viel Terrain, das zu erkunden war.
»Tja, da müssen wir alle mal durch«, meinte Astrid. Ihre blauen Augen waren ganz dunkel geworden. Wie immer, wenn sie nachdachte. »Vielleicht lädst du deine Eltern ja mal ein, erzählst ihnen von mir und dann komme ich so ganz nebenbei dazu, damit sie mich kennenlernen können ...« Der Rest des Satzes stand in der Luft und bewegte sich nicht mehr.
»Du meinst, das würde die Sache einfacher machen? Wenn sie dich hier schon erleben, so ganz integriert in mein Leben? Ich weiß nicht ...«, erwiderte ich schließlich, nachdem ich vergeblich versucht hatte, mir die Situation vorzustellen.
»Meine Eltern sind eher ... konservativ.« Das letzte Wort brachte ich nur mühsam beherrscht heraus, dann fing ich bereits an zu lachen. Astrids Augen hatten sich zusammengezogen, dann prustete sie ebenfalls los.
»Wie sagt man noch – der Apfel fällt nicht weit vom Stamm«, japste sie schließlich. Wir amüsierten uns schlicht und ergreifend darüber, wie konservativ ich selbst vor nicht allzu langer Zeit gewesen war. Bevor ich aus Versehen in eine Wohngemeinschaft mit lauter Lesben gezogen war und sich mein Leben dramatisch verändert hatte. Ich wurde wieder ernst.
»Also, wir haben noch ein bisschen Zeit, um sie darauf vorzubereiten, dass ich entweder mit dir oder gar nicht komme und dann sagen wir es ihnen.«
»Wohin kommen? Wieso wir?« Astrid war jetzt ernst geworden.
»Wie jetzt, wieso wir?«, fragte ich verdattert. »Ich dachte, du und ich ... an Weihnachten ...«
Astrid stand abrupt auf. »Oh, Tina, nicht so. Auf jeden Fall musst du es deinen Eltern vorher sagen. Du! Ich trete gerne in Erscheinung, damit sie sehen, dass du dich nicht in ein Monster verliebt hast. Aber dein Coming-out, das machst du besser allein und auf jeden Fall vorher. Ob Weihnachten dafür der geeignete Zeitpunkt ist, ob ich überhaupt Lust habe auf so ein Fest inmitten deiner Familie, das sollten wir erst einmal in Ruhe besprechen, bevor du mich im Kopf verplanst.«
Sie stand da und schaute mich an. So ernst hatte ich sie selten gesehen.
»Ich habe nämlich gar keine Lust auf ein wie auch immer geartetes Versteckspiel, das damit endet, dass ich dich nicht anfassen und nicht küssen, geschweige denn, mit dir die Nacht in einem gemeinsamen Zimmer verbringen darf. Und ich stehe überhaupt nicht darauf, als beste Freundin vorgestellt zu werden und mir womöglich Fragen nach irgendwelchen Freunden oder Lebenspartnern anzuhören. Wenn ich mit dir zu deinen Eltern fahre, dann erst, nachdem sie die Wahrheit wissen. Von dir!«
»Aber ... wie ... was ... ich weiß gar nicht, wie das geht«, stotterte ich. Ein Gefühl grenzenloser Einsamkeit überkam mich.
»Das wussten wir alle nicht«, stoppte Astrid meinen stockenden Redefluss. »Ich für meinen Teil will mit derlei Dingen nichts mehr zu tun haben. Mir reicht mein eigenes Coming-out, obwohl es bei mir eigentlich keine große Sache war. Unterstützung kriegst du von mir auf jeden Fall – aber ich kenne dich, meine Süße. Wenn ich nicht aufpasse, bringst du es fertig, mir dein Coming-out aufs Auge zu drücken. Da ziehe ich mich lieber rechtzeitig zurück.«
Damit stupste sie mir mit dem Finger auf die Nase. Ein Zeichen, dass ihre Worte eher als Aufmunterung zu verstehen waren. Ob mir das helfen würde? Zerknirscht blickte ich vor mich hin. »Willkommen im lesbischen Alltag, Tina«, murmelte ich dazu.
Zwei Stunden später steuerte ich das kleine, sündhaft teure Café an, in das mich meine Freundin Vera so gerne einlud. Wie meistens saß sie bereits am Tisch und studierte die große Karte.
»Tina, Liebes!«, rief sie und zog mich zur Begrüßung an sich. Von Vera umarmt zu werden, ist immer eine ganz besonders angenehme Sache. So auch dieses Mal. Ihr haselnussbraunes, halblanges Haar kitzelte meine Wange. Sie roch wieder zum Anbeißen gut und da sich ihre entspannte Warmherzigkeit sowieso meist in Sekundenschnelle auf mich übertrug, fühlte ich mich immer total wohl in ihrer Nähe. Vera hatte ich auch meine Wohnung zu verdanken, ihr Gatte war Makler und sie hatte bei ihm ein gutes Wort für mich eingelegt.
»Du siehst blass aus«, stellte sie Sekunden später fest und musterte mich leicht besorgt. Tatsächlich bin ich mit meinen dunklen Haaren und den braunen Augen eher der mediterrane Typ, der stets ein wenig nach Sommer aussieht, nicht so leicht blass wird. Scheinbar war mir jedoch an diesem Tag das Telefonat mit meiner Mutter auf den Magen geschlagen. Während ich fasziniert auf Veras frisch manikürte Fingernägel starrte, kurz geschnitten und mit einem golden schimmernden Lack versehen, als bereite sie sich damit schon auf Weihnachten vor, erzählte sie mir von einer Wohltätigkeitsveranstaltung, die eine ihrer reichen Freundinnen am kommenden Wochenende sponsern würde.
Alle von Veras Freundinnen waren reich, so wie Vera. Vermutlich war ich die einzige Normalverdienerin, die sie kannte. Dabei hatte Vera überhaupt keine Standesdünkel. Wenn wir beide uns nicht eines Abends auf eine skurrile Art zufällig auf der Damentoilette eines Varietés kennengelernt hätten, würde ich diese wunderbare Freundin gar nicht haben. Darüber mochte ich nicht nachdenken. Vera war mir in der kurzen Zeit unserer Bekanntschaft heftig ans Herz gewachsen.
»Babette kommt gleich auf einen Sprung vorbei. Du hast doch nichts dagegen?«
Ich schüttelte lächelnd den Kopf und bestellte etwas, das Vera mir empfahl.
»Köstlich, einfach köstlich diese Kuchen hier«, schnalzte sie mit der Zunge, und ich musterte neidvoll ihre ultraschmale Silhouette. Wie sie es schaffte, so schlank zu bleiben, war mir ein Rätsel. Vera aß und trank gerne. Wo ich stets aufpassen musste, damit am nächsten Tag der Hosenbund nicht kniff, schien sie sich überhaupt keine Gedanken darüber zu machen. Kalorien waren eindeutig ein Fremdwort für sie.
Gleich darauf rauschte tatsächlich Babette herein. Eine vollschlanke Frau, mittleren Alters, mit kurz geschnittenem, grauem Haar und freundlichen Augen.
Ihr fester Händedruck zerquetschte mir fast die Finger. Als sie sich neben mich setzte, meinte ich einen leichten Geruch nach Pferdestall wahrzunehmen.
»Ich will euch gar nicht lange stören«, trompetete sie sogleich über den Tisch. »Aber es gibt noch ein paar Aufgaben zu verteilen, weil eine unserer Sponsorinnen ausgefallen ist.« Ihr Blick senkte sich kurz betrübt auf die Tischdecke, bevor sie in gedämpftem Ton fortfuhr: »Wir haben alles schon soweit es ging geregelt. Lediglich ein Kuchenstand wäre noch offen. Um es kurz zu machen, Vera, wir rechnen mit dir.« Damit legte sie meiner Freundin kurz die Hand auf den Arm, mit der anderen verscheuchte sie den gerade heraneilenden Kellner.
»Bin sofort wieder weg«, ächzte sie beim Aufstehen und sortierte ihren Lodenmantel in einen gleichmäßigen Faltenwurf.
»Hat mich gefreut«, schmetterte sie mir ins Ohr und drückte noch einmal meine Hand, die sich danach erst recht wie taub anfühlte. Dann nickte sie Vera aufmunternd mit den Worten zu: »Wir zählen auf dich.« Gleich darauf war sie verschwunden.
Vera zog die Mundwinkel nach unten und stöhnte laut auf. »Kuchenstand! Und das mir!«
»Na ja, du kannst doch den Kuchen hier kaufen«, meinte ich. Vera schaute mich ungläubig an und wies mich darauf hin, wie unmöglich das wäre.
»Nein, Tina. Das ist total verpönt. Der Wohltätigkeitsbasar lebt von den selbst gemachten Dingen, zumindest was die Verpflegung anbelangt.« Sie biss sich nervös auf die Unterlippe.
»Ach, da könnte ich dir helfen«, hörte ich mich sagen.
Veras Kopf zuckte.
»Du weißt ja, wie gerne ich backe und koche. Wenn du willst, mache ich etwas für deinen Stand und helfe dir dabei, es zu verkaufen.«
In Veras bernsteinfarbenen Augen fing es an zu funkeln. »Das würdest du für mich tun?«
Ich nickte heftig. Endlich konnte ich mich einmal ansatzweise für all die Dinge revanchieren, die Vera für mich in den vergangenen Monaten getan hatte. Ohne Vera wäre ich sicherlich nicht da, wo ich jetzt war.
»Schau«, ich schob den Teller mit dem Käsekuchen beiseite und zählte ihr an den Fingern einer Hand auf, was wir machen konnten. »Ich backe eine meiner Spezialitäten. Etwas Besonderes. Nicht so eine von den Kuchensorten, die man überall bekommt. Du sorgst für den Transport«, ich hatte immer noch kein Auto, »ich helfe dir beim Verkauf und bin sicher, am Ende des Tages kommt ganz schön etwas für euer Projekt zusammen.«
»Das wäre ja wunderbar!« Vera klatschte vor Freude in die Hände. »Und was willst du backen?«, fragte sie mich mit Verschwörerinnenmiene.
Einen Moment lang überlegte ich. Es musste etwas sein, das auffallen würde. Etwas, das ich gut vorbereiten und in meiner kleinen Küche problemlos in rauen Mengen backen konnte. Da fiel mir nach kurzem Nachdenken etwas ein, das perfekt passen würde. »Wir werden meine absolut umwerfenden Cappuccino-Küsse verkaufen«.
In der kommenden halben Stunde redeten wir über nichts anderes als den bevorstehenden Wohltätigkeitsbasar. Als wir uns verabschiedeten, waren Mutters Anruf und mein bevorstehendes Coming-out in weite Ferne gerückt. Jetzt war ich wieder mit ganz anderen Dingen beschäftigt.
Astrid war gleich nach dem Frühstück in ihre eigene Wohnung zurückgefahren. Lediglich das zerwühlte Bett und ein kleiner Zettel am Spiegel auf dem stand: Morgen Abend Kino? waren Zeugen dafür, dass sie die letzte Nacht bei mir verbracht hatte. Natürlich hing noch ihr zarter Duft im Raum, und wenn ich an sie dachte, wurde mir warm und angenehm ums Herz. Astrid und ich waren ziemlich verschieden, das hatte ich inzwischen gemerkt. Sie war ein bisschen unordentlicher als ich, ein wenig pragmatischer in vielen Dingen und sie schubste mich durchaus auch mal gerne ins kalte Wasser. In Situationen, in denen ich dann alleine klarkommen musste.
Mir kam es oft so vor, als bliebe sie dabei am Ufer stehen, um mir zuzusehen, wie ich mich in den kalten Gewässern schlug. Wie eine Trainerin, die zwar voller Anteilnahme, dennoch gelassen, ihre Kommentare zu den Schwimmversuchen ihres Trainees abgab. So würde es also auch jetzt wieder sein, denn kaum war ich zu Hause angelangt, erinnerte ich mich an das Telefonat vom Vormittag und die Tatsache, dass ich meiner Mutter demnächst würde reinen Wein einschenken müssen. Meine Mutter ist eigentlich eine sehr patente, aufgeschlossene Person. Sonst wäre sie sicherlich die vielen Jahre mit meinem Vater nicht ausgekommen. Vater ist im Beruf sehr engagiert, doch zuhause überlässt er ihr das Regiment. Er hat dabei wenig Interesse an sozialem Leben, wenn sie nicht die ganzen Beziehungen pflegen und ihn ab und zu aus seiner Höhle ziehen würde, verbrächte er vermutlich seine ganze Freizeit mit seinen Hobbys in Haus und Garten.
Dennoch haben beide etwas gemeinsam, die strengen Prinzipien, die sie ihrem einzigen Kind stets mit auf den Lebensweg gegeben haben. Eine lesbische Beziehung war auf diesem nicht vorgesehen und würde vermutlich wie eine Bombe in die konservative, heile, kleine Welt des Provinzkaffs einschlagen, in dem ich groß geworden war. Sollte mein anstößiges Liebesleben dort aus irgendeinem Grunde bekannt werden, hätte Mutter sicher eine Menge mehr emotionalen Stress auszuhalten, als sie bereit war, auf sich zu nehmen. Astrid hatte heute früh anklingen lassen, eine solche Situation sei nichts Neues und alle müssten früher oder später da durch. Mehr hatte ich aus ihr nicht herausgekriegt. Was zum einen an Astrids morgendlicher Mundfaulheit lag und zum anderen an ihrer plötzlichen Eile. Eine halbe Stunde später war sie fort, lediglich ein feuchtes Handtuch am Boden des Badezimmers und den Duft ihres Apfelshampoos in der Luft zurücklassend.
Meine Beziehung zu Astrid war noch ganz jung, ganz frisch und wir waren über beide Ohren verliebt. Bevor wir zusammengekommen waren, hatte Astrid ziemlich lange baggern müssen, denn ich war gefühlsmäßig nach einer gescheiterten Beziehung nicht frei gewesen. Eine Liebesgeschichte mit einer Frau konnte ich mir damals gar nicht vorstellen, so etwas existierte in meiner Welt bis dahin nicht. Erst das Leben in einer WG mit lauter lesbischen Frauen hatte mir die Augen für diese Seite des Lebens geöffnet. Dann hatte es Peng gemacht, und ich war in Astrids blauen Augen versunken wie in einem Strudel.
Hätte ich mir so etwas früher nicht einmal vorstellen können, so erschien es mir inzwischen wie das Natürlichste auf der Welt. Frau liebt Frau. An diesem Punkt meiner Überlegungen kam wieder Mutters Anruf ins Spiel. Unbehaglich wurde mir klar, dass meine Eltern das nicht so natürlich sehen würden. Vermutlich mussten sie langsam an das Thema herangeführt, behutsam an die neue und im Alltag noch weitgehend unerprobte Lebenswelt ihrer Tochter gewöhnt werden. Ein tiefer Seufzer ertönte in der Küche, es war meiner. Das Thema war unerquicklich und ich beschloss, es zu verschieben. Ich könnte nächste Woche einmal Käthe anrufen. Sie war die Fachfrau für solche Dinge, leitete in der Lesbenberatungsstelle eine Trennungsgruppe, kannte jede Menge Lesben, die dort andere Gruppen für jede nur erdenkliche Lebenslage leiteten und würde mir sicherlich hocherfreut bei meinem Vorhaben zur Seite stehen.
So vertagte ich die ganzen Überlegungen und wandte mich endlich dem zu, was ich Vera versprochen hatte. Ich zog mein handgeschriebenes Rezeptbuch hervor und suchte nach der Zubereitung für die kleinen Gaumenschmeichler, die ich vorbereiten würde. Es war eine meiner eigenen Kreationen, und ich hatte sie Cappuccino-Küsse getauft.
Ich hatte nicht mehr alle Zutaten im Haus, was mir noch einen kleinen Spaziergang zum Supermarkt eintrug. Danach konnte es losgehen. Am Abend stand ich, mit Schokoflecken im Gesicht und Puderzucker im Haar, stolz in meiner Küche. Ein Backblech nach dem anderen wanderte in den Ofen. Ich buk kleine flache Schokoladenmakronen, spritzte eine Cappuccino-Creme auf eine, setzte sie mit einer zweiten zusammen und versah alles mit einem Tupfer weißer Schokoglasur. Ich konnte es noch! Die Dinger schmeckten verteufelt gut, und nachdem ich mich versichert hatte, das Rezept immer noch perfekt hinzukriegen, stellte ich die ersten Berechnungen an. In Anbetracht der Kapazität meines Backofens und der Zeit, die ich für die Zubereitung, das Backen, das Auskühlen und anschließende Verpacken in kleine Cellophantüten brauchte, würde ich vermutlich den gesamten Freitag und Samstag über in der Küche stehen. Sei’s drum, dachte ich mir. Hauptsache, der Basar am Sonntag wurde ein Erfolg.
Nachdem ich geduscht hatte, suchte ich mir das Programm der Lesbenberatungsstelle heraus, das irgendwo in einem Stapel Zeitschriften schlummerte. Ich wollte wissen, wann ich Käthe dort erreichen konnte. Wir zwei kannten uns schon ein paar Monate, sie war quasi Dauergast in meiner ehemaligen WG gewesen, aber zuhause bei ihr war ich noch nie, hatte auch nicht ihre Nummer. Obwohl ich sie inzwischen ganz gut leiden mochte, am Anfang war sie mir eher unsympathisch gewesen, war immer noch eine leichte Distanz zwischen uns zu spüren. Während ich in dem kleinen Heftchen blätterte, stieß ich auf die Ankündigung einer anderen Gruppe.
»Coming-out-Gruppe«, las ich. Die Gruppenleitung hatte eine gewisse Petra, die ich flüchtig kannte.
»Vermutlich ist das genau die passende Sache für mich«, murmelte ich mir aufmunternd zu. Damit war ich auf die Möglichkeit gestoßen, die ich brauchte und damit meinem Vorhaben einen großen Schritt näher gekommen. Petra und ihre Gruppe wäre genau das Richtige für mich.
»Tina!« Die große Frau mit den kurzen, braunen Locken lachte übers ganze Gesicht, als sie mich sah. Dann reichte sie mir ihre Hand und drückte meine so fest, als wolle sie mich gar nicht mehr loslassen.
»Komm, setz dich!«
Die Räume der Lesbenberatungsstelle waren hell und kuschelig zugleich. Ein paar Frauen saßen herum und blätterten in Zeitschriften und Büchern, die man hier ausleihen konnte. Petra zog mich in ein kleines Beratungszimmer und deutete fragend auf eine Kanne Kaffee. Ich nickte und während sie mir eine Tasse eingoss, legte ich mir die nächsten Worte zurecht. Petra kannte durchs Hörensagen in etwa meine Geschichte.
»Du willst also in meine Coming-out Gruppe kommen?«, fragte sie lächelnd und ließ sich mir gegenüber nieder. Während sie die Hände um die dampfende Tasse legte, nickte ich. Ich hatte ihr am Telefon mein Anliegen schon kurz geschildert.
»Gibt’s einen besonderen Grund? Du bist ja eigentlich schon richtig mittendrin im Lesbenleben, nach allem, was ich weiß«, fuhr sie fort.
»Meine Mutter«, platzte ich heraus und spürte im nächsten Moment, wie ich rot wurde.
»Ah.« Petra lehnte sich zurück. Ihr Lächeln war zu einer feinen Linie verblasst und ihre dunklen Augen musterten mich aufmunternd und abwartend zugleich.
»Ja. So ziemlich alle in meinem privaten Freundeskreis wissen Bescheid. Nicht alle im Büro, natürlich.«
»Das ist auch nicht nötig. Das macht jede nach Gusto«, erklärte Petra sanft.
»Vor ein paar Tagen rief meine Mutter an. Sie will, dass ich an Weihnachten zu meinen Eltern komme«, tastete ich mich weiter voran. Petra nickte nur.
»Jetzt bin ich mir nicht sicher, wie ich ihr die frohe Botschaft überbringen soll.« Ich kicherte hysterisch nach diesem Satz und wurde prompt mit einem Schluckauf belohnt. Der kommt immer, wenn ich nervös bin. Wir nippten an unserem Kaffee und schwiegen beide einen Moment lang.
»Es geht also um die Familie«, rekapitulierte Petra, »die zu Weihnachten nicht aus allen Wolken fallen soll.«
Nachdem das geklärt war, fragte sie mich nach meinen Erwartungen an die Gruppe und meiner Bereitschaft, dort konstruktiv mitzuarbeiten.
»Es geht nicht nur darum, für sich selbst etwas herauszuziehen, sondern den anderen auch etwas von sich selbst mitzuteilen. Einige der anderen Frauen sind allerdings noch nicht so weit wie du, die meisten können ihre Gefühle nicht so richtig einordnen. Das kennst du ja.«
Allerdings, denn ich hatte sozusagen ein Stahlbad in Sachen lesbischer Lebensweise hinter mir.
Nun erzählte mir Petra ein wenig von der Gruppe, bevor sie mich offiziell als neue Teilnehmerin aufnahm.
»Diese Woche treffen wir uns nicht. Komm am besten am nächsten Donnerstag um sieben. Dann kann’s losgehen.«
Wir schüttelten uns kurz die Hand, dann trabte ich davon. Irgendwie war ich sogar stolz auf mich. Immerhin hatte ich es gepackt, das Thema anzugehen. Jetzt war mir leichter ums Herz.
Astrid fand meine Idee ebenfalls gut. Als wir am Abend in unserer Lieblingskneipe saßen, erzählte ich ihr von meinem Vorhaben.
»Gute Idee«, meinte sie und blinzelte mir über den Rand ihres Weinglases zu. »Petra ist die Richtige. Sie leitet die Gruppe schon seit Jahren. Vermutlich kennt sie jede Lesbe hier in der Stadt persönlich. Man könnte auch sagen, sie sitzt an der Quelle.«
Ein leises Glucksen ihrerseits irritierte mich. Irgendwie schienen sich die Lesben dieser Stadt alle zu kennen. Oder kam nur mir das so vor? Jedenfalls hatte mich die Eifersucht in den vergangenen Wochen ganz schön oft gepackt und ihren spitzen Stachel in mein Herz gesenkt. Jedes Mal, wenn Astrids Augen beim Anblick einer Fremden aufleuchteten oder sie sich mit einer mir unbekannten Frau zur Begrüßung in den Armen lag, jagten völlig irrationale Gedanken durch meinen Kopf. In solchen Momenten fragte ich mich, ob ich wirklich die Richtige für sie sei. Astrid, die schon so viele Erfahrungen gemacht hatte, und ich – die lesbische Anfängerin! Dummerweise kam noch etwas anderes hinzu. Während sie über meine Beziehung, die ich vor ihr hatte, Bescheid wusste, hatte sie auf meine vorsichtigen Nachfragen immer nur ausweichend geantwortet.
Nun kamen wir aufs Wochenende zu sprechen. Astrid reagierte etwas säuerlich auf meine Backaktion. »Muss das sein? Immerhin habe ich seit Langem einmal wieder ein paar Tage am Stück frei.«
»Vera ist ohne mich aufgeschmissen. Sie kann nicht backen und alles soll hausgemacht sein. Sonst gilt es irgendwie nicht.«
»Diese Societyladys«, murmelte meine Liebste.
Meine Augenbrauen schossen nach oben und warnten sie noch rechtzeitig. Kein Wort gegen Vera! hieß das, und Astrid winkte gleich beruhigend ab.
»Schon klar, ich mag sie ja auch. Und das Wochenende darauf habe ich ebenfalls noch frei. Danach wird’s hektisch. Die ganze Vorweihnachtszeit ist Stress pur.«
Sie fuhr sich mit der Hand durch die kurzen Haare und blickte sich im Lokal um. Gleich darauf hob sie kurz die Hand und grüßte mit einem Grinsen jemanden hinter mir. Ich drehte mich nur kurz um und sah eine mir völlig fremde Frau mit kastanienbraunem Haar am Tresen sitzen, die direkt zu Astrid herübersah.
»Wer ist das denn?«, fragte ich so beiläufig wie möglich.
»Ach, eine alte Bekannte«, wiegelte meine Freundin ab und schaute angelegentlich wieder in ihr Weinglas. Im Prinzip wusste ich natürlich, wie harmlos das alles war. Meine Fantasie galoppierte dennoch manchmal mit mir davon. Was, wenn Astrid plötzlich feststellen würde, ich sei ein Irrtum? Diese merkwürdigen Ängste holten mich in solchen Situationen hin und wieder ein und schüttelten mich durch.
»Wenn ich mit jemandem zusammen war und mich mit der Frau immer noch gut verstehe, warum denn nicht befreundet bleiben?«, war die gängige Meinung unter meinen lesbischen Bekannten. Als Paar getrennt, als Freundinnen wieder vereint, das gab es öfter. Astrid schaute mich schelmisch von unten her an.
»Die Frau an der Theke ist die Freundin einer Freundin. Zufrieden?«
Dann nahm sie meine Hände in ihre und mir wurde wieder wohler.
Kurz darauf verließen wir das Lokal und gingen eng umschlungen zu Astrids Wohnung, die näher lag als meine.
»Ganz schön kalt«, meinte Astrid und blies in ihre Hände.
»Höchste Zeit sich zu wärmen«, murmelte ich. Kichernd rannten wir das letzte Stück, weil wir es auf einmal kaum noch erwarten konnten, zusammen unter die warme Decke in Astrids Bett zu kriechen.
»Frau Herzfeld, kommen Sie bitte einmal.«
Der angestrengte Ton unserer Abteilungssekretärin ließ nichts Gutes ahnen. Dementsprechend unsicher stakste ich ins Büro meines Vorgesetzten, der mich mit einer knappen Handbewegung und ohne von seinen Unterlagen aufzublicken, aufforderte, mich zu setzen. Eine Minute lang saß ich so da, ihm gegenüber, und betrachtete mangels anderer Aussicht die beginnende Glatze, die sich an seinem Oberkopf auszubilden begann. Endlich unterschrieb er das Dokument, das seine Aufmerksamkeit so lange auf sich gezogen hatte, und schraubte danach umständlich den Füllfederhalter zu.
»Wie lange sind Sie schon bei uns?«, startete er plötzlich das Gespräch.
»Äh ... «, machte ich und dachte angestrengt nach.
»Ich sage es Ihnen«, unterbrach er meine Gehirntätigkeit. »Lange genug, um befördert zu werden.«
Also, darum ging es! Seit Frauke, meine Lieblingskollegin, den Job gewechselt hatte, saß ich alleine im Büro. Wenn man von der gelegentlichen Anwesenheit eines mundfaulen Azubis im ersten Ausbildungsjahr einmal absah. Klaglos hatte ich etliche Überstunden geschoben und nebenbei versucht, dem ziemlich desinteressiert wirkenden Früchtchen, so nannte ich ihn inzwischen insgeheim, etwas beizubringen. Ohne Erfolg, wenn man mich fragte.
Das schienen nicht alle so zu sehen, wie ich gleich merken sollte.
»Herr Mückling, der Auszubildende in Ihrer Obhut, ist der Neffe eines unserer Vorstände«, informierte mich die leicht näselnde Stimme meines Vorgesetzten nämlich gerade. »Er hat gute Fortschritte gemacht und wurde für das hausinterne Stipendienprogramm vorgeschlagen.«
Diese Nachricht verschlug mir allerdings die Sprache, daher lauschte ich stumm den weiteren Ausführungen.
»Sie wissen, was das heißt. Berufsbegleitendes Studium. Als Mentorin hier in der Firma hat man Sie ins Auge gefasst. Herr Mückling fühlt sich offensichtlich von Ihnen gut angeleitet.«
Das konnte ich mir vorstellen! Dreiviertel seiner Arbeit musste ich korrigieren, was ich meist stillschweigend tat. Und dafür wurde der jetzt auch noch belohnt! Studienprogramm! Ich wusste, was das hieß. Früchtchen Mückling würde sich fortan weiterhin vor jeder geistig und körperlich anstrengenden Arbeit drücken, auf Firmenkosten immer mal wieder ein paar Monate verschwinden, um ein Blockstudium in Betriebswirtschaft zu absolvieren und mir obläge es weiterhin, ihn bei seiner dazwischen liegenden Anwesenheit hier im Hause mit mundgerechten Informationen zu füttern, damit er sowohl seine Ausbildung als auch sein Studium mit Glanz und Gloria abschloss. Ein Scheißjob.
»Na, Herzfeld, was sagen Sie dazu?«, munterte mich mein Gegenüber mit angestrengtem Lächeln auf.
»Bin sprachlos«, verkündete ich so wahrheitsgemäß wie möglich.
»Damit hätten Sie wohl nicht gerechnet. Habe mich persönlich für Sie eingesetzt. Geht natürlich nur, wenn Sie in einer Art Leitungsposition und damit in einer höheren Gehaltsstufe sind.«
»Das ... ist ja ... wirklich ... toll«, hörte ich mich sagen. Innerlich verdrehte ich die Augen und meinem Chef den Hals um.
»Personalabteilung weiß Bescheid, Vertrag liegt nächste Woche auf Ihrem Tisch. Sonst noch was?«
Ich schüttelte stumm den Kopf, meinem Chef die Flosse und verließ das Zimmer. An der Tür drehte ich mich noch einmal um, ein kurzes Aufflackern von Unwohlsein riet mir, die Sache zu beenden, bevor sie für mich zur täglichen Pein würde, aber da sah ich wieder die zukünftige Glatze leuchten und ging stumm von dannen.
Früchtchen saß gelangweilt im Büro und schoss mit Papierkügelchen auf das Panoramafenster. Er blickte kaum auf, als ich mich in meinen Stuhl sinken ließ. Ich fragte mich, ob er über den Stand der Dinge auf dem Laufenden war. Letztendlich war es egal. Weniger Engagement als bisher konnte er nicht zeigen. Ich räusperte mich kurz, dann gab ich ihm den Auftrag, ein paar neu abgeschlossene Verträge ins System einzugeben. Er brummte etwas und während ich die Tastatur seines Computers kurz darauf zögerlich klackern hörte, dachte ich darüber nach, was ich eigentlich beruflich wollte.