Letzte Nacht in Sierpc - Jens Korbus - E-Book

Letzte Nacht in Sierpc E-Book

Jens Korbus

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Beschreibung

Eddi Köhl, ein Ostpreuße, verstrickt sich in Nordpolen in die Besatzerszene und gerät 1945 mit siebenundzwanzig Jahren in russische Gefangenschaft. 1948 entlassen, gründet er mit seiner Frau und seinen zwei Kindern im Rheinland eine neue Existenz. Wie sich der Ostpreuße mit seinen Kindern und Enkelkindern im Rheinland zurechtfindet und welche Schranken sich ihm in den Weg stellen, davon erzählt Jens Korbus in seinem spannenden Buch.

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Inhaltsverzeichnis

Beginn

Bis dass der Tod …

Wegducken

Der Feind

Jetzt aber weg

Kindertheater

Ein neues zuhause

Ach, damals

Der Film läuft Rückwärts

Nochmal Vergangenheit

Kinder und mehr

Abklappern

Eheliche Liebe

Seelenkunde

Studententheater

Vielleicht sieht er sie?

Was ist los?

Kasperletheater

Zwischenruf

Verdüsterung

1. BEGINN

Im Sommer 1973, drei Jahre nach dem Höhepunkt der Studentenbewegung, gestand mir mein Patient Eddi Köhl, kaufmännischer Angestellter bei einer landwirtschaftlichen Firma, fünfundfünfzig Jahre alt, dass er Mitglied in der NSDAP gewesen war. Solche Geständnisse bekomme ich oft. Sie sind für mich nichts Neues. Aber Eddi zeichnete sich durch Feingefühl und Begabung aus, die man einem Mann wie ihm nicht zutraute. Ein Jahr später musste Brandt wegen der Guillaume-Affäre zurücktreten, und Helmut Schmidt wurde Bundeskanzler. Kurze Zeit später wurde Walter Scheel Bundespräsident. Diese beiden Ereignisse hatten Eddi Köhl mehr bestürzt als sein Eintritt in die NSDAP mit dreiundzwanzig Jahren. Den konnte man heute gut mit seiner Jugend rechtfertigen. Köhl hatte wegen „Druck auf der Brust“ und „schlechten Träumen“ eine Kur genehmigt bekommen, und der Kurarzt hatte ihm geraten, sich einen Psychotherapeuten zu suchen. Die Krankenkasse akzeptierte das und bezahlte. Eddi erzählte viel von früher. Aber was die Gegenwart anging, war er recht wortkarg. – Ich riet ihm, überhaupt erst einmal seine Familiengeschichte zu recherchieren und so zutage zu fördern, wer er eigentlich war. Ich selbst bin 1906 in Sankt Petersburg geboren. 1918 ging meine Familie nach Paris ins Exil. Mein Vater war adlig, ein russischer Offizier, der in seiner Heimat mit Fürst Kornoff angeredet werden musste. Dieses Adelsbewusstsein hat mich und meine Familie Zeit meines Lebens nicht verlassen. Nach einer Odyssee durch die europäischen Länder, mein Vater hielt die Familie als Wachmann über Wasser, studierte ich in Belgien Medizin, fand meine lettisch-baltische Frau mit meinem Stiefsohn und emigrierte in die USA. Eigentlich hatte ich mein Arztdiplom als Geburtshelfer gemacht. Aber in den Staaten merkte ich, dass mich die Psychiatrie, besonders aber die Psychoanalyse, mehr interessierte. Und so zog ich durch den ganzen Mittelwesten, von Psychiatrie zu Psychiatrie. Und mir war klar, dass ich dort auch als Patient hätte landen können. Ein Onkel hatte mich in Paris ganz früh mit Okkultismus, Esoterik und Buddhismus bekanntgemacht, und dabei blieb ich mein ganzes Leben. Ein russischer Amerikaner! – So etwas muss man sich mal vorstellen. In Russland war für den Adel kein Platz mehr. Aber in Amerika ebenso wenig. Die amerikanischen Kliniken waren auch ein Versteck. Ich bin nie Doktor der Medizin geworden, und mancher meiner Patienten zweifelte meine Habilitas an. Aber ich machte in den Staaten eine Prüfung nach der anderen, diese Prüfungen werden auch in Deutschland anerkannt. Nach Deutschland bin ich zurückgegangen, weil meine lettisch-baltische Frau sich in Amerika nicht mehr wohlfühlte. Erst arbeitete ich in der Suchtabteilung einer großen Klinik, dann in einer Fachklinik für Alkoholiker. Mich interessiert eigentlich alles, und ich stehe nicht an, das Schicksal Eddi Köhls kleinzureden. Über mich wird noch einiges zu sagen sein. Ich bin Relativist, weil ich mich viel mit Kosmogonie beschäftigt habe und mir die Probleme auf der Erde klein vorkommen. Unser viel gerühmtes Gehirn ist aus den Steinen hervorgegangen, wenn es nicht ein außerirdischer Virus war. Das Letztere nur als Scherz. Wir wissen nichts, und jeder andere Mensch ist uns überlegen. Ich habe über zwanzig Bücher geschrieben. Darunter Titel wie „Poems, Visions, Reflections“ oder „Personal Journal of a Would-Be Philosopher“. Alle beeinflusst vom Okkultismus und der Zen-Esoterik meines verstorbenen Onkels. Eddi war keine Herausforderung für mich. Ich hatte schwierigere und auch intelligentere Klienten. Aber er hatte etwas, das mich ihn nicht wegschicken ließ oder ihn einer Kurztherapie zuführen ließ. Ich beginne mit meinem Bericht.

Als Eddi Köhl am 6. März 1945 bei Graudenz in voller Montur durch die Weichsel schwamm, um russischen Truppen zu entkommen, war ihm nicht klar, worauf er sich eingelassen hatte. Er und ein paar Kameraden wollten aus der belagerten Festung Graudenz ausbrechen. Die Weichsel war ein breiter Strom, der beim Schwimmen immer breiter wurde. Die Montur saugte sich voll und zog Eddi nach unten. Er legte sich beim Schwimmen auf die Seite, um Kraft zu sparen. Es gelang ihm, im Wasser das schwere Koppel abzustreifen. Auch die Lederstiefel machten ihn schwer. Die Weichsel war knapp fünfzig Kilometer vom Werder, wo sie sich in der Ostsee breitmacht, entfernt. Nach Danzig höchstens hundert Kilometer. Aber Eddi Köhl hatte Kraft und Ausdauer. Er schaffte es bis zum anderen Ufer, wo ihn russische Soldaten in Empfang nahmen. Als erstes zogen sie dem nassen Volkssturmsoldaten seine neuen Lederstiefel aus und ließen ihn in einem Gummischuh und einem Klotzkorken genannten Holzschuh weiterlaufen. Die Gefangenen mussten nach Osten marschieren, und in Deutsch-Eylau gossen russische Soldatinnen aus dem zweiten Stock Wasser auf die deutschen Soldaten. In Deutsch-Eylau mussten sie alles in Waggons nach Osten verladen, was nicht niet- und nagelfest war. Auch in die Wohnung seiner Halbschwester Paula kam er und half mit, deren Klavier zu verladen. Trockne Kleider hatte man ihm nicht gegeben, und er vollbrachte das alles in der auf dem Körper getrockneten Volkssturmuniform.

Von Sierpc, wo er zuletzt gearbeitet hatte, nach Graudenz waren es etwa hundert Kilometer. Sein Trupp hatte sich also nach Norden gegen die russischen Angriffslinien bewegt. Was konnten Kinder und Greise, Eddi Köhl war der einzige Wehrdienstfähige in dem Regiment, denn gegen die russische Armee ausrichten? Köhl war am Tag seiner Gefangenschaft siebenundzwanzig Jahre alt, dass er so spät eingezogen wurde, verdankte er seiner Tätigkeit im Reichsnährstand. Er war, trotz seiner relativen Jugend, zum Geschäftsführer eines polnischen Rollnik geworden, das die Nazis gleich an die Raiffeisenorganisation angegliedert hatten. Darüber wurde noch keine wissenschaftliche Arbeit geschrieben. Eddi kam nach der Gefangenschaft in ein Lager nach Polotzk in Weißrussland und musste dort für die russischen Offiziere Häuser bauen. Später kam er in ein Sägewerk. Essen gab es nur bei Erfüllung der Arbeitsnorm. Aber den deutschen Gefangenen ging es immer noch besser als den russischen in Deutschland, die systematisch ermordet wurden. Es gab bunte Abende, Boxkämpfe, zu denen man ein paar magere Gestalten herausgemästet hatte, und die Gefangenen wurden per Film über die Untaten des Nazireichs unterrichtet. Eddi brauchte Monate, um den Schock zu verdauen. Er war ein gläubiger Nazi gewesen. Und obwohl Sierpc Sammelpunkt für den Abtransport der Juden gewesen war, er also Vieles gesehen hatte, sagte er zu seiner Frau: „Ich glaube, die kommen ins Reich zur Arbeit.“

Eddi hatte mit dreiundzwanzig, mitten im Krieg, die gleichaltrige Elvira Koslowski, wie er aus Neidenburg, geheiratet, die in Hannover auf Lehramt studiert hatte und im Jahr der Eheschließung, also 1941, mit dem Studium fertig wurde. Damals dauerte ein Lehramtsstudium nur zwei Jahre. Sie arbeitete nach dem Examen kurz in einer Schule im ostpreußischen Kaltenborn und ging dann mit Eddi zu Raiffeisen nach Sierpc, wo das erste Kind geboren wurde. Als Eddi in Gefangenschaft geriet, waren es schon zwei Kinder, ein Junge und ein Mädchen. Das Mädchen kam nach Eddis Gefangenschaft in Waldheim/Sachsen zur Welt, wohin die Mutter, mit einem Kind an der Hand und einem im Bauch, geflüchtet war. Die Flucht hatte ganze zehn Tage für rund tausend Kilometer gedauert und ging von Sierpc über Kulm (sie musste ganz in der Nähe ihres Mannes gewesen sein), Graudenz, Schneidemühl, Frankfurt/Oder, Cottbus, Chemnitz, und Waldheim. Sie machte auf der Zugfahrt zahlreiche Tieffliegerangriffe mit, musste mit ihren Kindern mehrmals aus dem Waggon in den Wald zur Deckung. In Chemnitz geriet sie in einen der schwersten Bombenangriffe des Zweiten Weltkriegs. Es gelang ihr, ihr Kind, den Jungen, mit nassen Tüchern aus dem Luftschutzkeller durch die brennenden, mit Phosphorleichen bedeckten Straßen zu einer Wohnung zu bringen. Geistesgegenwärtig hatte sie das ganze Raiffeisenkonto in Sierpc, sechstausend Reichsmark, leergeräumt und lebte in den Nachkriegsjahren davon. Von Hotel zu Hotel, man durfte dort nur drei Tage bleiben, weil es zu viele Flüchtlinge gab. Von diesem Geld lebten sie. Schließlich fand sie eine Vierzimmerwohnung in Waldheim in der Bahnhofstraße. Ihr Vater und ein paar ihrer Geschwister hatten es auch dorthin geschafft, und der zähe Willen und das wirtschaftliche Geschick ihres Vaters halfen ihr zu überleben. Ihr Vater, ein ostpreußischer Kleinkätner und Postbeamter, konnte mit Hühnern, Kaninchen und einem großen Garten für Lebensmittel und Gemüse sorgen. Im März 45 war das Mädchen im Krankenhaus von Waldheim zur Welt gekommen, Leontine.

2. BIS DASS DER TOD …

Während ihrer Studienzeit in Hannover hatte Eddi ihr lange Briefe geschrieben, unterschrieben mit „Dein Edwin“. Wie konnte man einen Jungen nur Edwin nennen! Liebe, Eifersucht und Misstrauen wechselten sich darin ab. Er, der Disponent, der das Einjährige auf einer Privatschule in einem Jahr nachgeholt hatte, konnte sein Glück, das er mit der Studentin Elvira gehabt hatte, gar nicht fassen. Aber noch waren sie nicht verheiratet, und Hannover lag tausend Kilometer entfernt. Er hatte ihr schon vorher viel geschrieben, denn sie hatte vor dem Arbeitsdienst ein paar Monate als Hauslehrerin auf einem Rittergut im Norden Ostpreußens gearbeitet. Eddi wechselte die Arbeitsstellen bei Raiffeisen, zog von Masuren nach Mittelostpreußen, dann ganz in den Osten des Landes. Er las die Unterhaltungsliteratur seiner Zeit, arbeitete im Geschäft manchmal bis abends um neun, wechselte die Pensionen, weil sie zu teuer oder das Essen zu schlecht war. Er verdiente dreihundert Reichsmark brutto, Abzüge fünfzig bis sechzig Reichsmark. Ein Sündengeld, „das man dem Staat in den Rachen schmiss“. Wenn ihm abends langweilig wurde, ging er nach gegenüber in die Kneipe Buzikowski, las dort die Zeitschriften und trank ein oder zwei Bier. Einmal fiel ihm ein Artikel über die Psychologie der Liebe in die Hand. Aber er konnte dabei nur an Elvira denken. Er hatte ja das Briefeschreiben, das seine Abende ausfüllte. Schöne lange Briefe in gestochen scharfer Handschrift, mit toller Rechtschreibung und überhaupt kaum Fehlern.

Er schrieb ihr in den Arbeitsdienst nach Tussainen, wo sie sich, nach den vielen Marmeladenbroten, nach den „heimatlichen Fleischtöpfen“ sehnen würde. „Eure Kost scheint ja nicht gerade eine Mastkur zu sein. Damit du aber nicht ganz als Leiche erscheinst, gehen dir mit gleicher Post einige Täfelchen Schokolade zu. Von der Ecke einer Tafel habe ich ein Stückchen abgebissen und einen langen Kuss raufgedrückt. Dass es bei euch kalt ist, ist ja sehr bedauerlich“, schreibt er im Januar 1937, „bei uns ist es infolge Zentralheizung immer zu warm. Sehr trockene Luft. Hier in unserem Mädchenpensionat ist Zuwachs eingetroffen. Zwei Studienassessoren sind neu hinzugekommen. Wir haben sehr viele gemeinsame Bekannte entdeckt, und sie sind begierig zu erfahren, wie sich Verschiedenes in Wirtschaft, Handel etc. abspielt. Sie sind nämlich in dieser Beziehung von der allergrößten Naivität. Ich habe ihnen bereits klargemacht, was doch ein Studienrat eigentlich für ein unwissender Mensch ist, dafür kann er sicher besser griechisch wie ich. Der andere ist katholisch und schon längere Jahre in Rößel, war früher Vorbeter bei den Katholischen. Komischer Kauz.

Diesen Samstag ist Pressefest in Königsberg. Mein Nachbar Dr. Bretzler wollte mit mir zusammen hin, aber was soll ich da ohne dich? Und wenn du diesen Tag frei hast, komme ich natürlich viel lieber dich besuchen. Nachmittags war ich zum ersten Mal Schlittschuhlaufen. Ich war fast der einzige Ausgewachsene, sonst lauter lütte Bälger. Euren blödsinnigen Frühsport könntet ihr jetzt in der Hundekälte auch aufgeben. Ihr werdet euch noch alle Rheumatismus holen.

Dass du eine Stelle als Hauslehrerin hast, ist ja toll. Ich gratuliere. Aber du hättest mir ja ruhig darüber schreiben können. Wie du dazu kamst, was man da so verdient usw. Denn das interessiert mich doch außerordentlich.

Hoffentlich ist dir der bunte Abend gut bekommen. Habt ihr tüchtig getanzt? Ich war heute vormittags mit dem Wagen in Rastenburg, hatte einige Kleinigkeiten zu besorgen. Sonst nichts Wesentliches zu berichten. Los ist hier nichts Besonderes, nur ein dreckiges Sauwetter, Schnee, Regen etc. Ein Glück, dass ich wasserdichte Stiefel habe. Gestern war ich im Kino. Das schöne Fräulein Schragg.

Von Gumbinnen bin ich angenehm enttäuscht. Fünf- undzwanzigtausend Einwohner, aber außerordentlich rege und betriebsam. Es macht einen lebhafteren Eindruck als Insterburg. Soweit alles schön und gut, bloß das Gehalt könnte besser sein. Man versprach mir mehr zu geben nach einigen Monaten. Ich denke, ich werde vorläufig auch dableiben, von der Wanderei habe ich vorläufig genug. Ich fühle mich eigentlich hier ganz wohl. Die Stellung entspricht mir doch mehr. Während meiner Tätigkeit bei Wormuth kam ich mir eigentlich ganz komisch vor. Gumbinnen wird dir auch sehr gut gefallen. Du musst einmal hier herüber kommen.“

In seinen letzten Tagen in Rößel hat sie ihn noch einmal besucht. Er schrieb ihr den Fahrplan in seinem Brief.

Du fährst um

14.55 ab Königsberg bis

16.22 an Korschen

16.33 ab Korschen

16.51 an Buschdorf

16.54 ab Buschdorf

17.13 an Rößel.

Für das Studium in Hannover musste sie eine ärztliche Untersuchung absolvieren. Er schreibt: „Dass du bei der Untersuchung so gut abgeschnitten hast, freut mich natürlich außerordentlich und ich gratuliere dir und mir auch gleich. Dass du wegmusst, will mir natürlich auch nicht recht in Kopp, vielleicht bleibst du auch lieber hier, was? Sehen müssen wir uns vorher noch auf jeden Fall. Eigentlich ist es ja ein Jammer um die viele Zeit, mit der man alleine so nichts rechtes anzufangen weiß. Sie vergeht so nutzlos und langweilend und das Leben ist doch so kurz. Ich war doch sonst den Sommer hier immer auf mich allein angewiesen. Na hoffentlich wird’s mal besser.

Dass du noch am Sonntagabend Tanzen gehen musstest, darüber kann ich dir doch gar nicht böse sein, Liebste, und dass du an mich gedacht hast, habe ich auch direkt gemerkt, denn auch ich habe während der ganzen Fahrt (der Zug hatte etwas Verspätung und ich war erst um halb zwölf in Gumbinnen) an dich gedacht.“

Einmal wollte er sich selbstständig machen und schreibt: „Liebste, die Angelegenheit Markus interessiert mich natürlich außerordentlich. Das Geld für die Finanzierung des laufenden Geschäfts würde sich über einen Königsberger schon beschaffen lassen. Aber es gehört natürlich anfangs immer etwas eigenes Kapital dazu, um die Sache in Schwung zu bringen, denn es werden doch große und auch kleinere Anlagen zu übernehmen sein. Ich denke an die Schrotmühle und die Büroutensilien etc. Na, jedenfalls lass deinen Vater sich mal eingehend erkundigen und schreibe mir schnellstens.

Am Dienstag hatten wir unsere Generalversammlung. Abendessen und Bowle etc. Die Bowle war sehr gut. Ich ging ja rechtzeitig nach Hause und war am nächsten Tag sehr gut in Form. Ansonsten lauter übernächtigte Gesichter. Es waren etwa fünfundzwanzig bis dreißig Abendgäste außer uns da. Der ganze Spaß hat sechshundert Reichsmark gekostet. Bisschen viel nicht? Wir beide hätten das Geld eigentlich besser gebrauchen können.“

Wenn ihr seine Worte oder sein Ton nicht passten, entfesselte sie Tumulte. Er schrieb: „Ist also mein letzter Brief in einem etwas leichteren Ton gehalten, so ist das absolut kein Grund gleich eigentümliche Gefühle aufkommen zu lassen. Mein Päckchen mit der Bernsteinbrosche hast du hoffentlich am Heiligen Abend erhalten. Hoffentlich gefällt sie dir, mir gefiel die Brosche eigentlich sehr.

Meine Weihnachtsgeschenke in Neidenburg waren sonst auch nicht glänzend. Aber immerhin hat sich ein Teil der Familie mit Gustavs Gewehr sehr gut unterhalten. Dein Vater an der Spitze.

Man ist hier zu viel alleine und similiert, trotzdem man geschäftlich ziemlich überlastet ist. Zu tun ist wirklich viel. Für eine Kraft, die am ersten Vierten wegging, ist bis jetzt noch kein Ersatz. Heute Abend spricht Koch hier in Gumbinnen. War großer Betrieb auf der Straße, als er ankam. Wurde mit Fackeln etc. empfangen, außerdem alles illuminiert. Hoffentlich ist es bei dem Rundfunkkonzert nett gewesen, du kannst es mir ja Ostern erzählen. Das Wetter ist hier ziemlich miserabel, hoffentlich wird es Ostern wärmer, ich will auch auf keinen Fall im Wintermantel kommen.“ Er hatte vor, nach Hannover zu fahren.

„Mir geht’s sonst leidlich, bisschen schlechter Appetit. Vorgestern habe ich mir eine neue Pension gemietet. Noch näher an der An- und Verkaufsgesellschaft, gerade gegenüber. Sehr schönes Zimmer, bedeutend besser als mein altes. Separater Eingang mit voller Pension, kostet allerdings achtzig Mark, aber billiger war hier nichts zu haben, vor allen Dingen so günstig beim Geschäft gelegen. Dieses Essen im Krug hing mir schon zum Hals heraus. Wenn ich bloß alle meine Schulden bezahlt hätte. Es belastet mich fürchterlich, trotzdem es eine ganze Menge weniger geworden ist. Früher habe ich das eigentlich nie so gemerkt. Aber die alten Sünden, das kommt jetzt alles nach. Na, auch das wird ja mal ein Ende nehmen. Hoffentlich kann man dann wieder richtig froh werden.“

Dann wird er auf einmal sehr eifersüchtig. Es gab ja guten Grund, die junge intelligente Frau zu verlieren: „Hat dich denn der Spaziergang mit dem Rektor so stark interessiert, dass alles andere nebensächlich war? Liebes, sei bitte nicht böse, bitte bitte, aber schreibe mir doch, was dich dazu veranlasst hat, trotz deiner Krankheit diesen weiten Spaziergang zu machen. Du weißt, es ist nicht Eifersucht! Kommt gar nicht in Frage, dazu haben wir zu großes Vertrauen. Und wenn du mir nicht geschrieben hättest, dann hätte ich ja gar nichts gewusst. Dass du es aber gemacht hast, zeigt, dass du meine Beste bist.“

Dann stand der Krieg kurz bevor: „Kommt es am Sonnabend zur Mobilmachung, dann treffen wir uns diesen Sonntag in Allenstein. Ich werde dich dann am Sonnabend, also übermorgen, nachmittags anrufen. Man muss damit immerhin rechnen, wenn zurzeit die Lage auch noch ungeklärt ist. Vielleicht weiß man morgen schon Genaueres.

Dienstschluss ist jetzt immer um sechs bis halb sieben. Dann esse ich Abendbrot und gehe zu Buzikowski oder ins Hohe C. Nachrichten hören. Allgemeines Unterhaltungsthema ist natürlich nur die Politik. Na, abwarten, Tee trinken.“

Und erleichtertes Aufatmen: „Dass sich die Angelegenheit mit der Tschechei so geklärt hat, darüber sind so ziemlich alle froh. Das Geschäft ist doch gleich lebhafter geworden.

Sonntags war ich überhaupt nicht in der Stadt. Mein Aussehen gefällt mir auch nicht. Ziemlich blass und so. Ich bin eben mit allem nicht zufrieden. Vielleicht steckt auch noch eine kleine Grippe dahinter.“ Und einige Tage später im gleichen Brief: „Meine Grippe scheint ja weg zu sein. Ich habe mir eben eine große Zigarre angesteckt, und die schmeckt schon wieder, also ein gutes Zeichen.

Dass nun wieder gleich die Rennerei mit Handballspielen losgeht, ist ja wohl weniger gut. Ich finde auch die ganze Segelfliegerei für Mädchen höchst überflüssig. Fall bloß nicht runter, sonst machst du dir noch was.

Wir waren abends mit Walter in Königsberg im Schauspielhaus. Es gab „Der Widerspenstigen Zähmung“. Wurde sehr gut gespielt, und gefiel auch im Allgemeinen. Am zweiten Feiertagnachmittag war ich alleine in der K.D.F.-Halle. Es gab dort ein ganz beachtliches Variete-Programm. Kräfte aus dem Berliner Wintergarten und der Scala. Die K.D.F.-Halle ist hundert Meter lang und fünfundsechzig Meter breit und hat fünftausendvierhundert Sitzplätze. Ich wollte abends noch ins Opernhaus gehen, aber es wurde dann doch zu spät, und ich fuhr um neun Uhr vierzig nach Gumbinnen zurück.“

Die Ostpreußen fühlten sich als die besseren Menschen und verkörperten auch das bessere Deutschland. Obwohl dort fünfundsiebzig Prozent die Nazis wählten. Aber das zeigt nur, dass sie ein bisschen „hinter dem Mond“ waren, gutwillig und gutherzig. Und auf die Nazi-Tücke nicht vorbereitet. – Für einen Ostpreußen war es gar nicht denkbar, dass es auf der Welt etwas anderes gab, als die eigene Redlichkeit und Unbescholtenheit. Arbeitsdienstkommandos hatten in ganz Ostpreußen Sümpfe trocken gelegt, um den morastigen Boden fruchtbar zu machen. Schulen und Gymnasien gebaut. Aber die Nazis hatten das Alles zustande gebracht. Das gab Ostpreußen zum ersten Mal in seiner Geschichte etwas Selbstbewusstsein. Aber Ostpreußen war und blieb ein Agrarland. Die Menschen, und besonders die Männer, dem Aberglauben verhaftet. Eddis Mutter hatte sich noch von einer Beböterin mit Schießpulver einen verletzten Finger behandeln lassen, und den Finger dabei verloren. Sie hatte mit acht Jahren Scharlach bekommen, und die weise Frau riet zu Ziegenmilch. Eddis Großvater kaufte eine Ziege, und vielleicht hat ihr Glaube daran Eddis Mutter gerettet.

Der letzte Brief, den Eddi an Elvira geschrieben hatte, war vom 13.4.1939, fünf Monate vor dem Weltkriegsausbruch, dem Überfall auf Polen, von dem Eddi auch profitieren sollte. Er hatte jetzt lange genug gewartet. Aber für eine Familie reichten die zweihundertfünfzig Reichsmark nicht aus. Aber die Nazis besetzten Polen, trennten den Norden des Landes ab, schlugen ihn zu Deutschland und nannten ihn Südostpreußen. Um ihn landwirtschaftlich auszubeuten, brauchte man Fachkräfte aus den Raiffeisenorganisationen. Da kam Eddi gerade recht. Und er brauchte, trotz seiner jungen Jahre, nicht in den Krieg. Er gehörte jetzt zum Reichsnährstand und der wurde bevorzugt. In Sierpc, das die Nazis in Sichelberg umbenannt hatten, wurde eine polnische Genossenschaft frei. Der Verwalter wurde nach einigen Monaten, in denen sich Eddi eingearbeitet hatte, verschleppt, zusammen mit seiner Frau, wie die Nazis es mit der gesamten polnischen Oberschicht machten. „Abgeholt“, sagte Elvira später.

Eddi lebte zunächst allein in der Wohnung des Geschäftsführers zusammen mit dem Ehepaar und dessen Mutter, denn die Polen hatten teilen müssen. Er hatte jetzt siebenhundertsiebenundsiebzig Reichsmark im Monat, und damit konnte man wirklich heiraten. Elvira hatte eineinhalb Jahre in Kaltenborn den Lehrer vertreten, der im Krieg war, und sich durch ihre strenge Hand Meriten erworben. Der Führer mochte keine Doppelverdiener, damals ein Schimpfwort. Und so wurde Ende Januar 1941 in Neidenburg geheiratet.

Nachdem unter dem Antlitz des Strizzi, der trübe die Hinterwand zierte, alles standesamtlich besiegelt und reichsgesetzlich durch Levitationgruß bekräftigt war, fuhr man im Opel in die Neidenburger Kirche, denn es stand ja noch die amtlich gar nicht so erwünschte Verbindung durch den Pfarrer an. Man ordnete Elvira noch die Haare in pfiffig erkünstelter Einfalt. Die Nachbarjungen Janusz und Witold umsprangen staunend die weichliche, samtene Bordüre. Der Opel stotterte zunächst in der klirrenden Kälte. Es waren vierundzwanzig Grad unter null. Hochwürden Zeisig kam ihnen schon vor der Kirche entgegen. Die Orgel war nämlich gefroren, und so musste man in die Sakristei ausweichen. Eddi war blass. Die Pflicht hatte ihn ein wenig gezeichnet. Aber die Stimme des Gottesmannes munterte ihn auf. Ewiger Gott, der du zwei Getrennte zusammenführst, hilf deinem bräutlichen Knecht, sich deiner treuen Magd Elvira, bräutlich und fest zu verbinden. Amen, beschloss es die Versammlung.