Liebe, Arbeit, Gottvertrauen - Jürgen Scheibler - E-Book

Liebe, Arbeit, Gottvertrauen E-Book

Jürgen Scheibler

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Beschreibung

Der lange Weg der Vertreibung aus der Heimat Im Mittelpunkt der Geschichte steht die Vertreibung der Familie Jakob aus Seitendorf, einem Dorf in der Oberlausitz östlich der Neiße, am 22. Juni 1945. Liesbeth und Johann Jakob hatten sieben Kinder, die vor und während des zweiten Weltkrieges geboren wurden. Der Vater Johann kam nicht aus dem Krieg zurück, galt lange Zeit als vermisst, so dass Liesbeth am Tag der Vertreibung auf sich allein gestellt war. Zum Glück hatte sie ihre Mutter an der Seite, die in den kommenden schweren Jahren in Wittgendorf eine große Hilfe war. Es werden Begebenheiten aus der Kinder- und Jugendzeit von Liesbeth Kretschmer und Johann Jakob in den Jahren zwischen den beiden Weltkriegen erzählt, als sie sich kennenlernten und schließlich im Jahr 1931 den Bund fürs Leben schlossen. Im Hauptteil des Buches erzählen vier Kinder von Johann und Liesbeth Jakob ihre Erlebnisse aus der Zeit vor und nach der Vertreibung aus dem Heimatdorf Seitendorf. Es sind authentische und teilweise sehr emotionale Erfahrungen, die jeder der Zeitzeugen aus seiner ganz persönlichen Sicht beschreibt.

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Dieses Buch ist meiner Großmutter Liesbeth Jakob gewidmet. Das Schicksal bescherte ihr kein einfaches Leben. Freudige Ereignisse und Momente des Glücks wechselten mit harten Schicksalsschlägen. Das Glück und die Zukunft der Kinder und Enkelkinder lagen ihr mehr am Herzen als die Erfüllung der eigenen Wünsche und Träume.

Ein großes Dankeschön an alle, die in vielen Stunden des Erzählens die Zeit von 1930 bis 1979 noch einmal lebendig werden ließen. Sehr dankbar bin ich meiner Cousine Anke, die Text und Bilder so wunderbar gestaltet und zusammengefügt hat. Vielen Dank an meine Frau Ines, die den Inhalt kritisch geprüft und mit wertvollen Anregungen zum Gelingen beigetragen hat.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Wittgendorf, August 1969

Die Kinder von Liesbeth und Johann Jakob Kurzdarstellung

Die Familie von Johann Jakob Seitendorf

Das Elternhaus von Johann Jakob

Die Familie von Liesbeth Kretschmer Dornhennersdorf

Das Elternhaus von Liesbeth Jakob

Begebenheiten aus dem Leben von Liesbeth Kretschmer und Johann Jakob

Erinnerungen der Tochter Gertraud (Traudel)

Erinnerungen der Tochter Ruth

Erinnerungen des Sohnes Werner

Erinnerungen der Tochter Thea

Nachwort

Vorwort

Ich erinnere mich immer gern an die jährlichen Ferienspiele bei Großmutter Liesbeth. Sommerferien ohne den Spaß und die Abenteuer in Omas Häuschen und Garten in Wittgendorf waren für uns nicht vorstellbar. Gemeinsam mit meinem Bruder und den beiden Cousinen aus Oberseifersdorf verbrachten wir wunderbare Tage eines unbeschwerten Kinderlebens. Sicher gab es auch bei Oma Regeln und Grenzen. Aber die waren weit gesteckt und ließen unserer Fantasie viel Raum.

Bei Oma war vieles anders als zu Hause. Wir hatten als Kinder jedes Mal Angst, wenn sie mit dem großen Messer eine Scheibe Brot abschnitt und dabei das Brot direkt vor den Bauch hielt. Eine elektrische Brotmaschine brauchte sie nicht. Noch nie hatten wir jemanden einen Apfel so schälen gesehen, dass am Ende ein langes ringförmiges Band als Schale übrigblieb. Erst dann wurde der Apfel zerschnitten und jeder bekam sein Stück.

Unser Lieblingsessen waren Hefeklöße. Niemand konnte sie besser machen als Oma. Wir veranstalteten regelrechte Wettessen, wer von uns wohl die meisten Klöße schaffte.

In der Zeit unserer Kindheit war Oma noch jeden Tag arbeiten. In der Landwirtschaft begann der Tag sehr früh. Als wir aufstanden, war sie längst aus dem Haus. Das Frühstück stand auf dem Tisch und sorgte so manches Mal für einen lustigen Tagesbeginn.

Viel Zeit verbrachten wir am oder im Dorfbach gleich hinter dem Haus. Wir standen mit den nackten Füßen im Wasser, bauten Staudämme mit kleinen und großen Steinen oder beobachteten Fische, Kaulquappen und Blutegel. Einmal machten wir zwei winzig kleine Frösche zu Haustieren auf Zeit, gaben ihnen Namen und bauten eine Unterkunft, in der sie die Nacht verbringen mussten. Am Ende der Ferien entließen wir die Frösche wieder in die Freiheit.

Auf der anderen Bachseite lud eine etwa zwei Meter hohe Böschung mit Bäumen zum Klettern ein. Ein Absturz in das kalte Wasser war wohl unvermeidlich. Für Oma war das aber kein Problem. Die nassen Sachen wurden kurzerhand gegen eine alte Trainingshose und eine Jacke, wohl noch von Onkel Horst, ausgetauscht.

Oma hatte immer eine Lösung und unendlich viel Geduld. An den Abenden versuchte sie, uns Handarbeiten wie Stricken und Häkeln beizubringen. Sie spielte gern Rommé in der großen Runde, und überhaupt fühlte sich unsere Oma immer dann am wohlsten, wenn viele ihrer Lieben da waren.

Immer wieder erzählte sie uns von Opa. Wie stolz er wäre, wenn er uns so sehen könnte. Er liebte Kinder, wenn sie spielten, lachten, aber auch neugierig und wissbegierig waren. „Euer Opa mochte die Musik und das Tanzen“, sagte sie immer wieder zu uns. Heute weiß ich, dass Oma sehr oft an ihren Mann gedacht hat, wohl ein Leben lang.

Wir schliefen alle zusammen in der großen Schlafkammer. Rechts an der Wand stand das Ehebett und auf der anderen Seite ein Einzelbett. Wenn wir vier Kinder zu Besuch waren, musste Oma in die Wohnstube ausziehen, was sie aber vermutlich gern tat, und wir hatten die Schlafkammer für uns. Einfach traumhaft. Manchmal gab es ein paar Tränen bei demjenigen, der im Einzelbett schlafen musste. Aber das hatte ja schließlich das Los entschieden.

Wenn wir nur zu zweit in den Ferien waren, schliefen wir mit Oma zusammen in der Kammer. Für sie war es selbstverständlich, dass sie vor dem Einschlafen ein Gebet sprach. Sie dankte Gott dafür, dass er seine schützende Hand tagtäglich über sie und uns alle hielt. Meine Cousine Petra konnte sich noch gut an die Worte eines einfachen Gebets erinnern:

„Ich bin klein, mein Herz ist rein, soll niemand drin wohnen, als Jesus allein.“

Oma hatte es gern, wenn wir mit ihr gemeinsam vor dem Schlafen beteten. Es hat uns nicht geschadet.

Das ganz besondere Erlebnis gab es immer dann, wenn die Betten für die Übernachtung der großen Familie nicht ausreichten. Noch heute höre ich Oma dann sagen, „Gut, dann machen wir eben ein Lager.“ Für uns Kinder klang das unheimlich spannend und das war es dann auch. Das Lager bestand aus mehreren, nebeneinander auf dem Fußboden in der Schlafkammer ausgelegten Matratzen. Darüber kam ein Laken, dazu ein Sofakissen und eine Decke zum Zudecken. Die Schlafplätze auf dem Lager waren immer heiß begehrt.

Richtig voll wurde das Haus, wenn auch die anderen Enkelkinder mit ihren Eltern zu Besuch kamen. Bei Hochzeiten oder runden Geburtstagen traf sich die große Familie in Wittgendorf. Durch die weiten Entfernungen bis Berlin, Velbert und Röllinghausen sah ich meine anderen Cousinen und Cousins eher selten. Aber wenn sie gebraucht wurden, waren sie zur Stelle.

In einem Sommer waren auch mein Cousin Andreas mit seiner Schwester und den Eltern bei der Oma. Es war ein heißer Tag ohne eine Wolke am Himmel. Wir Kinder gingen ins nahe gelegene Schwimmbad ins Oberdorf. Die Älteren hatten wohl die Aufsicht über die Kleineren. Ich konnte zu diesem Zeitpunkt noch nicht richtig schwimmen. Wahrscheinlich wollte ich es den anderen aber trotzdem beweisen. Es wäre beinahe schiefgegangen. Im tiefen Becken fand ich plötzlich keinen Grund mehr unter den Füßen und geriet in Panik. Andreas bemerkte es glücklicherweise als Erster, sprang sofort ins Wasser und rettete an diesem Tag vielleicht mein Leben. War das vielleicht so ein Ereignis, das man gemeinhin als Schicksal bezeichnet?

Wittgendorf, August 1969

Im Südosten von Sachsen, sechs Kilometer von der Kreisstadt Zittau entfernt, liegt der kleine Ort Wittgendorf. Wie viele Dörfer in der Oberlausitz ist Wittgendorf ein typisches Waldhufendorf. Die Häuser folgen in Ost-West-Richtung in Schlangenlinie dem natürlichen Lauf des Dorfbaches, der wenige Kilometer weiter in die Neiße fließt.

Der Sommer des Jahres 1969 verwöhnte die Menschen. Es war heiß. Schon mehrere Tage nacheinander stiegen die Temperaturen über dreißig Grad und jeder, der nicht unbedingt im Freien arbeiten musste, suchte sich einen Platz im Schatten. Für die Frauen in der Landwirtschaft war dies nicht so einfach. Die Ernte lief auf vollen Touren, auf den Feldern herrschte Hochbetrieb.

Eine dieser Frauen war Liesbeth Jakob. Seit vielen Jahren schon arbeitete sie in der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft. Sie wohnte seit nunmehr vierundzwanzig Jahren in Wittgendorf.

Zusammen mit vielen anderen Deutschen musste sie am 22. Juni 1945 mit ihrer Mutter Hulda und den sieben Kindern den Heimatort Seitendorf verlassen. Seitendorf lag nur wenige Kilometer entfernt östlich der Neiße. Nach dem Ende des zweiten Weltkrieges wurde dieser Fluss zur Ostgrenze Deutschlands erklärt. Die Polen als neue Besitzer der Ostgebiete duldeten, bis auf wenige Ausnahmen, keine Deutschen mehr auf ihrem Land.

Am 26. August 1969 ging Liesbeth nach der Arbeit auf dem Feld nicht direkt nach Hause. Sie wollte die Gelegenheit nutzen und im Dorfkonsum ein paar Sachen einkaufen. Sie schaute sich gerade in den Regalen um, als ihre Nachbarin Marie Rönsch den Laden betrat. Als Marie Liesbeth mit dem vollen Korb sah, fiel ihr der bevorstehende Geburtstag wieder ein. In zwei Tagen würde Liesl, wie die Nachbarin sie liebevoll nannte, sechzig Jahre alt werden. Oft hatten beide in den vergangenen Wochen über diesen besonderen Tag, die Vorbereitung der Feier und die Freude des Wiedersehens mit allen Kindern und den inzwischen zahlreichen Enkeln gesprochen. Bis zuletzt war ungewiss, ob Traudel und Werner ein Visum für den Geburtstag ihrer Mutter erhalten würden. Beide Kinder lebten mit ihren Familien im anderen Teil Deutschlands.

Nach der Begrüßung erfuhr Marie, dass am Wochenende doch alle kommen würden. Sie wusste, dass es für ihre Nachbarin nichts Schöneres gab, als dass ihre große Familie zusammen in der Stube saß und alle ihren Spaß und ihre Freude hatten. Die viele Arbeit störte sie nicht. Das war Liesbeth nach all den Jahren gewohnt. Nur gut, dachte Marie, dass die Jakobs jetzt ein eigenes Haus mit einer großen Wohnstube und einem Garten haben.

Seit nunmehr vier Jahren wohnte Liesbeth mit dem jüngsten Sohn Horst in dem Einfamilienhaus in der Dorfstraße 119. Nach dem Tod von Pauline Menschel im Jahr 1964 ergab sich die günstige Gelegenheit, das Haus, das sich im Erbe der Familie Menschel befand, zu kaufen.

Bis zu diesem Zeitpunkt wohnten die Jakobs auf dem Bauernhof der Schnitters. Da die Wohnverhältnisse dort durch die größer werdenden Familien der Kinder von Gertrud und Herbert Schnitter immer schwieriger wurden, kaufte Liesbeth das alte Haus an der Dorfstraße. Es war nur ein paar hundert Meter entfernt, was den Umzug erleichterte. In mehreren Etappen wurden die persönlichen Sachen und die alten, aber immer noch in gutem Zustand befindlichen Möbelstücke, den Berg hinuntergetragen.

Das Grundstück hatte von oben betrachtet die Form eines Keiles. Es war auf der Vorderseite von der Dorfstraße und auf der Rückseite vom Bachlauf begrenzt. Etwa in der Mitte stand parallel zur Straße das schmale Haus mit der Haustür direkt auf die Straße.

Es war in dieser Zeit der Wohnungsknappheit durchaus üblich, dass die Häuser von mehreren Familien und alleinstehenden älteren Menschen bewohnt waren. Als Liesbeth mit ihren zwei jüngsten Kindern, Helmut und Horst, im April 1965 in das Haus einzog, wohnten in einem kleinen Zimmer im Erdgeschoss eine ältere, alleinstehende Frau und in je einem Zimmer im Erdgeschoss und im Obergeschoss eine andere Familie. Für die Jakobs blieb vorerst das große Zimmer auf der Ostseite, das als Wohnstube, Küche und Bad genutzt wurde. Im Obergeschoss richtete sich Liesbeth ihre Schlafkammer ein und auch Horst bekam ein eigenes Zimmer. Helmut blieb bei den Schnitters wohnen und zog erst im Herbst 1965 in das kleine Zimmer auf der Bachseite, als Frieda Mittag in ein Altersheim umgezogen war.

Zwei Jahre später hatte auch die andere Familie eine größere Wohnung gefunden. Helmut war inzwischen verheiratet und ebenfalls ausgezogen. Es konnten neue Pläne über die Aufteilung der Zimmer und den Ausbau des Hauses gemacht werden. Bis auf Horst hatten alle anderen Kinder von Liesbeth und Johann Jakob ihre eigenen Familien gegründet und wohnten in Mietwohnungen oder Einfamilienhäusern. So fiel die Entscheidung nicht schwer, dass Horst mit seiner künftigen Familie bei der Mutter wohnen bleiben und später das Haus übernehmen sollte.

Der sechzigste Geburtstag von Liesbeth Jakob am 28. August 1969 fiel auf einen Donnerstag. Ein ganz normaler Arbeitstag in der Erntezeit. Nach der Arbeit kamen die Kolleginnen, Freunde und Nachbarn zum Gratulieren. Es gab Kaffee und selbst gebackenen Kuchen. Es war eine fröhliche Runde, in der es viel zu erzählen gab, von alten und neuen Zeiten.

Am Wochenende aber war Familienzeit. Alle sieben Kinder kamen mit ihren Familien zum Geburtstag. Mit sechzig Jahren konnte in der damaligen Deutschen Demokratischen Republik eigentlich das verdiente Rentnerleben beginnen, aber Liesbeth verschwendete keinen Gedanken daran. Sie brauchte die Arbeit in der Landwirtschaft als Lebensinhalt und wollte weiterarbeiten, solange es eben ging.

Liesbeth konnte es kaum erwarten, ihre ganze Familie beisammen zu haben. Der große Tisch in der Stube reichte nicht aus. Für die Enkelkinder wurde ein eigener Tisch quer zum langen Tisch der Erwachsenen gestellt. In der glücklicherweise großen Stube saßen ihre sieben Kinder, die Schwiegerkinder und dreizehn Enkelkinder. Der Kuchen, den Liesbeth in der Bäckerei Oehme im Ort hatte backen lassen, schmeckte wie immer lecker und der Gesprächsstoff ging bei diesem Geburtstagsfest nicht aus. Das eigene Familienleben und die teilweise großen Entfernungen ließen nicht viele Treffen aller Geschwister im Jahr zu.

Für die Enkelkinder war das schöne Sommerwetter an diesem Tag verlockend, um der überfüllten Stube zu entkommen. Es gab nichts Aufregenderes und Interessanteres als hinter dem Haus im Bach zu spielen oder auf der anderen Bachseite Omas Garten und den kleinen Wald zu erkunden.

Es waren nur die Zeiten des gemeinsamen Essens, zu denen im Haus ein wenig Ruhe einkehrte und Liesbeth den Blick über die vielen Köpfe schweifen lassen konnte. In diesen kurzen Momenten gönnte sie sich selbst auch ein paar Minuten der inneren Ruhe. Unwillkürlich drehte sich in ihren Gedanken das Rad der Zeit zurück.

Was hatte sie nicht alles erlebt in den sechzig Jahren. Da waren die glücklichen Jahre in Seitendorf mit ihrem Mann Johann. Sie schenkte sieben gesunden Kindern das Leben und freute sich über jeden Tag des Heranwachsens.

Aber das Leben verschonte sie nicht mit seinen dunklen Seiten. Trauer und Schmerz begleiteten sie jahrelang in der zunehmenden Gewissheit, dass ihr geliebter Mann nicht aus dem Krieg heimkommen würde. Die ungerechte Vertreibung aus der Heimat und der Neubeginn mit leeren Händen waren große Herausforderungen, die sie mit tiefer Liebe, viel Arbeit und unerschütterlichem Gottvertrauen Tag für Tag bewältigte.

Die Kinder von Liesbeth und Johann Jakob Kurzdarstellung

Das erste Kind der Jakobs, welches am 26. November 1930 in Seitendorf geboren wurde, war Gertraud, die später nur Traudel genannt wurde. Nach der Vertreibung im Juni 1945 ging sie mit ihren vierzehn Jahren und gerade abgeschlossener Schulausbildung im Herbst 1945 zurück nach Seitendorf, das inzwischen unter polnischer Verwaltung stand, und arbeitete dort auf einem Bauernhof. Nicht alle Deutschen mussten im Juni den Ort verlassen, insbesondere Handwerker und Bauern wurden noch eine Zeit lang gebraucht. Traudel kümmerte sich hauptsächlich um die Kinder einer polnischen Bauernfamilie.

Im Juni 1946 mussten dann bis auf wenige Ausnahmen alle Deutschen Seitendorf verlassen. Der Befehl kam so überraschend, dass Traudel nicht mehr über die Neiße zurück zur Mutter und zu den Geschwistern gehen konnte. Sie wurde mit vielen anderen gezwungen, zu Fuß nach Görlitz zu laufen. Unter katastrophalen Bedingungen verbrachte sie mehrere Tage in einem Lager, von wo es erst einmal nach Osten in Richtung Breslau ging. Nach Tagen der Ratlosigkeit seitens der polnischen Behörden begann der erlösende Transport mit dem Zug in den Westen von Deutschland.

Die anstrengende Reise endete für Traudel im Sauerland. Ohne einen Pfennig Geld und ohne ein Dach über dem Kopf, begann ein neues Leben weit entfernt von den Verwandten in der Oberlausitz. Das Arbeitsamt vermittelte ihr eine Stellung in der Landwirtschaft, wo sie die folgenden drei Jahre arbeitete.

Emma Geißler, die Stiefschwester von Traudels Vater, wohnte mit ihrem Mann seit Kriegsende in Alfeld, einer Kleinstadt in Niedersachsen. In einem Brief teilte ihr die Mutter die Adresse mit und Traudel beschloss, Onkel und Tante einen Besuch abzustatten. Tante Emma half ihr bei der Suche nach einer neuen Arbeit. 1949 zog Traudel nach Alfeld und lernte dort einen fröhlichen und aufgeweckten Jungen aus einem Nachbarort kennen. Im Oktober 1953 wurde Hochzeit gefeiert.

Der erste Sohn der Jakobs wurde am 2. Mai 1932 geboren. Günter, in Seitendorf eingeschult, musste sein letztes Schuljahr in Wittgendorf hinter sich bringen und ging dann für ein Jahr beim Bauer Schönfelder als Helfer in die Landwirtschaft. Auf Mutters Wunsch und seinem eigenen Interesse für das Handwerk des Vaters folgend, begann er eine Lehre bei einem Korbmacher in Strahwalde. In den schwierigen Zeiten nach dem Krieg, als der Kampf um Lebensmittel besonders im Winter zur Existenzfrage überhaupt wurde, war Günter mehr auf den Feldern als in der Korbmacherei zu finden. Er brach die Lehre ab und verdiente sich ein wenig Geld als ungelernter Arbeiter in den Textilwerken in Zittau. Aber auch dort ließ ihn die Landwirtschaft nicht los. Auf den Feldern fehlte es an Traktoristen. Günter folgte einem Aufruf zur Ausbildung und ging 1954 als Traktorist nach Altlandsberg bei Straußberg. Dort heiratete er eine echte Berlinerin.

Die zweite Tochter Ruth, am 4. November 1934 geboren, ging im Jahr 1949 aus der Schule. Wie ihr Bruder Günter arbeitete sie für ein Jahr in der Landwirtschaft auf dem Bauernhof Zücker. Danach folgte eine Ausbildung zur Blumenbinderin in Zittau, wo sie in den folgenden Jahren auch eine Anstellung bekam. Als junges Mädchen lernte sie einen Mann aus dem Nachbardorf Oberseifersdorf kennen und im Jahr 1957 wurde geheiratet. Auf der Suche nach einer eigenen Wohnung mussten die beiden nicht weit gehen. Ganz in der Nähe des Bauernhofes Schnitter, wo die Jakobs nach der Vertreibung aus Seitendorf untergekommen waren, wohnte Pauline Menschel in einem kleinen Haus direkt an der Dorfstraße. Ruth zog mit ihrem Mann in zwei Zimmer, einer kleinen Wohnküche, gleich rechts neben der Eingangstür, und einer etwas größeren Schlafstube im Obergeschoss. (Zu dieser Zeit ahnte noch keiner der Jakobs, dass sieben Jahre später ihre Mutter dieses Haus kaufen würde.) Als für die Gastwirtschaft ‚Zur Linde‘ in Oberseifersdorf, die einem Onkel von Ruths Mann gehörte, ein Nachfolger gesucht wurde, zog die junge Familie 1964 in das Nachbardorf und übernahm ein Jahr später die Wirtschaft, die über mehrere Jahrzehnte das Dorfleben mitprägte.

Das Gleichgewicht zwischen Jungen und Mädchen war am 21. November 1935 wiederhergestellt, als Werner das Quartett der Kinder vervollständigte. Er entschied sich für den Beruf eines Textilfacharbeiters und trat damit in die Fußstapfen seiner Mutter und Großmutter. Einige Jahre arbeitete er zusammen mit seinem Bruder Günter in den Textilwerken Zittau, später wechselte er in den Fahrzeugbau zur Firma Robur.

Für die meisten Bekannten, ja selbst für seine Familie völlig überraschend, fasste Werner im Sommer 1955 den Entschluss die Oberlausitz zu verlassen. Zusammen mit einigen Freunden aus Wittgendorf wollte er sich im siebenhundert Kilometer entfernten Velbert im Bergischen Land sein eigenes Leben auf bauen. Da es seit 1949 im Ergebnis des zweiten Weltkrieges zwei deutsche Staaten gab, wechselte er damit auch das Land. Wie seine Schwester Traudel lebte er in der Bundesrepublik Deutschland.

Im Gegensatz zu Traudel galt Werner in der Deutschen Demokratischen Republik als sogenannter Republikflüchtling. Eine Einreise zu Familienbesuchen in die DDR wurde bis zum Mauerbau 1961 nur selten erlaubt. Zur Beerdigung seiner Großmutter Hulda Kretschmer im Jahr 1957 hätte Werner eine Aufenthaltsgenehmigung von vierundzwanzig Stunden bekommen können. Bei der großen Entfernung von der innerdeutschen Grenze machte das keinen Sinn, und so fehlte er damals ebenso wie bei der Hochzeit seiner jüngeren Schwester Thea im Jahr 1959. Bis zur deutschen Wiedervereinigung und dem Fall der Mauer 1989 war der Kontakt zur Mutter und den Geschwistern dadurch zwar erschwert, aber nie abgebrochen. Werner heiratete 1959 in Velbert und gründete eine Familie.

In der Schule in Wittgendorf hatte sich der Direktor längst daran gewöhnt, dass aller zwei Jahre ein Kind der Jakobs auf dem Schulentlassungsbild zu finden war. Da machte auch der Jahrgang 1952 keine Ausnahme. Thea, die als fünftes Kind und dritte Tochter der Jakobs am 4. April 1938 geboren wurde, hielt stolz ihr Zeugnis in der Hand und wollte Herrenmaßschneiderin werden. Schneidermeister Pischel in Zittau stellte in diesem Jahr wieder einen Lehrling ein. Zusammen mit dem Sohn des Meisters erlernte Thea das Schneider-Einmaleins.

Nach der Lehre blieb sie bis 1959 in der Schneiderwerkstatt und hätte sicher noch einige Jahre dort gearbeitet, wäre da nicht aus Freundschaft Liebe geworden. Ein junger Mann aus dem Niederdorf in Wittgendorf beeindruckte Thea schon lange mit seinem tadellosen Auftreten, stets korrektem Aussehen und seinem Motorrad. Im Jahr 1959 heirateten die beiden. Im zwanzig Kilometer entfernten Hagenwerder wurde das Braunkohlekraftwerk durch ein weiteres Werk erweitert. Ähnlich wie in den zwanziger Jahren in Seitendorf eine Siedlung für die Arbeitskräfte des Kraftwerkes Hirschfelde entstand, wurden zu Beginn der sechziger Jahre Wohnungen für die künftigen Kraftwerker in Hagenwerder gebaut. Die Familie zog noch einmal um und tauschte 1961 die zu kleine Wohnung in Wittgendorf gegen eine größere in Hagenwerder.

Helmut wurde am 8. Januar 1941 als sechstes Kind im zweiten Jahr des Krieges geboren. Er hatte sich gerade an die Umgebung seines Elternhauses gewöhnt, da musste er als Vierjähriger mit der Mutter, der Großmutter und seinen sechs Geschwistern Seitendorf für immer verlassen. Er wurde als erstes der Kinder in Wittgendorf eingeschult und begann nach der Schulzeit eine Lehre zum Werkzeugmacher in den Roburwerken in Zittau. Nach der Hochzeit zog Helmut mit seiner Frau nach Hartau.

Nach fast zehn Arbeitsjahren hatte er die Chance, ein Fernstudium an der Ingenieurschule in Görlitz zu beginnen. Mit viel Disziplin, großem persönlichen Einsatz in seiner Freizeit und dank der Unterstützung seiner Familie meisterte er die Anforderungen des Studiums und arbeitete danach als Ingenieur weiter in der Zittauer Firma.

Das letzte Kind von Liesbeth und Johann Jakob kam am 30. Juli 1943 in Seitendorf zur Welt. Für Horst sind die zwei Jahre im Heimatort seiner Eltern bis zur Vertreibung nicht mehr in Erinnerung. Sein Leben spielte sich bereits in Wittgendorf ab. Als seine Mutter im Jahr 1957 zum ersten Mal Großmutter wurde, ging Horst das letzte Jahr zur Schule. Er erlernte den Beruf eines Ofensetzers im Baukombinat Zittau und wohnte in den folgenden Jahren weiterhin bei der Mutter in Wittgendorf. Als sie 1965 das Haus in der Dorfstraße 119 kaufte, waren Horst und Helmut die beiden einzigen Kinder, welche mit ihr umzogen.

Horst blieb auch nach der Lehre in der Firma. Nach der Hochzeit im Jahr 1971 lebte er mit seiner Frau und den Kindern zusammen mit der Mutter in deren Haus, das er nach ihrem Tod im Jahr 1979 übernahm.

Die Familie von Johann Jakob Seitendorf

Seitendorf war eine der größten Gemeinden im Osten von Sachsen und lag nur wenige Kilometer östlich des Flusses Neiße. Aus mehreren Quellen im Isergebirge gespeist, fließt die Neiße durch die Städte Zittau und Görlitz nach Norden, bis sie von den Wassermassen der Oder nördlich von Guben förmlich geschluckt wird.

In Seitendorf, einem typischen Straßendorf, reihten sich die Häuser rechts und links der Dorfstraße aneinander. Abseits der Straße, meist etwas erhöht, fanden sich die Drei- und Vierseithöfe der Bauernfamilien, jeder Hof mit einer eigenen Zufahrt von der Dorfstraße. Schon seit ältester Zeit teilten sich das Kloster St. Marienthal und der Rat der Stadt Zittau den Ort, wobei dem Kloster der wesentlich größere Teil gehörte.

In der ersten Erwähnung 1303 wird Seitendorf noch als Sybotindorf bezeichnet. Bereits um 1400 setzte sich der Name Seitendorf durch. Das Kloster erwarb 1405 einen weiteren Teil des Ortes von der Familie von Dohna, die in Hirschfelde und Wittgendorf ansässig war. Mit dem Erwerb der Commende 1570 erhielt der Rat der Stadt Zittau auch deren Seitendorfer Besitz.

Bereits in frühester Zeit sollen in Seitendorf zwei kleine Kapellen, eine im Niederdorf und eine im Oberdorf zugleich für das eingepfarrte Dornhennersdorf, gestanden haben. Da der Ort durch die Hussiten 1427 fast vollständig zerstört wurde, baute man beim Wiederaufbau eine kleine Kirche in die Ortsmitte, auf dem Kirchberg. Von 1569 bis 1571 wurde ein Kirchturm angebaut, der im Jahr 1760 erneuert wurde. Er hatte eine stattliche Höhe von zweiundvierzig Metern. Da die alte Kirche zu klein geworden war, baute man von 1796 bis 1798 die jetzige Kirche, wobei der gerade erst fertiggestellte Kirchturm in den Neubau integriert wurde. Die Kosten übernahm zum großen Teil das Kloster.

Mit dem Grunderwerb im Jahre 1496 erhielt das Kloster St. Marienthal auch das Kirchenpatronat über Seitendorf. Daher konnte es in den Zeiten der Reformation seinen Einfluss geltend machen, so dass der klösterliche Anteil des Ortes im katholischen Glauben blieb. Im Zittauer Anteil hatten die Bewohner die Unterstützung des Zittauer Rates, so dass sie sich hier der neuen Lehre zuwandten. Ein Erlass von Kurfürst Friedrich August II. im Jahre 1744 gestattete den Protestanten, ihre geistlichen Handlungen durch einen evangelischen Pfarrer zumeist aus Türchau oder Hirschfelde durchführen zu lassen.

Die Aufhebung des Parochialzwanges im Jahre 1863 ebnete den Weg für die Gründung einer eigenen evangelischen Gemeinde in Seitendorf. Folgerichtig erhielt der Ort 1881 eine evangelische Kirche. Am ersten Januar 1913 vereinigten sich der Klösterliche Anteil und der Zittauer Anteil zur Gemeinde Seitendorf.1

1: Quelle: Böhmer; Wolff: Historischer Streifzug durch Ostritz und seine Dörfer

Das Elternhaus von Johann Jakob

August Jakob, der Vater von Johann, wurde am 21. September 1873 in Seitendorf geboren. Er verbrachte seine Kindheit und die Jugendjahre im erst zwei Jahre vor seiner Geburt gegründeten deutschen Kaiserreich. Von der Hauptstadt Berlin aus bekämpfte Reichskanzler Bismarck bis zu seiner Entlassung 1890 die immer stärker werdende Sozialdemokratie. Besonders großen Einfluss auf die Politik gewannen die Sozialdemokraten in Sachsen, wo 1885 bereits fünf Vertreter im Landtag in Dresden saßen. Von all diesen politischen Veränderungen war im ostsächsischen Seitendorf wenig zu spüren gewesen.

In der Umgebung von Zittau gab es große Mengen an Braunkohle, die seit 1860 in der Grube Hartau und wenig später auch in Türchau, einem Nachbarort von Seitendorf, abgebaut wurde. In unmittelbarer Nähe zur Grube entstand zu Beginn des neuen Jahrhunderts das erste Braunkohlekraftwerk der Gegend in Hirschfelde, das 1911 erstmals Strom in die Netze einspeiste. Der Aufschwung der Elektroindustrie, maßgeblich durch die deutschen Firmen Krupp und Siemens mitbestimmt, brachte den Menschen in Zittau und in den umliegenden Dörfern elektrisches Licht in die Stuben. Seitendorf war eines der ersten Dörfer, das vom Kraftwerk versorgt wurde.

August interessierte sich schon in jungen Jahren für die zahlreichen technischen Neuheiten, die seit den neunziger Jahren durch den allgemeinen industriellen Aufschwung zu bewundern waren oder von denen in den Zeitungen jener Zeit viel zu lesen war. Nach seinem Schulabschluss erlernte er wie sein Vater den Beruf eines Bergarbeiters in der Grube Türchau. Da er sich weniger für die harte Arbeit unter Tage begeistern konnte, sondern mehr für die Belange der Buchhaltung, bewarb er sich um eine Arbeit in der Verwaltung des Betriebes.

Auch wenn die Grube den Arbeitsmittelpunkt für die Ernährung seiner Familie darstellte, so lag ihm als gebürtigem Seitendorfer immer auch das Wohl der Gemeinde am Herzen. Bei vielen Gelegenheiten bot er seine Hilfe an, erledigte Schreibarbeiten für den Bürgermeister. Mit viel Einsatz und Geschick beherrschte er die langsam in Mode kommende mechanische Schreibmaschine, die den Federhalter in deutschen Amtsstuben ablöste.

Als dann in den zwanziger Jahren des neuen Jahrhunderts, in Seitendorf wie in vielen Orten in Deutschland, mit der Planung und dem Bau einer zentralen Wasserleitung begonnen wurde, konnte der Bürgermeister auf die Hilfe von August Jakob zählen. Er kannte fast jeden im Dorf, hörte sich die Probleme und Vorschläge der Bauern ebenso an wie die der kleinen Leute, deren Häuser auf den Grundstücken an der Dorfstraße und am Dorfbach standen. An vielen Abenden im Dorfkretscham wurde bei einem guten Zittauer Bier über die Trassenführung, die Anschlüsse und wahrscheinlich auch die Kosten diskutiert.