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Nuri, ist ein frustrierter, unausstehlicher sechzehnjähriger Deutsch-Türke. Seine Welt wird durch seinen konservativen Vater Okan bestimmt, der ihm eingetrichtert hat, was Männlichkeit heißt und was unmännlich ist. Nuri trifft auf Till, einem Undercover-Polizisten, der Nuri und seine vier Skaterfreunde auf der Polizeiwachewegen krimineller Handlungen verhört. Nuri erkennt das erste Mal, dass er von einem Erwachsenen trotz der Vergehen als Mensch geachtet wird. Darüber ist er fasziniert und sucht dessen Freundschaft. Till dagegen stellt fest, dass in dem jungen Mann mehr steckt als Aggression und Ich-bezogenheit.Er verliebt sich in Nuri. Es kommt zum Sex. Damit steht Till im Zwiespalt zwischen Gesetz und Gefühl. Ein böser Plan, den Nuri gegen seine Schule und einen Lehrer ausgeheckt hatte, macht sich selbständig. Nuri droht höchste Gefahr und der Schule Chaos total. Kann und darf Till helfen? Ein einfühlsamer Roman, der das Erwachsenwerden von Jungen in einem belasteten Milieu erzählt.
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Seitenzahl: 393
Veröffentlichungsjahr: 2015
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Kai Steiner
Liebe braucht Zeit, Nuri …
Roman
Der Autor
Kai Steiner ist seit vielen Jahren Autor im Himmelstürmer Verlag. Er studierte Wirtschaftswissenschaften, Pädagogik und Geografie in Hamburg. Während seiner beruflichen Tätigkeit veröffentlichte er wissenschaftliche Beiträge in Winklers Flügelstift, im Ferdinand Schöningh und im Beltz-Verlag. Außerdem schrieb er zahlreiche Schulbücher im Winklers-, Gehlen-, Europa-Lehrmittel- und im Dr. Gabler Verlag. Hier war er auch zwölf Jahre lang Mitherausgeber und Autor der Zeitschrift Industriekaufleute. Nach seiner beruflichen Tätigkeit kamen die Bücher Abseits, Amor schießt quer in Mein Buch-Verlag und das Kinderbuch Anna, bleib cool im B&Z –Verlag Leddin heraus.
Ein Teil seiner Kurzgeschichten ist im Himmelstürmer Verlag in den Büchern Pink Christmas 1,2,3,4 (2014) erschienen, ein weiterer in Mein Schwules Auge 8,9,10,11(2014) sowie im Novum Verlag.
Im Himmelstürmer Verlag erschienen bisher folgende Romane:
Schmetterlinge im Bauch 2006 – ISBN: 978-3-934825-52-9
Eingelocht, 2006 – ISBN:978-3-934825-61-1
Surfer Dreams, 2007 – ISBN: 978-3-934825-83-3
Sommerlust am Mittelmeer, 2009 – ISBN: 978-3-940818-11-9
Capri, Amore mio, 2009 – ISBN: 978-3-940818-31-7
Paris, mon amour, 2010 – ISBN:978-3-940818-49-2
Mein Blut in seinen Adern, 2012 – ISBN:978-3-863611-00-2
Fin im Glück?, 2014 – ISBN: 978-3-86361-376-1
Alle Bücher sind auch als E-Book veröffentlicht.
Himmelstürmer Verlag, Kirchenweg 12, 20099 Hamburg,
Himmelstürmer is part of Production House GmbH
www.himmelstuermer.de
E-mail: [email protected]
Originalausgabe, Mai 2015 Printed in Denmark
Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlages
Rechtschreibung nach Duden, 24. Auflage
Coverfoto: Coverfoto: © fotolia.com
Umschlaggestaltung: Olaf Welling, Grafik-Designer AGD, Hamburg. www.olafwelling.de
E-Book-Konvertierung: Satzweiss.com Print Web Software GmbH
ISBN print: 978-3-86361-452-2
ISBN epub: 978-3-86361-453-9
ISBN pdf: 978-3-86361-454-6
Nichts ist, glaube ich, schwierig für den, der es liebt.
Cicero
Ich heiße Nuri.
Mein Vater Okan ist Türke, meine Mutter Deutsche. Er hat sie geschwängert, als sie achtzehn geworden ist. Das war in Istanbul, als meine Mutter die Stadt besuchte. Er wollte sofort, dass ich abgetrieben werde. Meine Mutter, von ihm Sibel genannt, lehnte das ab. Darüber bin ich heute noch froh. Ich bin jetzt nämlich sechzehn Jahre alt.
In der Türkei ist man in diesem Alter bereits ein Mann, und das bin ich auch. Da bin ich mir sicher. Hier in Deutschland spricht man noch von einem Twen, die Erwachsenen machen uns gern runter! Aber ich lasse mir das nicht gefallen. Ehrlich. Ich wehre mich. Es gibt tausend Möglichkeiten: ignorieren, schreien, beweisen, kämpfen, schlagen, übertönen und verleumden.
Meinen Vater nannte sie Levent. Ein schöner türkischer Name. Ich liebe ihn. Aber ich musste ihn Okan nennen, Levent war für meine Mutter reserviert. Komische Sitten, wie ich finde. Dennoch klappte es. Als er sich aus dem Staub machte, ich war vierzehn, verbot sie allen Freunden, ihren türkischen Namen noch einmal in den Mund zu nehmen.
Ätzend.
Man sollte sie mit ihrem Mädchennamen anreden, am liebsten mit Betty. Ein Kosename, abgeleitet von Elisabeth. Wollte sie damit so tun, als ob sie beliebt ist? Ich fand’s fucking.
Immer diese Unehrlichkeit.
Meine Mutter war nicht sehr beliebt, weil sie sich nach der Hochzeit aus der Familie zurückgezogen hatte. Man hatte nämlich die Nase gerümpft, als sie einen Türken anschleppte.
Ich rede sie jetzt auch mit Betty an. Sie spricht fließend türkisch, schreibt und liest, als ob sie keine Deutsche wäre.
Das hat was.
Okan hatte das wohl bemerkt, als sie sich kennenlernten. Heute verdient sie das Geld, ist Sekretärin und außerdem unterhält sie ein Übersetzungsbüro.
Jedes Wochenende. Man nimmt ihre Dienste in Anspruch. Meist kommen sie zu zweit. Mann und Frau. Die Frauen quatschen keine Silbe Deutsch.
Eigentlich könnte ich stolz auf Betty sein. Bin ich aber nicht.
Sie verdient Geld mit etwas, was sie inzwischen hasst. Ist das anständig? Ist es nicht!
Warum putzt sie nicht irgendwo?
Ich werde später da arbeiten, wo ich hingehöre. Und wo ich mich wohl fühle. Hand drauf. Ich bin sauber!
Sie ist auch sauer, dass ich Okan immer noch nachtrauere. Ich mochte diesen behaarten Bullen. Ja, das war er, stark wie ein Elefant. Allerdings auch laut. Aber nimmt man so etwas nicht in Kauf, wenn er andere Vorzüge hat, die man sich selbst wünscht? Meine Mutter hatte nach der Trennung anfänglich von einem Mistkerl gesprochen. Da war sie bei mir richtig. Hatte sie vielleicht selbst Schuld an seiner Entscheidung?
Ganz bestimmt!
Sie verachtete ihn, wenn er fastete. Er war nämlich Muslim. Betty hat den Glauben abgelehnt. Das kann man ja, ich tue es auch. Nein, ablehnen tue ich ihn doch nicht. Ich will nur nichts mit diesem Schwachsinn zu tun haben.
Aber Okan fand ihn gut. Soll er! Jedem das Seine!
Trotzdem: Lächerlich, den Teppich auszubreiten, auf die Knie zu fallen und zu murmeln. Und wo liegt schließlich Mekka?
Und dann nur Kerle. Total abgedreht. Wieso keine Frauen?
Was für ein Wahnsinn!
Die haben doch alle einen Dachschaden!
Vorbeter sollte man zur Hölle jagen. Man nennt sie Imam. Mein Vater nannte sie so. Unserem Imam vertraute er. Was dieser verzapfte …
Hier habe ich mal einen Hassprediger erlebt.
Da steckte ne Menge in den Reden drin!
Lob für Palästinenser und ihre Raketen, die man vom Gaza nach Tel Aviv abschießt.
Nichtmuslime, ungläubiges Gesocks.
In den Tod mit ihnen! Werdet Selbstmordattentäter. Taliban!
Das hatte mir gereicht.
Warum jagt der sich nicht selbst in die Luft?
Ich will lieber bumsen oder wichsen oder sonst was!
Schlimmer als die katholischen Priester. Meine Mutter ist nämlich katholisch, und früher zerrte sie mich in die Kirche. Irgendwann hatte sie das mal über … Ich lächelte an falschen Stellen, grinste den Pfarrer an, weil ich kaum was verstand und wenn der seine Lampe schwenkte, mein Gott, was sollte dieses Getue. Für die Gläubigen hatte ich auch nichts am Hut. Die gingen mir auf den Sack. Nach außen fromm, nach innen wird rumgefickt und gemacht.
Meine Alte meint, deshalb sei Levent abgehauen. Sie wollte keine Muslimin werden und er nicht katholisch.
Stimmt sicher nicht.
Ich bin wütend.
Meine Wimpern flattern.
Sie hat Schuld.
Ewig diese Vorhaltungen. Wir haben Ferien. Wer lernt in dieser Zeit schon für die Schule? Ich jedenfalls nicht. Da kann sie noch soviel zetern. Ich habe ihr tausend Mal gesagt, dass ich mein Abitur mache. Das sollte doch genügen, oder? Nein, sie will mich einsperren, am liebsten immer kurz halten. Bücher lesen. Was denkt sie sich bloß dabei? Widerlich. Sie geht doch auch ins Büro. Und ich soll Zuhause bleiben? Meine Freunde sind wichtiger. Mit ihnen treffe ich mich jeden Tag.
Wenn sie wüsste …
Aber sie weiß nichts über mich. Kennt meine Wünsche nicht, meine Sehnsucht. Ja, sie wird sich sagen, dass jeder Junge in meinem Alter Titten anfassen will. Schließlich ist Dolly Buster oft genug in der Glotze, diese Hure. Die hat vielleicht Balkons. Aber sonst? Ich schließe das Bad ab, wenn sie da ist. Außerdem gehe ich nie nackt durch die Räume. Sie würde ausflippen.
Bloß raus hier!
Gerade war sie über mich hergefallen. Zum Kotzen. Ich schrie zurück:
„Sibel, du kannst mich mal …“
Das war schäbig. Ich geb’s ja zu. Ich erinnerte sie mit dieser Anrede an Levent. Sie zog eine Grimasse, als sie den Namen hörte. Wollte noch lauter grölen, doch sie kriegte kein Wort raus.
Ich habe gelacht.
Ich nahm mein Skateboard.
„Einen schönen Abend!“, blökte ich ihr zu. Sie erschrak, unternahm nichts, mich aufzuhalten. Ich hätte das auch gar nicht zugelassen. Das ist die Wahrheit. Wer bin ich denn? Jedenfalls kein Kind mehr. Ich müsste eigentlich einmal vor ihrer Nase herumtanzen, ohne Unterhose, dann wird sie endlich begreifen. Aber will sie das, verdrängt sie nicht nur?
Ich schlage die Tür zu.
Wie immer wuselt mir eine Welle von Gerüchen ins Gesicht.
Scheiß Treppenhaus!
Seit Jahren ist hier nichts gemacht worden. Gelbe Ölfarbe, sieht wie Kinderkacke aus. Ekelhaft. Und hier soll man sich wohlfühlen? Nein, weg hier! Bloß nach unten, nach draußen.
Dass die Leute das akzeptieren. Der Anstrich blättert ab. Gekräuselte Farblappen hängen wie die Falten unserer letzten Musiklehrerin in der Gegend herum.
Eine Zicke!
Aber ich habe noch eine Vier bekommen. Ich bin ihr zuletzt in den Arsch gekrochen. Ja, das habe ich gemacht, und sie ist darauf reingefallen. Ich brauchte das Ausreichend. Wär’s ein Fünfer geworden, ich hätte nicht aufs Gym gekonnt.
Ich springe die abgewetzte Holztreppe an der Wandseite nach unten, wo der Gestank beinahe bestialisch ist. Daher nehme ich zwei Stufen auf einmal. Da das Geländer überall Risse und Löcher hat und im dritten Stock sogar ein Stück fehlt, bleibt mir keine andere Wahl.
Aus diesem Treppenhaus muss man einfach schnell herauskommen, fliehen, sonst ist man abgenudelt.
Ich höre meine Alte hinterher rufen.
Ihre Stimme ähnelt einer schrillen Flöte. Und die tönt sogar besser. Könnte ich doch meine Ohren zukleistern. Aber ihre Stöpsel sind nicht mehr greifbar, sie lagen früher auf dem Nachtisch. Sie hatte sie immer genommen, wenn Okan schnarchte. Und das war jede Nacht.
Halt das Maul!
Ich wage einen Blick nach oben.
Da steht sie oben am Treppengeländer, die Hände auf den morschen Lauf gestützt, den Oberkörper in die Tiefe geneigt. Das verzerrte Gesicht ähnelt einer Krähe. Ja, so schielt sie nach unten.
„Looser!“, brüllt sie. Dabei überschlägt sich ihre Stimme.
Leck mich doch … denke ich.
Ich mache mein Ding. Außerdem Abitur. Noch drei Jahre. Dann haue ich ab, ab, ab!
Ich bin doch nicht doof.
Aber ich halte meine Schnauze. Das wird sie noch mehr in Rage bringen.
Ihr Geschrei hallt im Treppenhaus wider. Die Akustik ist phänomenal. Das ist der Staub, der an den Wänden klebt, Dreck von mehr als zwanzig Jahren.
Kein Fahrstuhl natürlich.
Jetzt reißt jemand sogar seine Wohnungstür auf.
„Glotzen verboten, Blickficker!“
Unten!
MeineVisage im beschmierten und fast blinden Spiegel.
Das bin ich?
Blödmann, warum wichst du so oft herum?
Verdammt, diese Augenränder. Wenn die bleiben, krieg ich im neuen Gym keine Klopse. Die Weiber wollen nur von Schönlingen gestempelt werden.
Hätten wir in der Gang bloß nicht so ein arschloses Spiel abgesprochen: Wer am meisten herummacht, soll der Leader werden. Ich bin es längst. Ich glaube, die wollen nur, dass sie mich bestätigen können.
Scheißkerle.
Nein, Freunde.
Achmed, diese Hohlfrucht, hatte noch vorgeschlagen, dass jeder einen Kalender kauft und darin jedes Mal anstreicht. Den werde ich es zeigen. Gut, dass ich gleich meine Techniken dazu gekritzelt habe. Die werden Augen machen. Ich stelle mir Paul vor, unseren Harry Potter, Terrorkrümel. Aber sein Schwanz ist in Ordnung. Dass er mir den gezeigt hat, diese Sau. Wollte wohl gleichgestellt werden. Ich werde noch mal aufzählen, wann und wie. Um neun das erste Mal, normal, dann eine Stunde später vorm Spiegel … wie lief’s danach ab? Richtig, ich hab’s: in der Badewanne unter Wasser, elf Uhr.
Betty kommt immer erst zwischen sechzehn und neunzehn Uhr nach Haus.
Um zwölf mit einer Puppe von hinten. Total geil. Und schließlich dieses verfluchte Kreislineal, unterschiedliche Durchmesser. Der größte war zu klein. Grins, grins! Sah die durchlöcherte Platte vor mir, steckte den schlappen Schwanz durch. Mein Gott, bekam ich nach wenigen Minuten Schmerzen, ich Idiot. Und das Lineal musste ich kaputt brechen.
Wenn ich pisse, brennt’s immer noch.
Mit Brachialgewalt öffne ich das Portal. Klemmt wie unsere Kammerluke, was kann man erwarten? Ob’s Gruftis öffnen können?
Bums!
Als es ins Schloss fällt, vibrieren beide Flügel. Hat Betty mitgekriegt, wie mir zu Mute ist? Aber sie empfindet ja sowieso nichts mehr für mich, wo ich immer noch von Okan rede …
Endlich frische Luft, keine Quatscherei.
Wie sie gegeifert hat …
Los, das Skateboard unter den rechten Arm klemmen! Immer noch das Zittern von der Auseinandersetzung.
Was man sich als Kind alles gefallen lassen muss! Aber dieses Mal habe ich es ihr gegeben, sie Sibel genannt, und genau das hat sie maßlos aufgeregt. Ich habe sie verletzt!
Cool!
Ja, das war ganz gemein. Aber es ging nicht anders. Wer nicht hören will, muss fühlen! Und außerdem wollte ich sie zum Schweigen bringen.
Absolut gelungen.
Beim nächsten Streit noch einen drauf!
Ich werd’ ihr verklunkern, was sie zum Heulen bringt! Ja heulen soll sie!
Es war gar nicht ihre Weigerung, Muslimin zu werden. Ein lächerlicher Grund. Zieht nicht! Nein, eine andere Frau.
‚Du hast Okan aus dem Haus geekelt!’, das wird sitzen!
Ich bin wirklich erbost.
Dieser verfluchte Bengel.
Muss er denn das Portal mit Bravour zuschlagen? Immer dasselbe. Wie sein Vater. Laut und aggressiv.
Ein Windstoß fegt durchs Treppenhaus. Die Wohnungstür fliegt ins Schloss. Ärgerlich blickt sie umher. Wie soll man mit solchen Kerlen fertig werden?
Meine Ohnmacht ist ätzend!
Ich laufe ans Fenster, das zur Straße führt. Ich will sehen, was mein Sohn macht. Warum eigentlich? Was würde ich erfahren, wenn ich hinterher gucke? Kann ich irgendetwas ändern?
Nein! Nichts!
Nuri überquert gerade die Feldstraße in Richtung Hafen. Er wird vielleicht auf die Reeperbahn gehen, Dummheiten machen. Der Kiez – insbesondere am Freitagnachmittag bis zur späten Samstagnacht – wimmelt von Schlägern, auch Türkenhasser, die ihn zusammenschlagen könnten, wenn er sich als Macho gebärdet und Leute anmacht. Seine Unbeherrschtheit und sein cholerisches Wesen sind die schlechtesten Ratgeber. Dann gibt’s eine Schlägerei.
Ich kenne meinen Sohn, ich habe Angst um ihn …
Nuri ist in großer Gefahr.
Ich verfluche euch beide. Ja, dich auch, Nuri!
Das Gehabe meines Mannes hatte bei vielen Leuten Ärger heraufbeschworen, als er noch zu Hause war. Bald jedes Jahr mussten wir umziehen. Einmal mussten wir den Vermieter wechseln, weil Levent in seiner Trunkenheit so laut stöhnte, dass die Mitbewohner zusammenfuhren, wie sie sagten. Sie hätten gedacht, dass ein Schaf abgestochen wird. Nein, es war nur mein Mann, der vor Lust und Wonne stöhnte. Da er Viagra geschluckt hatte, kamen wir beide nicht zur Ruhe, immer wieder stieß er zu, leider zuletzt von hinten. Das hatte ihm offensichtlich den größten Spaß gemacht, später wollte er immer wieder hinten eindringen.
Wie konnte ich mir das gefallen lassen?
Ist mir immer noch ein Buch mit sieben Siegeln. Na ja, ganz stimmt das nicht, meine Orgasmen waren beinahe noch wilder als in der Missionarsstellung. Aber diese wählte Levent nur selten.
Schließlich stand die Trennung bevor. Wir hätten uns auseinander gelebt, äußerte Levent bei Nachbarn. Zum Leidwesen unseres Sohnes. Zu ihm war Okan voller Liebe. Immer. Und voller Nachsicht. Ich bin froh, dass Levent weg ist. Denn jetzt würden die beiden noch mehr zusammenhalten und mich drangsalieren.
Wieso dreht sich Nuri noch einmal um? Starrt hier hoch. Hat er Gewissensbisse? Warum ist sein Gesicht so verzerrt? Reißt er mir etwa eine Grimasse und will mir sagen, wie er mich hasst?
Nanu! Ich sehe erst jetzt sein Skateboard, eng unter den Arm gepresst. Zeichen seiner Wut. Das beruhigt etwas. Das verfluchte Brett hat jedenfalls eine gute Eigenschaft, es kühlt ihn ab, löst seinen Jähzorn auf.
Nuri wird seinem Vater immer ähnlicher, zum Verzweifeln.
Es gibt einen Unterschied: Levent ist älter.
Wie soll mein Leben weitergehen?
Ein Junge in Nuris’ Alter braucht einen Erzieher, meine Überzeugung. Einen fertigen Mann. Man darf ihm das nur nicht sagen. Er würde ausflippen, würde denken, man wolle ihn nur kontrollieren. Dabei müssen seine Federn nur etwas gestutzt werden. Hätte ich doch jemand in meinem Freundeskreis, auf den er hören würde … Nuri ist in meinen Augen noch ein absoluter Youngster. Nennt man so nicht einen Burschen oder ist er noch ein Kid?
Wie müsste der Kerl sein, der ihm sagt, wo’s lang geht?
Älter, ja! Aber nicht um viele Jahre. Vielleicht vier. In dem Alter ist man schon vernünftiger. Setzt neue Prioritäten. Mädchen könnte ich gut akzeptieren. Die bändigen meistens so einen Upstyler. Er muss lernen, seinen Schädel zu benutzen. Aus ihm müsste man die Vernunft herauskitzeln. Denn klug ist er, wie die Lehrer gesagt haben. Er ist nur zu ungestüm, zu sehr von sich überzeugt, zu selbstbewusst und zu laut. Den Unterricht soll er ständig gestört haben. Und immer, wenn er was wusste, hat er sein Wissen hinausgeschrien, in die Klasse posaunt. Unglaublich, dass man ihn nicht rausgeschmissen hat.
Wahrscheinlich müsste ein Mann genau so ein Brutalo sein wie er. Hoffentlich bringt die neue Schule etwas. Die Lehrer da sollen scharfe Hunde sein. Unverschämtheiten werden nicht akzeptiert. Hörte ich. Das wäre genau die Marschroute, die Nuri zur Raison bringen könnte.
Was kann ich bloß tun? Mich mehr um ihn kümmern? Wie? Ich arbeite den ganzen Tag! Manchmal brauche ich einen Kerl, ja, aber nur für Stunden. Davon merkt er nichts. Genau in dieser Zeit treibt er sich sowieso herum. Es stehen genug Männer am Hauptbahnhof herum. Über den muss ich gehen, wenn ich vom Büro durch die Stadt nach Hause will. Ein bisschen in der Hüfte wiegen …
Dass er mich mit Sibel brüskiert hat … wollte mich schwer verletzten … Das war gelungen. Wenn ich nicht wüsste, dass ich anständiger bin, würde ich ihn Hurensohn nennen, Sohn von einer Hure. Bin ich aber nicht. Für mich ist er eine Natter, ein Stinktier!
Was geht in diesem Bengel vor?
Er weiß genau, dass Levent seit seinem Verschwinden keinen Cent zum Unterhalt seines Sohnes beigetragen hat. Er müsste mir doch beistehen.
Denkste.
Gaga!
Er hat nur seine Gang im Kopf.
War es richtig, dass ich allen verbot, mich Sibel zu nennen, als er abhaute?
„Wehe, ihr nennt mich Sibel, die Konsequenzen sind schmerzlich!“, blökte ich sie an. Was man wohl dabei gedacht hat? Eins muss ich allerdings zugeben, man hat meinen Wunsch toleriert. Ob allerdings Betty eine gute Alternative war? Hört sich doch wie ein Kosename an, und mit wem bin ich schon so befreundet, dass er diesen sagen dürfte? Ja, mit Elga, der blöden Kuh aus der Firma.
Jetzt allerdings ruft mich Hans und Franz so. Dumme Entscheidung von mir. Elisabeth, mein Mädchennamen hätte es auch getan.
„Schluss mit uns, wenn …“
Mein eigener Sohn fällt aus der Reihe …
Das ist der Hammer!
Dieses kleine Monster!
Das Einzige, was man aus seiner Bösartigkeit ableiten kann, ist, dass Levent, der mich so abkanzelte, verletzte, missachtete, noch immer in meinen Hirn herumgeistert. Scheiß drauf!
Wie war das bloß damals, als wir zum Standesamt pilgerten? Seine Hand lag auf meinem Hintern, er streichelte ihn voller Liebe und ich fand’ s himmlisch.
Wir schworen uns, unsere Religionen zu tolerieren. Ein Schwur ohne Nachhaltigkeit.
Immerhin! Die Ehe hielt vierzehn Jahre.
Seit zwei Jahren ein leeres Bett neben mir. Levent war nicht zurückgekommen, wie ich dachte. Er blieb in der Versenkung. Man behauptet, er wäre in die Türkei gegangen. Zuzutrauen wäre es ihm, denn da kann er die Frauen unterdrücken!
Was allerdings ohne Beweis blieb. Hätte ich bloß mehr Zeit für Nuri gehabt. Aber lamentieren hilft nicht. Sie war nicht vorhanden.
Meine Beschäftigung bei der Zeitung, sowie mein Übersetzungsbüro nehmen mich total in Anspruch. Es soll schon was heißen, nach dem Beruf noch spät abends für türkische Bürger zu arbeiten, Rechnungen zu schreiben, Briefe zu verfassen und Verträge aufzustellen.
Was die manchmal nerven … außerdem sonnabends ganztägig.
Dann kommen sie meist mit der ganzen Familie, die Frau, zwei Kinder und der Alte. Der spricht meist ganz gut Deutsch. Aber sie? Fehlanzeige. Gut, dass ich fließend türkisch schreibe und spreche. Zahlen tun sie immer pünktlich. Darin sind Türken absolut anständig! Wirklich! Obwohl sie Muslime sind.
Wahrscheinlich liegt da der Hund begraben. Vielleicht hätte ich doch besser daran getan, für Nuri eine Lehrstelle zu suchen. Es heißt ja, dass sich Jugendliche in den Betrieben anpassen müssen und auch anpassen.
Jedenfalls wäre der Junge nicht soviel allein geblieben.
Warum habe ich auf sein Jammern gehört? Wie er mich umgurrt hatte! Da konnte er plötzlich nett sein, und ich schwach. Kaum hatte er sein Ziel erreicht, ging die alte Leier los.
Warum ich mich jetzt vom Fenster abwende, meinen Kopf ruhelos von links nach rechts werfe – wie eine Alzheimer-Kranke - Flattern in den Augen habe, ja, Tränen sogar und irgendwie irritiert auf den Flur zurück schwanke, kann ich selbst nicht beantworten. Ist es der Beginn einer Krankheit? Sind es Gleichgewichtsstörungen oder nur Erinnerungen an Levent? Könnten es Gedanken um die Zukunft Nuris sein? Wer will das wissen?
Was mache ich in diesem Aufzug eigentlich im Treppenhaus?, frage ich mich plötzlich. Inzwischen stehe sich vor meiner Wohnungstür, am ganzen Körper zitternd. Warum?
„Das kann doch nicht wahr sein!“, gebe ich zaghaft von mir …
Die Tür ist geschlossen.
Mir kommt der Knall von vorhin in Erinnerung. Dieser verfluchte Bengel!
Ich rüttle am Türgriff herum.
Da sehe ich das alte Namensschild! Wie es mich angrinst! Sibel, Levent & Nuri Sarlak. Das muss weg! Ich heiße Elisabeth Wagner.
Entnervt greife ich in die Schürzentasche, um den Wohnungsschlüssel herauszufischen.
Bitte lieber Gott, lass mich den Schlüssel eingesteckt haben! Nein? Ein Gasanzünder, eine Papierrolle, eine Digital-Kamera, zwei Küchenmesser, sonst nichts …, oh doch …
Was hat sich da in die linke Taschenecke verkrümelt? Dass man Dinge immer wieder gedankenlos irgendwohin legt. Mal die Brille, mal der Autoschlüssel, mal eine Nachricht. Man sollte bewusster leben. Dann passiert so etwas nicht.
Fasst sich an wie eine Mozzarella-Tüte!
Doch wie soll die da hinein kommen?
Igittigitt, ein Kondom! Benutzt!
Dieser Flachwichser! Nuri?
Mein Sohn? Quatsch. Dieser braucht noch keine Socke!
War es etwa der Schwarze von gestern? Sollte er etwa … Er machte doch so einen gepflegten Eindruck!
Mit zwei Fingern versuche ich, den mit Sperma gefüllten Präser aus der Schürzentasche zu ziehen. Wie konnte ich diesen Mann nur mitnehmen?
Aufpassen, Betty.
Der Saft schwappt hin und her!
Und raus! Verdammt!
Schon war die Hälfte der Flüssigkeit in der Schürze. Was für eine Sauerei! Männer sind Schweine. Der Song von ‚Die Ärzte’ hat recht … Er lügt, dass sich die Balken biegen, nur um dich ins Bett zu kriegen!
Was für ein Gestank! Als er den Samen herausspritzte, roch er prima. Er schmeckte auch! Ehrlich.
Aber kalt? Ekelhaft.
Endlich ist das Präservativ in meiner Hand, ein Großteil des Zeugs ist noch in der kleinen Ausbuchtung
Was fiel dem Kerl bloß ein? Ja, ich hatte ihn mitgelotst, ich wollte einen Schwanz nach Wochen der Enthaltsamkeit fühlen. Eigentlich brauche ich jeden Tag einen, denn es selbst zu tun, was für ein Aufwand! Dildos sind zwar Notbehelf, aber ein richtiger fleischiger Stengel bietet mehr Spaß.
Nein, so eine menschliche Latte, einfach giga!
Ein Gedankenwirrwarr geistert durch meinen Kopf.
Nicht wehren, Betty.
Erinnerungen lassen oft ein zweites Mal genießen!
Da klappt doch eine Tür! Hatte jemand zugehört? Vor Schreck lasse ich das Kondom fallen. Sauerei …Platsch! ...
Mir kommt noch einmal der Afrikaner vor Augen.
Edelkörper!
Sixpack!
Eine Beule hinter dem Slip, sie stand Levents um nichts nach.
Kaum in der Küche, drängte er mich zur tiefer gelegenen Spüle, legte mich über sie, zog mein Höschen runter, seine Hose lag längst irgendwo auf dem Boden.
Mann, ein Ding …
Wenn das bei dem Umfang bloß gut geht.
Aua! Ah …
Auf ging’s.
Er passte wie für mich gemacht.
Ein brutaler Ritt begann.
Wie ich diesen liebte … schon bei Levent …
Die Ränder des Beckens drückten sich in meinen Rücken.
Das tat weh …
Mir ist, als rede ich mit mir selbst, dabei holte ich nur das zurück, was mir widerfuhr.
Der Schmerz war halb so schlimm, fast völlig verdrängt durch die Lust!
Außerdem hatte ich bei Levent erkannt, dass Schmerzen geiler machen, und so ließ ich’s geschehen. Wie er hechelte, wie sich Wasserperlen an seiner Stirn bildeten. Ich weiß nicht mehr, wie es möglich war, dass wir zusammen kamen. Bei Levent war das anders. Er hat mich nicht immer zum Orgasmus gebracht.
Aber gestern! Ich stoße einen lustvollen Laut aus.
Dieser Junge. Es war wunderbar. Wir wimmerten um die Wette, als sein Strom in meinen Bauch flutete.
Der Kerl war sehr sauber, er eilte gleich ins Badezimmer, wusch sich hörbar und kam mit einem Ständer zurück. Der war ja noch größer als vorher. Wie das? Drogen etwa? Dann schmeiß ich ihn raus!
„Blasen!“, befahl er, zog meinen Kopf nach unten.
Ich gehorchte.
Bloß keine Maulsperre! Man muss sich in solchen Situationen zusammennehmen, das hatte ich schon bei anderen Männern gelernt. So stülpte ich meine Lippen über die Köstlichkeit, überwand den Eichelring, viel weiter ging’s aber nicht. Wie er quietschte und ächzte, als ich meine Zunge unter seinen Kranz schob und daran herum rieb. Ja, ich weiß, was richtige Männer mögen.
Aufpassen!
Abrupt zog ich meinen Kopf zurück, befreite ich mich ganz von seinem Penis. Fast zu spät. Die Ladung schoss mir an die Stirn, und lief langsam die Wangen runter. Etwas rann in meinen geöffneten Mund. Ein eigenartiger, süßlicher Duft, wie eine gewärmte Esskastanie, oder?
Der nächste Schuss landete auf dem Boden.
Und den hat der Schwarze gleich noch mit dem Spüllappen gewischt. Gute Manieren.
Hoffentlich wird Nuri nie erfahren, was ich heimlich treibe. Seine Mutter eine Nymphomanin. Vielleicht aber wird er auch so wie ich, hemmungslos.
Manchmal glaub ich jetzt schon, dass er voller Begierden ist.
Keine Schlüssel …
Ausgeschlossen, im wahrsten Sinne des Wortes.
Das hat man davon!
Voller Zorn weise ich meinem Sohn die Verantwortung zu. Hätte er auf mich gehört, wäre er nicht überstürzt losgelaufen, und ich hätte nicht hinterher rennen müssen.
Was nun?
Lebt unter uns nicht Herr Goldstern mit seinem Sohn? Vielleicht kann er mir helfen …
Meist ist tagsüber jemand zu Hause, fällt mir ein.
Oft verlässt der Mann abends das Haus. Vielleicht ist er Musiker? Das wäre gut. Musiker sind sanft. Eine Frau hat sicher nichts bei ihm zu befürchten. Hatte der Sohn Navid nicht versucht, mit Nuri zu sprechen? Mir war eigentlich gleich klar, dass die beiden nicht zueinander passen, Navid ist schüchtern und in seinen Gesten irgendwie zu feminin, zu link. Zwar sind die Jungen gleich groß, haben beide kräftige Wangenknochen, beide schwarzes, gekräuseltes Haar, aber Navids Nasenflügel stehen weit auseinander wie es viele Afrikaner haben, ein Geschenk seiner Mutter, die aus Kenia kommt, wie ich von Nachbarn hörte. Dadurch ist er hässlicher als sein Vater. Im Vergleich zu Nuri, ach, lassen wir das.
Außerdem ist er schmalbrüstig mit einem breiten Becken, Nuri dagegen stämmig und schlank in den Hüften, wie es Models haben. Vielleicht war es das, was meinen Sohn vom Nachbarssohn abhielt. Allerdings glaube ich eher, dass Nuri in ihm ein Mädchen in Jungengestalt vermutete.
„Homos sind Weicheier, außerdem krank!“, gab er einmal zum Besten und Levent nickte kräftig mit dem Kopf, meinte:
„Mein Sohn, das stimmt, Mohammed hat sie immer verdammt, weil Gott sie hasst!“
Tatsächlich. Ich habe Glück, Herr Goldstern persönlich an der Wohnungstür, so schmierig wie immer, weshalb er mir seit seinem Einzug zuwider ist. Aber getan hat er mir nie etwas, also ist mein Gedanke nichts als ein Vorurteil. Am liebsten wäre ich allerdings weggelaufen, doch ich brauche ihn, also mache ich gute Miene zum bösen Spiel.
Ich erläutere, was passiert ist.
Mein Nachbar nickt mit dem Kopf, so dass seine fettigen Haare in die Stirn fallen. Er wird mir noch unsympathischer.
Nimm dich zusammen.
Herr Goldstern bittet mich zu warten, verschwindet nach drinnen. Aus seiner Küche wabert Dampf. Es riecht nach Hammelbraten. Ich werde sofort an meinen Mann erinnert.
Bewaffnet mit einem Ring voller Stahlhaken kehrt er zurück. Mit ihnen verbindet jeder gleich Dietriche und ebenso schnell Einbrüche. Ich auch!
Sind es wirklich welche? Ja, unverkennbar, alle ähneln einem sechskantigem Metallstift, variable Durchmesser, beginnend bei ungefähr drei Millimetern, das obere Drittel steht im rechten Winkel zur Seite.
Herr Goldstern fuchtelt mit ihnen vor meinen Augen herum, was ich ziemlich unangemessen finde, denn gleichzeitig berührt er mich mit dem Arm und sagt:
„Frau Sarlak, einer wird passen! Das kürzere Ende stecke ich in die Türschlossmechanik, der lange Teil wirkt als Hebel.“
„Nennen Sie mich nicht Sarlak, ich heiße Wagner!“
„Ich bitte Sie, hier auf dem Namensschild steht Sibel, Levent und Nuri Sarlak.“
„Stimmt, was Sie sagen, aber ich heiße Wagner, bitte!“
„Nein, ich nenne Sie Sarlak, das gehört sich so!“
„Mein Mann lebt nicht mehr mit mir zusammen!“
„Ach, dann sind Sie geschieden? Wie schön für mich!“
„Wie bitte?“
„Sie müssen wissen, ich suche eine Frau, meine ist vor vier Jahren verstorben, und Navid braucht eine Mutter! Nuri bestimmt auch einen neuen Vater!“
Dabei blinzelt er mich unverhohlen und gierig an, woraus man entnehmen könnte, dass es sich um einen lüsternen Mann handeln muss. Was für Ideen einen so überkommen … eine Gänsehaut überzieht meinen Körper. Ich bekomme Angst. Hoffentlich verlangt er von mir nicht eine Gegenleistung … Dann zwinge ich mich zur Ruhe.
„Bitte öffnen Sie die Tür, Herr Goldstern!“
„Ziehen Sie den Türknauf fest an sich, wenn ich mit meiner Kunst beginne!“
Kunst?
Ist dazu Hilfe nötig? Und wieso soll ich den Griff ziehen, wo dieser fest auf dem Türblatt sitzt? Egal, ohne Ahnung, wie man Reparaturen ausführt, ohne je ein Werkzeug in der Hand gehabt zu haben, sollte man sich fügen!
Schweren Herzens!
Früher war Levent der Handwerker im Haus.
Er hätte beim Bauern in seiner Heimat gelernt, da hätte er alles Notwendige fürs Leben erfahren. So äußerte er sich jedenfalls. Bei der jetzigen Firma müsse er ständig Stahlschläuche schweißen oder irgendwie verbinden. Oft genug müsse er sogar einen Brenner benutzen, dann trüge er auch eine Brille, die seine Augen schütze.
Ich fragte ihn, ob man das Löten nennen würde.
Zuerst schien er ungehalten. Mir war, als glaubte er, dass ich seine Tätigkeiten belächle, was ich nicht tat. Jede Arbeit verdient Achtung, sagte ich mir und ihm.
„Verlöten!“, war seine freche Antwort.
Verlöten? Meine Assoziationen wanderten sofort in die Schulzeit zurück. Einige Mädchen sprachen hierüber und machten deutlich, dass es im Zusammenhang mit Frauen gebraucht wird und diese diffamiere. Es enthalte nämlich Gewalt. Damit kam es einer Vergewaltigung nahe.
Leider wurde das im Laufe der letzten Jahre unserer Ehe zu seinem normalen Verhalten, Levent hatte sich von einem zärtlichen Liebhaber zu einem Brutalo entwickelt. Das Schreckliche war, dass ich mich an seine sexuelle Rohheit, seine Rücksichtslosigkeit gewöhnte.
Was Levent wirklich gelernt hatte, konnte ich während unserer Ehe nie in Erfahrung bringen. Als er fort war und ich seine letzten Sachen in den Müllschlucker beförderte, kam ein Ausweis aus seiner Jugend zum Vorschein. Danach hatte er in Istanbul eine Lehre in einer Apotheke absolviert.
Hatte seine Fitness etwa damit zu tun? Er war mit fast fünfundvierzig potenter als mit dreißig, als er mich schwängerte. Allerdings war er gleichzeitig jähzorniger geworden, ausfallender und lauter. Drogen etwa? Seine Haut nahm eine eigenartige Rötung an … vorbei, vorbei …
Aber eins stand fest, Levent hatte nie meine Hilfe in Anspruch genommen.
Mein Nachbar und ich stehen dicht zusammen, ich gezwungenermaßen, er freiwillig. Sein Körper riecht widerlich, muffig, vielleicht, nein eher wie ein fauler Kohlrabi. Den Gestank müsste er doch selbst bemerken, oder seine Nase hat sich daran gewöhnt. Ekelhaft, mir wird fast schlecht.
Als er das Werkzeug mit dem kurzen Arm ins Schlüsselloch einführt – seiner Erklärung entsprechend – und mit ihm im Inneren herumstochert, berührt mich sein Unterleib.
„Da hakt etwas!“, meint er lächelnd, „aber wir schaffen es.“
Ich fühle plötzlich sein Geschlecht an meiner Hüfte, er hatte sich nämlich zur Seite gedreht und meinen Körper als Widerstand benutzt.
„Schwierig!“, gibt er nochmals von sich, probiert es ein weiteres Mal und reibt seinen Hosenstall an meinem Po entlang.
„Stillhalten!“, pustet er mir zu, als ich einen Schritt zur Seite rücken will. Da fällt mir wieder der Songtext ein:
Männer sind Schweine, trau ihnen nicht, mein Kind, sie wollen alle nur das Eine, weil Männer nun mal so sind.
Die Tür springt mit Getöse auf.
Fast hätte ich den Schrei überhört, der aus dem Treppenhaus kam. Mein Gott, wird jemand am helllichten Tag bei uns im Haus überfallen?
Hilferufe!
Plötzlich sind meine Abneigung gegen Herrn Goldstern und sein Gestank in die Ferne gerückt, meine Wohnung wird zur Nebensache.
Ich bekomme wahnsinnige Angst und gleichzeitig Mut!
Mein Sohn etwa? Hat man ihm etwas angetan? Ich springe zur Etagenbrüstung - Herr Goldstern folgt mir – seine Gesichtszüge sind zu einer Fratze mutiert. Ahnt er irgendetwas? Hat er vielleicht mit dem Überfall zu tun? Wir blicken verstört über das Etagengeländer nach unten ins Entree, woher die Laute kommen.
Heulen, Wimmern, Rufen.
„Bitte nicht!“
Ich sehe drei schwarz gekleidete Jugendliche, und einen Jungen, hinter dem sie her sind. Nuri? Nein, er ist es nicht. Gott sei Dank.
Einer springt den Jungen von hinten an, zerrt an dessen kurzen Sommerhosen herum, reißt sie offensichtlich auf und ihm vom Körper.
Unvermittelt denke ich an die Kamera in meiner Schürze.
Ich ziehe sie aus der Tasche, presse, ohne hinzusehen, den Powerknopf nach unten. Im Nu ist die Linse sichtbar. Ich schieße mehrere Bilder, von denen die Kerle unten nichts mitbekommen, weil sie wie unter Drogen zu stehen scheinen, unberechenbar und unzurechnungsfähig. Sie springen um den Jungen herum. Verängstigt fleht er sie an. Ihr Gebaren ließ Schlimmes erahnen.
Ob die Bilder was werden?
Der Junge ist inzwischen unten herum nackt. Er hatte keine Unterhose an.
Sekundenstille.
Ein zweiter schwingt einen Stock, ein Hieb trifft das heulende Opfer auf seine Genitalien, ein neuer markerschütternder Schrei zerreißt die Lautlosigkeit. Es versucht zu fliehen, stolpert über die erste Stufe und stürzt. Ein neuer Hieb landet auf dem Po.
Diese Feiglinge.
Wütend gröle ich nach unten, tue, als ob ich die Polizei alarmiere: „Polizei? Ja, Hier wird ein Junge zusammengeschlagen, drei Jugendliche. Wie sie aussehen?“
Kaum das Wort Polizei ausgesprochen, starren die Jugendlichen nach oben, sehen mich und Herrn Goldstern, werfen den Stock in die Ecke und jagen überstürzt davon.
Am Fuße der Treppe wimmert das Opfer.
„Es ist mein geliebter Sohn! Wir sind Juden.“
Instinktiv schiebe ich Herrn Goldstern beiseite und springe – mehrere Stufen auf einmal nehmend – nach unten.
Da steht er vor mir, er hatte sich inzwischen aufgerichtet.
Ich ringe nach Luft, sehe sein entsetztes Gesicht, erkenne, dass er verschämt seine Hände über sein Glied legt. Armer Kerl.
Jetzt nicht denken!
Tun!
Ich ziehe den nackten Jungen an mich. Ich weiß, dass innige Berührung und menschliche Wärme Vertrauen schaffen können. Dann streichle ich zärtlich seinen Kopf, binde meine Schürze ab und lege sie ihm um die Taille.
Sein dankbarer Blick wird mir unvergessen bleiben.
Wir stützen uns gegenseitig und klettern die Stufen langsam auf zu unserem Stockwerk, wo Herr Goldstern weinend wartet und seinen Sohn übernimmt.
„Komm, du badest erst und reinigst dein Gesicht vom Blut. Dann zeigen wir die drei an!“
Ich merke, dass ich meine Ansicht über den jüdischen Mitbewohner korrigieren muss. Wie zärtlich er sein kann … Ich werde an Levent erinnert, der dieselben Gefühle für seinen Sohn gezeigt hatte.
„Die Schürze bringe ich gewaschen zurück!“, sagt er, als er die Tür seiner Wohnung öffnet.
„Ja, ja!“, antworte ich traurig. „Minderheiten passen in keine bürgerliche Norm.“
Ich blicke hinterher und empfinde eine tiefe Zärtlichkeit für diesen verletzten jungen Mann. Er könnte mein eigener Sohn sein. Sechzehn Jahre, unfertig, suchend und in diesem Fall wenig selbstbewusst, wovon Nuri überschäumt, dass er zur Last wird. Nein, das sollte ich nicht sagen, auch wenn er mir ständig wehtut. Schließlich hat er auch viel von mir.
Die beiden verschwinden hinter ihrer Tür, ich hinter meiner. Ich setze mich nachdenklich auf einen Küchenstuhl, schließe die Augen. Noch einmal fliegen die Bilder von eben an meinen Pupillen vorbei. Aber ich sehe nicht Navid vor mir, sondern Nuri.
Ich höre mich schreien:
‚Nuri, Nuri!’
Ich reiße die Augen auf. Natürlich ist Nuri nicht hier. Ich komme auf den Boden der Gegenwart zurück. Plötzlich steht eine Frage im Raum, unvorbereitet, nie gedacht: Bist du nicht mitschuldig an so einem Verbrechen?
Wie denn, fragt mein Gewissen.
Bin ich zu gleichgültig geworden?
Was kann ich tun?
Nuri ist Teil einer Minderheit. Angst überzieht mich.
Draußen ist es warm.
Der Hochsommer in seiner Blüte.
Seit Tagen wolkenlos.
Meine Wut hatte sich etwas gelegt. Sobald ich mein Brett unter den Füßen spüre, verfliegt sie nach und nach.
Mit ihm bin frei.
Hier bin ich Ich!
Ich fege mit ihm über unseren Tschaikowskyplatz, an dem wir wohnen. Springe ein paar Ollies. Ich stoppe mein Board, nehme es unter den Arm, drehe mich um, schaue noch einmal zurück auf unsere Häuserzeile. War Betty eben nicht am Fenster?
Sie war voll abgeeiert!
Auf unserem Platz gibt’s kein Durchgangsverkehr. Barrieren versperren die Zufahrten. Die Fläche ist zum Skaten voll geeignet. Ebenso zum Abhängen, weil es Bänke gibt, und zum Bolzen. Meistens machen wir uns auf die Reise … Heute Abend treffen wir uns. Von hier zur Reeperbahn sind es mit dem Board zwei Minuten. Wir leben mitten im Sumpf. Mir gefällt das Umfeld. Und mein Gym ist fast um die Ecke. Was da wohl für kleine Gangster ausgebildet werden …?
Betty arbeitet noch, wenn meine Freunde und ich zusammenkommen. Sobald ich sie nach Haus kommen sehe, machen wir uns aus dem Staub. Sie kann uns nämlich von oben beobachten, was sie ständig tut. Ich nehme an, dass sie uns mit dem Fernglas einfängt. Oft genug hat sie sich abfällig über mich und meine Freunde geäußert.
„Rumtreiber, Faulpelze!“
Das muss ich nicht haben.
Ich habe inzwischen bemerkt, dass eine Sitzgruppe nicht in ihrem Blickfeld liegt. Die suche ich jetzt auf. Ich muss mir die Brille aufsetzen. Da mich das grelle Licht der Sonne zu blinzeln zwingt, kann ich fast nichts erkennen. Zwar sehe ich die Fenster unserer Wohnung noch in Umrissen, aber zum Skaten braucht man eine klare Sicht. Unebenheiten könnten einem sonst das Genick brechen. Daher werde ich sie wieder verstauen, wenn ich mich auf den Weg zu den Landungsbrücken mache.
Betty hat heute einen freien Tag. Da wird sie solange am Fenster herumlungern, wie sie mich wahrnehmen kann.
So ist sie!
Immer diese Kontrolle über mich ausüben. Nur erfährt sie nicht viel über mich. Dennoch reicht es mir.
Meine Sonnenbrille ist total abgedreht.
Man darf’s keinem weitersagen, Betty schon gar nicht. Wir haben sie neulich im Alsterhaus geklaut. Niemand hat’ s mitgekriegt!
Meine Freunde waren dabei. Haben die Frauen am Tresen verrückt gemacht, überall zum Schein herumgewühlt, gequatscht und die beiden Verkäuferinnen beschäftigt. Dann sind wir abgezogen.
Ein Gegröle, als sie die Brille sahen.
Ich setze sie jetzt auf. Es ist eine, wie Stars sie tragen.
Riesengläser.
Dunkel gefärbt, fast schwarz! Dagegen rote Bügel. Passen absolut zu meiner Krause. Mir scheißegal, was die Leute sagen. In der letzten Schule haben mich die Lehrer deshalb angemacht.
„Nimm die Brille ab. Sieh mir in die Augen!“
Ich antwortete und fragte sie, ob sie die Verschlechterung meines Sehvermögens verantworten könnten … Ein bisschen geschwollen dahergeredet, aber nur, wenn man gutes Deutsch mit ihnen spricht, sind sie gnädig. Jedenfalls manchmal. Natürlich hatte ich kein Glück damit!
Einmal hat man sie dennoch eingezogen und mir nach dem Unterricht zurückgegeben.
„Mein Eigentum!“, habe ich ihnen zugerufen.
Sie konterten: „Du kleiner Pisser! Meinst wohl, du bist was Besonderes!“
Die ärgerten sich nur, weil ich mir das erlauben konnte, sie nicht, dachte ich.
In Sachen Brillenschutz halte ich mich an Justin Bieber. Elefantegläser verdecken die Hälfte des Gesichts. Ein Pokerface flößt wenigstens Respekt ein, wenn auch nur kurzfristig. Oft bleiben sogar Leute stehen oder drehen sich nach mir um. Man hütet sich auch, laut und abfällig über mich zu reden, wirft mir nicht gleich verächtliche Blicke zu, eher neugierige und manchmal sogar ängstliche.
Mein Verhalten entspricht der Devise meines Vaters: Furcht verbreiten und Macht fühlen lassen.
Meine ist es auch!
Genau so geht es Justin. Habe ich im Fernsehen gesehen. Was die Menschen ihm alles anhängen wollen …
Ich weiß übrigens sehr wohl, dass man ohne tausendmal besser aussieht, aber das will ich gar nicht, wer glotzt mich schon meines Aussehens wegen an? Ich bin zu jung und außerdem türkischer Abstammung. Daher haben viele Vorbehalte gegen mich.
Das Lehrpersonal pfiff auf meinen Augen-Einwand. Sie motzten mich an.
Saftsäcke.
Aber sie stehen nun mal über mir, haben einen höheren Rang – solange ich Schüler bin.
In der Realschule galt ich in ihren Augen als Prototyp eines verkorksten Immigranten. Bin ich aber gar nicht! Und verkorkst? Ich bin ein Junge von sechzehn Jahren und habe meine Vorstellungen vom Leben, nichts weiter. Und ich möchte – wie Justin – ab und zu Weiber bumsen, ist das zuviel gefordert?
Meine oft überzeugenden Arbeiten in Deutsch, Mathe, Englisch und Chemie und mein Ausreichend in Musik haben sie akzeptieren müssen.
In Hamburg heißt diese Gegend hier Karolinenviertel. Gleich um die Ecke ist die Reeperbahn. Die Straße der Ganoven, Zuhälter, Drogenhändler und Touristen.
Voll in, da ist richtig was los!
Jeder kennt die Davidwache. Ich muss ständig auf der Hut sein, wenn ich hier lang flitze. Die Bullen haben große Augen. Wenn ich aber gemächlich gehe, können sie mir nichts anhaben. Schließlich ist es für niemand verboten, hier lang zu schlendern.
So, runter zum Hafen.
Ich überquere die Feldstraße, an der dieser Betonklotz steht. Soll aus dem Weltkrieg stammen. Dass man den noch nicht beseitigt hat. Sieht beschissen aus. Da sollen sogar Leute wohnen. Wahrscheinlich hat man hier Asylanten untergebracht. Man meint sicher, dass die damit noch gut bedient sind. Na ja, wenigstens haben sie es kühl, die Wände sind ein Meter dick, hat mir Levent mal erzählt.
Immer, wenn ich zu skaten beginne, prüfe ich die Räder meines Boards, ob sie sich gelockert haben. Das darf nämlich nicht passieren. Wenn sie sich um die eigene Achse drehen und scheppern, weiß ich, dass ich ungefährdet losfahren kann. Wie jetzt. Ich mag diese Töne, denn mir ist klar, dass ich mich gleich aus der Gegenwart verabschiede.
Das können nur Skater nachempfinden. Es ist ein geiles Gefühl, wenn Häuserzeilen, Bäume, Fahrradfahrer und sonst was an Skatern vorbeifliegen.
In wenigen Tagen soll Hamburg blau aufleuchten – genau gesagt Docks, Brücken, Türme, Elbphilharmonie und Hotels am Hafen. Dieser Vollidiot – nein, wunderbares, abgedrehtes Subjekt - Michael Batz hat dafür gesorgt. Ein Mega-Typ. Tut wenigstens was für die Leute. Und die sind scharf auf solche Besonderheiten. Es lässt sich ja auch fantastisch träumen. Am besten, ich bleibe gleich hier irgendwo.
Dann muss Betty eben Angst haben.
Einen Augenblick bleibe ich noch stehen, stecke mir Kopfhörer in die Ohren.
Von Autolärm nichts mehr zu hören. Auf mein Gerät hatte ich Bushido geladen. Ein geiler Typ.
Seine Texte sind voll abgefahren. Wer den Typ mag, mag auch seinen Gesang. Schlank, groß, behaart, Sex schießt aus allen Poren. Dass meine Alte noch nicht mein Tattoo gesehen hat … Aber wie soll sie. Übrigens von Bushido abgekupfert, vielleicht nicht so teuer.
Ich schaue in Richtung Hafen. Die Straße ist leer. Ich gebe mir einen Stoß, weg vom Bürgersteig, viel zu uneben. Auf dem Asphalt kann man blindlings gleiten.
Man muss das Brett sorgsam auf dem Boden in Fahrtrichtung drehen. Dafür nimmt sich jeder begeisterte Skater Zeit. Das ist wie ein Ritual.
Auf geht’s. Ich bin auf der linken Seite der Fahrbahn. Im Hintergrund die Gerichtsgebäude und der Park.
Vorsicht?
Die anderen können aufpassen!
Der Geruch der Elbe steigt mir in die Nase. Ich habe keine Wut auf Betty mehr. Sie tut mir leid! Ehrlich. Ohne Kerl!
Mhm.
Und das nach wenigen Metern. Ein paar Autos kommen nun doch entgegen, sie stören mich nicht.
Ich muss grinsen.
Hupen!
Sind die noch zu retten?
Ich zeige ihnen den Stinkefinger. Sollen sie doch …
Ich schaue in den Himmel. Ich kenne das bereits. Wenn ich die Wolken verfolge, beginne ich meist zu träumen.
Mir kommt Cloe Sims in den Sinn und deren Glocken, ich denke an Supergirls, solche, die es bei YouTube zu bestaunen gibt.
Ich glaube, meinen Augen nicht trauen zu können, da kommen mir zwei Mädchen entgegen, eingehakt: blond und schwarz. Mir wird anders zu Mute. Ich verlangsame meine Fahrt, um sie näher anzuglotzen.
Lächeln, Nuri!
Einfarbige T-Shirts, orange die Schwarze, türkis die Blonde. Mörderisch! Wie sich die Titten abzeichnen! Herrlich. Dolly Buster in Person? Beide auf einmal? Natürlich, die würde ich schaffen!
Vorbei sind sie, beachtet hat mich keine der beiden. Na gut, dann haben sie eben etwas versäumt.
An der Reeperbahn werde ich durch die Ampel aufgehalten.
Auch das noch!
Blöde Verkehrsbehinderung!
Kein Auto ist zu sehen, und dann schalten die auf Rot! Ich haste über die Straße. Heißt es nicht, man solle eigenverantwortlich … Mensch, Mist, nun stolpere ich auch noch gegen den Kantstein, fliege voll auf die Schnauze.
Verdammt.
Weiter!
Ein richtiger Kerl beißt die Zähne zusammen!
Ab zum Hafen. Helgoländer Allee runter …
Ich schnuppere den Duft des Brackwassers, der aus dem Windschatten der Landungsbrücken quillt: Streng, erdig, ein bisschen faulig sogar. Hurra, das ist mein Zuhause!
Am Anleger angekommen, ist mir, als werde ich von Heidi Klum gestreichelt, leider ist es nur die leichte Brise, die vom Wasser aufzieht.
Schuten, Container, Barkassen auf der Elbe. Ich sollte Matrose werden! Am besten auf einem Passagierschiff. Da gibt’s Freiheiten, da lässt sich die Enge auf dem Festland vergessen. Das ist bei Betty unmöglich. Kaum in der Wohnung, sind ihre Luchsaugen unterwegs, ist ihre Überwachung total.
Engstirnig.
Noch muss ich mich mit Blicken von den Landungsbrücken hinüber zu den Werften, dem Musicalzelt und der Hafencity, aber auch in Richtung Cuxhaven begnügen. Matrose? Ach, lieber Kapitän. Blödmann, Nuri, das setzt das Abitur voraus. Mache ich ja, rufe ich mir im Kopf zu.
Mein Knie schmerzt. Als ich mir die Stelle näher ansehe, bekomme ich einen Schreck, weil sich ein verkrusteter Blutstreifen bis zum Knöchel zieht. Blöder Sturz. Nur weil die Ampel …
Es pochte da drinnen wie der Puls geht und brannte wie Feuer.
Stell dich nicht so an, Nuri!
Am besten ausruhen!
Eine leere Bank.
Ich lese auf der Rückenlehne: gestiftet von der Hamburger Sparkasse.
Sofort werde ich wieder wütend. Diese Halsabschneider! Ich setze mich trotzdem hier hin. Los, denk nach, was jetzt?
Mein Board muss neben mir sein. Ohne geht nicht. Damit war das Miststück von der Hamburger Sparkasse belegt. So kommt wenigstens keiner auf die Idee, seinen Arsch hierhin zu setzen.
Da mich mein Knie nicht in Ruhe lässt, ziehe ich mein lädiertes Bein auf die Sitzfläche. Ein Blick auf die Leute genügt, um zu erkennen, was sie davon halten. Soll’n sie doch, ich habe die Schmerzen, nicht sie!
Jetzt ablenken, einfach abhängen.
Diese Medizin ist immer erfolgreich.
Ich sauge den Geruch des Wassers ein, die vorbeieilenden Leute verschwimmen plötzlich in meinen Augen.
Okan!
Ich muss lächeln. Er sieht genauso wie früher aus, ist nicht älter geworden. Sein volles schwarzes Haar glänzt in der Nachmittagssonne. Nie habe ich seine Stirnfalten deutlicher gesehen. Wie diese sich von der Nasenwurzel nach rechts und links ziehen, über die Augenbrauen hinweg und in den kleinen Augenfältchen auslaufen. Mein Alter ist schon eine geile Type. Dass Frauen auf ihn abfahren, wird mir deutlicher als je zuvor.
Sein wuchtiger Körper ist nicht plump, wie Betty immer behauptete. Das war ungerecht von ihr. Immerhin ließ sie sich ja oft genug von ihm durchziehen. Sie wussten beide nicht, dass ich sie manchmal durch eine Türritze beobachtete. Einmal habe ich gesehen, wie er sie über einer Sessellehne fickte. Als sein Schwanz plötzlich rausrutschte, mein Gott. Von ihm hatte ich das Ding …
Mein Sohn steht vor mir wie eine geschundene Kreatur. Seine Angst vor der Untersuchung in der Notfallstation des Krankenhauses ist aus seinen Zügen ablesbar.
Er wimmert leise vor sich hin. Wer weiß, was ihm noch widerfahren ist. Die Bilder von Frau Sarlak zeigen auch Schläge auf den Rücken. Erst müssen wir zur Untersuchung, dann werde ich bei der Polizei Anzeige erstatten. Vorher muss ich allerdings noch wissen, warum die drei hinter ihm her waren.
„Was ist genau passiert, Navid, du musst absolut ehrlich sein!“
Ich weiß, dass es bei seinem Leid ganz unpassend ist, Fragen zu stellen, aber die Dinge müssen geklärt werden.
„Ich kann mich nicht erinnern!“, winselt der Junge. „Lass mich doch in Ruhe!“