Surfer-Dreams - Kai Steiner - E-Book

Surfer-Dreams E-Book

Kai Steiner

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Beschreibung

Windsurfen macht süchtig. Windsurfen ist ein Zusammenspiel von geschmeidigen Körpern, geschickten Bewegungen, von Boards und Riggs im Wasser, bei ruhigem Dahingleiten bis zum Wellenspringen bei aufgebrachter See. Nirgendwo sonst wird die grenzenlose Freiheit intensiver erlebt. Am südlichen Zipfel Sri Lankas, in Hambantota, gibt es eine berühmte Surfschule, die aus aller Herren Länder Freaks, und solche die es werden wollen, magisch anzieht. Für diesen Sommer waren Jonathan, Henry und John als Trainer angeworben. Helen ist Chefin. Sie alle sind Könner, Jonathan war Deutscher Meister des letzten Jahres. Als Stasik, - er wird in wenigen Tagen achtzehn - mit einer Reisegruppe aus Deutschland ankommt, und im Surfhotel Quartier bezieht, weiß niemand, dass der Junge ein traumatisches Erlebnis aus seiner Jugend mit sich herumschleppt. Seine Aggression und Engstirnigkeit bringt alle zur Verzweiflung. Herausgefordert in einem heftigen Sturm, rettet er unter Einsatz seines Lebens mit Leuten vom Hotel Surfbretter, Masten, Gabelbäume, Finnen und Segel. Mit von der Partie ist ein singhalesischer Fischerjunge mit der Kraft eines Elefanten. Stasik ist begeistert und streift mit dieser Begegnung seine Eigensinnigkeit ab. Der Singhalese, ohne Scheu vor Nacktheit und hemmungslos in seiner Zudringlichkeit, bringt dem Deutschen Sex als das Normalste unter Jungen bei, und Stasik wird zum gelehrigen Schüler. Ja, seine Lust wird täglich neu entfacht. Plötzlich wird er gemocht, und hierbei spielt der 15jährige Mario aus der Nähe Neapels, ein Schlitzohr, eine bedeutende Rolle. Aber nicht in ihn verliebt sich Stasik, sondern in Jonathan, der mit Helen liiert ist. Stasiks offen zur Schau getragene Zuneigung zu Jonathan bringt Helens Welt durcheinander. Am Prüfungstag wählt Stasik den Doppelpack auf großem Board… Zusammen gleitet er auf einem Brett mit seinem Trainer los und schürt in Jonathan ein Feuer, das zum Verhängnis wird. Noch am Tag seiner überstürzten Rückkehr nach Deutschland sucht Stasik seine Bank auf. Erst bei Volljährigkeit kann er ein für ihn eingerichteten Safe öffnen. Was er erfährt, verändert sein Leben ein weiteres Mal. Reifer geworden, macht er sich auf den Weg nach St. Peter Ording, ein Badeort an der Nordsee, um sich das zu holen, was ihm zusteht.

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Seitenzahl: 359

Veröffentlichungsjahr: 2012

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Himmelstürmer Verlag, part of production House GmbH,

Kirchenweg 12, 20099 Hamburg

E-mail: [email protected]

www.himmelstuermer.de

Foto: Mark-Andreas Schwieder, www.statua.de

Umschlaggestaltung: Olaf Welling, Grafik-Designer, AGD, Hamburg.

www.olafwelling.de

Originalausgabe, August 2007

Digitale Ausgabe Juni 2012

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlages

ISBN print:   978-3-934825-83-3

ISBN e-pub:978-3-86361-247-4

Kai Steiner

Surfer-Dreams

In einem freien Staat

müssen Geist und Zunge frei sein.

Tiberius,

Römischer Kaiser,

42 v. Chr.-37 n. Chr.

Inhalt

Prolog  

Leonardo di Caprio  

Überfall auf die Eisenbahn

Erinnerungen

Nishanta

Auf der Suche nach Abenteuer

Zweifel

Helen

Matara

Erste Erfahrungen

Illusionen

Reiserisiken

Kontrolle  

Von wegen …

Rückkehr, Sonntagabend

Strandgeflüster

Grundregeln

Wie sollte es weitergehen?

Ein Schlag ins Wasser

Full - Moon - Day

Überraschung

Henkersmahlzeit

Langeweile  

Hiobsbotschaften  

Begegnungen  

Fantasien  

Glück gehabt  

Die Nacht  

Auf zum Surfen  

Frei wie ein Vogel  

Straferlass

Sehnsucht  

Ein Anschlag?  

Presseinformationen und mehr

Colombo  

Sprachlosigkeit  

Entscheidungen am Vorabend

Nachtruhe  

Zu zweit unterwegs  

Prolog

Hurra, Jonathan hatte die Qualifikation als Sportdozent in der Tasche. Das Examen an der Hochschule für Sport in Köln lag hinter ihm. Super-Ergebnisse inbegriffen.

Mit stolzer Brust schrieb er sofort Dutzende von Bewerbungen. Was hatten ihm die Dezernenten der Bildungsministerien und Schulämter an zahlreichen Stellen zu Anfang seines Studiums versprochen? „Mit einem Prädikatsexamen und dem Titel einesDeutschen Meistersim Surfen steht Ihnen alles offen!“

Jonathan war ein Dummkopf und glaubte den leitenden Beamten, weil er auf ihre Zuverlässigkeit vertraute.

Ihre Versprechungen waren Schall und Rauch.

Jonathan war restlos geknickt.

Lehrer könne nur werden, wer zwei Fächer erfolgreich abgeschlossen habe und ein pädagogisches Vollstudium mit Examen vorweise, sagte man ihm jetzt.

„Aber Sie hatten doch ...!”, wollte Jonathan entgegnen, wurde aber kurzerhand abgewürgt.

„Wir nicht!”, rief man ihm unfreundlich hinterher, als er die Tür hinter sich schloss, „unsere Vorgänger!”

Der jungen Sportlehrer war also nicht qualifiziert genug.

Und wie sah es mit einem Posten in einem Verein oder in einer Firma aus? In vielen Unternehmen gibt es Feierabendsport, sein letzter Strohhalm.

Tatsächlich, Jonathan hätte in zahlreichen Betrieben bereits am Einstellungstag abends in der Turnhalle stehen können. Nur was haben sich die Bosse bei der Gehaltshöhe gedacht? Drei bis vier verschiedene Jobs an einem Tag hätten ihm genügend Einkommen für ein kärgliches Leben eingebracht. Reine Menschenverachtung!

Von Sportclubs wusste er, dass sie nur über wenig Geld verfügen, was sich in Gesprächen bestätigte. Vereinstrainer beziehen meistens nur eine Aufwandsentschädigung. Für ihn ungeeignet. Irgendwie wollte Jonathan doch leben.

Nein, er hatte die Nase voll. Er fühlte sich im wahrsten Sinne des Wortes von allen verarscht.

Er beschloss, Deutschland den Rücken zu kehren.

Aber wie und wohin?

Manchmal hat man auch Glück. Selten zwar, aber es passiert.

Ein Angebot von einem bedeutenden Reiseveranstalter für einenEinsatz im indischen Ozean:Junger, dynamischer Surflehrergesucht.

Das war ihm offensichtlich auf den Leib geschnitten. Jung war er sowieso, dreiundzwanzig Jahre, und Surfen ohne Dynamik ist eine Nullnummer. Außerdem ein Jahr in Sonne und Wärme wird dem Körper gut tun und die Seele wieder ins Gleichgewicht schaukeln. Und von Sri Lanka hatte der junge Mann viel gehört, von seinen phantastischen Stränden, von den immer lächelnden Menschen und dem wohltuenden indischen Ozean.

Wenig später saß er im Flugzeug. Sein Ziel:Colombo,von wo er weiter nachHambantotaim Süden der Insel reisen musste; Surfern wegen der ständigen Winde, die die Spitze des Landes durchrütteln, vertraut und auch die Vier-Sterne-HotelsPeacock,direkt am Meer.

Als Jonathan die Stewardess hörte: „Klappen Sie bitte Ihre Tische hoch! Stellen Sie das Rauchen ein, wir befinden uns im Landeanflug aufColombo

Leonardo di Caprio

Jonathan wachte früh morgens vom leisen Surren des Ventilators auf. Sein Zimmer, einfach ausgestattet, ohne Aircondition, im zweiten Stock des Hotels, lag zur Meerseite, von wo der Südwest-Monsun wehte. Tagein, tagaus.

Es war stickig im Raum, und die leichte Luftbewegung brachte keine Erfrischung. Oberhalb von Tür und Fenstern Lotusblumen, geschnitzt aus schwarzem Ebenholz, ihr Kern als Öffnungen durchbrochen, die für Durchzug sorgen sollten, blieben wirkungslos.

Er glitt aus dem breiten Bett, nachdem er das Laken zur Seite geworfen hatte. Er war nackt. Leichtfüßig sprang er unter die Dusche und ließ sich vom schmalen Wasserstrahl berieseln. Das wenige Nass bahnte sich seinen Weg nach unten, manchmal durch Härchen auf der Haut gestoppt. Nicht jeder Körperteil wurde vom Wasser erreicht. Dennoch hatte er das Gefühl, dass es herrlich prickelte.

Erfrischung pur.

Er wühlte in seinen verstreuten Kleidungsstücken herum und fischte sich eine pflaumenblaue, schon getragene lange Hose heraus: ein Gemisch aus Leinen und Rayon. Nur sie mochte er anziehen, weil das Gewebe trotz der Hitze kühlt.

Sie war fast so eng wie seine Lederhosen, die seine zweite Haut bildeten. Mitgebracht aus Deutschland, musste Jonathan schon am zweiten Tag feststellen, dass das ein Fehler war.

Leder ist in den Tropen ungeeignet.

Jonathan schnüffelte am Stoff und fand Gefallen am Geruch. Ihm kam er vor, als stünde er unten am Meer. Dann erinnerte er sich, dass er mit ihr vor zwei Tagen spät abends im Ozean gewesen gewesen war.

Jetzt verzichtete der junge Surftrainer auf eine Unterhose. Eigentlich ließ er sie immer im Schrank, wenn er zum Unterricht ans Meer ging, weil er meist im Wasser arbeitete. Nur für unterwegs zog der Deutsche die lästigen Dinger an, denn sie bieten Schutz bei unsauberen Toiletten, und die gibts im Lande zur Genüge. Und Jonathan war davon überzeugt, dass er auf der langen Reise, die er gleich antreten würde, des Öfteren Waschräume aufsuchen müsste. Er hatte nämlich ein freies, verlängertes Wochenende und dieses wollte er mit einem Besuch inKandykrönen. Dazu musste er mit dem gestern noch spät abends für heute Morgen bestellten Taxi nachMatara, und von dort gings mit der Eisenbahn in den Norden.

Hoffentlich wird es zeitig vor dem Hotel stehen, dachte er. Er hatte schon mehrere Male mit der Unpünktlichkeit der Leute Bekanntschaft gemacht.

Jonathan drehte sich vorm Spiegel nach allen Seiten und befand, dass sich der Stoff der Hose ganz der Körperform anpasste. Sein Po war in der Tat so knackig wie ein frischer deutscher Boskop.

Warum ihm das jetzt wichtig war, konnte er nicht sagen. Wahrscheinlich, weil er eitel war, und er dachte an Mädchen, die gern feste, runde Apfelbacken streicheln. Das ist in der ganzen Welt dasselbe.

Ihm kam Helen in den Sinn, Boss der Surfstation und seine Vorgesetzte. Mit ihr lag er häufig im Bett, ohne verliebt zu sein. Er mochte sie, das war alles.

Es könnte ebenso eine andere sein, die Petra hieß oder Caroline, sich Maria nannte oder Kim. Und es gibt viele, die man eben nur mag.

Warum er sich mit ihr eingelassen hatte, was er eigentlich nicht hätte tun dürfen - der Arbeitsvertrag enthielt hierzu eindeutige Regelungen - lag klar auf der Hand: Wenn schon eine Chefin, dann muss man ihr die Flügel stutzen, war seine Meinung. Je kürzer, desto besser. Das einzige Mittel hierfür ist geiler Sex, glaubte Jonathan, und den hatte er mit ihr. Regelmäßiges Bumsen wird sie davon abhalten, ihm ständig Befehle zu erteilen, ihn zu maßregeln oder sogar zu beschimpfen.

Weil er sie aber nicht liebte, träumte er oft von anderen Girls. Und weil er viele hübsche, gertenschlanke, einheimische Mädchen gesehen hatte, zwar immer im Beisein einer weiblichen Begleitperson, träumte er von ihnen.

Seine Träume werden kaum in Erfüllung gehen.

Junge Mädchen auf dem Lande, wie er hörte, sind nie allein unterwegs, bis zur Verlobung behütet von der Familie und insbesondere von den Großmüttern und weiblichen Geschwistern der Eltern. Wenn Familien nur ahnten, dass wachsame Strenge Lust auf andere Körper nie besiegt …

Jonathan fragte sich, wie viele ihrer Töchter heimlich einen Freund treffen, ohne dass irgendeiner davon erfährt?

Jedenfalls hatte er, seit er hier war, und seine Ankunft lag immerhin schon fünf Monate zurück, kein Glück, obwohl der liebe Gott ihm ein rassiges Aussehen und einen Körper mit Idealformen verliehen hatte. Alles stimmte nach seiner eigenen Meinung. Vorn und hinten. Er blickte an sich hinunter und schmunzelte über die Beule, die sich deutlich am Schritt abhob.

Er zog ein gelbes neues T-Shirt mit einem singhalesischen Löwen über, dem Wappen Sri Lankas. Für ihn wars eine Hommage an die Insel.

Die tropische Temperatur machte ihm täglich zu schaffen, auch wenn er sich unten am Meer aufhielt. Sie drückte auf die Lungen und lähmte an Land die Glieder. Nur im Wasser fühlte er sich wohl.

Die Hauptsache für Jonathan war, dass die Windverhältnisse stimmten, damit er surfen konnte.

Wenn derSüdwest-Monsumsein Unwesen treibt, wie jetzt in den deutschen Sommermonaten, pustet einem meist ein kräftiger Wind um die Ohren, wo immer man sich an der West– und Südküste aufhielt, ob inBentota,GalleoderHambantota. Er führt oft Wolken mit sich und hohe Luftfeuchtigkeit. Als er damals im Januar ankam, sprachen die Leute vomNordost-Monsum, und da hatte es manche Tage Windstille gegeben, und wenn er die Treppe vom Hotel zum Meer hinuntersprintete, flimmerte die Atmosphäre vor Hitze, und die Stufen waren kochend heiß.

Barfuß zum Strand liefen Neuankömmlinge nur einmal.

Abends dagegen kühlten Sand und Treppen durch frischen Seewind ab, und deshalb hielt sich Jonathan zu dieser Tageszeit oft unten am Wasser auf.

Auch letzten Donnerstag - einer Eingebung folgend - war er, obwohl es regnerisch war, an den leeren Strand gepilgert. Er hoffte, eine Meeresschildkröte zu sehen, Einheimische hatten darüber berichtet.

Als er unten ankam, riss die Wolkendecke auf, wie Jonathan sich erinnerte. Es war Vollmond, Fullmoon genannt, der jeden Monat bei seiner Wiederkehr der ganzen Nation einen Feiertag beschert. Dieser tauchte die Küste in ein fahles Licht, das den rhythmisch auslaufenden Wellen ein Glitzern verlieh, ein nur Sekunden dauerndes Aufblitzen, bis die nächste Welle das zurücklaufende Wasser ablöste.

Jonathan liebte diese Stimmung. Mit der Natur eins sein, das war es, was er fühlte. Kann man das besser als in der Einsamkeit? Er warf sich auf seine Matte, drehte seinen Kopf zum Hotel hin und beobachtete die Fledermäuse, die von Balkon zu Balkon flitzten, um die Insekten unter der Betondecke zu schnappen. Sie sind den fliegenden Hunden, die man im botanischen Garten vonColombohundertfach - hängend auf den Bäumen - beobachten kann, ähnlich, kleiner natürlich, und verfügen über eine Art Radar, das ihnen den Weg zur Beute weist.

Als er lange genug da gelegen hatte, drehte er sich auf den Rücken und betrachtete den Sternenhimmel, der ihm variantenreicher als in der Heimat vorkam.

Im Mond wähnte er die Umrisse eines Kaninchens. Das ist viel hübscher als der Mann im Mond bei uns.

Er dachte darüber nach.

Hat sich das scheue Tier in die Seelen der Einwohner geschlichen, die ihm immer wieder zurückhaltend schienen? Wer weiß, welchen Einfluss Gestirne auf Erde und auf Schicksale der Lebewesen haben?

Er lag einen Augenblick still und reglos da. Dann drückte er seine Füße in den Sand, schnellte hoch, und hopste, als sei er von einer Tarantel gestochen, mit seinen leichten Hosen ins Meer, zu träge sie auszuziehen. Es wäre eine Leichtigkeit gewesen! Mag sein, dass es ihm ohne Badehose peinlich war. Nacktbaden war grundsätzlich verboten. Aber wer hätte schon nachts danach gefragt?

Hinterher brannten die nassen Hosen auf seiner Haut wie die Sonne, wenn sie zur Mittagsstunde die von seiner Brust und dem Rücken abperlenden Wassertropfen ins Nichts entführte.

Plötzlich stand Helen vor ihm.

Sie legte ihre Arme um seinen Kopf und fuhr mit ihren Händen den feuchten Rücken entlang. Jonathan spürte, dass sie den augenblicklichen Zauber der kühlen Nachtstunden und des melancholischen Lichts des Mondes, der sich gerade zur Hälfte hinter Wolken versteckte, störte.

Er schloss die Augen.

Er roch das Meer und gleichzeitig atmete er den Duft ein, der von ihr ausging.

Helen bevorzugte ein herbes Parfum. Wiesenkräuter vielleicht. Die Mischung aus Meeresduft und Schafsgabe, Klatschmohn und Kornblumen, die stärker als seine Sehnsucht nach Einsamkeit und Natur war, machte ihn schwindelig.

Jetzt kreiste sie mit ihren Fingerkuppen über seine Brustwarzen.

Unvermittelt riss er sich aber los und sprang zurück ins Wasser.

Sie fragte nicht, warum er so spröde reagierte.

Er tollte in den Fluten, tauchte, verschwand für Sekunden unter der Oberfläche, schnellte mit einer leichten Welle aus der Tiefe und wiederholte die Prozedur wie ein Mantra. Mehrere Minuten.

Helen wurde ungeduldig und ließ ihn allein. Sie hatte gemerkt, dass mit ihm gar nichts anzufangen war.

Eine schlagende Autotür holte den Surflehrer in die Gegenwart, in sein Zimmer, zurück.

Er nahm seine Umhängetasche, schaute noch einmal aus dem Fenster, wiegte sich im Takt der sich vom Wind biegenden Äste derGummibäume draußen und horchte auf den Lärm derKoka-Vögel.

Fast so war es am Montagnachmittag gewesen, als die Zikaden zum Gesang ansetzten, und dieser unverschämte Bengel aus Deutschland vor ihm stand, gerade, als er sein Zimmer verlassen wollte..

„Hi, Mann, bist du der Surflehrer?”, quetschte dieser gelangweilt in Englisch hervor, obwohl Jonathan ahnte, dass er aus Deutschland kam.

Sie hatten gestern die neuen Gästelisten des Reiseveranstalters erhalten und darunter waren vier Mädchen und ein Junge. Das musste er sein. Ihm kam in diesem Augenblick dessen Name zu Bewusstsein: Stasik.

„Und?”, antwortete Jonathan in Englisch. Er ließ sich nicht anmerken, dass er Deutscher war.

„Ich habe was gefragt, bist du schwerhörig?”, setzte der hoch gewachsene Junge unhöflich, ja geradezu aggressiv, nach.

„Sag mal, spinnst du?”

Jonathan taxierte den Ankömmling ein.

„Mann, ich hab für euren Scheißkurs ne Menge Scheine hingeblättert.”

„Du kleine Landratte”, zischte Jonathan ihn auf Deutsch an, „glotzt beschissen aus der Wäsche und maßt dir an, King zu sein. Bist du nicht!”

„Und du Wichser glaubst, mir zu imponieren. Tust du nicht!”

Dann verzog er sein Gesicht zu einem herablassenden Grinsen, das seine Abneigung offenbarte. Obwohl Jonathan ihn nicht weiter beachten wollte, schielte er vom Boden aus nach oben. Irgendetwas reizte ihn.

Die Kleidung des Jungen war durchgeknallt. Sie hing wie ein Boxer in den Seilen, wenn er K. O. geschlagen worden war.

Durchlöcherte, ausgefranste Jeans. Allerdings tragen sie Jugendliche in der ganzen Welt. Nur um sich von den Alten abzuheben. Manchmal auch abzuschotten. Auf dem Hintern waren Fetzen aufgenäht, der Schlitz rot angemalt. Zentrum, oder?

Jonathan überragte den Jungen um einige Zentimeter. Außerdem war er muskulöser als der Neue. Er machte einen Schritt auf ihn zu und beide Gesichter hatten nur noch einen Abstand von einem halben Meter. Jonathan starrte den Jungen an, und dieser hielt der Prüfung stand. Er blickte dem Surflehrer in die Augen, wich keinen Fußbreit zurück.

Das Gesicht war beeindruckend.Es war schwer zu beschreiben. Länglich, feine Gesichtszüge, grünlich graue Augen, getrennt voneinander durch einen ausladenden Nasenrücken. Nicht gerade ideal.

Jonathan prägte sich die Lippen ein. Sie waren es, die ihm zu Anfang den Atem raubten. Die leicht nach unten im Halbrund endende Unterlippe war etwas wulstig, nicht so, wie bei negroiden Menschen, und die feinen Rillen standen jeweils rechts und links bis zur Mitte wie Zinnsoldaten bei geschlossenem Mund bis zur Oberlippe. Im Zentrum eine tiefere Kerbe, die sich irgendwie am Kinn fortsetzte. Der Mund war leicht nach oben gekrümmt, seine Ecken warfen winzige Schatten.

Plötzlich wusste er, wem dieses Gesicht ähnelte:Leonardo di Caprio, der ihn in der Liebesgeschichte von Rimbaud und Verlaine in den Bann schlug, der unberechenbare, leidenschaftliche und ungeduldige Junge, der zu allem fähig war.

Jonathan hatte ein ungutes Gefühl. Dieser Junge …

Das Läuten des Telefons unterbrach seine Gedankengänge.

Jonathan schreckte auf, warf seinen Kopf nach links und rechts, als ob er den Deutschen aus seinem Bewusstsein drängen wollte, und war wieder bei klarem Verstand.

Dann ging er zurück in sein Zimmer und nahm den Hörer ab.

Der Portier sagte, dass das Taxi gekommen sei.

Der Trainer hatte den Deutschen bereits vergessen, verließ sein Zimmer, lief den Gang zum Lift entlang, entschloss sich am Fahrstuhl, die Treppen zu benutzen und sprang, jeweils drei Stufen auf einmal nehmend, nach unten zur Rezeption. Die Nachtwache, ein mickriges Männchen mit spärlichen Haaren und fehlenden Zähnen, deutete mit einem Kopfnicken an, dass er nach draußen gehen solle. Er werde vom Chauffeur erwartet.

Überfall auf die Eisenbahn

Jonathan hatte kurz nach sechs Uhr den Zug vonMataranachColomboerreicht.

Zerbeulte Türen, fehlende Fenster, demolierte Sitzbänke, alles, was eine Reise erleichtert, dachte Jonathan, doch was machts?

Ein Gewimmel auf dem Bahnsteig. Als ob ganz Sri Lanka auf Achse wäre. Leute mit Fahrrädern, Körben, Töpfen, Taschen, Hunden und sogar Ziegen. Jemand schleppte einen Vogelkäfig. Sie nahmen keine Rücksicht, drückten andere zur Seite, schubsten nach vorn, traten rückwärts und drängten auf die Treppen und in die Waggons. Sie nahmen mit, was ihnen lieb war oder was sie überleben ließ.

Jonathan gelangte in einen der letzten Wagen und bekam gleich in der ersten Bankreihe einen schmalen Platz.

Die Luft stank unerträglich. Ein Gemisch aus Kokosöl und Bethel,Zitronen und Bananen, Zimt, Kot, Urin, Hundefell, Reinigungsmittel und vor allen Dingen Schweiß.

Jonathans Magen revoltierte.

Er schluckte und schluckte. Bloß jetzt nicht kotzen! Der Junge von gegenüber bot ihm eine sauberes Taschentuch an. Es roch nach Eau de Cologne. Er hatte eine Universitätsuniform an, saubere schwarze Hosen, ein weißes Hemd, Krawatte und einen Blazer. Overstiled. Zwischen der Armut grotesk. Auf dem Schoß hielt er fest umschlossen einen Rucksack. Gottseidank hatte sich Jonathan heute Morgen für die Leinenhose entschieden und ein T-Shirt.

Fuhr der Junge etwa zu einem Kongress in die Hauptstadt oder war es nur Angabe?

Die meisten Fahrgäste waren mit einem Sarong bekleidet, kurz hoch geschnürt, gehalten mit zwei Knoten oder bis auf die Erde hängend. Ein Knoten.

Die Frauen trugen einen Sari, und viele waren barfuß.

Der Junge merkte, dass Jonathan ihn von oben bis unten musterte und wurde verlegen. Er kannte das. Viele Leute betrachteten ihn, und er glaubte, dass es der Höcker auf der Nase wäre. Das war ein Irrtum. Der störte nämlich überhaupt nicht sein hübsches Konterfei, im Gegenteil, er gab ihm einen individuellen Anstrich.

„I am going home, my uncle died”, ließ er Jonathan wissen, als sich der Zug mit Getöse in Bewegung setzte.

„Ich komme von der Surfschule und möchte nach Kandy!”

„Mm.”

Unter ihnen ein ziehendes Ächzen. Die Achsen!

Das dumpfe Geräusch der Räder verriet ihr Alter. Wahrscheinlich waren sie nicht einmal geölt.

Wenn das nur gut geht!

Gehört hatte Jonathan, dass die Bahn keinen Termin einhielt. Verspätung ist ihr einziges zuverlässiges Merkmal.

Das Tempo steigerte sich. Sie stampften jetzt mit zwanzig Kilometern die Stunde über die Gleise. Das Rattern nahm zu.

Gespräche? Kaum möglich. Jonathan ärgerte das, hätte er doch einen Partner gehabt, und der schien intelligent zu sein und hätte ihm vielleicht ein bisschen Länderkunde beibringen können. Englisch hatte er in jedem Fall drauf.

Ihr Waggon schaukelte wie eine Hängematte zwischen zwei Palmen.

Der überfüllte Zug quälte sich von Station zu Station, schluckte weitere Fahrgäste, die mit sperrigem Gepäck in die Gänge drängten, Insassen abwechselnd in den Rücken stießen oder ihnen auf die Füße traten oder sonst wohin. Gekreische, Heulen von Kindern, Schimpfen strapazierter Leute.

InGallegab es einen längeren Aufenthalt.

Jonathan musste dringend auf die Toilette. Der Junge und er stiegen aus. Vor der Toilette fünfzig Männer. Sie hampelten von einem Bein aufs andere. Es stank wie auf einem gerade gejauchten Feld. Eigentlich noch penetranter.

Jonathan schreckte zurück, als er in den Raum sah, wo zehn Personen gleichzeitig vor einer Blechrinne standen. Es schepperte entnervend. Der Deutsche flüchtete unverrichteter Dinge. Er kniff die Beine zusammen, was ihm beim Rückzug schwerfiel.

Nur nicht daran denken.

Der singhalesische Student grinste.

Er wusste, was den Deutschen erwartet hatte.

Sie sprangen auf, als sich der Zug in Bewegung setzte, schoben sich durch die meuternde Menge auf die andere Seite des Wagens, eingeklemmt zwischen Blech und Haut. Weiter gings nicht. Das Geräusch der langsamen Räder war eisern und vermischte sich mit dem Fahrtwind, der durch die rahmenlosen Fensteröffnungen heulte.

VorAmbalangodaverlangsamte sich die Fahrt nochmals. Der Junge stellte sich auf die Zehenspitzen und starrte nach draußen. Er war wachsam und ergriff Jonathans Hand. Durch dessen Adern zirkulierte das Blut wie ein quirlender Bach.

Kein Dorf, keine Häuser, nur Bäume, Sträucher und Telegrafenmasten.

Ein Schrankenübergang folgte. Davor standen zig in Militärlook uniformierte Männer. Ohne darauf zu achten, sagte Jonathan betroffen: „I am sorry”, weil er sich an das Gespräch von vorhin erinnerte. Er mochte den einheimischen Jungen, der die übrigen Singhalesen rundherum überragte. Er war so groß wie Jonathan und nicht ganz so dunkelhäutig wie sie.

„ Your uncle, old man?”

„More than that!”, ließ er ihn wissen und lächelte. Es war ein Lächeln, das Jonathan verwirrte, als es im gleichen Augenblick erstarb.

Es ruckelte, als ob der Lokführer rangierte. Dann stand der Zug Sekunden still. Ein Gewirr von Stimmen, dann laute Rufe von draußen. Befehle oder Ähnliches. Der Junge riss Jonathan an sich, drückte den Türgriff nach unten, sprang auf das Nachbargleis, was gefährlich genug war, und zog ihn aus dem Waggon heraus. Dann drückte er ihn auf den Boden hinter einen Bananenstrauch. Von der Lok ein schriller Pfiff, und die Räder begannen ihr Werk von neuem, sie mahlten sehr langsam.

Jonathans Herz pochte. Was war los, warum?

Der Junge wies mit dem Kopf auf die Gleise und sie sahen, wie die in Uniformen gekleideten Männer hinten aufsprangen. Diese zwängten sich durch die Masse Mensch und blockierten die Wagentüren.

Geschrei, Schüsse und dann bis auf das Geräusch der rotierenden Räder Stille.

„Horaa, kaarayaa!” (Gangster), flüsterte er, als ob sie uns hören könnten. Aber der Zug verschwand schon in einer Kurve.

Jonathan verstand.

Dann ließ der Junge ihn wissen, dass man die Fahrgäste um alles bringen werde, was man zu Geld machen könne, Goldketten, Armbänder, Ringe, Armbanduhren, Radios, und was immer sie bei sich führen. Bargeld inklusive. Sollten die Banditen der Meinung sein, dass der Gegenwert für ihre Belange nicht ausreiche, nehmen sie Geiseln. Meist Weiße.

„Es verschwinden immer Leute”, sagte der Junge. „Ich heiße Anura!”

„Jonathan!”

„Jonathan?”

Anura lachte und seine weißen Zähne füllten sein Gesicht aus. Dann drückte er sich vom Boden ab und stand vor dem hockenden Surflehrer, ergriff dessen Arme, indem er seine schlanken Hände um die Handfesseln des Deutschen schloss und zog ihn zu sich in die Höhe. Beide Nasen berührten sich. Wie aus der Pistole geschossen gab er Jonathan einen Kuss auf die Wange. Der Zauber des Augenblicks ließ Jonathans Atem erstarren.

Anura meinte hinterher, er habe das getan, weil er so glücklich wäre, ihn vor der Gefahr bewahrt zu haben.

Sie entfernten sich von den Gleisen, schlichen durch Gestrüpp und Büsche hindurch und befanden sich plötzlich unter ausladenden Gummibäumen, und Jonathan horchte auf die Musik der Insekten. Poröses Licht tauchte die beiden in einen undurchsichtigen Schleier.

Wenig später standen sie unter einem von Säulen getragenen Eingang eines morbiden Steinhauses, wo ihnen ein alter Mann auf einem schäbigen Stuhl entgegensah.

Die beiden baten um Trinkwasser, worauf ihnen die Frau des Hauses zwei Gläser brachte. Dann setzten sie ihren Marsch in Richtung Landstraße fort. Anura sagte, dass man dort sicher einen Bus nach Colombo und von dort nach Kandy bekommen würde. Das stellte sich dann jedoch als ein Irrtum heraus, denn inzwischen waren alle Straßen nach Norden abgesperrt. Überall Militär. Man suchte die Gangster vom Überfall.

Erinnerungen

Am Abreisetag von Jonathan rekelte sich Stasik abends am Strand. Vom Überfall auf die Bahn hatte er noch nichts gehört.

Er war allein und das war er gewohnt. Um sich die Zeit zu vertreiben, startete er das täglich vor dem Surfen zu absolvierende Dehnungsprogramm:Beine strecken... knapp über den Boden heben ... Halten ... Knie beugen ... Halten ... Beine in die Ausgangslage ... Halten ... Wiederholen! Zehn Mal. Dann den Reissack benutzen!Gefunden im Geräteschuppen. Keiner kümmerte sich darum.

Mit rechts in die Luft schmeißen ... Links auffangen ... Mit derselben Hand werfen. Rechte zum Auffangen freimachen ... Festhalten ... Wiederholung, zwanzig Mal.Langsam wurde Stasik atemlos.

Er dachte anHamburg.

Zuhause war niemand um ihn besorgt. Nur wenn seine alte Tante auftauchte, hörte er sie des Öfteren seinen Namen rufen. Und hier?

Er warf sich auf die ungleichmäßig geflochtene Bastmatte, aua, ihre Knoten drückten die Haut. Das tat weh. Er blickte zum Himmel. Wolken flogen vorbei. Vorboten eines Unwetters?

Stimmung wie im deutschen November. Nur wärmer. Sie begleitete und zermürbte ihn.

Weg mit den Fesseln im Urlaub.

Noch engten sie ihn ein. Konnte er sie überhaupt ablegen?

Er hasste sich, weil er, fast noch ein Kind, im Badezimmer seiner Mutter Dummheiten mit unangenehmsten Folgen gemacht hatte, die bis in die Gegenwart reichten. Er hat noch ihren Schrei im Ohr, als sie ihn beim Wichsen ertappte! Ihr Zorn fegte über ihn weg! So hatte er die Alte noch nie erlebt.

Immer wieder kam ihm dieses Bild vor Augen. Und mit sechzehn Jahren musste er sich zugestehen, dass er ähnlich wie sie war. Nur unberechenbarer und unkontrollierter.

Manchmal schämte er sich darüber.

Wenn er an die damalige Szene dachte, lief in seinem Hirn automatisch ein Endlosband ab. Daher konnte er diesen Tag bis jetzt nicht aus seinem Leben streichen. Er ließ sie stehen, als ihr Geschrei abebbte. Das ging sehr schnell, weil sie diszipliniert war. Sie behauptete, dass sie Disziplin haben musste, um die Kinder ohne Vater großzuziehen.

Tatsächlich, sie konnte sich zusammennehmen.

Er? Warum sollte er? Für Penner in der Schule? Für Spießer nebenan? Nein, er nicht! Solln sie ihn doch!

Stasik war immer unter Volldampf.

Volldampf?

Nicht das richtige Wort. Giftgas! Die ihn kannten, stoben auseinander, wenn er in Sicht war. Zynismus schafft Feinde und trennt. Das hatte Stasik längst erkannt. Aber es war ihm scheißegal.

Was sollte er mit Leuten anfangen, die nicht so wie er waren?

Und wer war schon so?

Stasik kannte niemand.

Auch nicht unter den Jungen in seiner Klasse oder Schule. Ganz zu schweigen von Mädchen.

Angepasst bis ins Rückenmark.

Stasik träumte vonJames DeaninDenn sie wissen nicht, was sie tunoderPatrick SwazyinDirty Dancing. Das waren Typen. Ließen sich nichts gefallen! Arschlecker um sie herum.

Diese Jungen hatten es ihnen gezeigt.

Ja, so wollte er sein.

Jedenfalls hatte ihn seine Mutter seit dem Zusammenprall links liegen lassen. Sie wollte ihm mit ihrer Ignoranz weismachen, dass Sex unanständig ist, verwerflich, böse, auch wenn die Jungen in seiner Klasse ständig hierüber quatschten und sich durch Sexgeschichten aufgeilten und mit ihnen prahlten.

Stasik wird aus seinen Gedanken gerissen, als der Mond seine Nase hinter den Wolken hervorsteckt und sein bleiches Licht den Sand erhellt. Sofort war er sich wieder bewusst, dass er in Sri Lanka und nicht inHamburgwar.

Er hatte sich ans Wasser begeben, als die Sonne im Meer versank. Erst heute fiel ihm auf, dass es in den Tropen keine Dämmerung gab: Helligkeit, Sonnenuntergang, Dunkelheit.

Wieder kehrte der damalige Vorfall im Badezimmer seines Zuhauses in sein Gedächtnis zurück, als er die Augen schloss.

Stasik hatte ihn auch mit siebzehn Jahren noch nicht verarbeitet. Sri Lanka war schließlich das Ergebnis seiner totalen Vereinsamung, deren Auslöser seine Mutter war.

Oft genug saß er auf den Bänken der Landungsbrücken an der Elbe: Das Rauschen des Flusses, das Tuten der Schiffssirenen bei Nebel, das Tuckern der vielen Barkassen, das Gleiten der Lastschiffe, die Schreie der Möwen fand er irre. Niemand ranzte ihn an, niemand machte abfällige Bemerkungen oder starrte ihn angewidert und abwertend an.

Musste er sich früher noch mit vierzehn Jahren aus dem Haus stehlen, bemerkte ein Jahr später niemand seine Abwesenheit. Sein Leben hatte das ewige Wintergrau übergestreift. Bis jetzt, und es waren inzwischen drei Jahre vergangen.

Er war noch unnahbarer geworden.

Plötzlich rutschten Schule, seine Klasse, Lehrer und Mitschüler in sein Bewusstsein. Ihn kotzten alle an. Besonders der Unterricht. Die Vorturner wollten ihn ständig zwingen, dass er sich meldete und Stellung zu tausend Dingen bezog, weil er nämlich als intelligent galt. Er hat ihnen den Gefallen nicht getan. Auch wenn es ihm manchmal unter den Nägeln brannte.

Meistens wurde sowieso nur Mist verzapft. Und im Schriftlichen konnte ihm niemand etwas anhaben. Niemand.

Stasik versuchte, sich von diesen Gedanken zu lösen: Weg mit seinem Zuhause,diese verfluchte Klapsmühle

Doch wie konnte er es schaffen, sich zu lösen?

Er öffnete kurz seine Augen, nahm die Wolken am Himmel wahr, weil der Mond ab und zu hindurchblinzelte und klappte seine Lider wieder nach unten. Gab es auch hier so unterschiedliche Geräusche wie an der Elbe? Ganz deutlich nahm er den Anschlag des Meeres wahr, die sich überschlagenden Wellen und das Ablaufen des Wassers, die krächzenden Schreie der Krähen in den Palmen neben dem Hotel, das Bellen herumstreunender Hunde - sie mussten ganz in der Nähe sein. Wie ein disharmonisches Konzert, dachte er. Jetzt das Klatschen eines Gegenstandes auf die Oberfläche des Meeres, das er nicht deuten konnte. Er blickte auf.

Ein Fischer hatte sein rundes Netz vom Strand direkt vor ihm ausgeworfen und zog es wieder heraus: Wohl nichts gefangen, denn wenig später, entfernt und leiser, raschelte erneut das Netz, das im hohen Bogen auf die Meeresoberfläche flog und langsam untertauchte.

Stasik legte sich auf der Matte zurück.

Wieder zogen Bilder der Vergangenheit an seinen Augen vorbei, es war sein Abflug aus Hamburg, der in den Vordergrund rückte.

Die Geschehnisse waren chaotisch und alles war überstürzt. Als seine Tante mit ihm zur Bank pilgerte, war ihm die Trostlosigkeit seiner Jugend bewusst. Wenn man über wenig Geld verfügt, wenn man keine Freunde hat und wenn die eigene Mutter eine erbärmliche Kuh, eine Zicke ist,!

„Leg endlich dein vorwurfsvolles Grinsen ab!”, motzte sie. „Werde endlich ein Kerl, der sich holt, was er will, aber lachend!” Das hatte seine Tante ihm eingebläut. Sie hatte kurzfristig ein Ticket nach Sri Lanka für ihn gebucht. Sie wusste warum.

Heute Abend war der Abflug.

Sie ging ohne den Jungen ins Bankgebäude an den Schalter, nachdem sie ihn aufgefordert hatte, draußen zu bleiben, hielt einen Stapel Scheine in der rechten Hand, als sie herauskam, hakte den Jungen mit links etwas entfernt vom Eingang unter und schob ihm das Geld in die Brusttasche.

„Nimm dus, bezahle die Flugkarte, und gib mir den Rest zurück, wenn wir uns dahinten im Café treffen”, und sie zeigte in die Richtung, wo der Treffpunkt sein sollte.

Gesagt, getan, Stasik rannte zum Reisebüro gleich um die Ecke, blätterte achthundert Euro hin, ließ den Rest des Geldes in der Innentasche seines Blousons verschwinden und schob die Flugkarten hinterher. Er wollte keine Zeit verlieren, denn schließlich war die Tante seines Vaters über achtzig Jahre, war weder geduldig, noch könnte sie sicher über die Straßen gehen. Eigentlich war sie im Verkehr zu ängstlich.

Stasik musste sie warten lassen.

Die Ampel stand auf rot, als er die gegenüberliegende Seite der Gasse anpeilte. Und genau neben ihm stand ein Polizist. Wäre dieser nicht gewesen, hätte er sich über das Ampelgebot hinweggesetzt.

Nun schob sich auch noch, während die Ampel auf gelb übersprang, ein langer Bus vorbei.

Endlich war die Sicht unbehindert und Stasik hatte freie Bahn: Grün.

Er sah seine Tante in einiger Entfernung am Kantstein stehen, wippend, als ob sie gleich loseilen wollte.

Stasik schrie.

Das erste Mal, dass er wieder Gefühle offenbarte. Er hatte sie nämlich gern, wollte es nur nicht zugeben.

Im flutenden Verkehr konnte sie ihn nicht hören.

Sie war längst auf der Fahrbahn und schlurfte auf dem Asphalt über die Straße. Ein Laster bog unvermutet hinter ihr aus einer Querstraße ein, und nahm Fahrt auf. Seine Tante lief blindlings gegen das Fahrerhaus. Fiel rücklings um.

Der Fahrer hatte nichts bemerkt. Wie konnte ers auch bei ihrer Größe und dem Federgewicht?

Im Nu war der Polizist an Ort und Stelle, beugte sich über sie, riss die Bluse auf und horchte, ob sie noch lebte. Dann telefonierte er. Stasik bewegte sich vorsichtig an die Unfallstelle heran.

Der Laster war längst über alle Berge.

Eine Traube von Menschen um sie herum. Was sollte Stasik jetzt tun? Sich zu erkennen geben?

Er stand wie versteinert im Hintergrund, fünf Meter von ihr entfernt, aber verdeckt durch Neugierige, direkt am Kantstein. Seine Tante, das sah er über die meisten Köpfe hinweg, lag friedlich da. Kein Blut, eine kleine Schramme am Kopf.

Peterwagen heulten, dann quietschte die Bremse eines Notarztwagens. Ein Mann im weißen Kittel sprang heraus. Mit einem Satz war er in der Menge verschwunden, jetzt sah Stasik einen weißen Kittel über seine Tante gebeugt.

Angst überzog ihn. Sie kroch in alle Winkel seines Körpers. War er Schuld am Unfall, weil er sie solange hatte warten lassen? Würde er befragt, vielleicht sogar verhaftet, wenn er sich zu erkennen geben würde?

Quatsch, warum denn?

Er hörte, wie der Polizist sagte: Exitus.

Er schloss für Sekunden die Augen. Wollte nachdenken.

Noch mehr Menschen hatten sich angesammelt.

Stasik machte abrupt die Augen auf.

Sein Blick streifte den Rinnstein.

Was ist das?

Ein Schlüssel, wo Fahrbahn und Kantstein aufeinandertreffen. Fast neben seinem Standort. Hatte er nicht Ähnlichkeit mit jenem, den ihm seine Tante vor einem Jahr übereignet hatte, als sie für ihn einen Banksafe einrichtete und der jetzt in seinem Portemonnaie steckte, wo er ihn am sichersten wähnte? Ist der Schlüssel etwa aus ihrer Tasche gefallen?

Ein Griff.

Hatte den jemand bemerkt?

Nein, alles starrte auf den Ort des Geschehens, auf den Arzt und den leblosen Körper der Frau.

Mein Gott, dachte er.

Den einen Schlüssel hatte sie ihm damals mit dem Hinweis ausgehändigt, dass man zum Öffnen des Schließfachs immer zwei benötige.

„Mit achtzehn”, gab sie von sich, „kriegst du den zweiten!”

Stasik sah seine Tante vor sich, wie sie ihn schadenfroh anstrahlte. Sie wedelte mit dem zweiten Schlüssel vor seinen Augen herum. Dann verschwand er in ihrer Handtasche.

„Der Inhalt der Bankbox ist von deinem Vater.”

Sollte er es jetzt tun? Gleich die Filiale an seiner Schule aufsuchen? Seine Tante konnte ihm keine Vorwürfe mehr machen, gings ihm durch den Kopf. Aber werden Bankangestellte ihn ohne weiteres ans Fach heranlassen? Würde ihn nicht jeder Mitarbeiter mit den Augen verfolgen, ginge er schnurstracks auf den Sicherheitstrakt der Bank zu? Werden sie nicht nach dem Personalausweis fragen und sein Alter registrieren? Gibt es für sie Extra-Anweisungen?

Wo befinden sich ihre Panzerschränke? Im Keller vielleicht? Im ersten Stock? Parterre in keinem Fall. Stasik kannte die Geschäftsräume zur ebenen Erde. Was wird in seinem Safe sein? Warum hatte seine Tante so ein Geheimnis daraus gemacht?

Fragen über Fragen stürzten auf ihn ein.

Neugierde bohrte in ihm und versetzte ihn in Unruhe. Schuldbewusst blickte er hoch, senkte seinen Kopf, schob seine Hände in die Hosentaschen und holte sie wieder heraus.

Soll er oder soll ers sein lassen?

„Nein!“, sagte der Junge laut zu sich. Was brächte es ihm, wenn er um den Inhalt wüsste? Im Augenblick nichts. Könnte ihn höchstens noch verwirren, und vor der Reise ist kaum noch Zeit.

Der leblose Körper wurde abtransportiert.

Dann sah er, wie Polizisten Leute befragten, und offensichtlich waren einige Personen da, die Auskunft über den Unfall geben konnten.

Stasik wusste, dass in der Handtasche nichts weiter war. Das Geld hatte sie ihm gegeben. Den Personalausweis nahm sie nie mit, wenn sie ihre Wohnung verließ. Von wegen der Diebe, sagte sie immer. Wenn ihr was passiere, würden nur Gangster ihre Wohnung ausräumen.

Er verließ – wie die meisten Schaulustigen – den Unfallort und schlenderte in den nächstgelegenen Park, setzte sich in einen dieser Holzsessel, die überall herumstanden, eine Riesenlehne im Rücken, um unbeobachtet die Schlüssel zu vergleichen und über den nächsten Schritt nachzudenken. Dabei konnte ihm niemand helfen, zumal seine Halbschwester auf Klassenfahrt war, und seine Mutter inWarnemünde, wo diese den Rätselgewinn der letzten Buntendurch einen Dreitage-Aufenthalt in einem Vier-Sterne-Hotel einlöste. Den Namen hatte sieihm nicht mitgeteilt. Warum auch?

Stasik blickte sich um. Niemand war zu sehen.

Er legte die Schlüssel aufeinander. Tatsächlich, sie stimmten überein.

Vielleicht doch noch zur Bank gehen?

Darauf zog er das Geld aus seiner Innentasche und zählte es im Schatten seiner Windjacke nach, die er zu einer Höhle ausgebeult hatte. Kein Mensch hätte, selbst aus fünf Metern Entfernung, erkennen können, was er trieb. Neuntausendzweihundert Euro waren übrig geblieben. Eine Menge, gings ihm durch den Kopf. Genug Taschengeld bis zum Abitur, zusätzlich Geld für Kleidung, Schuhe, Bücher, Platten und Videos und sogar für die Reise.

Wieder durchfuhr ihn ein Schauder.

Hatte er doch Schuld an ihrem Tod?

Nein, hatte er nicht!

Doch, hatte er!

Nein!

Nun war sie tot.

Stasik ließ beide Schlüssel in seiner Geldbörse verschwinden, fuhr nach Hause, packte seine Sachen, nahm seinen Pass und machte sich auf den Weg zum Flughafen. Im Flugzeug konnte man ihm nichts mehr anhaben, dachte er.

Alles klappte.

Seine Mutter wusste nichts von seinen Plänen. Warum auch? Wenn sie ihn nicht genau über ihre Reise informierte, warum sollte es ihr Sohn tun? Er wird sie anrufen, wenn sie zurück ist. Das würde reichen.

Jetzt konnte Stasik für seine Tante sowieso nichts mehr tun. Ob jemand etwas von den Schlüsseln wusste? Das würde man früh genug erfahren. Er wird im Urlaub volljährig. Und dann gehörte ihm sowieso der Safe.

Ein junger herrenloser Hund, der zu den vielen zählt, die am Strand herumlaufen, unterbrach seine Überlegungen.

Stasik blinzelte zur Seite. Ein brauner Mischling schnüffelte an seinem Kopf herum. Das abgemagerte Tier blickte ihn treu aus seinen Augen an und hoffte auf was Leckeres. Die Ohren hatte es aufgestellt und wedelte mit dem Schwanz. Wenn er das doch auch könnte, dachte er, und das brachte ihn zum Grinsen.

Kaum hatte sich der Hund verdünnisiert, peinigten ihn die alten Gedanken, die ihn auch den nächsten Tag begleiteten: dass er den Tod seiner Tante hätte verhindern müssen. Wie, das konnte er allerdings nicht sagen.

Ihm fiel ein Stein vom Herzen, als ihm seine Mutter die Schuldgefühle am übernächsten Morgen nahm. Sie hatte ihn angerufen. Er hörte, wie sie ohne einen Funken von Mitgefühl in den Hörer blökte, dass die Tante auf der Straße einem Herzschlag erlegen wäre. Dann ergänzte sie, und Stasik hatte das Empfinden, dass sie verbittert war:

“Man wird alles klären können!„

Nishanta

Am nächsten Tag, es war der erste Sonnabend, den Stasik auf der Insel verbrachte, nahte von Nordwesten das schon gestern Abend erwartete Unwetter. Stasik schaute auf die Uhr. Es war bereits zwölf. Am Horizont ließen dunkle Streifen vom Himmel aufs Meer vermuten, dass der Regen in der Ferne bereits begonnen hatte. Stasik mochte Naturgewalten. Sie sind so wie er. Unbändig.

Im Augenblick war er sauer.

Er saß auf der Strandtreppe und ärgerte sich.

Helen, Trainer und Schüler der Surfschule hatten sich nachYalaaufgemacht, ihn zurückgelassen, weil er noch schlief. Niemand weckte ihn. Warum auch? Er benahm sich ständig wie ein Außenseiter, nörgelte an allem herum und gab pampige Antworten, wenn überhaupt. Niemand wollte sich mit ihm einlassen. Er war ein Stinkstiefel, wie es Helen formulierte, obwohl er sich sowohl bei den ersten theoretischen als auch praktischen Lehr- und Lernstunden nicht schlecht anstellte. Dennoch war er ständig mies drauf und muffelte durch die Vormittagsstunden. Auch heute Morgen, als er zum Frühstück um zehn Uhr ins Restaurant kam und ihm die Reiseleiterin derTUIbegegnete - sie machte sich auf den Weg nachColombo, um neue Gäste abzuholen - raunte sie ihm zu, dass er kein Bein auf die Erde bekommen werde, wenn er seine Einstellung nicht ändern würde.

„Surfer benehmen sich anders, sportlich nämlich”, sagte sie verächtlich.

Alle hackten nur auf ihm herum.

Niemand mochte ihn.

Dass sie ohne ihn fuhren, war seine eigene Schuld, weil er einfach nicht zur Informationsveranstaltung erschienen war. Die Strafe folgte auf dem Fuß: ein Wochenende allein zurückbleiben müssen.

Er schob die Ursache seiner Unbeliebtheit letztlich auf seine Mutter. Sie war diejenige welche!

Warum hatte sie sich auch einen schmalen, mannsgroßen Spiegel gekauft, den man um sich selbst drehen konnte, und dessen Drehpunkt nur fünfzig Zentimeter über dem Boden war, und er sich breitbeinig darüber stellte, so dass er sich das erste Mal von unten betrachtete, was komisch aussah. Die Falten, wo der Sack hing und der Po, dessen tiefe Ritze ihn verräterisch anstarrte.

Was hatte sie für ein Theater gemacht, nur weil dies Heiligabend passierte, als sich jeder festlich anziehen sollte, und er sich in ihrem Badezimmer zurechtmachte. Er wollte seine Mutter, seine Tante und seine Schwester mit den neuen roten Jeans und einem weißen Hemd mit Stehkragen überraschen, aber der Anblick seines Schwanzes über dem Glas hielt ihn davon ab. Dass er dabei ans Wichsen dachte, welcher Junge in seinem Alter tut das nicht?

Das hätte sich die Alte doch sagen müssen. Nein, hat sie nicht.

Im Gegenteil, sie zeterte, als ob sie am Spieß steckte. Alte Ziege!

Ihm war ihr Ausbruch noch in Erinnerung, als sei er gerade gewesen: „Das heilige Fest zu entehren”, schrie sie. Sie musste alles gesehen haben, denn sie setzte nach: „Wie dein Vater!” Wieso er? Hatte er auch ...? Warum war er abgehauen?

Jedenfalls streichelte sie ihn ab da nicht mehr, fuhr nicht mehr liebevoll durch die Haare, legte ihm nicht mehr neue Wäsche hin, wenn er zur Schule eilte, ja, er war Luft für sie.

Stasik zog sich mehr und mehr zurück, wirkte verschlossen und mundfaul. Er vereinsamte immer mehr. Daher hatte ihn seine Tante, Cousine seines Vaters, zu einem Kurs überredet, wo er Windsurfen lernen konnte. Ihm war nicht klar, was sie damit bezweckte, aber er willigte ein. Bloß weg von Zuhause.

Den Flug hatte sie bezahlt, und außerdem, na, ja ...

Stasik ließ seine Blicke schweifen. Wolkentürme hingen über der Südspitze der Insel. Der Wind war aufgefrischt, und die ersten Tropfen schlugen in sein Gesicht.

Der Siebzehnjährige blickte auf den Strand. Er beobachtete die Leute aus dem Hotel, die hektisch Liegen und Schirme nach oben schleppten. Eine schwere Arbeit bei dem steilen Hang. Wind und Regen verstärkten sich. Ab und zu drückte ihn eine Böe beinahe zu Boden, und nur seine Geschmeidigkeit bewahrte ihn vor einem Sturz.

Als für Sekunden Ruhe eintrat, drehte er sich zu den Surfbrettern hin und wusste plötzlich, was er zu tun hatte.

Es war das erste Mal, dass er das Richtige entschied.

Er sprang in großen Sätzen zu den Leuten, fuchtelte mit den Armen herum, weil sie ihn sonst nicht verstehen konnten, wies auf die Boards, die auf dem Regal von einer Seite zur anderen rutschten, und auf die Segel, die unter einem Verschlag aufbewahrt wurden, und von denen Teile hin und her flatterten. Nur noch eine Frage der Zeit, wann alles überschwemmt sein würde.

Es rüttelte am Gestänge.

Der Sturm heulte, lang gezogen und bedrohlich.

Endlich verstanden sie ihn.

Plötzlich dachte er an den Orkan, den er auf den Halligen miterlebt hatte: Springflut, Windstärke zwölf, Land unter.

Angst um sein Leben hatte er damals nicht. Warum sollte er sich heute fürchten?

Die Regenfront näherte sich der Küste.

Vielleicht nur ein Wolkenbruch? Nein, denn der Horizont war, so weit die Augen sehen konnten, pechschwarz.

Es schien, als ob die Wolken Wasserbäche entluden.

Riesige Tropfen peitschten aufs Meer, zerplatzten, kehrten als fast undurchsichtige Schwaden in die Atmosphäre zurück. Bald bildeten sie eine Nebelwand, die jede Sicht wegzunehmen drohte und den Atem ersticken lassen würde.