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Von Fanatikern geht gegenwärtig die größte Gefahr aus auf dem gesamten Globus – als Terroristen führen sie Krieg gegen bestimmte Gruppen wegen deren Glaubens oder Hautfarbe, als Selbstmordattentäter ermorden sie wahllos Einzelne um ihren Glauben zu bezeugen und/oder wegen medialer Aufmerksamkeit.
Amos Oz, aufgewachsen in Jerusalem, zum Schriftsteller geworden in einem Kibbuz, in der »Peace-Now« aktiv, ist aufgrund seiner persönlichen Erfahrung zu einem »Fachmann für vergleichenden Fanatismus« geworden: in seinen Büchern lotet er dessen Abgründe aus, als Kommentator bekämpft er sie politisch, als Betroffener stellt er sich und anderen die Frage, wie man zum Fanatiker werden kann.
Die drei Essays dieses Bandes stammen also weder von einem Forscher noch von einem Experten, sie beruhen auf der existenziellen Betroffenheit des Autors, seiner Erfahrungen im täglichen Umgang wie in der Analyse des Geschehenen und Geschehenden. Sie erheben weder den Anspruch, alle Details des Streits zu beleuchten, noch alle Facetten abzubilden, am allerwenigsten darauf, das letzte, das abschließende Wort, kurz: recht zu behalten: Das Ziel dieser Plädoyers besteht darin, mit ihnen bei jenen auf Aufmerksamkeit zu stoßen, die anderer Meinung als ich, also Fanatiker, sind.Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 129
Amos Oz
Liebe Fanatiker
Drei Plädoyers
Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler
Suhrkamp
Meinen Enkelkindern Dean, Nadav, Alon und Yael, mit Liebe und Respekt
Dieses Büchlein ist an erster Stelle für euch geschrieben worden.
Folgende drei Plädoyers stammen weder von einem Wissenschaftler noch von einem Experten, sondern von einem Betroffenen, dessen Gefühle bisweilen ebenfalls betroffen sind.
Der Faden, der die Plädoyers miteinander verbindet, ist mein Wunsch, einen persönlichen Blick auf diejenigen Fragen zu richten, die bei uns Quell großer Streitigkeiten sind und mir in manchen Fällen besonders existenziell zu sein scheinen.
Sie erheben weder den Anspruch, alle Details der Streitigkeiten zu beleuchten, noch den, alle ihre Facetten abzubilden, geschweige denn ein abschließendes Wort zu sprechen; sie wollen vielmehr um die Aufmerksamkeit jener bitten, die anderer Meinung sind als ich.
Amos Oz
Wie kuriert man also Fanatiker? Einen Haufen bewaffneter Fanatiker in den Bergen Afghanistans, in den Wüsten des Irak und in den Städten Syriens zu jagen ist eine Sache, den Fanatismus zu bekämpfen eine andere. Ich habe keine neuen Rezepte gegen die Kriege in den Bergen und in der Wüste und schon gar nicht gegen den Cyberkrieg im Netz. Deshalb zunächst einige Gedanken über das Wesen des Fanatismus und über die Möglichkeiten, ihn einzudämmen.
Weder die Angriffe auf die Zwillingstürme in New York am 11. September 2001 noch die Dutzende von Anschlägen in Stadtzentren und an dicht bevölkerten Orten überall auf der Welt entsprangen dem Hass der Armen auf die Reichen. Die Kluft zwischen Arm und Reich ist ein altes Unheil, aber die neue Welle der Gewalttätigkeit ist nicht nur und nicht hauptsächlich eine Reaktion auf diese Kluft. (Wäre es so, dann wären die Terroranschläge von Afrika ausgegangen und dann hätten sie sich gegen Saudi-Arabien und die anderen Golfstaaten gerichtet, die reichsten Länder überhaupt.)
Dieser Krieg findet statt zwischen Fanatikern, die davon überzeugt sind, dass ihr Ziel alle Mittel heiligt, und all den anderen, die davon überzeugt sind, dass das Leben das Ziel und nicht Mittel ist. Es ist ein Kampf zwischen jenen, die »Gerechtigkeit«, was auch immer das Wort für sie bedeutet, über das Leben stellen, und denjenigen, in deren Augen das Leben über fast allen anderen Werten steht.
Seit der Politikwissenschaftler Samuel Huntington auf dem aktuellen globalen Konfliktfeld einen »Kampf der Kulturen« ausmachte, der in erster Linie zwischen dem Islam und den abendländischen Kulturen geführt werde, herrscht vielerorts eine rassistische Weltanschauung, die diesen Kampf als eine Auseinandersetzung zwischen »wilden Terroristen« aus dem Orient und den »Aufgeklärten« des Westens darstellt. Huntington hat es zwar anders gemeint, aber das ist die übliche Interpretation seiner Thesen.
Für die israelische Regierung zum Beispiel ist es äußerst bequem, sich dieser wohl einem Western entsprungenen Vorstellung zu bedienen, weil sie es ermöglicht, den Kampf, den das palästinensische Volk führt, um sich vom Joch der israelischen Besatzung zu befreien, auf denselben verabscheuungswürdigen »Müllhaufen« zu werfen, aus dem ständig fanatische moslemische Mörder kriechen, um weltweit Terrorakte zu verüben.
Viele vergessen, dass der radikale Islam kein Monopol auf gewalttätigen Fanatismus hat: Die Zerstörung der Twin Towers in New York und die vielen Anschläge, die an verschiedenen Orten der Welt immer wieder stattfinden, sind nicht zwangsläufig mit Fragen verbunden wie: Ist die westliche Welt gut oder schlecht? Ist die Globalisierung ein Segen oder ein Monster? Ist der westliche Kapitalismus abzulehnen oder unvermeidbar? Sind Säkularisierung und Hedonismus identisch mit Versklavung oder Befreiung? Ist der westliche Kolonialismus am Ende oder hat er nur eine andere Form angenommen?
Auf all diese Fragen gibt es verschiedene, oft einander widersprechende Antworten, aber keine ist als fanatisch zu bezeichnen. Denn ein Fanatiker diskutiert nicht. Wenn in seinen Augen etwas schlecht ist oder wenn er davon überzeugt ist, dass in den Augen Gottes etwas schlecht ist, dann ist es seine Pflicht, diesen Frevel sofort zu beseitigen, auch wenn er dafür seinen Nachbarn oder sonst jemanden, der sich zufällig in seiner Nähe aufhält, töten muss.
*
Der Fanatismus ist viel älter als der Islam, das Christentum und das Judentum. Er ist viel älter als jede Ideologie auf der Welt. Fanatismus liegt in der menschlichen Natur, ist ein »schlechtes Gen«: Alle diejenigen, die Abtreibungskliniken in die Luft sprengen, in Europa Flüchtlinge umbringen, in Israel jüdische Frauen und Kinder ermorden, in den von Israel besetzten Gebieten ein Haus, in dem sich eine ganze palästinensische Familie aufhält, Eltern mit ihren Kindern, in Brand setzen, alle diejenigen, die Synagogen, Kirchen, Moscheen und Friedhöfe entweihen, unterscheiden sich von Al Kaida und dem IS nur im Ausmaß und in der Schwere ihrer Taten, aber die Natur ihrer Verbrechen ist gleich. Heute pflegt man von »Hassverbrechen« zu sprechen. Aber vielleicht wäre es besser, sie genauer als »fanatische Verbrechen« zu benennen: Verbrechen, die fast täglich auch gegen Moslems verübt werden.
Völkermord, Dschihad, Inquisition, Kreuzzüge, Gulags, Vernichtungslager und Gaskammern, Folterkeller und Terroranschläge, all das ist nicht neu, beinahe all das hat es schon Jahrhunderte vor dem Aufstieg des radikalen Islam gegeben.
Je schwieriger und komplizierter die Fragen werden, desto mehr Menschen verlangen nach einfachen Antworten, nach Antworten, die nur aus einem Satz bestehen, nach Antworten, die ohne Zögern auf jene weisen, die Schuld an dem Elend sein sollen, nach Antworten, die das Ende aller Sorgen versprechen, wenn wir die Übeltäter nur zerstören und vernichten.
»Alles wegen der Globalisierung!«, »Alles wegen der Moslems!«, »Alles wegen der Freizügigkeit!« oder »wegen des Westens!« oder »wegen des Zionismus!« oder »wegen dieser Flüchtlinge!« oder »wegen der Säkularisierung!« oder »wegen der Linken!« – alles, was zu tun ist, besteht darin, das Überflüssige zu streichen, einen Kreis um den Teufel deiner Wahl zu ziehen und dann aufzustehen und diesen Satan zu töten (zusammen mit seinen Nachbarn oder wer sonst zufällig gerade da ist), um damit ein für alle Mal das Tor zum Paradies zu öffnen.
Bei immer mehr Menschen ist das stärkste soziale Gefühl tiefe Abscheu: subversive Abscheu gegenüber dem »hegemonialen Diskurs«, abendländische Abscheu gegenüber dem Morgenländischen, morgenländische Abscheu gegenüber dem Abendländischen, Abscheu der Säkularisierten gegenüber den Gläubigen, Abscheu der Frommen gegenüber den Säkularisierten – eine allumfassende Abscheu, unbezwingbar, die wie ein Vulkan-Ausbruch aus den Tiefen einer beliebigen Verzweiflung an die Oberfläche steigt. Dieses Gefühl ist ein Bestandteil des Fanatismus, wo immer er auch auftaucht.
Als Beispiel möge eine Idee dienen, die vor ungefähr einem halben Jahrhundert noch als innovativ und revolutionär galt: die Idee des Multikulturalismus und der Identitätspolitik – die allerdings schon bald und vielerorts in eine Politik des Identitätshasses umschlug. Was als eine Erweiterung des kulturellen und emotionalen Horizonts begann, verwandelte sich zunehmend in eine Realität der beschränkten Horizonte, der Abgeschlossenheit, des Fremdenhasses, kurz gesagt: in eine neue Welle der Abscheu anderen gegenüber und in zunehmenden Fanatismus verschiedener Richtungen.
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Vielleicht hat mich meine Kindheit in Jerusalem zu einer Art Fachmann für vergleichende Fanatismusforschung (»comparative fanaticism«) gemacht. Das Jerusalem der vierziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts war voll von selbsternannten Propheten, Erlösern und Messiassen. Bis heute hat jeder einzelne Bewohner Jerusalems sein eigenes Rezept für sofortige Erlösung. Natürlich sagen einige von sich selbst in den alten zionistischen Worten, sie seien nach Jerusalem gekommen, um die Stadt zu erbauen und von ihr erbaut zu werden, aber unter ihnen, unter Juden, Moslems, Christen, Sozialisten, Anarchisten und Weltverbesserern, sind nicht wenige, die nicht nach Jerusalem gekommen sind, um die Stadt zu erbauen und von ihr erbaut zu werden, sondern, um in ihr zu kreuzigen und gekreuzigt zu werden.
Nicht umsonst wird eine bekannte psychische Erkrankung in der Medizinersprache als »Jerusalem-Syndrom« bezeichnet: Menschen kommen nach Jerusalem, atmen die wunderbare, klare Bergluft ein und springen dann plötzlich auf und setzen eine Moschee, eine Synagoge oder eine Kirche in Brand, um Gläubige umzubringen, »um das Böse aus der Welt zu vertreiben«. Im Allgemeinen begnügen sich Menschen, die am Jerusalem-Syndrom leiden, jedoch damit, sich die Kleider vom Leib zu reißen, auf einen Felsen zu klettern und Prophezeiungen zu verkünden.
Vielleicht glauben ihnen nur wenige, aber es gibt sehr viele von ihnen – und zwar aller Art. Ihr gemeinsamer Nenner ist der Drang, eine eingängige Erlösungsformel zu verkünden und zuzeiten auch auf angebliche Bösewichter zu weisen, von deren Anwesenheit die Welt befreit werden müsse, um die Rettung voranzutreiben. Die Erlösung selbst lässt sich nach Meinung der meisten dieser Propheten problemlos in eine Formel von zwei, drei einfachen Sätzen fassen.
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Als Jerusalemer Kind war ich ebenfalls ein fanatischer, nationalistischer, selbstgerechter, begeisterter Zionist. Ich war blind hinsichtlich jeden Arguments, das von der damals vorherrschenden jüdisch-zionistischen Darstellung, die uns fast alle Erwachsenen beibrachten, abwich. Ich war taub gegenüber jedem Zweifel an dieser Darstellung. Als ein Junge des Viertels Kerem Avraham warf auch ich Steine auf die Fahrzeuge der britischen Patrouillen in unserer kleinen Straße. Während wir sie mit Steinen bewarfen, schleuderten wir ihnen zugleich fast unseren gesamten englischen Wortschatz entgegen: »British go home!!!« Das geschah 1946 oder 1947, am Ende der britischen Mandatszeit in Jerusalem, zur Zeit der ersten Intifada – unserer Intifada, die der Juden, gegen die britische Besatzung. (Auch das ist wohl ein kleines Beispiel für die Ironie der Geschichte.)
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In meinem Roman Panther im Keller habe ich beschrieben, welche Erfahrungen mich dazu gebracht haben, plötzlich zu entdecken, dass alles zwei Seiten hat. Es gibt Auseinandersetzungen, die sich nicht in ein Schwarz-Weiß-Schema pressen lassen. Im letzten Jahr des britischen Mandats, als ich ungefähr acht Jahre alt war, freundete ich mich mit einem englischen Polizisten an, der Althebräisch beherrschte und fast das ganze Alte Testament auswendig konnte. Er war dick, asthmatisch, sentimental und vielleicht auch ein wenig verwirrt, er glaubte fest daran, dass die Rückkehr des jüdischen Volkes in seine alte Heimat ein Vorbote für die Erlösung der ganzen Welt sei.
Als meine Freunde diese Freundschaft entdeckten, begannen sie, mich einen Verräter zu nennen. Es dauerte lange, bis mich der Gedanke tröstete, dass für Fanatiker ein Verräter jemand ist, der den Mut zu Veränderungen aufbringt. Fanatiker aller Couleur hassen und fürchten immer und überall Veränderungen und argwöhnen stets, diese würden einem Verrat aus niederträchtigen Gründen entspringen.
Das Kind in Panther im Keller, der Erzähler, ist zu Beginn der Geschichte ein fanatischer Zionist, vollkommen von dem Gefühl gefangengenommen, gerecht zu sein, entdeckt aber innerhalb von zwei Wochen zu seinem grenzenlosen Erstaunen, dass es in der Welt Dinge gibt, die man auf diese oder auf jene, auch gänzlich verschiedene Weise betrachten kann. Durch diese Entdeckung verliert der Junge in der Geschichte seine Kindlichkeit, gewinnt aber stattdessen die Erfahrung eines sich erweiternden Horizonts, und er erhält auch erste Hinweise auf weibliches Mitleid.
Und als wäre es nicht schon genug an wundersamen Entdeckungen, wird der Junge auch noch zu einer Art Fachmann für vergleichende Fanatismusforschung. Es wird ihm klar, dass blinder Hass dazu führt, dass die beiden verfeindeten Seiten oft einander sehr ähnlich sind.
Nein, die Formulierung »vergleichende Fanatismusforschung« ist kein Scherz. Vielleicht ist es höchste Zeit, dass jede Schule, jede Universität zwei oder drei Kurse in diesem Fach anbietet, da der Fanatismus sowohl hier in Israel als auch an vielen Orten der Welt auf uns lauert. Dabei handelt es sich definitiv nicht nur um den extremistischen Islam: Einige Orte werden von gefährlichen Wellen des christlichen Fanatismus überrollt (in den USA, in Russland und in einigen Ländern Osteuropas), es gibt trübe Wellen eines jüdischen Fanatismus und dunkle Wellen eines xenophoben, in sich verschlossenen Nationalismus in West- und Osteuropa, verbunden mit einem grassierenden Rassismus in immer mehr Gesellschaften.
Der Fanatismus der israelischen Gesellschaft in seinen vielfältigen Facetten und Ausprägungen kam mit den europäischen Juden ins Land. Aus Osteuropa kam der revolutionäre Fanatismus der Generation der Gründer, die danach strebten, ein neues israelisches Volk zu schaffen und die diversen Traditionen aus anderen Teilen der Diaspora aufzugeben, um hier mit aller Kraft den »neuen Menschen« erblühen zu lassen. Aus Europa kam auch der nationalistische Fanatismus zu uns, mit seinem Militärkult und seinen Träumen von imperialistischer Größe. Und aus Europa gelangte auch der ultraorthodoxe Fanatismus zu uns, der sich ghettoisiert und sich vor allem, was anders ist, verschanzt.
Die Einwanderer aus den orientalischen Ländern hingegen haben ihre seit Generationen überlieferte Mäßigung mitgebracht, religiöse Toleranz und die Sitte, in guter Nachbarschaft auch mit denjenigen zu leben, die nicht so sind wie man selbst.
Doch vor unseren Augen vernichtet der »europäische« Fanatismus die Mäßigung der Juden aus dem Orient.
Wie schon gesagt, ein Grund für die Zunahme der Wellen des Fanatismus ist vielleicht die wachsende Sehnsucht nach einfachen Lösungen, nach Erlösung »auf einen Schlag«. Ein weiterer Grund liegt darin, dass wir uns zeitlich immer weiter von den Gräueltaten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entfernen: Stalin und Hitler hinterließen, ohne es beabsichtigt zu haben, bei zwei oder drei nachfolgenden Generationen ein tiefes Misstrauen gegenüber jeder Art von Fanatismus und eine gewisse Mäßigung fanatischer Triebe. Einige Jahrzehnte lang hielten sich, dank der schlimmsten Mörder des zwanzigsten Jahrhunderts, Rassisten und von Hass erfüllte Menschen ein wenig zurück, und die fanatischen Weltverbesserer waren mit ihren Revolutionen vorsichtig. Vielleicht nicht überall, aber wenigstens an einigen Orten.
In den letzten Jahren sieht es so aus, als habe dieses »Geschenk« Stalins und Hitlers sein Verfallsdatum erreicht. Die Teilimmunisierung verliert zunehmend ihre Wirksamkeit. Hass, Rassismus, die Abscheu vor anderen, politische Morde, das Verlangen, »ein für alle Mal die Bösen in einem Blutbad zu vernichten« – das alles tritt wieder zu Tage.
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Fanatismus findet sich nicht nur bei Al Kaida und dem IS, sondern auch bei der Terrormiliz Al Nusra und bei der Hamas, bei der Hisbollah, bei Neonazis und Antisemiten, bei jenen, die an die »Überlegenheit der weißen Rasse« glauben, und bei Islamophoben, beim Ku-Klux-Klan, bei extremistischen Siedlern und anderen Gewalttätern, die im Namen ihres Glaubens Blut vergießen. All diese Fanatiker und ihresgleichen sind uns bekannt. Wir sehen sie täglich im Fernsehen, wie sie sich aufregen, die Fäuste in die Kameras ballen und eine Reihe von Parolen in die Mikrophone brüllen. Das sind die sichtbaren Fanatiker. Meine Tochter Galia führte vor einigen Jahren Regie bei einem Dokumentarfilm, einem tiefen und beängstigenden Porträt der Wurzeln des Fanatismus und seiner Manifestationen im jüdischen Untergrund.
Doch es gibt weniger auffallende und weniger sichtbare Ausprägungen des Fanatismus um uns herum und manchmal auch in uns selbst. Sogar im Alltag, mitten in der Gesellschaft, bei Menschen, die wir kennen, blitzen sie zuweilen auf. Da und dort trifft man zum Beispiel auf fanatische Nichtraucher, die einen am liebsten verbrennen würden, wenn man es wagt, sich in ihrer Nähe eine Zigarette anzuzünden. Oder Vegetarier, die einen Fleischesser am liebsten bei lebendigem Leib verspeisen würden. Einige meiner Kollegen aus der Friedensbewegung würden mir am liebsten eine Kugel in den Kopf jagen, nur weil ich eine andere Vorstellung habe hinsichtlich der Strategie, Frieden zwischen Israel und Palästina zu stiften.
Natürlich ist nicht jeder, der seine Stimme für oder gegen etwas erhebt, gleich ein Fanatiker, auch dann nicht, wenn er seine Überzeugungen oder Gefühle lautstark ausdrückt. Nicht jeder, der zornig gegen etwas protestiert, verwandelt sich per se in einen Fanatiker. Nicht jeder, der feste Ansichten hat, ist verdächtig, zum Fanatismus zu neigen. Nicht seine Lautstärke macht jemanden zum Fanatiker, sondern vor allem seine Toleranz beziehungsweise sein Mangel an Toleranz gegenüber den Stimmen Andersdenkender.