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Ausgerechnet Lindners langjähriger Intimfeind Kriminalkommissar Roeder bittet ihn um Hilfe. Dabei scheint der Fall klar: In Schlat bei Göppingen wird ein Geschäftsmann erstochen aufgefunden, daneben seine junge Frau mit blutigem Messer. Sie gesteht den Mord, doch Roeder hat Zweifel. Als Lindner übernimmt, ahnt er nicht, wie tief er sich in diese verwickelte Geschichte hineinziehen lassen wird, aus der er wohl nicht mehr unbeschadet herauskommt.
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Seitenzahl: 369
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Jürgen Seibold, 1960 in Stuttgart geboren, war Redakteur der Esslinger Zeitung, arbeitete als freier Journalist für Tageszeitungen, Zeitschriften und Radiostationen und veröffentlichte 1989 seine erste Musikerbiografie. 2007 erschien bei Silberburg sein erster Regionalkrimi, 2010 die erste Komödie. Außerdem schrieb er schon Thriller und Historisches. Jürgen Seibold lebt mit Frau und Kindern im Rems-Murr-Kreis und ist inzwischen auch wieder als Musiker aktiv.
www.juergen.seibold.de
JÜRGEN SEIBOLD
Filstal-Krimi
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1. Auflage 2018
© 2018 by Silberburg-Verlag GmbH,
Schweickhardtstraße 5a, D-72072 Tübingen.
Alle Rechte vorbehalten.
Umschlaggestaltung:
Christoph Wöhler, Tübingen.
Coverfoto: © gacolerichards – iStockphoto.
Lektorat: Michael Raffel, Tübingen.
Druck: CPI books, Leck.
Printed in Germany.
ISBN 978-3-8425-2112-4
eISBN 978-3-8425-1818-6
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Freitag, 7. September
Mittwoch, 10. Oktober
Donnerstag, 11. Oktober
Freitag, 12. Oktober
Samstag, 13. Oktober
Danksagung
Es war erst halb zehn, aber die Sonne wärmte schon, und die Wiesen und Wälder lagen bereits jetzt schläfrig im grellen Licht. Die erste Septemberwoche war bisher ein Spätsommer wie aus dem Bilderbuch, und auch heute stand keine einzige Wolke am Himmel.
Das geräumige Wohnzimmer der Villa war an zwei Seiten von Fensterfronten begrenzt. Nach Westen ging der Blick über die großzügige Terrasse auf die dicht nebeneinanderstehenden Bäume, hinter denen die Wohnhäuser der nächsten Nachbarn zu sehen waren. In Richtung Süden lagen der ausgedehnte Garten, der Pool und die Laube mit dem gemauerten Grill und der zweiten Terrasse, und dahinter Obstbäume, Wiesen und Felder bis hin zum Waldrand.
Im Wohnzimmer war die Temperatur angenehm, noch musste die Klimaanlage nicht eingreifen. Nur die Luft im Raum war schon mal frischer gewesen. Wo sich sonst die Aromen von zitrushaltigem Reinigungsmittel, sorgsam gepflegtem Leder und frischen Schnittblumen auf angenehme Weise mischten, störten nun ein scharfer und ein süßlicher Geruch die gewohnte Harmonie.
Niemand saß auf den bequemen Polstermöbeln, niemand stand am Fenster, und nirgendwo war ein Laut zu hören.
Doch – ein Röcheln, ganz kraftlos und langsam, und ein leises Atmen, etwas beschleunigt, kamen vom Boden her.
Dort lag ein Mann auf dem Bauch, den halben Oberkörper eingerahmt von einer tiefroten Pfütze, der immer noch weiteres Blut zufloss. Das Oberteil seines Pyjamas war von zahlreichen, über den ganzen Rücken verteilten Einstichen zerfetzt, nun versiegten die Rinnsale allmählich, und die Ränder der Pfütze begannen zu trocknen.
Das Röcheln war inzwischen verstummt, das Atmen ging weiter. Die Frau, die im Schneidersitz neben der noch warmen Leiche hockte, die nackten Füße und die Waden im Blut ihres Mannes, saß reglos da und betrachtete den Toten mit eigentümlicher Miene.
War da Schmerz zu sehen, Angst – oder Hass, der endlich sein Ventil gefunden hatte?
Das fragte sich Kriminalhauptkommissar Wolfgang Roeder, als er bald darauf mit seinen Kollegen von der Kripo Göppingen das Wohnzimmer betrat und Sonja Ramlinger neben ihrem toten Mann Ernst auf dem Boden hocken sah. Sie hatte die Polizei selbst gerufen, dazu passten die Blutspuren am Telefon und auf dem Boden zwischen Telefon und Leiche. Noch während Roeder die Einmalhandschuhe überstreifte, sprach er Sonja Ramlinger in ruhigem Ton an, und sie hob nach seinem dritten Anlauf auch wirklich den Kopf. Aber sie sah Roeder an, als müsste sie sich erst besinnen, wo sie sich befand, und als hätte sie keine Ahnung, wen sie da vor sich hatte.
Roeder beugte sich zu ihr hinunter, legte seine linke Hand auf ihren Unterarm und zog mit der rechten ganz behutsam das Messer zwischen ihren Fingern hervor. Die Hand, der Messergriff und natürlich die lange Klinge waren blutverschmiert, und Roeder ließ die Frau am Boden auch dann nicht aus den Augen, als er die Waffe in eine Plastiktüte gleiten ließ und sie an einen Kriminaltechniker übergab. Einige Beamte machten Fotos, und als die Szenerie aus allen Perspektiven dokumentiert war, kommandierte Roeder zwei Kollegen herbei, um zusammen mit ihnen Sonja Ramlinger aufzuhelfen.
Sie tat sich etwas schwer, und so wacklig, wie sie im ersten Moment dastand, musste sie recht lange im Schneidersitz auf dem Boden gesessen haben. Doch sie leistete keinen Widerstand, auch nicht, als Roeder und eine junge Kollegin sie aus dem Wohnzimmer, durch den Flur und aus der Villa führten. Sie ließ sich ohne Gegenwehr zu dem Rettungswagen bringen, der mit offenen Hecktüren in der Auffahrt stand, und sie hatte auch keine Einwände, als die beiden Sanitäter ihr den Puls fühlten, als sie ihr ins Fahrzeug halfen und sie auf die Liege betteten.
Die junge Beamtin kletterte zu ihr in den Rettungswagen, die Hecktüren wurden geschlossen, und wenig später begann die kurze Fahrt ins Göppinger Krankenhaus.
Roeder sah dem Rettungswagen nach, bis er aus seinem Blickfeld verschwunden war. Dann wandte er sich um und ging zurück in die Villa.
Selten hatten er und seine Kollegen es mit einem so klaren Fall zu tun gehabt.
»Und?«, fragte Ruth Lindner und blinzelte knitz über den Tisch, »was hoschd heit?«
Eigentlich hatte sich die verwitwete Bauersfrau in den vergangenen Monaten den früher breiten Älbler-Dialekt abgewöhnt, und das auf ihre alten Tage. Denn die Städter, die ihr über die Wiesen am Albtrauf hinterhermarschierten, während sie mit dem alten Traktor vorneweg knatterte und das zügige Tempo vorgab, verstanden sie nun mal besser, wenn sie sich zu dem bequemte, was sie für reines Hochdeutsch hielt. Und auf das schöne Zugeld zur Rente, das sie sich mit Albtrauf-Touren rund um Bad Boll verdiente, mochte sie nicht mehr verzichten.
Das war auch vielen anderen nur recht: Sie war inzwischen eine der Attraktionen der Gegend, kein Ferienprogramm, nicht einmal der überaus beliebte »Sommer der Verführungen«, kam ohne eine, zwei oder gar drei Veranstaltungen mit der rührigen Ruth aus – und manchmal blieben Boller Kurgäste oder andere Spaziergänger stehen, fotografierten sogar, wenn Ruth Lindners Traktor vor ihnen auftauchte und über Wiesen und Wanderwege rumpelte, dicht gefolgt von einer Traube stramm ausschreitender Gäste mit geröteten Gesichtern und fabrikneuer Wanderausrüstung.
Alle Stunde hatte Ruth ein Einsehen mit ihren Begleitern. Dann lenkte sie ihren Schlepper zu einer Stelle mit besonders schönem Blick auf Boll und die Drei Kaiserberge, schlug die Plane auf der Ladefläche zurück und bewirtete die Ausflügler mit Most, Hartwurst und selbst gebackenem Bauernbrot. Manchmal endeten die Touren ein Stück oberhalb des Lindner-Hofs an der Gruibinger Straße, wo es dann im Badhotel Stauferland ein zünftiges Büffett gab und die Wanderer aus der Stadt bei Bier und Wein wieder zu Atem kommen konnten. Manchmal teilte Ruth zum Abschluss frisch gebackene, aber während der Tour natürlich leider kalt gewordene Bätscher im Tempele aus, dem überdachten Aussichtspunkt beim Schützenhaus. Und manchmal führte sie ihre Gäste in den Hirschen in der Boller Ortsmitte, wo Wirtin Chiara ihren berühmten Wurstsalat Speciale servierte – in dem luftgetrocknete Salami die sonst übliche Schwarzwurst ersetzte.
Seit ihrem Erfolg mit diesen Touren sprach sie nur noch in drei Fällen den ursprünglichen Dialekt so ausgeprägt wie früher: Wenn sie mit ihren »Boller Mädle«, allesamt schon etwas reifere Jahrgänge, im Bürgertreff zusammensaß und mit reichlich Likör anstieß, wenn sie mit ihrem Freund Eugen turtelte – und wenn sie ihren Sohn Stefan auf die Schippe nahm. Entsprechend mürrisch antwortete der nun auch auf die Frage.
»Nix hab ich, was soll ich auch haben?«
»Koine Schmerza?«
»Nein.«
»Koin Schnupfa?«
»Nein, auch keinen Schnupfen, Mutter – und jetzt lass gut sein, bitte! Was willst du eigentlich? Hab ich mich heut wegen irgendetwas beschwert?«
Ruth Lindner zwinkerte ihm zu und kicherte. Sie nahm den Apfel von ihrem Teller und schnitt ihn in schmale Spalten.
»Noi, du hosch di net beschwert«, sagte sie schließlich. »Aber i will halt net, dass du schlapp machsch, wenn du nochher mit dr Maria ausgohsch …«
Sie kicherte erneut, und als Lindner die Augen verdrehte, lachte sie schallend.
»Was gibt’s denn hier so Lustiges?«, fragte Maria, die in diesem Moment in die geräumige Küche kam. Lindner winkte nur ab, stand auf und ging ins Bad.
Als er zwanzig Minuten später frisch geduscht und umgezogen in die Küche zurückkehrte, lachten die beiden Frauen so herzlich miteinander, dass Lindner fast ein bisschen eifersüchtig wurde. Doch Maria stand auch schon auf, schnappte sich ihre Handtasche und gab ihrem Freund einen Kuss. Dann hakte sie sich unter, nickte Ruth noch einmal zu und bugsierte Lindner in Richtung Haustür.
»So, Stefan«, sagte sie fröhlich, »und jetzt gehn wir schick essen. Darauf freu ich mich schon den ganzen Tag.«
Lindner ging gern mit Maria essen, aber das romantische Dinner heute Abend bereitete ihm durchaus auch Sorgen. Sie hatten einen Tisch in einem Feinschmeckerrestaurant reserviert, das vor einigen Monaten im übernächsten Dorf, in Gammelshausen, eröffnet hatte. Der Ort war bis dahin prächtig mit einem schwäbischen und einem italienischen Lokal ausgekommen, aber einen Sternekoch aus Baden-Baden hatte es der Liebe wegen ausgerechnet hierhin verschlagen – und nun galt sein »Entenmanns Canard im Erbisweg« als der letzte Schrei unter den Gourmets zwischen Stuttgart und Ulm. Das Restaurant war natürlich Marias Vorschlag gewesen.
»Schöner«, hatte sie gesagt, »können wir deinen Geburtstag nirgendwo feiern.«
Teurer auch nicht. Lindner hatte schon nach einem flüchtigen Blick auf die im Internet veröffentlichten Menüpreise Schnappatmung bekommen. Immerhin musste er für die Fahrt zu Superkoch Entenmann nicht das ungeliebte Navigationsgerät bemühen: Der Erbisweg, eine winzige Seitengasse der Hauptstraße, war so kurz, dass man das Lokal unmöglich verfehlen konnte.
Maria war schon in ihre dünne Jacke geschlüpft, als Lindner noch umständlich sein besseres Jackett vom Kleiderhaken zerrte. Sie sah ihm schmunzelnd dabei zu und zog die Tür auf. Kurz darauf war ihr Lächeln wie weggewischt, und auch Lindner verharrte mitten in der Bewegung.
Vor der Tür stand Wolfgang Roeder, mit dem Lindner zu ihren gemeinsamen Zeiten bei der Göppinger Kriminalpolizei befreundet gewesen war. Doch das lag lange zurück, und inzwischen hatte Roeder seiner Eifersucht auf Lindners Wechsel erst zur Stuttgarter Kripo und dann zum Landeskriminalamt gern dadurch freien Lauf gelassen, dass er ihm Ermittlungen in seinem Zuständigkeitsbereich erschwerte, wo er nur konnte. Das hatte ihn einige Sympathien unter den Göppinger Kollegen gekostet, auch weil Lindners Freundin Maria dort als fähige Kommissarin beliebt und respektiert war.
Jetzt aber wirkte Roeder nervös, und seine Miene war nicht feindselig, sondern eher unsicher. Maria nickte ihm knapp zu, und der Blick, den sie Lindner danach zuwarf, warnte ihn überdeutlich davor, an seinem Geburtstag einen Streit vom Zaun zu brechen. Dann trat sie einen Schritt zur Seite. Lindner seufzte und ging dem Besucher entgegen.
»Hallo, Wolfgang«, sagte er. »Viel Zeit hab ich im Moment nicht. Maria und ich wollten gerade los. Danke, dass du mir zum Geburtstag gratulieren willst – ich kann dich aber leider nicht hereinbitten.«
Roeder stutzte, dann nickte er zerknirscht.
»Ach, stimmt ja … heute …«, brummte er lahm und streckte die Hand aus. »Dann alles Gute, Stefan.«
Lindner gab ihm die Hand, sah ihn aber fragend an. Wenn Roeder nicht seinen Geburtstag im Sinn hatte, aus welchem Grund kam er dann zu ihm?
»Ich … äh …«
Roeder warf Maria einen kurzen Seitenblick zu und zuckte entschuldigend mit den Schultern. Der fiel daraufhin fasst die Kinnlade herunter, und sie schüttelte verärgert den Kopf.
»Echt jetzt?«, herrschte sie Roeder an. »Nein, oder?«
»Sorry, Maria, aber das lässt mir halt keine Ruhe …«
»Und damit musst du ausgerechnet zu Stefan kommen? Und ausgerechnet heute?«
»Ich wusste ja nicht … ich meine: Ich hab’s vergessen, tut mir leid. Aber …«
Lindner sah unschlüssig zwischen den beiden hin und her, dann unterbrach er Roeders Gestammel.
»Jetzt red schon, Wolfgang: Was lässt dir keine Ruhe? Wir müssen wirklich los.«
»Wollt ihr essen gehen?«
»Ja«, versetzte Maria gereizt. »In das neue Restaurant in Gammelshausen.«
Roeder riss die Augen auf und sah Lindner erstaunt an.
»Dorthin führst du Maria aus? Respekt, Stefan, das hätte ich dir nicht zugetraut!«
»Na, vielen Dank auch! Meinst du, ich weiß ein feines Menü nicht zu schätzen?«
»Ich weiß nicht recht … So teuer, wie das dort ist …«
Lindner schluckte. Roeder kannte ihn offenbar auch nach all den Jahren noch recht gut. Er räusperte sich und spürte, wie Maria ihn prüfend ansah.
»Ein gutes Essen darf auch mal …«, presste er deshalb eilig hervor. »Ich meine … etwas mehr … verstehst du, Wolfgang?«
Marias Blick blieb ernst auf ihn gerichtet, daraufhin riss sich Lindner zusammen und schob schnell nach: »Zu meinem Geburtstag hat Maria dort einen schönen Tisch bestellt, und wir beide freuen uns schon sehr darauf, uns von diesem Sternekoch verwöhnen zu lassen. Deshalb müssen wir jetzt wirklich …«
Er machte einen Schritt auf Roeder zu, doch der gab den Weg nicht frei.
»Jetzt sag schnell, was los ist«, drängte Lindner, »und dann lass Maria und mich essen gehen, okay?«
Roeder wollte antworten, aber er brauchte für Marias Geschmack zu lange, bis er sich die richtigen Worte zurechtgelegt hatte.
»Vermutlich kann ich dir auch sagen, was deinen … deinen alten ›Freund‹ so umtreibt«, sagte sie deshalb. »Ich hab dir doch von dem Mord in Schlat erzählt.«
»Wo die Frau mit dem Messer in der Hand neben dem Leichnam ihres Mannes saß?«
Sie nickte.
»Was ist damit? Du hast mir doch erzählt, dass der Fall abgeschlossen ist – hat die Frau nicht gestanden und sitzt seither in U-Haft?«
Maria schnaubte und deutete auf Roeder, der immer mehr in sich zusammensank.
»Ja, die Soko Schlat der Kripo Göppingen – zu der ich nicht gehörte, weil ich noch einen anderen Fall zu bearbeiten hatte – hat alle Unterlagen an die Staatsanwaltschaft übergeben, und die geständige Tatverdächtige wartet auf ihre Verhandlung. Der Fall ist abgeschlossen. Nur nicht für ihn hier, wie mir scheint.«
»Was soll das heißen?«, wandte sich Lindner direkt an den Besucher.
Roeder zuckte mit den Schultern, senkte den Blick für eine kleine Weile, dann hob er den Kopf wieder und sah Lindner traurig an.
»Sie war’s nicht«, sagte er dann nur, und Lindner erschrak fast, so brüchig klang Roeders Stimme in diesem Moment.
Maria ließ sich mit einem tiefen Seufzen gegen die Wand sinken und rollte mit den Augen. Als Lindner sie fragend ansah, winkte sie ab und deutete auf Roeder.
»Das soll er dir lieber selbst erzählen. Er war Teil der Soko, nicht ich.«
»Aber wir müssen jetzt langsam los, wenn wir pünktlich sein wollen.«
»Ich glaube, das wird jetzt eh nichts mehr, Stefan«, sagte sie deprimiert. »Wenn Roeder erst mal mit dieser Geschichte anfängt, dann findet er so schnell kein Ende mehr.«
»Dann geht das jetzt nicht«, protestierte Lindner. »Wolfgang, ruf morgen an oder komm morgen Abend noch mal wieder – aber wir müssen jetzt los!«
»Ich …«
Roeder stand wie ein Häuflein Elend in der Tür.
»Ich versteh ja …«, setzte er erneut an, dann atmete er so tief aus, dass es beinahe klang, als hätte ihm jemand die Luft rausgelassen.
»Okay, Stefan, tut mir leid«, murmelte er schließlich. »Ich wollte dir nicht den Abend versauen, wirklich nicht. Und ich versteh’s ja auch, wenn du dir ausgerechnet von mir eine solche Geschichte gar nicht anhören willst. Ich … ich geh dann jetzt mal. Und nichts für ungut, lasst es euch schmecken beim Sternekoch und genießt euren Abend.«
Er ließ Kopf und Schultern hängen und wandte sich ab. Zwei Schritte machte er, dann noch zwei, und dann rief ihm Lindner hinterher: »Und warum glaubst du, dass sie es nicht war?«
Roeder blieb stehen, drehte sich aber noch nicht um.
Maria hatte sich von der Wand abgestoßen und schaute Lindner prüfend an. Dann schlich sich erst Ärger auf ihr Gesicht, schließlich wurde der von einem wehmütigen Lächeln verweht. Sie strich Lindner über die Wange, nickte ihm kurz zu und ging zurück in die Küche.
Wenig später drückte sie sich an Lindner vorbei aus dem Haus, flüsterte ihm im Vorübergehen ein »Du schuldest mir einen Abend im Canard!« zu und war kurz darauf mit ihrem Auto vom Hof geflitzt. Im Flur griff Lindners Mutter Ruth unterdessen beschwingt zum Hörer und tippte eine Kurzwahlnummer. Aus dem kurzen Telefonat ging hervor, dass Maria ihren Tisch in Entenmanns Canard an Ruth und ihren Freund Eugen abgetreten hatte – und dass Eugen, nachdem Ruth versprochen hatte, die Rechnung zu übernehmen, gern bereit war, mit ihr nach Gammelshausen zu fahren.
»Sieht ganz so aus, als hätte ich nun doch Zeit, mir deine Geschichte anzuhören«, sagte Lindner, als Roeder wieder zu ihm trat. »Gehen wir auf ein Bier in den Hirschen?«
»Nein, ich mag das lieber dort besprechen, wo uns keiner zuhören kann. Kann ich nicht doch kurz reinkommen?«
Lindner drehte sich um. Seine Mutter flitzte gerade ins Bad, grottenfalsch einen alten Schlager pfeifend, und über den linken Arm hatte sie ein ziemlich schickes Kleid geworfen, das ihr Sohn noch nie an ihr gesehen hatte.
»Ich glaube, die Wohnung sollten wir erst mal meiner Mutter allein überlassen«, sagte Lindner. »Aber wir können in die Werkstatt rüber. Kommst du?«
Roeder folgte ihm durch eine geräumige Waschküche in einen Raum, in dem sich eine ausladende Werkbank befand. Überall hingen Werkzeuge und andere Gerätschaften an den Wänden, es gab Krimskrams aller Art, verstaut in Stahlschränken und Regalen, und mehrere Sortierkästchen quollen schier über vor Schrauben, Dübeln und Unterlegscheiben in verschiedenen Größen. Zwei kleine Fenster gingen auf den Innenhof des Lindner’schen Bauernhofs hinaus, links daneben lehnte ein altersschwach wirkender Schrank an der Wand, rechts neben den Fenstern standen in einem stabilen Metallregal diverse volle Marmeladengläser, außerdem Wasser-, Bier- und Schnapsgläser sowie einige Flaschen mit handgeschriebenen Etiketten, bis zum Rand gefüllt mit klarer Flüssigkeit. Auf dem Boden vor dem Regal stand ein Kasten Weizenbier.
Lindner zog zwei Stühle mit wüst zerkratzten Beinen und ramponierter Sitzfläche neben die Werkbank, stellte zwei Weizengläser auf das schrundige Holz der Arbeitsplatte und öffnete zwei Bierflaschen. Roeder wartete geduldig, bis ihm Lindner eine der Flaschen gereicht hatte und beide Gläser vollgeschenkt waren. Und auch danach prostete er seinem Gastgeber erst noch zu und trank einen großen Schluck Hefeweizen, bevor er zu reden begann.
»Danke, Stefan«, sagte er schließlich, »dass du dir Zeit für mich nimmst.«
»Lass stecken, Wolfgang, und erzähl endlich. Maria meinte ja, dass du zu diesem Fall sehr viel zu sagen hast. Dann fang lieber mal an, sonst werden wir heute gar nicht mehr fertig.«
»Maria hat dir von dem Mord in Schlat erzählt. Was weißt du noch davon?«
»Na, so vergesslich bin ich nicht, auch wenn ich heute schon siebenundvierzig geworden bin – aber wolltest nicht du erzählen? Meinetwegen, sei’s drum: In Schlat wurde in einer Villa am östlichen Ortsrand der Fabrikant Ernst Ramlinger am ersten Freitag im September …«
»Am 7. September«, warf Roeder ein, hob aber gleich beschwichtigend die linke Hand. »Sorry, ich wollte dich nicht unterbrechen.«
»Gut, dann also am Freitag, 7. September – am Vormittag wurde Ramlinger von der Kripo Göppingen tot im Wohnzimmer gefunden. Er lag bäuchlings in seinem Blut, sein Rücken war mit Messerstichen übersät, und neben ihm hockte seine Frau und hielt ein blutiges Messer in der Hand.«
»Ja, genau so habe ich Sonja und ihren toten Mann vorgefunden.«
»Sonja?«, fragte Lindner und hob eine Augenbraue. Roeder zuckte mit den Schultern.
»Sie ging mit mir zur Schule, und ich war damals ein bisschen in sie verliebt – wie vermutlich alle. Sie war ein hübsches Ding damals, schon als Teenager recht kess, und sie hätte an jeder Hand fünf Jungs haben können – aber sie stand mehr auf die etwas erwachseneren Männer, auf die mit Auto und mit Geld. Und einen solchen hat sie schließlich auch geheiratet: Ernst Ramlinger.«
»Du bist immer noch in sie verliebt, was?«
»Blödsinn«, wehrte Roeder ab, doch Lindner war aufgefallen, dass er zuvor ein wenig gezögert hatte.
»Du weißt schon, dass es ziemlich unprofessionell ist, jemanden allein deshalb für unschuldig zu halten, weil man die Person gut leiden kann, oder?«
Roeder presste die Lippen zusammen, als könnte er sich lautstarken Protest nur mit einiger Mühe verkneifen. Aber er hatte sich recht schnell wieder unter Kontrolle. Schließlich nickte er bedächtig, und dabei spielte sogar ein trauriges Lächeln um seine Mundwinkel.
»Sehr unprofessionell, das stimmt«, murmelte er. »Aber das ist nicht der Grund, warum ich an Sonjas Schuld zweifle.«
»Okay, dann gehen wir die Sache doch mal Punkt für Punkt durch. Diese Sonja saß also neben ihrem toten Mann und hatte ein Messer in der Hand. War das die Tatwaffe?«
»Ja, daran gibt es keinen Zweifel.«
»Wurde noch eine andere Waffe benutzt?«
»Darauf deutet nichts hin.«
»Und an dem Messer gibt es auch keine Spuren von einem anderen möglichen Täter?«
»Nein, keine. Das Messer war bis zu Ramlingers Todestag offenbar als normales Küchenmesser im Gebrauch. Der Griff wies passend dazu einige ältere, unterschiedlich stark verwischte Fingerabdrücke auf, allem Anschein nach von Sonja und Ernst Ramlinger. Sie waren überlagert von deutlich erkennbaren Fingerabdrücken von Sonja. Auch die Blutspuren am Messergriff passen zu der Art, wie sie das Messer gehalten hatte, als ich am Tatort eintraf.«
Lindner nickte und dachte nach, bevor er die nächsten Fragen stellte.
»Wurden Heinz Ramlinger alle Stichwunden vor seinem Tod zugefügt?«
Ein flüchtiges Grinsen huschte über Roeders Gesicht.
»Nicht schlecht, Stefan, aber daran habe ich natürlich auch schon gedacht – Ramlinger wird von jemandem erstochen, der zum Beispiel Einweghandschuhe trägt, und nach seinem Tod sticht auch Sonja noch ein paar Mal zu – warum auch immer. Aber nein: Alle Stichwunden wurden ihm vor seinem Tod beigebracht.«
»Deuten die Stichkanäle auf einen oder auf mehrere Täter hin?«
»Schwer zu sagen. Es gibt aber keine klare Unterscheidung in der Art, dass ein Teil der Stiche von einem und der Rest von einem anderen Täter stammen würde. Die Stiche wurden ziemlich schnell hintereinander gesetzt, abwechselnd mit der linken und der rechten Hand und vermutlich einige Male auch mit beiden Händen am Messergriff.«
»Waren die Stiche gezielt gesetzt oder eher willkürlich?«
»Es sieht nach Stichen aus, die recht hastig, mit unterschiedlicher Wucht und in unterschiedlicher Tiefe ausgeführt wurden. Einige Male ist die Klinge an Knochen abgeglitten, und keiner der ersten fünf, sechs Stiche war tödlich.«
Lindner nahm einen tiefen Schluck und wischte sich mit dem Handrücken den Schaum von den Lippen.
»Also eher kein Täter, der viel Ahnung von Anatomie hat. Wie viele Stiche waren es denn insgesamt?«
»Siebenundzwanzig.«
Lindner blies die Backen auf und ließ die Luft zischend entweichen.
»Klingt nach einem ziemlich heftigen Wutanfall.«
Roeder nickte und sah seinen früheren Freund gespannt an. Lindner schien eine Frage auf der Zunge zu liegen, aber er überlegte offenbar noch, ob er sie auch wirklich stellen sollte.
»Falls du fragen willst, ob Sonja zu Wutausbrüchen neigte«, nahm ihm Roeder die Entscheidung ab: »Ja, sie war sehr impulsiv.«
»Klingt ganz danach, als hättest du noch immer Kontakt mit ihr gehabt.«
»Hatte ich, wenn auch nicht bis ganz zuletzt – und keine Sorge: Das hätte ich dir schon noch erzählt.«
»Und was genau hättest du mir erzählt?«
Roeder kaute auf der Unterlippe, dann trank er einen großen Schluck Bier, leckte die Lippen sauber und räusperte sich.
»Wie ich ja schon gesagt habe: Wir gingen zusammen zur Schule, und ich war einer von vielen, die sich in dieser Zeit ein bisschen in sie verguckt hatten. Sie hatte damals kein Interesse an mir, und irgendwann habe ich das auch eingesehen. Nach der Schule haben wir uns aus den Augen verloren, obwohl sie nie weit von Göppingen entfernt wohnte. Zum ersten Mal habe ich sie … habe ich ihr Foto wiedergesehen, als in der Zeitung etwas über irgendeine Benefizgeschichte stand, die ihr Mann organisiert hatte. Das Bild zeigte sie an seiner Seite. Sie lächelte, ihre Miene wirkte auf mich aber unendlich traurig. Einige Zeit später ging ich zu einem Klassentreffen, sie war auch da, und nach ein paar Viertele habe ich sie auf das Foto angesprochen und auf den Eindruck, den die Aufnahme auf mich gemacht hatte.«
Roeder unterbrach sich, trank einen Schluck Bier und sah versonnen durchs Fenster.
»Wir haben uns sehr lange unterhalten an diesem Abend, es war ein tolles Gespräch.«
Er sah Lindner an, der seinen Blick gespannt erwiderte, und schüttelte den Kopf.
»Nein, nicht, was du jetzt denkst. Es war einfach ein Gespräch unter alten Freunden, gewissermaßen. Ich war damals noch mit meiner Frau zusammen, und auch wenn ich Sonja nach wie vor attraktiv fand, hätte ich nie im Leben …«
Erneut verstummte Roeder. Diesmal schluckte er und starrte einen Moment lang vor sich auf die Werkbank. Lindner wartete, bis er weiterredete. Maria hatte ihm erzählt, wie hässlich die Trennung von Roeder und seiner Frau gewesen war, nachdem sie sich eines Tages verplappert und damit die Affäre mit einem Außendienstler ans Licht gebracht hatte. Es stellte sich schnell heraus, dass der Vertreter nicht der Einzige war, der sich in Roeders Abwesenheit um dessen Frau kümmerte. Und in den unappetitlichen Streitigkeiten bis zur Scheidung brüstete sie sich auch noch mit ihren Liebhabern und verhöhnte Roeder als Schlappschwanz. Das machte ihm offenbar noch immer zu schaffen. Verständlicherweise, wie Lindner fand, und in diesem Moment tat ihm der ehemalige Freund und Kollege sehr leid. Er dachte dankbar an seine Beziehung zu Maria, und als Roeder nach längerer Pause ansatzlos weitersprach, erschrak er beinahe.
»Damals schlug ich jedenfalls vor«, erzählte Roeder, »dass Sonja und ihr Mann doch mal mit meiner Frau und mir essen gehen könnten – aber das lehnte sie ab. Sie erzählte mir noch, dass sie nicht allzu glücklich sei in ihrer Ehe, und ich hatte schon das Gefühl, dass sie an diesem Abend zu mehr bereit gewesen wäre als zu einem Gespräch – aber schließlich gingen wir beide unserer Wege, und bis zum nächsten Klassentreffen hatte ich keinen weiteren Kontakt mit ihr.«
Roeder leerte sein Weizenglas und hielt es Lindner hin.
»Kann ich noch eins haben?«
Lindner stand auf und holte Nachschub. Roeder schenkte ein, gab die leere Flasche zurück und blickte kurz auf die Schaumkrone in seinem Glas, bevor er weitererzählte.
»Fünf Jahre später fand das nächste Klassentreffen statt, und dort traf ich Sonja wieder. Inzwischen lief meine Scheidung, ich muss ihr im Verlauf des Abends ganz schön auf die Nerven gegangen sein mit meinem Gejammere, denn sie verließ das Treffen recht früh und ging mit einigen anderen aus der Runde in eine Bar in der Innenstadt. Ich war da schon etwas angeschickert. Kein Wunder, dass sie mich nicht mitnahmen – aber Sonja steckte mir noch ihre Handynummer zu und gab mir einen Kuss auf die Wange. ›Ruf mich an, wenn du wieder nüchtern bist‹, sagte sie zu mir. Und das habe ich dann auch getan.«
»Und was ist daraus geworden?«
»Ziemlich genau das, was ich mir damals erhofft hatte. Wir haben uns in unregelmäßigen Abständen getroffen. Mal abends bei mir, mal tagsüber bei ihr in Schlat, manchmal in einem Hotel. Nach ein paar Monaten wurde mir klar, was ich von Anfang an hätte wissen müssen: Dass sie zwar mit mir ins Bett ging, aber ganz sicher nicht für einen armen Schlucker wie mich ihren Mann verlassen würde.«
»Na ja, armer Schlucker … Du bist Kriminalhauptkommissar, für eine warme Suppe am Tag reicht das schon.«
Lindner grinste und prostete Roeder zu. Der hob ebenfalls sein Glas, war aber nicht zum Scherzen aufgelegt.
»Im Vergleich mit Sonjas Mann schneide ich jedenfalls nicht gut ab. Du musst dir nur mal die Villa ansehen, die er am Ortsrand von Schlat gebaut hat.«
»Gut, dann war er also reicher als du. Aber du lebst noch.«
Roeder schnaubte und nahm einen großen Schluck.
»Jetzt sag mir endlich«, drängte Lindner nach einer kurzen Pause, »warum du diese Sonja für unschuldig hältst. Etwas mehr als dein Bauchgefühl und die Sympathie für eine Frau, mit der du eine Affäre hast –«
»Hatte«, fiel ihm Roeder ins Wort. »Das mit Sonja ist seit gut zwei Jahren vorbei.«
»Gut, dann also: mit der du eine Affäre hattest … Was außer deinen Gefühlen spricht dagegen, dass sie ihren Mann erstochen hat?«
»Leider nicht viel«, gab Roeder zu.
Lindner seufzte.
»Und du bist vermutlich der Einzige aus eurer Ermittlungsgruppe, der von Sonja Ramlingers Unschuld überzeugt ist.«
»Ja.«
»Dann wird es wohl das Beste sein, wir trinken unser Bier aus, du gehst nach Hause und überlässt es dem Gericht, über ihre Schuld zu befinden.«
»Jetzt klingst du wie meine Göppinger Kollegen.«
»Überrascht dich das?«
»Ja, ich hatte eigentlich …« Roeder unterbrach sich, trank sein Glas aus und erhob sich. Dann sah er auf Lindner hinunter und schüttelte langsam den Kopf. »Nein, um ehrlich zu sein: Das überrascht mich nicht. Ich hatte zwar gehofft, dass du … aber, nein, lassen wir das. Und du hast ja auch recht.«
Er wandte sich zum Gehen, ging aber nicht zu der Tür hin, die in die benachbarte Waschküche führte, sondern blieb vor dem etwas wackelig wirkenden alten Schrank an der Mauer zum Innenhof hin stehen, von dem an einigen Stellen die Farbe abblätterte. Roeder deutete auf das Möbelstück und sah Lindner fragend an.
»Gab’s da nicht früher mal eine Tür direkt zum Hof hinaus?«
Es gab Lindner einen Stich, dass sein früherer Freund so elend vor ihm stand. Wie er auf den Schrank blickte, der tatsächlich die Tür verbarg, durch die Lindner während ihrer gemeinsamen Ausbildung wirklich ab und zu spätabends aus dem Haus und frühmorgens wieder zurück geschlichen war. Zu einer Zeit, als Lindner und Roeder zusammen durch dick und dünn gegangen waren. Eine Zeit, die er auch heute noch als eine der schönsten, vor allem aber als die unbeschwerteste Zeit seines Lebens empfand. Und nicht zum ersten Mal bedauerte er es, dass Roeder auf seine berufliche Entwicklung eifersüchtig war und sich darüber mit ihm zerstritten hatte.
»Du hast vorhin gesagt, dass außer deinem Bauchgefühl nicht viel dagegenspricht, dass deine Bekannte ihren Mann erstochen hat.«
Roeder sah mit trübem Blick zu ihm hin, sagte aber nichts.
»Und was ist das Wenige, auf das du damit angespielt hast?«, fasste Lindner nach.
»Nichts Habhaftes, fanden zumindest meine Kollegen. Weißt du, seit wir Göppinger dem Ulmer Präsidium zugeschlagen wurden und einige andere dadurch versetzt wurden, ich aber immer noch in Göppingen hocke wie eh und je …«
»Jetzt hör aber mal auf, Wolfgang! Du solltest dir mal zuhören! Glaubst du denn, einer ist nur was wert, wenn er auch mal die Dienststelle wechselt? Ich hab noch nie verstanden, warum du mir den Wechsel zur Stuttgarter Kripo geneidet hast. Und im LKA, ganz ehrlich: Da ist auch nicht alles Gold, was glänzt. Vor allem auf die versteinerten Mienen der Kripokollegen vor Ort könnte ich gut verzichten, die es natürlich jedesmal wunderbar finden, wenn sich einer vom Landeskriminalamt in ihre Fälle einmischt.«
»Ach, du Armer«, entfuhr es Roeder, aber er setzte sofort einen zerknirschten Gesichtsausdruck auf. »Sorry, ich wollte dich nicht …«
»Lass gut sein, Wolfgang, so empfindlich bin ich nicht. Aber hör endlich auf mit dieser Jammerei. Maria gehört gern zur Göppinger Kripo, und wenn du dich mal am Riemen reißen und nicht ständig damit hadern würdest, dass du – und natürlich nur du allein! – keine Karriere machst, wär dir dein Posten dort vielleicht auch nicht mehr so zuwider. Ich denke manchmal ganz gern an unsere gemeinsame Zeit dort zurück, und was mir Maria so erzählt, scheint ihr ein prima Team zu haben. Also reiß dich zusammen und begreif endlich, dass es dir nicht halb so schlecht geht, wie du immer tust!«
Lindner war laut geworden, und in Roeder brach sich nun doch die Wut wegen der scharfen Zurechtweisung Bahn.
»Es reicht, Stefan! Ich bin nicht zu dir nach Boll gekommen, um mir vorwerfen zu lassen, dass ich ein Jammerlappen wäre!«
»Nein«, versetzte Lindner, schon wieder ruhiger, nachdem er seinem Ärger Luft gemacht hatte. »Du bist zu mir gekommen, weil du meine Hilfe wolltest. Oder vielleicht noch immer willst. Und ich hab dich angehört, obwohl ich eigentlich keine Zeit hatte.«
Roeder räusperte sich und schaute betreten zu Boden.
»Und jetzt sag mir – was genau außer deinem Bauchgefühl deutet darauf hin, dass Sonja Ramlinger doch nicht die Mörderin ihres Mannes ist?«
An diesem Abend ließ Wolfgang Roeder einen sehr nachdenklichen Lindner zurück. Gut eine Stunde lang dachte er über das nach, was ihm der frühere Kollege erzählt hatte. Dann ging er in sein Zimmer und kam dort einer alten Gewohnheit nach: Er setzte sich an den kleinen Schreibtisch, an dem er schon zu Schulzeiten gearbeitet hatte, und schrieb alles, was ihn umtrieb, in einen Collegeblock. Als er fertig war, las er es noch einmal sorgfältig durch, und das brachte ihn noch mehr ins Grübeln.
Roeder hatte ihm erzählt, dass die Spurensicherung zwar in ausreichender Zahl klar definierte, gar nicht oder nur wenig verwischte Fingerabdrücke von Sonja Ramlinger auf dem Messergriff sichern konnte. Aber die Kriminaltechniker konnten solche Abdrücke nur an blutigen Stellen des Griffes nachweisen, und dort auch nur auf dem Blut – unter den blutbedeckten Stellen fanden sie direkt am Griff ausschließlich stark verwischte Fingerabdrücke, die sich niemandem mehr zuordnen ließen. Hatte sich also schon Blut am Messergriff befunden, als sie es zum ersten Mal in die Hand nahm?
Natürlich konnte Sonja Ramlinger mehrmals umgegriffen und – nachdem sich bereits Blut auf dem Messergriff befunden hatte – ihre eigenen, frischen Spuren mit blutigen Fingern bereits wieder verwischt haben. Die Stiche in Ernst Ramlingers Rücken waren offenbar mal mit der linken, mal mit der rechten und mal mit beiden Händen ausgeführt worden. Aber außerdem waren ihre Fingerabdrücke auch an vergleichsweise sauberen Stellen des Griffs mit Blutspuren vermischt. Dafür konnte es verschiedene Gründe geben – aber eben durchaus auch den, dass die Frau den Messergriff erstmals in die Hand genommen hatte, als sich dort bereits Blut befand.
Die anderen Punkte, die Roeder ins Feld geführt hatte, waren nicht direkt am Tatort vorgefunden worden. Aber ähnlich wie sein früherer Kollege – und anders als die Staatsanwaltschaft – fand Lindner nicht, dass sie alle stimmig wirkten und einer Täterschaft von Sonja Ramlinger nicht widersprachen.
Als die Kripo Göppingen den Toten und seine neben ihm hockende Frau um kurz vor halb elf am Freitagvormittag im Wohnzimmer vorgefunden hatte, lief im Keller die Waschmaschine sowie in der Küche im Erdgeschoss die Geschirrspülmaschine. Die Geräte waren noch recht neu, sehr modern und mit allen möglichen Extras ausgestattet. Anhand der ausgelesenen Gerätedaten konnte die Kriminaltechnik nachvollziehen, wann welches Gerät eingeschaltet und wann welche Funktion gestartet worden war. Zuerst war um 8.38 Uhr die Spülmaschine eingeschaltet und direkt im Anschluss das Standard-Spülprogramm gestartet worden. Um 8.55 Uhr wurde die Waschmaschine eingeschaltet, doch das Waschprogramm – Baumwolle, dreißig Grad, Energiesparmodus – wurde erst gut zwanzig Minuten später gestartet, um 9.17 Uhr.
Die Obduktion hatte ergeben, dass Ramlinger alle Stichwunden zwischen 9.00 und 9.20 Uhr in einem Zeitraum von etwa fünf Minuten beigebracht worden waren – und dass er zwischen 9.15 und 9.30 Uhr seinen Verletzungen erlag.
Wenn also Sonja Ramlinger tatsächlich ihren Mann erstochen hatte, hatte sie erst die Spülmaschine und dann die Waschmaschine eingeschaltet – doch bevor sie das Waschprogramm startete, ging sie ins Wohnzimmer hinauf, stach siebenundzwanzig Mal auf ihren Mann ein und kehrte dann in den Keller zurück, um das Waschprogramm zu starten? Kein sehr wahrscheinlicher Ablauf, wie Lindner fand.
Natürlich konnten sich die Eheleute in der Waschküche gestritten haben, der Streit konnte sich ins Erdgeschoss verlagert haben, und dort konnte es zu dem Mord gekommen sein – in diesem Fall wäre Sonja Ramlinger mit blutigen Händen zur Waschmaschine zurückgekehrt, doch es waren an der Waschmaschine keine Blutspuren gefunden worden.
Möglicherweise hatte sie anfangs Einmalhandschuhe benutzt, diese dann abgestreift und war erst danach in den Keller zurückgekehrt. Doch wohin hatte sie die Handschuhe entsorgt? Im Müll waren keine gefunden worden, auch nicht in der Waschmaschine oder in der Schmutzwäsche.
Und warum hatte sie anschließend im Wohnzimmer erneut das Messer in die Hand genommen, diesmal ohne Handschuhe? Außerdem hatte sie, als sie um 9.45 Uhr die Polizei rief, blutige Finger und hinterließ entsprechende Spuren auf dem Telefon – doch wieso hätte sie erst Einmalhandschuhe tragen, diese dann verschwinden lassen, danach das blutige Messer erneut in die Hand nehmen und danach die Polizei anrufen sollen?
Die Staatsanwaltschaft nahm an, dass Sonja Ramlinger und ihr Mann in Streit gerieten, bevor sie das Waschprogramm hatte starten können. Nachdem ihr Mann verletzt, aber noch nicht tot am Boden lag – und durch die ersten Stiche noch kein Blut an ihre Finger, Kleider und Schuhe gelangt war –, wäre sie demnach in den Keller gegangen und hätte das Waschprogramm gestartet, möglicherweise in der Annahme, sich so ein Alibi zu verschaffen. Dass man aus modernen Geräten alle möglichen Daten auslesen und so den genauen zeitlichen Ablauf jeder Schaltung und Funktion rekonstruieren kann, war ihr vielleicht nicht bewusst. Aber warum versuchte sie sich erst ein Alibi zu verschaffen – und saß dann, als die von ihr gerufene Polizei eintraf, neben ihrem toten Mann und gestand die Tat hinterher aus freien Stücken und ohne irgendwelche Ausflüchte oder Entschuldigungen?
Sonja Ramlinger hatte zum exakten Ablauf der Tat bisher kaum etwas ausgesagt. Sie schilderte wieder und wieder, wie sie rasend vor Wut, fast in einem Blutrausch, hinterrücks erst auf ihren stehenden und später auf den nun schwer verletzt am Boden liegenden Mann eingestochen habe. Sie könne sich, sagte sie aus, an die Minuten direkt vor dem Tod ihres Mannes nicht mehr erinnern. Das Letzte, woran sie sich konkret erinnern könne, sei das Einschalten der Spülmaschine, und sie könne weder sagen, was genau zu dem Streit mit ihrem Mann geführt noch wie lange sie neben ihm auf dem Boden gesessen hatte. Sie habe nur eine vage Erinnerung an einen sehr heftigen, sehr hässlichen Streit, in dessen Verlauf ihr Mann ihr üble Beleidigungen an den Kopf geworfen und sie dann einfach habe stehen lassen. Wieso sie plötzlich ein Messer in der Hand hatte und damit hinter ihrem Mann stand, wusste sie nicht mehr.
Die Staatsanwaltschaft nahm das Geständnis trotzdem für bare Münze, zumal die Befragung einiger Nachbarn ergeben hatte, dass es im Haus der Ramlingers durchaus ab und zu laut wurde. In den Stunden vor Ramlingers Tod hatte zwar niemand etwas Derartiges mitbekommen, da die nächsten Nachbarn alle einkaufen oder arbeiten waren. Doch dass es mit dieser Ehe nicht zum Besten stand, hatte ja auch schon Roeder berichtet.
Sonja Ramlingers Anwalt schien die Strategie zu verfolgen, auf Totschlag in einem minder schweren Fall nach § 213 Strafgesetzbuch zu plädieren, wofür seine Mandantin mit einer Gefängnisstrafe zwischen einem und zehn Jahren belegt würde – und zwar mit einer milden Strafe, wenn dem Anwalt der Nachweis gelänge, dass der Mord im Affekt erfolgte und Sonja Ramlinger etwa durch die erwähnten Beleidigungen und Schmähungen durch ihren Mann in diesem Moment nur bedingt schuldfähig war.
Das war offenbar auch die Einschätzung der Staatsanwaltschaft. Und wirklich – auch dafür fanden sich Zeugen – war Ernst Ramlinger mit seiner Frau nicht allzu respektvoll umgegangen. Da konnte sich also einiges an Abneigung oder gar Hass in ihr aufgestaut haben. Ob er von ihren Affären wusste oder sie einfach nicht besonders wertschätzte: Seinen Stammtischfreunden gegenüber machte er sich immer wieder lustig über sie, machte sie schlecht oder riss Witze auf ihre Kosten, und während gemeinsamer Auftritte in der Öffentlichkeit behandelte er sie herablassend, fiel ihr ständig ins Wort und kümmerte sich um alle anderen mehr als um die Frau, die neben und hinter ihm stand oder ging und von ihm meistens nicht weiter beachtet wurde.
Gegen aufgestauten Hass schien in den Augen von Wolfgang Roeder allerdings ein Detail zu sprechen, das im Schlafzimmer des Ehepaars versteckt zwischen Oberteilen von Sonja Ramlinger gefunden wurde. Es handelte sich um einen Briefumschlag, in dem ein liebevoll gestalteter Gutschein für ein Wellnesswochenende steckte, ausgestellt für zwei Personen. Beigefügt war die Buchungsbestätigung eines Hotels in der Nähe von Freudenstadt für ein Wochenende Mitte November, inbegriffen waren allerlei Anwendungen im Spabereich des Hotels sowie ein Candlelightdinner. Das Gesamtpaket hatte einen stolzen Preis, wie Lindner fand, aber zumindest das Dinner war deutlich günstiger als das Menü, das er heute Abend mit Maria in Entenmanns Canard im Erbisweg zu sich genommen hätte. Die Buchung lautete auf Sonja und Ernst Ramlinger, und angesichts der Tatsache, dass Ernst Ramlinger Ende September Geburtstag gehabt hätte, sah es ganz so aus, als wäre das Wellnesswochenende ihr Geschenk für ihn gewesen – ein Wochenende, das sie offenbar gemeinsam mit ihm verbringen wollte.
Die Staatsanwaltschaft, so hatte ihm Roeder berichtet, wertete das Geschenk als einen Versuch, die Ehe mit einem romantischen Wochenende doch noch zu retten – doch aus irgendeinem noch nicht geklärten Grund habe sich die Abneigung zwischen den Eheleuten am ersten Freitag im September in einem so heftigen Streit entladen, dass es zu Mord oder Totschlag in Schlat kam anstatt zwei Monate später zur erhofften Versöhnung im Schwarzwald.
Roeder sah auch das anders, und Lindner konnte – vor allem mit Blick auf den stattlichen Preis des Wochenendes – die Theorie nicht ganz von der Hand weisen, dass eine Frau doch nicht den Mann auf brutalste Weise ersticht, für den sie schon ein solches Geschenk besorgt hat.
»Da würde es doch auch dich wegen des Geldes reuen, oder?«, hatte Roeder gesagt.
Auf Sonja Ramlinger gemünzt, gab ihm Lindner insgeheim recht. Obwohl er sich nur bedingt in diese Frau hineinversetzen konnte. Denn er selbst war erstens nicht in der Gefahr, zum Mörder oder Totschläger zu werden – und zweitens würde er lieber etwas länger über etwas Geeignetes nachdenken, als Maria ein so sauteures Geschenk zu machen.
Drunten im Erdgeschoss hörte Lindner die Haustür ins Schloss fallen. Langsam erhob er sich, streckte die Glieder, die durch das lange Sitzen etwas steif geworden waren. Er horchte in sich hinein, aber wenn das Ziehen im Rücken und in den Oberschenkeln nicht ärger wurde, musste er am nächsten Morgen doch nicht zu Dr. Thomas Bruch, seinem Hausarzt und Schulfreund. Draußen im Hausflur war er schon wieder einigermaßen in Gang gekommen, und als er nur noch wenige Stufen vor sich hatte, huschte seine Mutter gerade aus dem Bad.
»Ah, Stefan – noch wach?«
Sie war wieder in ein leidliches Hochdeutsch verfallen, wollte ihn also im Moment offenbar nicht necken.
»Ich kann dir sagen!«, schwärmte sie und verdrehte genussvoll die Augen. »Dieser Entenmann kann kochen! Eugen und ich haben es uns richtig gut gehen lassen. Da musst du mit der Maria unbedingt auch noch hin, lass dir das nicht entgehen, Bub!«
»Schon recht. Willst du noch mal weg?«
Er deutete auf den Kulturbeutel, den sich seine Mutter unter den linken Arm geklemmt hatte.
»Ja, freilich. Der Eugen sitzt noch draußen im Wagen, wir gehen heute Nacht zu ihm.«
Lindner schluckte. Seine Mutter war ja rüstig, aber damit, dass sie in ihrem fortgeschrittenen Alter offenbar ein aktiveres Liebesleben führte als er, kam er nach wie vor nicht zurecht. Außerdem musste er nicht allzu intensiv schnuppern, um an seiner Mutter eine leichte Weinfahne zu bemerken. Sie quittierte seine gerümpfte Nase mit einem breiten Grinsen.
»Der Eugen fährt, keine Sorge!«
Und damit war sie auch schon wieder aus dem Haus. Die Tür hatte sie offen stehen lassen, und Lindner sah seine Mutter etwas neidisch zur Beifahrerseite seines alten Kombis tänzeln. Natürlich konnte sie in ihrem schönen Kleid schlecht den Traktor nehmen, und sein Wagen war ohnehin in einem so schlechten Zustand, dass es darauf, ob nun seine Mutter oder ihr reifer Liebhaber am Steuer saßen, auch nicht mehr ankam. Allerdings hatte er Eugen Rösler bisher nicht als einen Mann kennengelernt, der nur Wasser trank, wenn er fahren musste. Und wirklich kam der Wagen auffällig ruckelnd in Gang, als Ruth Lindner die Tür hinter sich zugezogen hatte. Dann heulte der Motor auf, der nächste Gang wurde krachend eingelegt, und der Wagen bog mit so viel Schwung auf die Gruibinger Straße ein, dass er locker die halbe Gegenfahrbahn dafür mitbenutzte.
Lindner stand eine Minute unschlüssig im Hausflur, dann entschied er sich, noch auf ein Bier in den Hirschen zu gehen. Hunger hatte er auch, und gegen den würde Chiaras legendärer Wurstsalat Speciale besser (und günstiger) helfen als alle Entenmanns dieser Welt.
Den Hirschen konnte Lindner bequem zu Fuß erreichen, obwohl er während der ersten Schritte doch noch ein unangenehmes Ziehen in den Oberschenkeln verspürte. Doch es ging bald besser, und die wenigen Stufen hinauf zum Eingang nahm er für seine Verhältnisse schon recht sportlich.
Mittwochs war – seit der Mordfall um das Apfelmännle ihre Binokelrunde gesprengt hatte – der feste Abend für den Malefiz-Stammtisch. Das hatte Lindner über all den Gedanken an die Ereignisse in Schlat ganz vergessen. Natürlich hatte er heute Abend gefehlt, und natürlich hatte ihm das an seinem Geburtstag niemand übel genommen – Fritz Aichele, einer seiner besten Freunde und der Leiter des Polizeipostens Bad Boll, hatte ihn sogar bedauert, weil er mit Maria in diesen Gourmettempel musste, anstatt sich bei Wirtin Chiara etwas Bodenständiges schmecken zu lassen.
»Und«, begrüßte ihn denn auch Aichele als Erster, »wie haben die Froschschenkel und die Milligramm-Portionen in Gammelshausen geschmeckt?«