Literarischer Realismus - Dieter Hoffmann - E-Book

Literarischer Realismus E-Book

Dieter Hoffmann

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Beschreibung

Keine Frage – der Realismus ist die dominie¬rende Kraft in der Literatur. Dabei gibt es allerdings eine so große Bandbreite an realistischen Schreibweisen, dass man vielleicht besser von "den" literarischen Realismen als von "dem" literarischen Realismus sprechen sollte. Der vorliegende Band veranschaulicht die Vielfalt realistischer Schreibweisen am Beispiel der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur des 20. Jahrhunderts. Dabei wird sowohl auf die Unterschiede zwischen den einzelnen Formen von literarischem Realismus als auch auf die teils gleitenden Übergänge zu nicht-realistischen Schreibweisen eingegangen. Deren wichtigste Erscheinungsformen in dem thematisierten Zeitraum werden in einem abschließenden Kapitel kurz skizziert und von realistischen Schreibweisen abgegrenzt.

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Dieter Hoffmann:

Literarischer Realismus

Realistische Schreibweisen in der deutschsprachigen Prosa

1945 – 2000

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Literaturplanet

Impressum

 

 

© Verlag LiteraturPlanet, 2024

Wilhelmstr. 58

66589 Merchweiler

 

http://www.literaturplanet.de

 

 

Über dieses Buch:

Keine Frage – der Realismus ist die dominierende Kraft in der Literatur. Dabei gibt es allerdings eine so große Bandbreite an realistischen Schreibweisen, dass man vielleicht besser von "den" literarischen Realismen als von "dem" literarischen Realismus sprechen sollte.

Der vorliegende Band veranschaulicht die Vielfalt realistischer Schreibweisen am Beispiel der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur des 20. Jahrhunderts. Dabei wird sowohl auf die Unterschiede zwischen den einzelnen Formen von literarischem Realismus als auch auf die teils gleitenden Übergänge zu nicht-realistischen Schreibweisen eingegangen. Deren wichtigste Erscheinungsformen in dem thematisierten Zeitraum werden in einem abschließenden Kapitel kurz skizziert und von realistischen Schreibweisen abgegrenzt.

 

Informationen über den Autor finden sich auf dessen Blog (rotherbaron.com) und auf Wikipedia.

 

Cover-Bild: Janrye: Frau im Buch-Spiegel (Pixabay)

 

Zur Einführung

 

Warum der literarische Realismus "unrealistisch" ist

 

Ob wir unseren Blick über Literaturlandschaften der jüngeren Vergangenheit oder der Gegenwart schweifen lassen – immer werden wir feststellen, dass realistische Schreibweisen überwiegen.

Für die Gegenwart ist dies zunächst aus erkenntnistheoretischen Gründen erstaunlich. Schließlich hat die Wissenschaft die Mitte des 19. Jahrhunderts von Otto Ludwig formulierte Grundannahme des literarischen Realismus – "dass das subjektive Gesetz unserer Sinne und unseres Denkvermögens mit dem objektiven der Dinge übereinstimmt" (Otto Ludwig; vgl. Kap. 1) – hinlänglich widerlegt.

Wir wissen heute, dass die Strukturen der Wirklichkeit von unseren Sinnen eben nicht adäquat wiedergegeben werden. Unsere Sinne erlauben es uns vielmehr lediglich, einen Ausschnitt aus der Wirklichkeit wahrzunehmen, und diesen auch oft nur in verzerrter Form. Wir können eben nicht das gesamte Spektrum der Töne hören, und was wir als "Farben" sehen, sind in Wahrheit nur Abstufungen im Lichtspektrum, die von anderen Organismen ganz anders wahrgenommen werden können.

Hinzu kommt, dass heutzutage auch künstliche Intelligenz und digitale Bildbearbeitungsprogramme das Fundament unserer Wirklichkeitswahrnehmung ins Wanken bringen. Phänomene wie "Deep Fakes" und "Augmented Reality" haben uns gelehrt, dass ein Abbild der Realität – so wirklichkeitsgetreu es auch erscheinen mag – keineswegs ein glaubwürdiges Spiegelbild des tatsächlichen Geschehens sein muss.

Dies müsste sich folglich auch in der Literatur widerspiegeln. Literarische Werke, die so tun, als könnte man die Realität einfach schreibend "verdoppeln", gehen in Wahrheit an der Realität vorbei. Mit anderen Worten: Realistische Literatur ist "unrealistisch".

 

Wandel der gesellschaftlichen Funktion des literarischen Realismus

 

Natürlich könnte man argumentieren, dass der literarische Realismus den Menschen gerade das zurückgeben möchte, was sie im Zuge der Abkehr von den ganzheitlichen Deutungsmodellen der Wirklichkeit verloren haben. Realistische Literatur wäre damit die säkulare Erbin der religiös fundierten Gesellschafts- und Wirklichkeitsentwürfe des Mittelalters und der Frühen Neuzeit.

Dieses Argument lässt sich für den bürgerlichen Realismus des 19. Jahrhunderts noch nachvollziehen. Damals ging es für das Bürgertum darum, einen Gegenentwurf zur Ständegesellschaft zu formulieren. Dazu diente auch die Literatur – insbesondere der bürgerliche Bildungs- und Entwicklungsroman, dessen Helden mit der Kraft ihres geistigen Adels an ihr Ziel gelangen und sich so von dem herrschenden Geburtsadel abgrenzen.

Mit dem Aufstieg des Bürgertums zur führenden Gesellschaftsschicht veränderte sich dann auch die soziale Funktion des literarischen Realismus. Wo von ihm eine gesellschaftskritische Wirkung erwartet wurde,  betraf diese nun eher die in der bürgerlichen Gesellschaft Benachteiligten, wie das Proletariat oder weibliche Bedienstete. Dabei ging es allerdings nicht mehr um eine Wiedergeburt der alten Ständegesellschaft mit neuer Machtverteilung, sondern um die Utopie einer gänzlich anderen Gesellschaft mit gleichen Rechten für alle.

Auch in erkenntnistheoretischer Hinsicht wurden die Ganzheitsentwürfe der bürgerlichen Romane im 20. Jahrhundert zunehmend obsolet. So haben immer neue wissenschaftliche Entdeckungen, aber auch die verstärkte Begegnung unterschiedlicher Kulturen mit abweichenden Deutungsentwürfen der Wirklichkeit ein neues, differenzierteres Bild von Ich und Welt entstehen lassen. Anstatt die verschiedenen Facetten der Wirklichkeit zu einem einheitlichen Bild zusammenzubinden, kam der Literatur nun eher die Funktion zu, diese in ihrer Disparatheit vor Augen zu führen.

 

Problematische Reproduktion sprachlich vorgeprägter Wahrnehmungsmuster

 

Eine in diesem Sinne erkenntniskritische Literatur muss dabei immer zugleich sprachkritisch sein. Wird sie dieser Aufgabe gerecht, so kann sie bei der Entwicklung neuer Paradigmen der Wirklichkeitswahrnehmung eine Avantgarderolle übernehmen. Als jene Kunstform, deren Handwerkszeug die Sprache ist, kann sie uns in besonderem Maße dazu verhelfen, die sprachlich vorgeprägten Deutungsmuster der Wirklichkeit zu durchschauen und zu hinterfragen. Denn selbst bei gutem Willen gelingt es uns oft nicht, die Welt aus einer neuen Perspektive zu betrachten, weil unsere Sprache uns eine bestimmte Art der Wahrnehmung vorgibt.

Die von der Sprache vorgegebene Wirklichkeitssicht produziert zum einen erkenntnistheoretische Anachronismen. So zwingt sie uns, die Sonne "auf-" und "untergehen" zu sehen, obwohl wir genau wissen, dass es in Wahrheit die Rotation der Erde und ihre Bewegung um die Sonne sind, die den Stern in regelmäßigen Abständen für uns unsichtbar machen.

Noch folgenreicher ist die Abhängigkeit unserer Wahrnehmung von sprachlich präformierten Wahrnehmungsmustern auf der moralischen Ebene. Der Teufelskreis aus Wertung, sprachlicher Prägung und Wahrnehmung ist oft nur sehr schwer zu durchbrechen, weil Vorurteile und Diskriminierungen auch von neuen, anfangs sprachlich neutralen oder sogar positiv gemeinten Begriffen "aufgesogen" werden können. Ein Beispiel dafür sind die Termini "Hilfs-", "Sonder-" und "Förderschule", die alle sukzessive durch das Stigma der Ausgrenzung von Kindern und Jugendlichen mit schulischen und/oder persönlichen Problemen negativ eingefärbt worden sind.

Eine rein realistische Literatur kann solche Prozesse jedoch nicht in den Blick nehmen, weil sie von einer harmonischen Übereinstimmung zwischen Sprache, Wirklichkeit und Weltwahrnehmung ausgeht. Sie ist damit sowohl in erkenntnistheoretischer als auch in sprachkritischer und moralischer Hinsicht fragwürdig, weil sie die Strukturen der alltäglichen Wirklichkeitswahrnehmung unreflektiert reproduziert und so zementiert, anstatt sie zu hinterfragen. Dies gilt selbst dann, wenn die Inhalte der betreffenden Werke sich kritisch mit der jeweiligen gesellschaftlichen Wirklichkeit auseinandersetzen.

 

Gleitende Übergänge zwischen realistischer und nicht-realistischer Literatur

 

Vor diesem Hintergrund sind im 20. Jahrhundert – teilweise sogar schon seit der Romantik – eine Reihe von Schreibweisen entwickelt worden, die sich entweder offen als Gegenmodell zum literarischen Realismus präsentieren oder implizit dessen Grenzen vor Augen führen. Die Übergänge zwischen literarischem Realismus, auf dessen brüchiges Fundament hindeutenden und eindeutig nicht-realistischen Schreibweisen sind dabei fließend.

Eine Aufweichung der Grenzen des literarischen Realismus ist bereits innerhalb realistischer Schreibansätze möglich. So kann etwa an die Stelle des auktorialen Erzählers ein multiperspektivisches Erzählen treten, das verschiedene Sichtweisen des geschilderten Geschehens ermöglicht. Auch satirische und groteske Darstellungsmittel  haben eine verzerrende und damit verfremdende Sicht der Wirklichkeit zur Folge.

Daneben gibt es aber auch realistische Schreibweisen, die schon im Namen die Abweichung von den tradierten Formen des literarischen Realismus andeuten. Hierzu zählen etwa der "magische Realismus" und die in den 1960er Jahren von Dieter Wellershoff begründete "Kölner Schule des Neuen Realismus".

Dezidiert nicht-realistische Schreibweisen sind etwa Formen experimenteller Prosa, die den Aspekt der sprachlichen Vermittlung von Realität in den Vordergrund stellen, anstatt die Sprache für eine unreflektierte Abbildung der Wirklichkeit zu nutzen. Allerdings gibt es auch überwiegend nicht-realistische Schreibweisen, die sich teilweise wieder der realistischen Literatur annähern. Beispiele dafür sind etwa die Reportageliteratur oder postmoderne Romane, die sich realistischer Schreibweisen bedienen, sie gleichzeitig aber durch ironische und intertextuelle Darstellungsmittel dekonstruieren.

 

Zum Aufbau dieses Bandes

 

"Den" literarischen Realismus gibt es demnach gar nicht. Es gibt vielmehr verschiedene Spielarten realistischer Literatur, die sich sowohl nach ihrem jeweiligen Gegenstand, dem Grad ihrer Übereinstimmung mit den Grundprinzipien des literarischen Realismus sowie in Hinsicht auf historische und kulturelle Aspekte voneinander unterscheiden.

Dies versucht die vorliegende Studie anhand der realistischen Schreibweisen in der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur zu veranschaulichen. Dafür werden – im Anschluss an eine Diskussion der theoretischen Grundlagen des literarischen Realismus – zunächst die verschiedenen Formen realistischer Literatur beschrieben und in ihrer Ausprägung in einzelnen, exemplarisch ausgewählten Werken vor Augen geführt. Dabei wird auch immer wieder auf Formen realistischer Schreibansätze hingewiesen, die den literarischen Realismus an seine Grenzen führen.

Trotz dieser Einschränkungen könnte die ausführliche Würdigung realistischer Schreibweisen einen falschen Eindruck erwecken. Diese haben zwar den Literaturbetrieb der Nachkriegszeit dominiert, doch gab es daneben auch eine Reihe von innovativen Schreibansätzen, die Alternativen zum literarischen Realismus aufgezeigt haben.

Auf diese Schreibansätze wird daher im Anschluss an die Darstellung der diversen Formen realistischer Literatur in Form kurzer Porträts hingewiesen. Dies soll zugleich den Blick für die Unterschiede, aber auch die Grenzbereiche zwischen realistischen und nicht-realistischen Schreibweisen schärfen.

  

Publikationsgeschichte

 

Die vorliegende Veröffentlichung geht auf ein Kapitel aus dem 2006 erschienenen Arbeitsbuch Deutschsprachige Prosa seit 1945 zurück (Band 1, Kapitel 6). Im Jahr 2017 ist es auch als eigenständige PDF veröffentlicht worden (jeweils unter dem Titel "Literarische Realismen").

Mit der jetzt herausgebrachten, vollständig überarbeiteten Fassung sind vor allem zwei Ziele verbunden. Zum einen ging es um größere Übersichtlichkeit. Dafür sind Zwischenüberschriften eingefügt und den einzelnen Kapiteln Kurzporträts der jeweiligen Formen realistischen Schreibens vorangestellt worden. Außerdem sind Schriftbild und Ausdrucksweise prägnanter gestaltet worden.

Das zweite Ziel ist oben bereits angesprochen worden. Dabei ging es darum, stärker auf Abgrenzungen und Übergänge realistischer zu nicht-realistischen Schreibweisen hinzuweisen. Dafür sind weitere Beispieltexte in die Arbeit aufgenommen und zwei zusätzliche Kapitel eingefügt worden.

Geplant ist, das abschließende Kapitel "Jenseits des Realismus" zu einem ergänzenden zweiten Band auszubauen. Darin sollen die nicht-realistischen Schreibweisen ausführlicher beschrieben und an Beispieltexten veranschaulicht werden. Weitere Arbeiten zur deutschsprachigen Prosa seit 1945 sind auf LiteraturPlanet in der PDF zum Verlagsangebot aufgeführt (unter dem Stichwort "Literatur über Literatur"). Sie sind jeweils als PDF erhältlich ("open access").

1. Der Realismus und die Realität

 

 

Das "Fieber der Einheit" als Hauptantriebskraft realistischer Literatur

 

Im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit dem Themenkomplex "Kunst und Revolte" leitet Albert Camus das Wesen des Romans aus dem Bedürfnis des Menschen ab, seinem Leben einen Zusammenhang zu geben. Auf diese Sehnsucht, ein in sich schlüssiges, nicht vom Zufall gelenktes "Schicksal" zu haben, gründe sich auch die Vorstellung des Menschen von "einer besseren Welt als dieser".

"Besser" bedeute dabei allerdings "nicht verschieden, sondern zur Einheit gebunden" (ebd.: 297). Dieses "Fieber der Einheit", das "das Herz über eine verzettelte Welt erhebt, der es sich jedoch nicht entreißen kann", führe nicht nur "zur Anbetung des Himmels", sondern "ebensogut zur Romanschöpfung":

 

"Was ist der Roman, wenn nicht die Welt, wo die Handlung ihre Form findet, wo die Schlussworte ausgesprochen werden, die Wesen einander ausgeliefert sind, wo jegliches Leben das Gesicht des Schicksals annimmt. Die Welt des Romans ist nur die Korrektur dieser Welt hier, gemäß dem tiefen Wunsch des Menschen. Denn es handelt sich tatsächlich um die gleiche Welt. Das Leiden ist das gleiche, ebenso die Lüge und die Liebe. Die Helden sprechen unsere Sprache, sie haben unsere Schwächen und Stärken. Ihre Welt ist weder schöner noch erbauender als die unsere. Sie jedoch gehen wenigstens bis ans Ende ihres Schicksals" (ebd.: 297 f.).

 

Eine Antwort auf die Suche des Menschen "nach Formeln und Haltungen, die seinem Dasein die fehlende Einheit gäben" (ebd.: 297), stellt der Roman laut Camus aber nur so lange dar, wie der Ausdruck dieser Sehnsucht an konkrete, für den Leser mit seiner eigenen Welt identifizierbare Zusammenhänge gebunden bleibt:

 

"Wenn die Stilisierung übertrieben ist und sichtbar wird, ist das Werk reine Sehnsucht: die Einheit, die sie zu gewinnen sucht, ist dem Konkreten fremd. Wenn die Realität dagegen im Rohzustand geliefert wird und die Stilisierung unbedeutend ist, wird das Konkrete ohne Einheit dargeboten" (ebd.: 308).1

 

Eine übertriebene Stilisierung sieht Camus als Kennzeichen des Kitschromans an. Demgegenüber tendierten realistische Darstellungen dazu, "die rohe Wirklichkeit zu verherrlichen" und auf diese Weise "die unmittelbare Ganzheit der Welt" zu behaupten (vgl. ebd.: 306).2

Die Illusion dieser Ganzheit ist nun allerdings nur durch zwei eng miteinander zusammenhängende Kunstgriffe zu erreichen. Zum einen wird eine bestimmte Perspektive eingenommen, aus der sich eine einheitliche Sicht der Dinge ergibt. Zum anderen wird aber aus der Vielfalt des tatsächlichen Geschehens eine Auswahl getroffen, die dann in dem entsprechenden literarischen Werk als exemplarischer Ausdruck der Realität erscheint. Nach empirischen Maßstäben ist die Kunst daher, so Camus, "nie realistisch":

 

"Wenn sie wirklich realistisch sein will, ist eine Darstellung zur Endlosigkeit verurteilt. Wo Stendhal mit einem Satz den Eintritt Lucien Leuwens in einen Salon beschreibt, müsste der realistische Künstler, ginge es mit Logik zu, mehrere Bände aufwenden zur Beschreibung der Personen und des Dekors, ohne dass es ihm gelänge, die Einzelheiten zu erschöpfen" (ebd.: 306).3

 

Eine "grenzenlose Aufzählung", deren "Ehrgeiz die Eroberung nicht der Einheit, sondern der Totalität der wirklichen Welt ist", erfüllt somit nach Camus nicht die Kriterien von Literatur. Die Kunst des literarischen Realismus besteht für ihn vielmehr gerade darin, dass die verschiedenen Facetten der Wirklichkeit in einer Gesamtschau zusammengebunden werden.

Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass Camus weder die Werke Stendhals noch die Herman Melvilles oder Lew Tolstois einem vulgärliterarischen Verständnis von Realismus zurechnet. Selbst die "harten" amerikanischen Romane der 1930er und 40er Jahre, an denen die deutsche Junge Generation nach dem Krieg ihr Verständnis eines neuen, schonungslos offenen Realismus entwickelte, zielen nach Camus' Auffassung nicht "auf die einfache Wiedergabe der Wirklichkeit" ab. Vielmehr gründen sie ihm zufolge auf einer "absichtlichen Verstümmelung der Wirklichkeit", durch die das Herabgedrücktwerden der Menschen auf "ihre täglichen Automatismen" im Maschinenzeitalter kritisch beleuchtet werde (ebd.: 300 f.).

 

Georg Lukács' Unterscheidung zwischen "Erzählen" und "Beschreiben"

 

Als Negativbeispiel einer Literatur, in der die Wirklichkeit nicht im Sinne einer Einheit in Vielfalt, sondern als monolithische Ganzheit dargestellt wird, führt Camus den sozialistischen Realismus an. Diesem wirft er vor, die "offizielle Ästhetik einer Revolution der Totalität" zu sein (ebd.: 306).

Nun stellt sich allerdings die Theorie des sozialistischen Realismus bei näherer Betrachtung keineswegs so uniform dar, wie sie von Camus beschrieben wird. So ergeben sich insbesondere bei einem der wichtigsten Theoretiker des sozialistischen Realismus, dem später in Ungnade gefallenen4 Georg Lukács, auffallende Parallelen zu den Analysen Camus'. So hält auch Lukács eine klare schriftstellerische Perspektive für eine unverzichtbare Komponente einer literarischen Gesamtschau der sozialen Realität:

 

"Man kann ohne Weltanschauung nicht richtig erzählen, keine richtige, gegliederte, abwechslungsreiche und vollständige epische Komposition aufbauen. Die Beobachtung, das Beschreiben ist aber gerade ein Ersatzmittel für die fehlende bewegte Ordnung des Lebens im Kopfe des Schriftstellers" (Lukács 1936/1948: 71).

 

Im Rahmen seiner Analyse der französischen Literatur des 19. Jahrhunderts kommt Lukács zudem zu einer Einteilung der einzelnen Schreibweisen, die sich eng mit den Kategorien von Camus berührt (vgl. Lukács 1936/1948). Dies gilt insbesondere für seine idealtypische Unterscheidung zwischen "Erzählen" und "Beschreiben". Darin lässt sich eine Analogie zu Camus' Differenzierung zwischen einer bewusst auswählenden und gestaltenden Literatur einerseits und einem auf die Wiedergabe der "Totalität" des Wirklichen abzielenden Schreiben andererseits sehen.

Die beiden unterschiedlichen Schreibweisen leitet Lukács aus dem Wandel ab, den die Stellung des Schriftstellers in der bürgerlichen Gesellschaft im 19. Jahrhundert – mit der Nahtstelle der Revolutionen des Jahres 1848 – durchlaufen habe. Das Erzählen sieht er dabei mit dem "Mitleben" verbunden, das unter den bürgerlichen Schriftstellern bis 1848 überwogen habe.

Das "Beschreiben" führt Lukács demgegenüber auf das zunehmende Herausfallen der Schriftsteller aus dem bürgerlichen Lebens- und Arbeitszusammenhang nach 1848 zurück. Diese seien hierdurch stärker in eine Beobachterposition hineingeraten (vgl. ebd.: 43). Entscheidend ist für ihn dabei, dass die Schriftsteller mit dem Verlust ihrer Einbettung in den sozialen Kontext zugleich auch die "Weltanschauung" verloren hätten, die es ihnen zuvor ermöglicht habe, das Gesehene nicht nur zu beschreiben, sondern literarisch zu gestalten.

Als Theoretiker des sozialistischen Realismus, der seine zentralen Prämissen aus Marx' Betrachtung der Geschichte als einer Aufeinanderfolge von Klassenkämpfen ableitet, möchte Lukács mit diesen Ausführungen seine These untermauern, dass in der "epischen Komposition" die "kampfvolle[n] Wechselbeziehungen zueinander " gestaltet werden müssten (vgl. ebd.: 60). In der konkreten historischen Situation des 19. Jahrhunderts ist damit die Darstellung der "sich in schweren Krisen endgültig konstituierende[n] bürgerliche[n] Gesellschaft" gemeint.

Autoren wie "Balzac, Stendhal, Dickens und Tolstoi" erscheinen aus dieser Perspektive als Schriftsteller, die "die komplizierten Gesetzmäßigkeiten" der "Entstehung" der bürgerlichen Gesellschaft sowie "die vielfältigen und verschlungenen Übergänge, die aus der zerfallenden alten Gesellschaft zur entstehenden neuen Gesellschaft führen", in ihren Werken nachvollziehbar gemacht haben (vgl. ebd.: 42). Flaubert und Zola wird hingegen vorgeworfen, sie hätten das soziale Elend nur dargestellt, es jedoch nicht in der ihm zugrunde liegenden Gesetzmäßigkeit – der nach marxistischer Lesart die Überwindung des Elends inhärent ist – vor Augen geführt. Bei subjektiv kritischer Absicht hätten sie daher objektiv zur Zementierung der bestehenden Verhältnisse beigetragen:

 

"Hier liegt die weltanschaulich und dichterisch entscheidende Schwäche der Schriftsteller der beschreibenden Methode. Sie kapitulieren kampflos vor den fertigen Ergebnissen, vor den fertigen Erscheinungsformen der kapitalistischen Wirklichkeit. Sie sehen in ihnen nur das Ergebnis, nicht aber den Kampf entgegengesetzter Kräfte" (ebd.: 73 f.).5

 

Literarischer Realismus als schöpferische Gestaltung der Realität

 

Unabhängig von den unterschiedlichen philosophischen und politischen Standpunkten Camus' und Lukács' lässt sich festhalten, dass der sozialistische Realismus keineswegs – wie von Camus unterstellt – die bloße Abbildung des Wirklichen anstrebt. Vielmehr wird diese von seinen Theoretikern ausdrücklich zugunsten einer aktiven schöpferischen Gestaltung und Durchdringung der sozialen Realität zurückgewiesen.

Autoren des sozialistischen Realismus treffen damit auch nicht – wie es Camus "realistischen Romane[n]" allgemein unterstellt – "gegen ihren Willen aus dem Wirklichen eine Auswahl". Sie tun dies vielmehr ebenso bewusst wie die Schriftsteller, die von Camus als beispielhaft für sein künstlerisches Ideal angeführt werden. Folglich gestalten sie ihre Werke nach eben jenem "Prinzip" der Verknüpfung von "Stilisierung, die die Wirklichkeit voraussetzt", und schöpferischem "Geist, der ihr seine Form gibt", das nach Camus' Auffassung unabhängig von der jeweils gewählten "Perspektive" den Roman zu einem Kunstwerk macht (vgl. Camus 1951: 306 f.).

Dabei gehen sozialistische Autoren freilich davon aus, dass ihre Werke auf diese Weise in der gesellschaftlichen Realität wirksame Gesetzmäßigkeiten, die im Alltag verborgen bleiben, sichtbar machen. Dagegen stellt Camus den fiktionalen Charakter der im Roman gestalteten Einheit des Lebenszusammenhangs heraus.

Hier wie dort ist es die Einheit der – im Falle Camus' existenzialistischen, bei Lukács sozialistischen – "Weltanschauung" (Lukács, s.o.), aus welcher der (echte oder nur imaginierte) sinnhafte Zusammenhang des realen Lebens abgeleitet wird. Die Position Camus' ist dabei allerdings die grundlegendere, da sich aus ihr allgemein das Bedürfnis nach einer einheitlichen Weltanschauung und einer entsprechenden literarischen Darstellung der Wirklichkeit herleiten lässt.

 

Die komplexe Bedeutung von "Mimesis" in der realistischen Literatur

 

Bei allen Diskussionen über die Frage des Verhältnisses zwischen Literatur und Realität schwingt auch immer wieder Aristoteles' Beschreibung der Kunst als Nachahmung der Natur mit. Dabei darf nicht übersehen werden, dass Aristoteles seinen Mimesis-Begriff insofern relativiert hat, als er ihm die Kategorien der "Poiesis" und der "Katharsis" an die Seite gestellt hat. Ebenso wichtig wie die künstlerische "Nachahmung" der Wirklichkeit sind ihm zufolge demnach die dichterische Schöpferkraft und die läuternde Wirkung des Kunstwerks auf das Publikum.

"Modern formuliert" handelt es sich damit hier, so Jörg Zimmermann (1996: 111), "um die Trias von poduktionsästhetischer, werkästhetischer und rezeptionsästethischer Fragestellung", die auch die Diskussion über das Verhältnis von Literatur und Realität bestimmt. Je nachdem, wie die einzelnen Aspekte des Kunstwerks gewichtet werden, stellt sich auch die Frage nach der im Kunstwerk enthaltenen bzw. von ihm wiedergegebenen Realität anders bzw. wird auf unterschiedliche Weise beantwortet.

Liegt die Betonung auf der werkästhetischen Ebene, so wird ex- oder implizit von der Möglichkeit einer literarischen Spiegelung der äußeren Realität ausgegangen. Steht hingegen der produktionsästhetische Aspekt im Vordergrund, so liegt der Akzent auf der Freiheit der künstlerischen Einbildungskraft, die mit den "Vor-Bildern" der äußeren Wirklichkeit souverän umgeht, sie sich also nach eigenem Ermessen aneignet und sie entsprechend umgestaltet.

Wer schließlich die rezeptionsästhetische Fragestellung in den Mittelpunkt stellt, möchte damit die Tatsache betonen, dass das literarische Werk seine jeweilige Realität stets erst im Akt des Lesens entfaltet. Wird dieser Aspekt von den Schreibenden selbst betont, so geht dies zumeist mit einer entsprechenden Anpassung der literarischen Ausdrucksweisen einher. Dies kann sich dann etwa in offenen Gestaltungsformen und Ansätzen zu einer Kommunikation mit den Lesenden niederschlagen.

Eine wichtige Differenzierung hat die Mimesis-Diskussion dadurch erfahren, dass der Naturbegriff von seiner anfänglichen Fokussierung auf die äußere Natur gelöst und auch auf die innere Natur des Menschen bezogen wurde. Philosophiegeschichtlich geht diese Entwicklung auf Spinozas Unterscheidung zwischen "natura naturans" und "natura naturata" – der schaffenden und der geschaffenen Natur – zurück. Eine entsprechende Modifizierung des Naturkonzepts begegnet u.a. in Goethes Diktum, wonach

 

"wir zuletzt beim Kunstgebrauche nur dann mit der Natur wetteifern können, wenn wir die Art, wie sie bei der Bildung ihrer Werke verfährt, ihr wenigstens einigermaßen abgelernt haben" (Goethe 1798: 44).

 

Auch Jean Pauls Auseinandersetzung mit dem aristotelischen Mimesis-Postulat, die er in der Frage zusammenfasst, ob es denn "einerlei" sei, "die oder der Natur nachzuahmen", gründet auf der Unterscheidung zwischen "äußere[r] und (…) innere[r]" Natur (vgl. Jean Paul 1804: 34 und 43). Für ihn ergibt sich daraus eine Erweiterung des Mimesiskonzepts, das er nun auf eben diese "doppelte Natur" (ebd.: 43) bezogen sieht. So kommt auch Wolfgang Preisendanz (1961/62: 458) zu dem Schluss, Jean Paul erkenne in der "wechselseitigen Spiegelung von objektiver und subjektiver Wirklichkeit (…) das eigentlich Poetische der sprachlichen Mimesis".

 

Poetischer und bürgerlicher Realismus

 

Dieser Diskurs bildet auch den Hintergrund für das Verständnis des Verhältnisses von Literatur und Realität bei den Autoren des poetischen Realismus, dessen theoretische Grundlagen Mitte des 19. Jahrhunderts von Otto Ludwig beschrieben wurden.6 Wenn etwa Ludwig betont, der Künstler ahme die Natur nicht bloß nach, sondern schaffe "die Welt noch einmal", als eine, "in der der Zusammenhang sichtbarer ist als in der wirklichen" und die "alle ihre Folgen in sich selbst hat" (Ludwig 1858: 148 f.)7, so klingt darin Goethes Einleitung in die Propyläen an. Dort heißt es:

 

"Indem der Künstler irgendeinen Gegenstand der Natur ergreift, so gehört dieser schon nicht mehr der Natur an, ja man kann sagen: dass der Künstler ihn in diesem Augenblick erschaffe, indem er ihm das Bedeutende, Charakteristische, Interessante abgewinnt oder vielmehr erst den höhern Wert hineinlegt." (Goethe 1798: 46).

 

Auch Theodor Fontane beruft sich für die Explizierung der theoretischen Grundlagen seiner literarischen Werke auf Goethe. Dessen "Zuruf" – "Greif nur hinein ins volle Menschenleben, / Wo du es packst, da ist's interessant" – bezeichnet er als "das Motto des Realismus" (Fontane 1853: 146). In Goethes Kunsttheorie angelegt ist dabei – wie das oben wiedergegebene Goethe-Zitat zeigt – auch Fontanes Zusatz, "die Hand, die diesen Griff" tue, müsse "eine künstlerische sein". Fontane begründet dies folgendermaßen:

 

"Das Leben ist doch immer nur der Marmorsteinbruch, der den Stoff zu unendlichen Bildwerken in sich trägt; sie schlummern darin, aber nur dem Auge des Geweihten sichtbar und nur durch seine Hand zu erwecken. Der Block an sich, nur herausgerissen aus einem größern Ganzen, ist noch kein Kunstwerk (…)" (ebd.).8

 

Indem sich Fontane (1853: 142) gegen den "nackte[n] prosaische[n] Realismus" ausspricht, dem "die poetische Verklärung" fehle, ergeben sich deutliche Berührungspunkte mit den Realismustheorien  von Camus und Lukács. Auch in diesem Fall wird literarischer Realismus nicht mit einer bloßen Abbildung der Wirklichkeit, sondern mit deren bewusster Gestaltung assoziiert.

Eine Besonderheit des poetischen Realismus ist dabei allerdings die von Fontane erhobene Forderung der "poetische[n] Verklärung", die in ähnlicher Form auch bei anderen Autoren des poetischen Realismus zu finden ist.9 Der Begriff mag zwar, wie Andreas Huyssen (1974: 51) meint, in erster Linie "die Eigenständigkeit der poetischen, durch das Medium der Sprache geschaffenen Wirklichkeit der Dichtung" bezeichnen. Dennoch enthält er offenkundig auch eine ideologische Komponente.

Dies ergibt sich daraus, dass die Schattenseiten des Lebens zwar nicht ausdrücklich aus der Literatur verbannt werden, jedoch darauf insistiert wird, sie in den von der Literatur geschaffenen sinnhaften Zusammenhang zu integrieren. Dadurch erhalten sie eine schicksalhafte, radikale Veränderungen ausschließende Färbung. Als Beleg kann hier auf eine Äußerung Fontanes verwiesen werden, in der es heißt, unter "Realismus" sei "vor allen Dingen (…) nicht (…) das nackte Wiedergeben alltäglichen Lebens, am wenigsten seines Elends und seiner Schattenseiten", zu verstehen. Es sei

 

"traurig genug, dass es nötig ist, derlei sich von selbst verstehende Dinge noch erst versichern zu müssen. Aber es ist noch nicht allzu lange her, dass man (namentlich in der Malerei) Misere mit Realismus verwechselte und bei Darstellung eines sterbenden Proletariers, den hungernde Kinder umstehen, oder gar bei Produktionen jener sogenannten Tendenzbilder (schlesische Weber, das Jagdrecht u. dgl. m.) sich einbildete, der Kunst eine glänzende Richtung vorgezeichnet zu haben" (Fontane 1853: 146).10

 

Der poetische Realismus weist so eine semantische Nähe zum Alltagsverständnis von "Realismus" auf, das durch eine Orientierung am Status quo gekennzeichnet ist: Jemand, der die Dinge "realistisch betrachtet", mag sich zwar durch ein feines Gespür für Wesen und Entwicklungsmöglichkeiten der gegebenen Strukturen auszeichnen. Er ist jedoch kein Visionär, der fähig bzw. willens wäre, in seinem Denken eine substanzielle Transformation des Ist-Zustands zu antizipieren.

Stattdessen werden die etablierten Verhältnisse in diesem Fall unausgesprochen mit scheinbar zeitlosen Werten und metaphysischen Idealen in Verbindung gebracht und so durchaus auch in ihrem Herrschaftsaspekt "verklärt".Der Tatsache, dass diese Verklärung im Falle des poetischen Realismus historisch mit der Phase der sich konsolidierenden bürgerlichen Gesellschaft zusammenhängt, trägt die als Synonym zu diesem Begriff gebrauchte Bezeichnung "bürgerlicher Realismus" Rechnung.

 

Formale Nähe von bürgerlichem und sozialistischem Realismus

 

Dem Wesen des sozialistischen Realismus scheint der Gedanke einer "Verklärung" der Realität auf den ersten Blick fremd zu sein. Dies gilt jedoch nur, solange es um die Funktion des sozialistischen Realismus als Grundlagentheorie für die Literaturgeschichte geht – wo er die Widerspiegelung sozialer Antagonismen in ihrer den historischen Entwicklungsprozess vorantreibenden Kraft in der Literatur thematisiert.

Als normative Theorie für die Produktion von Literatur weist der sozialistische Realismus dagegen ebenfalls eine Tendenz zur "Verklärung" der bestehenden Realität auf. Diese betrachtet er dabei freilich unter dem Aspekt der sich entwickelnden kommunistischen – statt, wie im poetisch-bürgerlichen Realismus, der sich konstituierenden bürgerlichen – Gesellschaft.

Mit dem bürgerlichen trifft sich der sozialistische Realismus auch in der Abgrenzung zu anderen literarischen Richtungen. So wird in beiden Fällen eine Literatur gefordert, die spüren lässt, dass es "zu allem künstlerischen Schaffen" "zunächst des Stoffes, oder sagen wir lieber des Wirklichen" bedarf (Fontane 1853: 146). Beide Spielarten realistischer Literatur setzen damit die äußerlich sichtbare, stofflich "greifbare" Realität mit dem Wirklichen an sich gleich. Auf die innere Wirklichkeit des Menschen gerichtete Schreibweisen, wie sie etwa in der romantischen Literatur praktiziert worden sind, lehnen sie folglich ab.11

Daneben grenzen sich aber sowohl der sozialistische als auch der bürgerliche Realismus auch vom Naturalismus ab, der aus ihrer Sicht zwar am "Stofflichen" ansetzt, dieses jedoch nicht aus der "Einheit" (Ludwig, s.o.) schaffenden Perspektive einer bestimmten "Weltanschauung" (Lukács, s.o.) darstellt. Beide erweisen sich damit als anti-modern in dem Sinne, dass sie es ablehnen, den Verlust des tradierten Sinn- und Ordnungsgefüges in der Moderne literarisch widerzuspiegeln. Stattdessen versuchen sowohl der bürgerliche als auch der sozialistische Realismus, eine neue "Einheit" – oder genauer: einen neuen Komplex einheitlicher Deutungsmuster der Wirklichkeit – an die Stelle der alten zu setzen.

Flauberts Bekenntnis, es fehle ihm "eine fundierte und umfassende Anschauung über das Leben", das Lukács (1936/48: 70) als "Ausdruck der allgemeinen Weltanschauungskrise der bürgerlichen Intelligenz nach 1848" interpretiert, ließe sich insofern gerade als Beleg für die Modernität dieses Autors ansehen. So merkt Flaubert in einem Brief an George Sand unzweideutig an, dass seiner Ansicht nach die alten ebenso wie die neuen Schlagworte "den geistigen Anforderungen der Gegenwart" nicht mehr entsprächen:

 

"Ich sehe keine Möglichkeit heute, weder ein neues Prinzip zu finden, noch die alten Prinzipien zu achten. Also ich suche diese Idee, von welcher alles Übrige abhängt, ohne sie finden zu können" (Flaubert, zit. nach ebd.).

 

Kennzeichen realistischer Schreibweisen

 

Unabhängig von der jeweils zugrunde liegenden Weltanschauung weisen realistische Schreibweisen somit in formaler Hinsicht einige Gemeinsamkeiten auf. Diese lassen sich – in einer ersten Annäherung an den Themenkomplex – wie folgt zusammenfassen:

 

1. "Herstellung des Ganzen"

 

Wer sich in der Literatur zum Realismus bekennt, strebt eine literarische Wiedergabe der außersprachlichen Realität an, die diese einem einheitlichen Deutungskonzept unterwirft und sie dadurch als organisches Ganzes konstituiert. In diesem Sinne stellt etwa Martin Walser (1972: 131) fest, "Schreiben" sei für ihn "Herstellung des Ganzen".

 

2. Das "Gesetz der Wirklichkeit" sichtbar machen

 

Der Versuch, die Wirklichkeit durch entsprechende "Stilisierung" (Camus, s.o.) bzw. "poetische Verklärung" (Fontane, s.o.) als "Einheit" (Camus, Ludwig, s.o.) darzustellen, geht häufig mit dem Anspruch einher, die "wahren Kräfte und Interessen im Elemente der Kunst" so widerzuspiegeln (Fontane 1853: 147), dass "das Gesetz des Wirklichen, welches über dessen bloß zufällige Erscheinung siegt", "sichtbar gemacht" wird" (Ludwig 1858: 149 f.).

Dieser Anspruch kann, wie im bürgerlichen Realismus, mit einem Interesse am Erhalt des gesellschaftlichen Status quo verbunden sein. Er kann jedoch auch umgekehrt dazu dienen, für Gesetzmäßigkeiten, die gesellschaftliche Missstände bedingen, zu sensibilisieren und zur Initiierung von Veränderungen zu motivieren. So hat Bertolt Brecht einmal von der Absicht gesprochen, durch realistische Darstellung "die Ursachen von Prozessen in die Reichweite der (Beeinflussbarkeit durch die) Gesellschaft zu stoßen" (Brecht 1940: 368).

 

3. Die Wirklichkeit als "funktionierendes System"

 

Unabhängig davon, ob mit der jeweiligen realistischen Schreibweise Veränderungen angestrebt werden oder das Bestehende verklärt wird, stellt der Realismus, wie Joseph Peter Stern hervorhebt,

 

"Menschen innerhalb eines funktionierenden Systems dar, innerhalb jener äußerst zerbrechlichen Sphäre, die wir das zivilisierte Leben nennen: der Rahmen seiner Darstellung wird durch mehr oder weniger vereinbarte Bestrebungen und Ziele gebildet. Wo dieser Rahmen zerbricht, jenseits aller auf Zeit und Raum angewiesenen Erfahrung, dort muss der Realismus anderen Gestaltungsweisen weichen" (Stern 1976: 25).

 

 

4. Epistemologische Naivität

 

Zwar steht für einen realistischen Autor die grundsätzliche Veränderbarkeit der Realität nicht in Frage. Was er jedoch laut Stern "implizite verneint, ist, dass es in der Welt mehr als eine Realität gibt und dass dies noch extra bewiesen werden muss" (ebd.: 26).

Der Realismus ist damit in doppelter Hinsicht "epistemologisch naiv" (ebd.: 25; vgl. auch Stern 1973: 63). Zum einen unterstellt er, "dass das subjektive Gesetz unserer Sinne und unseres Denkvermögens mit dem objektiven der Dinge übereinstimmt" (Otto Ludwig, zit. nach Huyssen 1974: 44). Es bedarf für ihn deshalb nur eines besonderen Blicks für die Gesetzmäßigkeiten des wirklichen Lebens, um die Einheit der Welt in allgemeingültiger Weise darstellen zu können.

Zum anderen leugnet bzw. übersieht der literarische Realismus, so Jürgen Becker (1963: 459), die Tatsache, dass "selbst die äußerste Faktentreue" noch einen "Konformismus mit dem Sinn" impliziert, "der an den Erscheinungen haftet". Er ignoriert also die Diskussion über den Grad, in dem die Sprache unser Denken und damit auch die Wahrnehmung der Wirklichkeit lenkt. Dies unterscheidet ihn radikal von absurden, grotesken und konkreten Schreibweisen, die diesen Zusammenhang – auf je unterschiedliche Weise – reflektieren.

Die letztgenannten literarischen Richtungen tragen der Tatsache Rechnung, dass bei allen Veränderungsbestrebungen stets auch die Strukturen des Denkens und das (sprachliche) Material, in dem sich dieses vollzieht, mitbedacht und entsprechend literarisch reflektiert werden müssen – denn andernfalls besteht die Gefahr einer objektiv affirmativen Wirkung bei subjektiv kritischer Absicht. Dagegen sehen realistische Autoren wie Martin Walser eine solche Argumentationsweise als Vorwand für den Rückzug des Schriftstellers aus der gesellschaftlichen Verantwortung an (vgl. Walser 1972: 121 ff.).

Im Unterschied zu Vertretern der oben genannten literarischen Richtungen hegt der Realismus folglich auch keinen Zweifel an der Möglichkeit des Romans – der schon durch seine in sich abgeschlossene Form die Möglichkeit einer einheitlichen Deutung der Wirklichkeit unterstellt. Realistische Schreibweisen sind vielmehr eng verbunden mit der "große[n], epische[n] Form (…), die den ausführlichen Lesevorgang verlangt, durch den sich der Leser ein zunehmend konzentrierteres Bild macht von dem, was er liest" (Schmidt 1976: 46).

 

5. Mittlere Erzähldistanz

 

Um seine These einer einheitlichen Deutungsmöglichkeit der Wirklichkeit zu stützen, muss der Realismus nach Joseph Peter Stern (1976: 24) "seinen Gegenstand (…) in eine mittlere Distanz rücken".

Wird eine zu nahe Distanz gewählt, wie etwa in manchen grotesken Darstellungsformen, so entstehen verfremdende Effekte, die das Eigenleben der Dinge betonen und damit ihre Subsumierbarkeit unter den angestrebten ganzheitlichen Deutungsentwurf konterkarieren. Bei einer sehr weiten Entfernung von dem beschriebenen Geschehen – wie etwa in den Montageromanen Wolfgang Koeppens – rückt dagegen die "Mannigfaltigkeit" des Wirklichen in den Vordergrund, die im Realismus ja gerade in der "Einheit" des künstlerischen Entwurfs aufgehoben sein soll (Ludwig, s.o.).

Dabei bringt es allerdings die Logik des künstlerischen Schaffensprozesses mit sich, dass realistische Schreibweisen in letzter Konsequenz sowohl zu einem zu nahen Abstand als auch zu einer zu weiten Entfernung von den Dingen führen können. Ersteres kann aus dem Bedürfnis resultieren, auch die Mikrostrukturen der Wirklichkeit vollständig zu erfassen, Letzteres aus dem Bestreben, die Dynamik der sich verändernden Realität in der Moderne adäquat darzustellen.

 

6. Unterscheidungskriterien für realistische Schreibweisen

 

Aus dem Gesagten folgt, dass sich realistische Schreibweisen unter zwei Aspekten voneinander abgrenzen lassen – nämlich zum einen nach der jeweils zugrunde gelegten, die Einheitlichkeit der Darstellung bedingenden weltanschaulichen Perspektive, und zum anderen nach dem Grad und der Art und Weise, durch die diese Einheitlichkeit mit Brüchen versehen und so in Frage gestellt wird.

Dabei ist auch zwischen der Ebene der Darstellung und der Ebene des implizierten Urteils zu unterscheiden. Es muss demnach, so Stern, jeweils gefragt werden, inwieweit "offensichtlich realistische Darstellungen nicht-realistischen (…) Urteilen unterzogen werden". Dies ist etwa in manchen Werken der "Schwarzen Romantik" der Fall. Umgekehrt kann allerdings auch, wie etwa im utopischen Roman, von "nicht-realistischen Beschreibungen" ausgehend zu einer "realistischen Bewertung" der Wirklichkeit gelangt werden (vgl. Stern 1976: 27).

2. Historischer Realismus

 

 

Steckbrief zum historischen Realismus

 

"Historischer Realismus" bezeichnet in der Literatur die Hinwendung zu länger zurückliegenden Epochen der Geschichte, die entweder als Gesamtbild oder unter bestimmten Aspekten beschrieben werden. Im Mittelpunkt der Handlung können dabei fiktive ebenso wie reale Personen stehen. In letzterem Fall wird allerdings keine wissenschaftliche Biographie angestrebt. Stattdessen können die historisch belegten Lebensdaten um erfundene Ereignisse und spekulative Deutungen ergänzt sowie die Innenperspektive der betreffenden Personen in die Darstellung miteinbezogen werden.

Die Schreibweise des historischen Realismus berührt sich insofern auch mit dem biographisch orientierten Schreiben. Allerdings kommt diesem, wie Helmut Scheuer (1982: 25) herausstellt, immer auch die Funktion einer "individuellen Identitätsbestimmung" zu. Dagegen steht im Falle des historischen Realismus eher der exemplarische Charakter einer Person für ihre Zeit bzw. für eine bestimmte Problemkonstellation, die an der jeweiligen Lebensgeschichte veranschaulicht wird, im Vordergrund.

Angesichts der meist recht umfangreichen Schilderungen, die notwendig sind, um eine vergangene Epoche literarisch lebendig werden zu lassen, überwiegt bei den entsprechenden Schreibweisen die Romanform. Die Begriffe "historischer Realismus" und "historischer Roman" ergeben sich so organisch auseinander: Dieser stellt die Form dar, in der jener sich idealtypisch manifestiert.

 

Funktion des historischen Realismus bei Bertolt Brecht

 

In der Nachkriegszeit beruht die Bedeutung des historischen Romans insbesondere auf der Häufigkeit dieses Genres unter den Werken, die während der Herrschaft der Nationalsozialisten im Rahmen der äußeren und inneren Emigration entstanden sind. Die literaturtheoretische bzw. "literaturpolitische" Begründung für dieses Phänomen lieferte Bertolt Brecht bereits in seinem 1934 entstandenen Essay Fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit (unter den Bedingungen der Diktatur). Die "List, die Wahrheit unter vielen zu verbreiten", illustrierte er darin unter anderem an der Praxis, die Kritik am herrschenden Regime in historische Stoffe zu kleiden (vgl. Brecht 1935: 81 ff.).

In Anlehnung an die Fabeln des griechischen Dichters Äsop spricht Brecht in dem Zusammenhang auch von einer "äsopischen Schreibweise". Gemeint ist damit eine Literatur, bei der sich unter einer scheinbar harmlosen Oberfläche eine Vielfalt komplexer – und im konkreten Fall eben auch regimekritischer – Deutungsmöglichkeiten verbirgt.

Brecht selbst nutzte diese "List" beispielsweise in dem Theaterstück Leben des Galilei (entstanden 1938/39; Uraufführung Zürich 1943), das neben anderen Fragen auch die Möglichkeit des Widerstands gegen die Zensur thematisiert. In der Prosa bediente er sich dieser Schreibtaktik etwa in dem Fragment gebliebenen Roman Die Geschäfte des Herrn Julius Cäsar (entstanden 1937 – 1939; Erstdruck 1957).

In Brechts Fall war die Wirkung dieser Schreiblist freilich sehr begrenzt. Denn seine Werke konnten natürlich im Dritten Reich weder gedruckt noch aufgeführt werden und dienten so in erster Linie der Mobilisierung des Widerstands im Ausland.

In anderen Werken Brechts, in denen historische Stoffe als Folie für die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus dienen, stand die Katalysatorfunktion bei der späteren Vergangenheitsbewältigung im Vordergrund. Dies gilt etwa für sein 1941 entstandenes, aber erst 1958 uraufgeführtes Stück über den Aufhaltsamen Aufstieg des Arturo Ui, in dem die nationalsozialistische Herrschaft im US-amerikanischen Gangstermilieu der 1920er Jahre gespiegelt wird.

 

Historischer Realismus in der Literatur der inneren und äußeren Emigration

 

Auch dort, wo es Autoren der inneren Emigration gelang, ihre in das Gewand eines historischen Romans gekleidete Regimekritik im nationalsozialistischen Deutschland zu veröffentlichen, blieb die Wirkung allerdings zweifelhaft. Ein Beispiel dafür ist Werner Bergengruens Roman Der Großtyrann und das Gericht (1935), der von einem tyrannischen Herrscher der Renaissance handelt.

Das Werk ließ sich zwar als Kritik an der nationalsozialistischen Diktatur deuten. Die nationalsozialistischen Machthaber verstanden den Roman indessen ganz anders und lobten ihn für die überzeugende Darstellung der "Herrengestalten der Renaissance".12 Diese Vereinnahmung des Werkes für den nationalsozialistischen Führerkult neutralisierte weitgehend das faschismuskritische Potenzial des Werkes. Die bei der Übertragung eines historischen Stoffes auf die Gegenwart unausweichliche Deutungsoffenheit birgt eben stets die Gefahr einer konträr zur Schreibintention liegenden Rezeption in sich.

Für den Rückgriff auf historische Stoffe gab es allerdings noch andere Gründe als den Wunsch nach einer unmittelbaren Widerstandswirkung. Insbesondere konnte der historische Roman auch ein Mittel der Selbstvergewisserung in einer fremdkulturellen Umgebung sein.

Alfred Döblin sprach vor diesem Hintergrund sogar von einem "Zwang zum historischen Roman", der so "in allen Emigrationen" bestehe: "Wo bei Schriftstellern die Emigration ist, ist auch gern der historische Roman".

Der Autor begründete dies damit, dass der im Exil lebende Schriftsteller aus dem "Kraftfeld" seines Heimatlandes zwar nicht geistig, wohl aber "physisch (…) entlassen und in kein neues eingespannt" sei. Ein "großer Teil des Alltags", der ihn in dem neuen Land umgebe, bleibe ihm gegenüber für lange Zeit "stumm". Neben diesem "Mangel an Gegenwart" sei die Hinwendung zum historischen Roman in der Emigration jedoch auch in dem Wunsch begründet,

 

"seine historischen Parallelen zu finden, sich historisch zu lokalisieren, zu rechtfertigen, (…) sich zu besinnen, (…)  sich zu trösten und wenigstens imaginär zu rächen" (Döblin 1936: 184).

 

Möglichkeiten und Grenzen historischer Romane in der NS-Zeit

 

An der Beliebtheit historischer Romane gab es in der literarischen Exilgemeinde selbst teils heftige Kritik. So hielt Kurt Hiller den entsprechenden Autoren 1938 vor, Hitler werde "übermorgen Kaiser von Europa sein, weil ihr heute geldgierig und feige vor der Forderung des Tages flieht" (Hiller 1938: 237).

Allerdings ging es ja in der Exilliteratur ja nie darum, historische Stoffe um ihrer selbst willen aufzugreifen. So sah auch Döblin ihre literarische Nutzung nur dann als gerechtfertigt an, wenn "das Feuer einer heutigen Situation in die verschollene Zeit hineingetragen" werde (Döblin 1936: 182).

Ähnlich bekräftigte Georg Lukács (1938: 240 f.) die Möglichkeit, mit Hilfe des historischen Romans "die weltumwandelnde Wirksamkeit der humanistischen Ideale gestaltend auf[zu]zeigen". Dadurch könne zum einen "ein Gegenbild zur Barbarei des 'Dritten Reiches'" geformt und zum anderen diese Barbarei in historisch-verfremdender Verkleidung vor Augen geführt und dadurch entlarvt werden.

Beides sah Lukács in exemplarischer Weise in Heinrich Manns Roman über Die Jugend des Henri Quatre (1935)13 verwirklicht. In dem König werde, so Lukács, ein Muster an humanistischer Toleranz vorgeführt und gleichzeitig "in der Figur des Herzogs von Guise (…) in manchen Szenen nichts anderes als ein satirisches Bild des 'Führers' und seiner demagogischen Mittel, auf das Volk einzuwirken", gezeichnet (Lukács 1938: 240).

Das Dilemma der im Exil geschriebenen historischen Romane bestand freilich darin, dass sie ihre aufklärerische Funktion angesichts der selbst auf illegalem Wege kaum möglichen Einfuhr der betreffenden Werke nach Deutschland kaum erfüllen konnten. So ist die Geschichte der im Exil entstandenen historischen Romane in erster Linie eine Geschichte ihrer Rezeption nach 1945 – die allerdings, speziell in Westdeutschland, lange Zeit eher eine Nicht-Rezeption war.

Daneben ist jedoch zu bedenken, dass für nicht wenige Autoren das Exil keineswegs mit dem Zusammenbruch der nationalsozialistischen Herrschaft zu Ende war. Dies lag zum einen an der Furcht unter den westlichen Alliierten, die kritischen Exilautoren könnten die angestrebte Entwicklung der Westzonen zu einem kapitalistischen Gesellschaftsmodell hintertreiben. So wurde in nicht wenigen Fällen heimkehrwilligen Emigranten die Einreise in die westlichen Besatzungszonen verweigert.14

Zum anderen fühlten sich einige Emigranten mittlerweile aber auch den Exilländern stärker verbunden als der alten Heimat. So nahm etwa Oskar Maria Graf 1957 die US-amerikanische Staatsbürgerschaft an. Er begründete dies u.a. mit einem in Deutschland "bereits latent gewordenen Antisemitismus" (Graf 1963: 61). Als ein der jüdischen Kultur besonders verbundener und zwei Mal mit jüdischen Frauen verheirateter Autor war dies für ihn auch persönlich belastend.

Ähnlich kritisierte Kurt Pinthus (1963: 133) das "offensichtliche Wuchern eines Neo-Nazismus, der eigentlich der Alt-Nazismus ist".Der Wegbereiter und Theoretiker des literarischen Expressionismus lehrte nach Ende des Zweiten Weltkriegs Theatergeschichte in New York und kehrte erst 1967, acht Jahre vor seinem Tod, nach Deutschland zurück.

 

Äsopische Schreibweisen im historischen Roman nach 1945

 

Wer im Exil blieb, hielt auch nach 1945 nicht selten am historischen Roman fest. Dabei wurde dieser nun allerdings mitunter auch dafür genutzt, sich kritisch mit der Situation in der neuen Heimat auseinanderzusetzen.

Ein Beispiel dafür ist Lion Feuchtwangers Roman Goya oder Der arge Weg der Erkenntnis (1951), der den "Weg" des spanischen Malers vom Hofmaler zur "Erkenntnis" der Notwendigkeit politischer Stellung- und Parteinahme für die Unterdrückten nachzeichnet.15 Der Roman lässt sich zunächst auf das Verhalten der Intellektuellen im Nationalsozialismus beziehen. Insbesondere Goyas Erfahrungen mit der Inquisition verweisen jedoch auch auf die amerikanischen McCarthy-Tribunale zur Bekämpfung "unamerikanischer Umtriebe" ("Un-American Activities Committees").

Ein neuer Bedeutungskontext ergab sich für den historischen Roman nach 1945 in der DDR. Hier bot er die Möglichkeit, in Anknüpfung an Brechts Modell der "äsopischen Schreibweise" (s.o.), die Zensur zu umgehen und sich kritisch mit den gegebenen Verhältnissen auseinanderzusetzen.

Dies machte sich beispielsweise Stefan Heym zunutze, der die NS-Zeit im amerikanischen Exil verbracht und dort auch die US-amerikanische Staatsbürgerschaft angenommen hatte. In der McCarthy-Ära wegen angeblicher "unamerikanischer Umtriebe" diskreditiert, kehrte er 1953 nach (Ost-)Deutschland zurück.

Die realsozialistische Politik in der DDR entsprach jedoch keineswegs Heyms Ideal einer sozialistischen Republik. Ein Ausdruck dieses Fremdheitsgefühls in der alten, neuen Heimat war auch die Tatsache, dass er seine Werke zunächst weiter in englischer Sprache verfasste.

Tendenzen einer unterschwelligen Regimekritik – im Sinne von Brechts "äsopischer Schreibweise" – sind bereits in Heyms Roman über den Badischen Aufstand von 1849 zu beobachten (Die Papiere des Andreas Lenz, 1963;in der Bundesrepublik 1965 u.d.T. Lenz oder Die Freiheit erschienen). Dieser setzte sich allerdings noch eher allgemein mit den Entstehungsbedingungen demokratischer und sozialistischer Ideen in Deutschland auseinander.

Anders ist dies bei Heyms Werk über die Entstehung der deutschen Arbeiterbewegung, die der Autor im Spiegel des letzten Lebensjahrs Ferdinand Lassalles reflektiert (Lassalle, 1969). Heym, der selbst jüdische Wurzeln hatte, kritisiert hier im Medium des Arbeiterführers antisemitische Tendenzen in der frühen deutschen Arbeiterbewegung, speziell bei Marx und Engels. Die Herablassung, mit der beide in dem Roman auf Lassalle Bezug nehmen, lässt sich zudem allgemein als Skepsis gegenüber der realen Umsetzung des sozialistischen Humanitätsideals deuten.

Der Roman durfte folglich in der DDR auch erst 1974 erscheinen, in der kurzen Tauwetterperiode, die auf den Wechsel von Walter Ulbricht zu Erich Honecker an der Staatsspitze folgte. Fünf Jahre zuvor hatte Heym das Werk allerdings bereits in der Bundesrepublik veröffentlicht. Da er sich damit über das Publikationsverbot hinwegsetzte, wurde er in der DDR zu einer Geldstrafe verurteilt.

Das zentrale Thema von Heyms historischen Romanen und Erzählungen ist der "immerwährende Streit zwischen Geist und Macht" (Jäger 1994: 136).16 Exemplarisch hierfür ist die Erzählung Die Schmähschrift oder Königin gegen Defoe (1970), die im Anschluss an eine anonyme Schrift des britischen Satirikers (The shortest way with the dissenters)die Situation des Dissidenten reflektiert.

Dieselbe Grundthematik liegt auch dem König David Bericht (1972) zugrunde. Am Beispiel des biblischen Königs kritisiert der Roman verklärend-propagandistische Tendenzen in der historischen Überlieferung. Das Werk – das auf der Fiktion eines Berichts beruht, den König Salomo über seinen Vater, König David, anfertigen lässt – spielt unverkennbar auf die Unterdrückung unliebsamer Wahrheiten durch die sozialistische Geschichtsschreibung an.

In seinem Roman Ahasver (1981), der Schreibweisen des historischen Realismus mit phantastischen Erzählformen verbindet, kehrt Heym diese Perspektive um und fragt nach der produktiven Kraft des Dissidententums. Die beiden Protagonisten – Luzifer und der "ewige Jude" Ahasver, beide gefallene Engel – repräsentieren zwei unterschiedliche Konsequenzen des Herausfallens aus der Schöpfung. Letzteres ist dabei gleichbedeutend mit dem Verlust des Glaubens an deren Vollkommenheit, der bei Heym allgemein eine Chiffre für den Glauben an die Vollkommenheit einheitlicher Gesellschafts- und Daseinsentwürfe ist.

Luzifer deutet jeden Versuch einer Veränderung des Gegebenen lediglich als Herauszögerung des unvermeidlichen Zusammenbruchs der Schöpfung – und forciert diesen deshalb. Dagegen sucht Ahasver nach möglichen Gegenentwürfen zum ursprünglichen Schöpfungsentwurf und tritt für die produktive, an utopischer Veränderung orientierte Auflehnung gegen diesen ein. Der Roman beruht damit auf dem Gedanken, dass, so Manfred Jäger, "die Menschheit nur gerettet werden kann durch die Ketzer, die Rebellen, die dem Weltlauf, dem gedankenlos kurzatmigen Pragmatismus widerstehen" (Jäger 1994: 137).

Diese offen zum Ausdruck gebrachte Skepsis gegenüber von oben verordneten Glaubenssätzen und doktrinärem Denken jedweder Art hatte zur Folge, dass Heyms Bücher in der DDR nur noch mit Verzögerung oder gar nicht mehr erscheinen konnten. Er selbst war zunehmend Repressionen ausgesetzt. Diese gipfelten – nach seiner Unterzeichnung der Petition gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns (1976) – schließlich in seinem Ausschluss aus dem Schriftstellerverband.

 

Postmoderne historische Romane

 

Seit Mitte der 1980er Jahre sind eine Reihe von historischen Romanen veröffentlicht worden, die deutliche Anklänge an die postmoderne Theoriebildung aufweisen. Deutlich wird dies insbesondere

 

an einem neuen, spielerischeren Umgang mit der Vergangenheit;

 

an einer Mehrfachcodierung, die es erlaubt, die Texte auf mehreren Ebene zu lesen und so auch unterschiedliche Leserschichten anspricht;

 

an vermehrten intertextuellen Bezügen, welche die Texte in einen komplexen Verweisungszusammenhang stellen;

 

an selbstreferentiellen Elementen, durch welche die Fiktion des historischen Tableaus bewusst durchbrochen wird. Aus der literarischen Spiegelung eines historischen Geschehens wird so eine "historiographische Metafiktion" (vgl. Hutcheon 1988).

 

Die entsprechenden Romane lassen sich damit lediglich an ihrer Oberfläche dem literarischen Realismus zuordnen. Sie beziehen sich zwar auf eine klar identifizierbare Realität, von der zudem in weitgehend konventioneller Weise erzählt wird. Gleichzeitig wird die Gestalt dieser Realität jedoch durch die Einfügung phantastischer Elemente und die Vermischung von Zeitebenen verfremdet.

Das bewusst traditionelle, teils sogar anachronistische Erzählverhalten erhält dadurch einen anderen Sinn: Vor dem Hintergrund des Einbruchs des Außergewöhnlichen in die Realität erscheint es als bewusste Persiflage des im Alltag üblichen Hinwegsehens bzw. "Hinwegredens" über die Brüche und Grenzen der tradierten Wirklichkeitssicht.

 

Drei beispielhafte Romane

 

Drei besonders erfolgreiche Beispiele für diese Art des Erzählens sind die Romane Das Parfum von Patrick Süskind (1985), Schlafes Bruder von Robert Schneider (1992) und Die letzte Welt von Christoph Ransmayr (1988). Die beiden erstgenannten Werke sind auch verfilmt worden. Hier zunächst ein Kurzporträt der drei Romane:

 

In dem in der Mitte des 18. Jahrhunderts in Frankreich spielenden Roman

Das Parfum

  geht es um einen Parfumeur mit Namen Jean-Baptiste Grenouille. Er hat keinen eigenen Geruch, verfügt dafür aber über einen außergewöhnlich differenzierten Geruchssinn. Dieser ermöglicht es ihm, ein Verfahren zu entwickeln, mit dem er menschliche Gerüche zu einem Parfum destillieren kann. Zur Gewinnung dieser Gerüche wird er zum Serienmörder und tötet insgesamt 24 junge Frauen.

Als er beim letzten Mord gefasst und bald darauf zur Hinrichtungsstätte gebracht wird, beträufelt er sich dort mit dem von ihm hergestellten Duft. Daraufhin entbrennt die Menge in heftigem Begehren zu dem Delinquenten, in dem sie ihre geheimsten Wünsche verwirklicht sieht, und verschlingt ihn in einem Akt von erotischem Kannibalismus.

 

Robert Schneiders Roman

Schlafes Bruder

spielt Anfang des 19. Jahrhunderts in einem Bergdorf in Vorarlberg, der Heimat des Autors. Auch sein Protagonist ist gleichermaßen vom Leben gezeichnet wie ausgezeichnet. Er verfügt über einen außergewöhnlich differenzierten Gehörsinn, leidet gleichzeitig jedoch unter einer Gelbfärbung der Iris, die ihm in seinem Dorf Spottnamen einträgt.

Angespornt von der Liebe zu seiner Cousine, entwickelt er außergewöhnliche Fähigkeiten als Sänger und später als Organist. Gleichzeitig leidet er jedoch an seiner unerfüllten Liebe. Als es ihm gelingt, Gott diese Liebe aus seinem Herzen löschen zu lassen, verliert er jedoch auch seine Begeisterung für die Musik. So wirft er sich am Ende dem "Bruder des Schlafes", dem Tod, in die Arme, indem er sich systematisch mit Tollkirschen vergiftet.

 

Christoph Ransmayrs Roman

Die letzte Welt

greift die historische Tatsache der Verbannung des römischen Dichters Ovid nach Tomi am Schwarzen Meer – d.h. ans "Ende" des damals existierenden Römischen Reiches – auf. Dies wird mit der Fiktion verbunden, dass Ovid – Publius Ovidius Naso, im Roman Naso genannt – vor seiner Abreise aus Rom sein berühmtestes Werk – die

Metamorphosen

– verbrannt habe.

Als sich in Rom das Gerücht verbreitet, der Dichter sei tot, begibt sich der Protagonist – ein Bewunderer Nasos – nach Tomi, um dort nach dem Dichter und einer eventuellen Abschrift der Metamorphosen zu suchen. Dabei stellt er fest, dass die Welt Tomis der Welt der Metamorphosen entspricht, Naso diese also dort als eigene Wirklichkeit erschaffen hat.

 

Kunst und Leben – eine dynamische Beziehung

 

Das zentrale Thema der Romane von Patrick Süskind und Robert Schneider sind die Konflikte, die aus dem Aufeinandertreffen von Kunst und Alltagsleben resultieren können. Als intertextueller Bezugspunkt erscheint hier die Literatur der Romantik. So verursacht etwa in E.T.A. Hoffmanns Erzählung Rat Krespel (1818) der titelgebende Protagonist den Tod seiner die Kunst symbolisierenden Tochter, indem er sie den Menschen zu entziehen versucht. Gleichzeitig mit ihrem Tod springt jene Geige entzwei, die für ihn das Geheimnis der Kunst barg: Weil er sich als Künstler dem Leben verweigert hat, ist er dazu verdammt, fortan auf künstlerische Tätigkeit zu verzichten. Andererseits stirbt seine Tochter genau in dem Augenblick, da sie eine Verbindung mit dem Leben – in Gestalt eines geliebten Mannes – eingeht.

In den Romanen von Süskind und Schneider ist das konfliktreiche Verhältnis von Kunst und Alltagsleben schon in der Persönlichkeit der Protagonisten angelegt. Beide verfügen über außergewöhnliche, ans Übersinnliche grenzende Fähigkeiten. Diese führen jedoch in beiden Fällen nur zu flüchtigen Ergebnissen – zu Duftstoffen bzw. improvisierten, nicht schriftlich fixierten Musikstücken. Ihr außergewöhnlicher innerer Reichtum geht zudem mit einer Entstellung ihres Äußeren einher: Das ausgezeichnete Genie ist zugleich vor den Menschen "gezeichnet" durch seine Begabung, die ihm ein normales Leben unmöglich macht.

Auch sehnen sich beide Protagonisten danach, von anderen Menschen geliebt zu werden. Die entsprechenden Versuche, den Menschen nahezukommen, bleiben jedoch hier wie dort erfolglos. Aus Verzweiflung hierüber führt ihre marginalisierte Existenz bei beiden zu einer heftigem Abneigung gegenüber Gott.

Beide gehen am Ende freiwillig in den Tod, wobei sie sich jeweils auf kultisch-religiöse Weise das Leben nehmen. Süskinds Protagonist macht sich – christusgleich – selbst zur Liebesspeise für andere. In Schlafes Bruder nimmt der Protagonist ein Märtyrerschicksal auf sich, indem er sich selbst mit Tollkirschen zu Tode foltert.

Sowohl Süskinds Grenouille als auch Schneiders Elias scheitern somit bei ihrem Versuch, Kunst und Leben miteinander in Einklang zu bringen. Elias könnte sein Orgelspiel zwar weiterentwickeln, doch wäre dies gleichbedeutend mit einem Verzicht auf die Erfüllung seiner Liebe zu seiner Cousine. Denn zwar muss er sie lieben, um musikalisch kreativ sein zu können. Findet diese Liebe aber Erfüllung, so entfällt der entscheidende Antrieb zur künstlerischen Betätigung. So verliert er auch die Lust am Orgelspiel, nachdem Gott ihn von seiner Liebe befreit hat.

Grenouilles Scheitern lässt sich sowohl von der Kunst als auch vom Leben aus betrachten: Von der Kunst her gesehen, gelingt es ihm zwar, das Leben in seine Kunstwerke zu bannen (sprich den Duft der Mädchen in Parfum zu verwandeln), doch muss er jenes dafür vernichten. Vom Leben aus betrachtet, dringt er mit seiner (Parfum-)Kunst zwar zu den Menschen vor und kann sie damit in einen Rausch versetzen. Auf ihn selbst bleibt seine Kunst jedoch ohne Wirkung. Denn er hat sie ja erdacht und komponiert, er durchschaut ihre Gestaltungsprinzipien, und so kann er auch nicht rauschhaft von ihr ergriffen werden – zumal er auch den schauerlichen Preis kennt, den er für seine Kunstwerke zahlen musste.

Die Kunst erscheint damit hier in einem doppelten Sinn als "Verbrechen" am Leben. Zum einen beraubt sie dieses seiner chaotischen Eigendynamik, indem sie es in eine künstlerische Form bannt. Zum anderen entfesselt sie in jenen, auf die sie trifft, aber eben jene unkontrollierbare Eigendynamik, die sie dem Leben zuvor abgerungen hat.

Daraus ergibt sich die Gefahr einer mit ästhetischen Mitteln erzeugten Massensuggestion, bei der die Kunst für die Selbstinszenierung totalitärer Regime missbraucht wird. Wie Süskind dies in der Hinrichtungsszene andeutet, verweist Schneider auf diese Gefahr durch die rauschhafte Verzückung, welche die Menschen bei einem Orgelkonzert seines Protagonisten ergreift.

 

Ovids Metamorphosen und die Dialektik der Aufklärung

 

Ein zentrales Thema von Ransmayrs Roman Die letzte Welt ist der Problemkomplex der Dialektik der Aufklärung, symbolisiert durch die Gegenüberstellung der Städte Rom und Tomi.

Rom erscheint in dem Roman als "Reich der Notwendigkeit und der Vernunft" (Ransmayr 1988: 287). Es steht stellvertretend für einen rational organisierten Staat, der "die Phantasie (...) zur Vernunft gebracht" hat, in dem Gehorsam und Verfassungstreue wichtiger sind als Vorstellungskraft und Kreativität und in dem die innerseelischen Bilder "zu Denkmälern und Museumsstücken erstarrt" sind (ebd.: 94).

Rom erscheint demnach als lebloser Staat, während in Tomi der Karneval noch die Kraft der alles verwandelnden Metamorphosen entfalten kann. Daher ist Tomi dem Dichter auch näher als das phantasielose, bürokratisch-technisierte Rom.

Allerdings ist Tomi kein rein positives Gegenbild zu Rom: Nur noch die Schatten der einst lebendigen Mythen sind in ihm zu finden, grölende Betrunkene sind an die Stelle der Priester und Dichter getreten. Unter diesem Blickwinkel ließe sich Tomi auch als Abbild Roms auffassen. Es stünde dann für die dort verdrängte, archaisch-irrationale Seite des Menschen, die – eben weil sie verdrängt worden und damit bewusster Verarbeitung nicht mehr zugänglich ist – notwendig als traumähnliches Zerrbild erscheint.

Als Folge dieses Verdrängungsprozesses ist der auf rationalen Normen und Gesetzen gegründete römische Staat in seinem konkreten Handeln nicht mehr vernünftig, sondern willkürlich und tendenziell menschenfeindlich. Die sukzessive Erstarrung, die damit einhergeht, bringt zugleich eine zunehmende Aggressivität nach außen hin mit sich: Weil er sich selbst nicht mehr unter Kontrolle hat, fühlt sich der Staat verunsichert und sieht sich – per Projektion – von allen Seiten von Feinden umstellt.

Der auf die Vernunft gegründete Staat wird so immer unvernünftiger und erschwert den in ihm lebenden Menschen das Zusammenleben, anstatt ihnen dieses zu erleichtern. Die absolut gesetzte Vernunft wird so mit dem Bedürfnis einer totalen Kontrolle des öffentlichen Lebens assoziiert, deren logische Konsequenz eine totalitäre, starren Normen unterworfene Gesellschaftsform ist.

Die totalitären Tendenzen des Staates finden dabei eine Parallele in der zunehmenden Verrohung des Volkes: Menschen, die ihr inneres Leben und ihre Phantasie abgetötet haben, werden hart und rücksichtslos gegenüber anderen. Sie führen kein eigenständiges Leben mehr, sind bloß noch eine amorphe Masse, die sich den ebenso blindwütig agierenden Führern bereitwillig unterwirft.

Als zusammenfassende Personifizierung dieser Entwicklungen erscheint in dem Roman eine Figur, die in  typisch postmoderner Manier die gewählte Kulisse durchbricht: die Gestalt von "Thies dem Deutschen", die Ransmayr in Anlehnung an den römischen Gott der Unterwelt (Dis, lat. "Der Reiche") konzipiert hat.In seiner Erinnerung mischen sich Kriege verschiedener Epochen zu einem einzigen, fortwährenden Kampf aller gegen alle (vgl. ebd.: 265 f.).

Bei seiner Flucht aus der Armee ist Thies so schwer verwundet worden, dass ihm "die Rippen seiner linken Seite wie gebrochene Pfeile aus dem Fleisch gezogen werden mussten" und nun "ein ungeschütztes Herz" (ebd.: 259) in ihm schlägt. Wie die mit seiner eigenen Gattin namensgleiche Gemahlin des Unterweltsgottes, Proserpina, steht er seitdem stets an der Schwelle zum Tod. Dies befähigt ihn allerdings auch dazu, heilende Salben anzurühren, also gewissermaßen als Mittler zwischen Leben und Tod zu fungieren.

Seine heilende Tätigkeit führt er jedoch ohne innere Überzeugung aus. Denn seine jahrelange Beteiligung an Kriegen hat in ihm die Erkenntnis reifen lassen, "dass den Lebenden nicht mehr zu helfen war, dass es keine Grausamkeit und keine Erniedrigung gab, die nicht jeder von ihnen in seinem Hunger, seiner Wut, Angst oder bloßen Dummheit verüben und erleiden konnte". Thies – der in Tomi auch die Funktion des Totengräbers ausübt – zieht deshalb die Toten den Lebenden vor:

 

"Allein in den Gesichtern der Toten glaubte er manchmal einen Ausdruck der Unschuld zu entdecken, der ihn rührte und den er mit bitteren Essenzen zu konservieren suchte, bis er die Schreckendes Verfalls mit Erde und Steinen bedeckte" (ebd.: 265).

 

Als Gegenmittel gegen diesen radikalen Skeptizismus erscheint in dem Roman eben jene Welt, vor deren Hintergrund sich die gesamte Handlung abspielt: die dichterische Welt der Metamorphosen. Indem der Protagonist des Romans seine Suche nach dem Dichter der Metamorphosen am Ende damit beschließt, dass er selbst in deren Welt eintritt, bekundet er seinen Willen, die Welt künstlerisch-kreativ zu gestalten, anstatt seiner Erstarrung in dieser passiv zuzuschauen. Der erste Schritt dazu ist es, die Wandelbarkeit des eigenen Ichs – in der Terminologie der Postmoderne: die Pluralität der eigenen Seinsmöglichkeiten – zu entdecken.

3. Zeithistorischer Realismus

 

Steckbrief zum zeithistorischen Realismus

 

Der zeithistorische Realismus wird hier neben dem historischen und dem zeitkritischen Realismus als zusätzliche Kategorie eingeführt. Mit dem historischen Realismus teilt er die Hinwendung zur Vergangenheit, wobei seine Stoffe jedoch immer aus der jüngeren Vergangenheit stammen.

Darüber hinaus wird die Zeitgeschichte des eigenen Volkes bzw. der eigenen Gesellschaft in ihm nicht parabolisch, sondern direkt thematisiert. Dies schließt allerdings eine symbolische Überhöhung der Geschichte des eigenen Volkes nicht aus. Ein Beispiel dafür ist der Habsburger Mythos, der u.a. für das Werk Heimito von Doderers, aber auch für andere österreichische Autoren von zentraler Bedeutung ist.

Der engere Bezug zur Gegenwart verbindet den zeithistorischen mit dem zeitkritischen Realismus. Anders als dieser, ist er allerdings nicht notwendigerweise gesellschaftskritisch ausgerichtet. Auch betrachtet er die Gegenwart nie unmittelbar, sondern stets unter dem Aspekt ihrer Genese aus der jüngeren Vergangenheit.

Exemplarisch veranschaulichen lässt sich dieser Schreibansatz u.a. an den Werken von Hermann Lenz. Literarisch umgesetzt hat er ihn u.a. in seinem zwischen 1961 und 1980 entstandenen "Roman in drei Büchern" mit dem Titel Der innere Bezirk. In dem um eine Vater-Tochter-Beziehung kreisenden Werk entrollt Lenz am Leitfaden seiner eigenen Biographie das Panorama der jüngeren Vergangenheit.

Lenz hat den zeithistorischen Realismus in seinen 1986 gehaltenen Frankfurter Vorlesungen auch theoretisch begründet. Er assoziiert diesen Schreibansatz darin mit dem Ziel, durch die "Darstellung historischer Zeiträume eine Entwicklung zu überschauen" (Lenz 1986: 76). Seiner Ansicht nach vermittelt

 

"jede historische Erzählung einen Lebensgrundriss, der tiefer eingeritzt sein kann als jede Geschichte, die in der Gegenwart spielt; denn der Ausblick, den historische Erzählungen bieten, ist weiter als der einer Geschichte, die sich auf die Gegenwart beschränkt. Vergangenheit ist. Sie kann weder verändert noch bewältigt werden und steht da wie ein Fels. An ihr kann die Struktur des Lebens deutlicher sichtbar gemacht werden als an der sich ständig verändernden Gegenwart, die, wenn man's genau nimmt, nur aus diesem einen Augenblick besteht, der schon vorbei ist" (ebd.: 68 f.).

 

Verschiedene Formen von zeithistorischem Realismus

 

Die einzelnen Formen von zeithistorischem Realismus lassen sich sowohl nach Art und Umfang des gewählten Zeitausschnitts als auch nach dem jeweiligen Darstellungsinteresse voneinander unterscheiden. Am Beispiel der unmittelbaren Nachkriegszeit lassen sie sich differenzieren in

den Versuch, sich vor dem Hintergrund der Kriegs- und Nachkriegswirren der eigenen nationalen, kulturellen und/oder schichtspezifischen Identität zu vergewissern;

die kritische Rekonstruktion der soziohistorischen Grundlagen des deutschen Faschismus;

die – chronikartige oder episodenhafte – Auseinandersetzung mit den Strukturen der nationalsozialistischen Herrschaft selbst und mit den durch diese bestimmten zwischenmenschlichen Beziehungen.

 

Literatur als nationale Selbstvergewisserung

 

Ein Beispiel für diese Spielart des zeithistorischen Realismus ist etwa die vierbändige Tetralogie des Schweizer Autors Kurt Guggenheim mit dem programmatischen Titel Alles in Allem(1952 – 1955). Der in dieser Formel anklingende universale Anspruch wird von Heimito von Doderer (s.u.) in die mit Guggenheims Wahlspruch nahezu identische Formel gefasst:

 

"Wir müssen nicht alles aufnehmen, aber alles stets in allem" (Doderer 1976; Tagebucheintrag vom 3. Februar 1951).

 

Dahinter steht der Gedanke, dass "der Mensch (…) universal gemeint" ist (Doderer 1964: 18; Tagebucheintrag vom 16. Januar 1940) – dass also die Äußerungsformen seiner zentralen Gedanken und Gefühle zwar je nach kulturellem Umfeld variieren, diese selbst sich aber überall gleichen.

Guggenheims Werk verbindet Familiengeschichte mit öffentlicher Geschichte und versucht so, den historischen Zeitraum von 1900 bis 1945 literarisch zu reflektieren. Insgesamt 270 (reale und fiktive) Personen, die auf komplexe Weise miteinander verbunden sind, sollen einen repräsentativen Querschnitt durch die Geschichte der Stadt Zürich, wo alle Handlungsfäden zusammenfließen, vermitteln.

Ausgehend von der "Überzeugung, dass im Einzelnen sich das Ganze widerspiegle", beschreibt Guggenheim in zahlreichen Einzelepisoden  "Alltagsfakten und -geschichte", die sich zu der Vorstellung von "Zürich als geheimnisvolle[r] große[r] Mutter" summieren, von Zürich "als magische[m] Schicksalsraum, unzerstörbar, unveränderbar sich selber treu bleibend" (Siegrist 1986: 656).