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Die Entstehung des Kabaretts verdankt sich dem Bestreben, dem passiven bürgerlichen Kunstgenuss eine lebendigere, stärker mit der sozialen Realität verzahnte und auf diese bezogene Kunst entgegenzustellen. Daraus haben sich auch immer wieder neue dichterische Ausdrucksweisen entwickelt. Dem trägt die vorliegende Arbeit Rechnung, indem jeweils zunächst die kulturhistorischen Umstände skizziert werden, unter denen sich das Kabarett zu einer bestimmten Zeit entwickelt hat. Darauf folgt dann exemplarisch die ausführliche Diskussion eines Gedichts. Ein Einblick in die Entwicklung des deutschsprachigen Kabaretts.
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Dieter Hoffmann
Das Kabarett und seine Gedichte
Ein dichterischer Rückblick auf die Geschichte
des deutschsprachigen Kabaretts
Literaturplanet
Impressum
© Verlag LiteraturPlanet, 2023
Im Borresch 14
66606 St. Wendel
http://www.literaturplanet.de
Über dieses Buch: Die Entstehung des Kabaretts verdankt sich dem Bestreben, dem passiven bürgerlichen Kunstgenuss eine lebendigere, stärker mit der sozialen Realität verzahnte und auf diese bezogene Kunst entgegenzustellen. Daraus haben sich auch immer wieder neue dichterische Ausdrucksweisen entwickelt. Dem trägt die vorliegende Arbeit Rechnung, indem jeweils zunächst die kulturhistorischen Umstände skizziert werden, unter denen sich das Kabarett zu einer bestimmten Zeit entwickelt hat. Darauf folgt dann exemplarisch die ausführliche Diskussion eines Gedichts.
Informationen über den Autor auf Wikipediaund auf seinem Blog rotherbaron, wo Teile der Arbeit vorab veröffentlicht wurden. Dort findet sich auch eine bebilderte PDF-Fassung.
Cover-Bild: Gerd Altmann: Silhouette (Pixabay)
Als Orientierungspunkt für die Entstehungsgeschichte des modernen Kabaretts wird für gewöhnlich die Gründung des Pariser Cabarets Le Chat Noir (Die schwarze Katze) im Jahr 1881 angegeben. Das Besondere an diesem war die Mischung aus Bohème-Bar, literarisch-satirischen Ausdrucks- und teils anarchischen Darbietungsformen, verbunden mit einem dezidiert gesellschaftskritischen Anspruch.
Aus diesem speziellen künstlerischen Biotop sind auch später immer wieder Gedichte und Chansons mit einer eigentümlichen Tonlage hervorgegangen. Ihr Spezifikum ist eine Form des politisch-kulturkritischen Engagements, das allerdings die literarische Gestaltung der Texte nicht, wie in der Agitprop-Literatur, der leichteren Einsetzbarkeit für den politischen Kampf unterordnet.
Dieser besonderen Art von Lyrik möchte die vorliegende Arbeit nachspüren. Da die entsprechenden Gedichte sich ohne die Berücksichtigung der jeweiligen Entwicklungsetappen des modernen Kabaretts kaum angemessen einordnen lassen, ist der Ansatz ein zweifacher: Zunächst werden jeweils die kulturhistorischen Umstände skizziert, unter denen sich das Kabarett zu einer bestimmten Zeit entwickelt hat. Darauf folgt dann exemplarisch die ausführliche Diskussion eines Gedichts.
Bei den Gedichten handelt es sich dabei nicht durchweg um das, was zuweilen unter dem Begriff "Kabarettlyrik" zusammengefasst wird. Vielmehr geht es hier um Gedichte, die sich durch Stil und/oder biographische Aspekte mit den jeweiligen Etappen der Entwicklung des Kabaretts berühren.
Auswahlkriterium ist also nicht allein die Frage, ob die Gedichte tatsächlich auf einer Kabarettbühne vorgetragen worden sind. Im Vordergrund stehen vielmehr die geistige Nähe und der imaginäre soziokulturelle Raum, der Kabarett und dichterisches Schaffen jeweils miteinander verknüpft.
Wenn sich auch die Anfänge des modernen Kabaretts im ausgehenden 19. Jahrhundert verorten lassen, so darf doch nicht vergessen werden, dass sowohl das Kabarett als auch die mit ihm verbundene Dichtung nicht aus dem Nichts heraus entstanden sind. Beide hatten Vorläufer, aus denen sie sich zu ihrer späteren Form entwickelt haben.
Bei der Lyrik lässt sich die Entwicklungslinie letztlich bis zur mittelalterlichen Vagantendichtung ziehen. Diesem Aspekt wird auch ein eigenes Kapitel gewidmet sein.
Das Kabarett selbst wiederum hat in der Brettl-Kultur eine ältere Schwester, in der das Anarchische kein politisches Gesicht hat, sondern sich aus der Zügellosigkeit eines derben Humors und freizügigen Tanzdarbietungen ergibt. In Schwank, Posse und Volkstanz hat auch diese Vorfahrin des Kabaretts noch deutlich ältere Ahninnen. Daraus ergibt sich für das Kabarett eine besondere innere Spannung, die sich auch zum inneren Widerspruch ausweiten kann.
Das, was die besondere Stärke des Kabaretts ausmacht – sein entlarvender Humor – kann auch zu seiner größten Schwäche werden. Dies ist dann der Fall, wenn auf der Produktions- oder Rezeptionsebene der Witz von seinem Inhalt gelöst wird, wenn also das Lachen zum Selbstzweck wird und nicht mehr in erster Linie der Bloßstellung gesellschaftlicher Missstände dient.
Das systemkritisch Gemeinte kann dann systemstabilisierend wirken. Anstatt zu gesellschaftsveränderndem Handeln anzuregen, fungiert das Kabarett-Lachen in diesem Fall als Ventil, das den Frust über unliebsame Entwicklungen abbauen hilft, anstatt ihn in Energie für die Einforderung von Reformen umzuwandeln.
Die Gefahr, vom Amüsierbetrieb aufgesogen zu werden und trotz subjektiv kritischer Intention dem Erhalt des Bestehenden zu dienen, ist dem Kabarett inhärent. Sie kann demzufolge schon in seinen frühen Entwicklungsformen beobachtet werden.
Um dieser Gefahr zu entgehen, hat es immer wieder Versuche einer Erneuerung des Kabaretts und einer Wiederbelebung seines ursprünglichen anarchischen Wesens gegeben. Daneben sind aber auch Tendenzen zu beobachten, sich vom Kabarett abzugrenzen und sich dadurch dem Sog der Vergnügungsindustrie von Anfang an zu entziehen.
So wird das Kabarett zwar zuweilen der Kleinkunstszene zugerechnet. Mitunter dient der Begriff "Kleinkunst" aber auch gerade der Abgrenzung vom Kabarett. Dann wird mit ihm der eigene künstlerische Anspruch gegenüber den Kommerzialisierungstendenzen der Kabarettkultur hervorgehoben.
Die Bemühung um Abgrenzung muss allerdings nicht notwendigerweise bedeuten, dass es keinerlei Berührungspunkte mehr zwischen dem Kabarett und der übrigen Kleinkunstszene gibt.
So lässt sich zwar die Entstehung der modernen Liedermacherszene zum Teil auch auf die Tatsache zurückführen, dass das literarische Chanson im Kabarett nach 1945 an Bedeutung verloren hat. Die Verbindungen zwischen beiden Bereichen sind dadurch jedoch keineswegs abgerissen. Immer wieder hat es gemeinsame Projekte und Grenzüberschreitungen gegeben, bei denen die einen sich im Metier der anderen versucht haben.
Dieser Entwicklung muss folglich durch eine entsprechende Berücksichtigung der Liedermacherszene Rechnung getragen werden – zumindest dort, wo diese sich mit der Kabarettkultur berührt.
In dem Ende 1881 eröffneten Cabaret Chat Noir verknüpfte Rodolphe Salis künstlerische Darbietungen mit der ungezwungenen Atmosphäre der Bohème-Cafés. Dies war die Geburtsstunde des modernen Kabaretts.
Die Initialzündung für das moderne Kabarett fand, angesichts der Etymologie wenig überraschend, in Frankreich statt. Dort machte Rodolphe Salis mit der Gründung des Chat Noir (Schwarze Katze) am Pariser Montmartre 1881 aus dem "cabaret", das ursprünglich schlicht ein Wirtshaus oder eine dort verwendete Drehscheibe mit Speisen bezeichnete, ein "cabaret artistique".
Konkret bedeutete dies zunächst ganz einfach, dass zusätzlich zu dem Konsum von Getränken und Speisen auch künstlerische Darbietungen auf dem Programm standen. Mit diesen verband Salis allerdings von Anfang auch die Absicht, "politische Ereignisse zu persiflieren".
So fand dort etwa Émile Goudeaus anarchischer Literaturzirkel eine neue Heimat. Dessen einem Walzer von Joseph Gungl entlehnter Name – Les Hydropathes (Die Wasserscheuen) – deutet darauf hin, dass die Mitglieder den berauschenden Wein und Absinth dem monotonen Wasser des bürgerlichen Alltags vorzogen.
Ein weiterer bedeutender Künstler, der mit seinen Auftritten im Chat Noir dessen legendären Ruf mitbegründete, war Aristide Bruant. Sein Markenzeichen war seine schwarz-rote Kleidung: schwarze Stiefel und Jacke zu rotem Pullover und Schal. In dieser Aufmachung hat ihn auch Henri Toulouse-Lautrec, dessen künstlerische Anfänge mit dem Aufstieg des Kabaretts zusammenfallen, in einer weltberühmten Lithographie porträtiert.
Als das Chat Noir 1885 umzog, übernahm Bruant die alten Räumlichkeiten und gründete dort sein eigenes Kabarett, dem er den Namen Le Mirliton (Die Rohrflöte) gab. Wie im Chat Noir war auch hier die Provokation Programm.
So etablierte Bruant eine frühe Form der Publikumsbeschimpfung, durch die er den passiven Kunstgenuss des Bürgertums attackierte. Dies änderte freilich nichts an der Popularität seiner Auftritte gerade auch in bourgeoisen Kreisen, die sich mit dem Aufsuchen der verruchten Lokalität einen Anschein von Progressivität geben konnten.
Das frühe französische Kabarett brach indessen nicht nur durch die provokanten Kunstprojekte mit dem bürgerlichen Mainstream. Vielmehr wurden dessen Normen auch durch entsprechend unkonventioneller Umgangsformen auf den Kopf gestellt oder persifliert. Letzteres gilt etwa für den Anspruch des gehobenen Bürgertums auf Exklusivität. Um diesen zu parodieren, leistete man sich am Eingang des Chat Noir einen Portier in der Uniform eines Schweizergardisten, der Geistlichen und Militärangehörigen den Zutritt verweigern sollte.
Die neuen Kabarettlokale wurden schnell zu einem Treffpunkt der Bohème-Szene. Dies bot nicht nur organisatorische Vorteile. Vielmehr konnten auf diese Weise auch neue Projekte und künstlerische Konzepte gemeinsam diskutiert und erprobt werden. Das Kabarett war damit in seinen Anfängen zugleich eine Art Experimentierlabor, wo die künstlerisch Tätigen sich gegenseitig inspirierten und in ihrer Arbeit unterstützten.
Glanzvoll hatte er den ganzen Tag gekämpft
für seine Träume, seine Liebe und seine Ideen,
mit seinen entfesselten Kräften
kühn zum Sturm auf das Glück geblasen.
Wer ihn sah, der sah nur sein Gewand
aus anmutiger Ironie, gesäumt
vom breiten Lachen seiner Lippen,
grellgeschminkt, nie müde und erschöpft.
Aufrecht winkte er zur Galerie,
ein vornehmer Clown, der ein Lächeln verschenkt.
Nur zum Schlafen zog er sich zurück
in seine Kammer aus Migräne und Melancholie.
Scheu bestaunte er die Heiterkeit der Sterne, um dann,
das Tor zur Welt verschließend, still zu weinen.
Émile Goudeau: Lutte Parisienne
aus: Poèmes ironiques (1884)
Émile Goudeau (1849 – 1906) begann sein Berufsleben 1869 mit einer Anstellung im Pariser Finanzministerium, die er jedoch kurz darauf durch den Ausbruch des Deutsch-Französischen Krieges wieder verlor. Er intensivierte daraufhin seine schon zuvor nebenbei aufgenommene journalistische Tätigkeit, indem er in Bordeaux gleich für drei verschiedene Tageszeitungen schrieb.
1877 trat Goudeau erneut eine Stelle im Pariser Finanzministerium an. Die Arbeit diente ihm jedoch nur als Broterwerb. Sein Hauptinteresse galt der Literatur – wie der ein Jahr darauf veröffentlichte, auf Baudelaires Fleurs du mal (Blumen des Bösen) anspielende Gedichtband Fleurs du bitume (Teerblumen) zeigt. Auf ihn folgten weitere Lyrikbände, ferner vier Romane sowie zahlreiche weitere Prosatexte.
Vor allem mit der Gründung des nach einem Walzer von Joseph Gungl benannten Literaturzirkels Les Hydropathes (Die Wasserscheuen) – der unter demselben Namen 1879/80 auch eine Literaturzeitschrift herausgab – setzte Goudeau einen scharfen Kontrapunkt zu seiner bürgerlichen Tätigkeit. 1878 im Quartier Latin ins Leben gerufen und zwei Jahre später aufgelöst, entfaltete der Zirkel mit seiner Neugründung im Chat Noir sein ganzes kreatives Potenzial.
Goudeau kam dort regelmäßig mit Gleichgesinnten zusammen, um gemeinsam bei Absinth und Wein literarische Projekte zu diskutieren und von einer anderen Gesellschaft zu träumen. Dabei entstanden auch Projekte, die bereits auf den späteren Dadaismus vorausweisen, wie etwa Goudeaus Inszenierung seiner eigenen Beerdigung.
Wie sein Gedicht Lutte Parisienne (Pariser Ringen) zeigt, war der nach außen zur Schau gestellte anarchische Frohsinn allerdings nur die Kehrseite des Leidens an den starren Normen der bürgerlichen Gesellschaft. Das Bemühen, das Ungenügen an den realen Verhältnissen "wegzulachen", erzeugte ganz offensichtlich eine innere Anspannung, die nach dem Ende des abendlichen Rauschs bei manchen in einen umso heftigeren Kater mündete.
Zitat von Rodolphe Salis entnommen aus:
Ausstellung des Deutschen Kabarettarchivs und des Österreichischen Kabarettarchivs: Kabarett zwischen Berlin und Wien. Die frühen Jahre 1900 – 1914.
Weitere Literatur:
Frischkopf, Rita: Die Anfänge des Cabarets in der Kulturszene um 1900. Eine Studie über den "Chat Noir" und seine Vorformen in Paris, Wolzogens "Überbrettl" in Berlin und die "Elf Scharfrichter" in München. Dissertation Montreal 1976 (als PDF im Netz abrufbar).
Mayer, Peter: Montmartre-Cabaret Le Chat Noir: Hotspot des Pariser Nachtlebens. Deutschlandfunk Kultur, 25. Juni 2022.
Pfeiffer, Ingrid / Hollein, Max: Esprit Montmartre: die Bohème in Paris um 1900. [Katalog mit Beiträgen zur Ausstellung Esprit Montmartre. Die Bohème in Paris um 1900, Schirn Kunsthalle Frankfurt/Main, 2014]; Inhaltsverzeichnis und Leseprobe (Englisch).
Mit seinem 1897 erschienenen Roman Stilpe war Otto Julius Bierbaum ein wichtiger Ideengeber für das frühe deutsche Kabarett. Der Roman nimmt zudem zentrale Probleme vorweg, vor die sich das Kabarett später gestellt sah.
1897 veröffentlichte Otto Julius Bierbaum in Berlin seinen Roman Stilpe. Dessen Protagonist, Willibald Stilpe, fühlt sich als Student abgestoßen von den starren Ritualen und Normen der Burschenschaften, die für ihn zwischen "rückständige[r] Romantik", "Tugendbund" und "traditionslose[r] Neugründung" schwanken und ihm letztlich alle als bloße "Form ohne Inhalt" erscheinen [1].
Stilpe gründet daraufhin ein "Geheim-Cénacle", einen Kreis Gleichgesinnter, der regelmäßig zu "Vergnügungen" zusammenkommt, "die jedem viel lieber waren, als die Pflichten ihrer Verbindung". Das Hauptziel der Vereinigung ist ein "zur Kunst erhöhtes Leben" [2].
Dieses Motto fußt erkennbar auf lebensphilosophischen Ideen, wie sie etwa von Arthur Schopenhauer und Friedrich Nietzsche vertreten wurden. Künstlerisch wurden diese Konzepte auch im Jugendstil umgesetzt. Dieser wollte mit den für ihn charakteristischen ineinander zerfließenden, tanzenden Gestalten einerseits die Dynamik des Lebens in der Kunst zum Ausdruck bringen. Andererseits sollten aber auch Kunst und Leben miteinander verbunden werden, indem Alltagsgegenstände künstlerisch verfeinert und überhöht wurden.
In Bierbaums Roman dient der studentische Geheimbund für den Protagonisten allerdings nur als Vorbereitung auf die eigentliche Einlösung des mit diesem verbundenen Programms. Die anarchischen, von reichlichem Alkoholgenuss befeuerten Treffen sind vor allem eine Übung in geistiger Freiheit und der Entfesselung eines kritischen Geistes, der alle tradierten – staatlichen und künstlerischen – Autoritäten lustvoll in Frage stellt.
Während seine Kommilitonen nach dem Studium eine bürgerliche Laufbahn einschlagen, bemüht sich Stilpe abseits der Universität um eine Verwirklichung seines Traums von dem "zur Kunst erhöhte[n] Leben". Dafür gründet er ein "Literatur-Variété-Theater", dem er den programmatischen Namen "Momustheater" gibt [3]. Er benennt es also nach dem scharfzüngigen griechischen Gott Momos, vor dessen hellsichtig-beißendem Spott selbst seine Götterkollegen zitterten.
Dem Theater kommt für Stilpe demnach eine doppelte Funktion zu. Einerseits dient es der Kultivierung eines "Humor[s], der die Welt am Ohre nimmt (…) und auf des Weltgeists Schnurrbartenden Seil tanzt". Die Feier der "Philosophie des harmonischen Lachens" ist dabei eng verbunden mit der Bloßstellung der Disharmonie der bürgerlichen Gesellschaft und ihres Kunstverständnisses. In diesem Sinne kündigt Stilpe auch an, man werde "das Unanständige (…) zum einzig Anständigen krönen" [4].
Andererseits soll die Kunst durch das Momus-Theater jedoch auch aus dem "Winkel des Lebens" herausgeholt werden, wo Stilpe sie als "glitzernde Spinnwebe" vor sich hinstauben sieht. Das neue Theater soll stattdessen "ins Leben wirken wie die Troubadours" und so "eine neue Cultur herbeitanzen". Dafür wird explizit auf das Hochamt einer über den Köpfen schwebenden Feier der Kunst verzichtet. Stattdessen möchte Stilpe "Inkohärenzen lallen" und "farbige Wortflutsäulen ausnüstern", um die Kunst mit der Sprachlust eines Neugeborenen neu zu erfinden [5].
Die Beschreibung der Aufführungen in dem neuartigen "Literatur-Variété-Theater" nimmt in mancherlei Hinsicht die Entwicklung des späteren Kabaretts vorweg. Insbesondere betrifft dies die bewusste Abkehr vom bürgerlichen Kunstgenuss. Statt sich selbst mit der Gloriole eines heiligen Ernstes zu umgeben, amüsieren sich die Dichter in dem neuen Theater "selber am meisten über ihre Programmnummern".
Die Darbietungen bleiben so in der Schwebe zwischen Parodie und künstlerischer Erneuerung. Ein Beispiel dafür ist ein Stück mit "interpunktionsloser Lyrik", die zur "Pizzicatobegleitung von acht Bratschen deklamiert" wird [6].
Die bewusste Provokation zeitigt im Roman die gewünschte Wirkung. Diese ist allerdings gleichbedeutend mit einem Fiasko für das Theater.
So verläuft die Premiere sehr "lärmhaft", weil weder das Publikum noch die Presse die Mischung aus Amüsement und Kunst bzw. das zur Kunst erhobene Amüsement akzeptiert. Während das Publikum reines "Tingeltangel" erwartet und sich an dem bisschen "Literatur und Kunst" stört, beklagt die Kritik mit "der ganzen Entrüstung lackierter Elitemenschen" den mangelnden künstlerischen Gehalt der Darbietungen [7].
Die Tragik der von Stilpe entwickelten neuen Kunstform besteht darin, dass sie sich auf Dauer nicht auf dem schmalen Grat zwischen Variété und Theater halten kann. Kippt sie nach der einen Seite, wird sie vom Amüsierbetrieb aufgesogen. Kippt sie nach der anderen Seite, so fällt sie in die Arme der bürgerlichen Hochkultur.
Dieses Dilemma deutet nicht nur auf die Probleme voraus, vor die sich später auch das Kabarett gestellt sah. Auch der Jugendstil lief mit seinem Anspruch, die Kunst in den Alltag hineinzutragen, ständig Gefahr, sich in der kommerziellen Nippeskultur aufzulösen – also selbst vom Alltagsgrau entzaubert zu werden, anstatt den Alltag künstlerisch zu transformieren.
Der Protagonist in Bierbaums Roman sieht für diesen Konflikt am Ende nur eine Lösung: An die Stelle des "zur Kunst erhöhte[n] Leben[s]" setzt er den zur Kunst erhöhten Tod: Er inszeniert auf offener Bühne seinen eigenen Tod.
Damit gelingt ihm eine letzte, äußerste Provokation der bürgerlichen Unterhaltungskultur: Während er sich vor aller Augen erhängt,applaudiert das Publikum, "die scheinbare Naturwahrheit der Darstellung bewundernd, anhaltend, so dass sich der Vorhang dreimal über dem zuckenden Körper des Hängenden erheben" muss [8].
Erst als die obligatorische Verneigung des Darstellers vor dem Publikum entfällt, ist nicht mehr zu übersehen, dass hier der reale Tod des Künstlers respektive der Kunst inszeniert wird.
Manche Entwicklungen, die Bierbaum in seinem Roman skizziert, erweisen sich im Rückblick als ausgesprochen hellsichtig. Dies gilt insbesondere für das darin beschriebene Scheitern des Versuchs, anspruchsvolle, gesellschaftskritische Darbietungen mit der Unterhaltungskultur des Kabaretts zu verbinden.
So sieht Erich Mühsam bereits 1906, gerade mal ein halbes Jahrzehnt nach den ersten Kabarettgründungen in Deutschland, die neue künstlerische Darbietungsform in der Krise. Der Grund dafür ist ihm zufolge vor allem, dass das Kabarett sich zu schnell "pekuniären Geschäftemachern" ausgeliefert und so sein kritisches Potenzial verspielt habe.
Geleitet durch die ökonomischen Interessen der Veranstalter, mache das Kabarett zunehmend "der angstgemuteten Schwerfälligkeit des deutschen Philisters Konzessionen". So werde "aus der fröhlichen Veranstaltung künstlerischer Geselligkeit eine programmatisch abgezirkelte, behördlich sanktionierte, künstlerisch wertlose Abendunterhaltung" [9].
Diese Einschätzung wurde auch von Karl Kraus geteilt. Auch er sah das Kabarett zu einer Veranstaltungsform verkommen, in der dem Bürger das Klischee des Bohemiens als Attraktion vorgeführt werde. Dies zeige,
"dass sich diese Einrichtung von dem Wesen einer freien Künstlerschaft bis zu jener geschäftsmäßigen Auffassung verirrt hat, die dem 'Spezialitätentheater' Konkurrenz macht, indem sie zwar nicht dressierte Pudel als Künstler, aber Künstler als dressierte Pudel dem zahlenden Publikum vorführt." [10]
Ein alter, kalter Leichnam hängt
an einem Telegraphenmast.
Nach seinen Schlenkerbeinen fasst
– ob er sie fängt? –
ein ausgespreizter Eichenast.
Lautkeuchend um den Leichnam pfeift
und um den Ast ein Windsgebrüll.
Da baumeln beide wütend wild;
ich seh im Schatten nur das Bild,
wie oft der Ast die Beine streift –
und zufasst – und daneben greift ...
Oh, welch ein liebliches Idyll!
aus: Der Krater (1909)
Erstveröffentlichung in Simplicissimus 10 (1905/06)
Ob Erich Mühsam bei der Abfassung seines Gedichts an den Schluss von Bierbaums Roman Stilpe gedacht hat, ist nicht bekannt. Es ist jedoch davon auszugehen, dass er den Roman gekannt hat. Denn dieser war eben eine wichtige Inspirationsquelle für die Gründung der ersten deutschen Kabarettbühnen – wo Mühsam immer wieder mit seinen Werken aufgetreten ist.
Auffallend ist jedenfalls, dass Mühsams Gedicht die bürgerliche Hochkultur auf ähnliche Weise persifliert wie der Protagonist in Bierbaums Roman. Wie in Letzterem die buchstäblich Tod bringende Passivität des bürgerlichen Kunstgenusses auf drastische Weise vor Augen geführt wird, kontrastiert auch Mühsam die bourgeoise Empfindsamkeit mit der mitleidslosen sozialen Realität der wilhelminischen Gesellschaft.
Erreicht wird dies dadurch, dass Mühsam für die Beschreibung eines Erhängten auf die Begriffs- und Bilderwelt der romantischen Dichtung zurückgreift. Die durch diese Verknüpfung des Entgegengesetzten erzeugte groteske Wirkung macht das Nebeneinander von bürgerlicher Idylle und massenhafter sozialer Ausgrenzung unmittelbar nachvollziehbar.
Dem entspricht, dass das lyrische Ich das Geschehen nur als eine Art Schattenspiel verfolgt, sich der sozialen Realität also nicht direkt aussetzt. Der Kunstgenuss erscheint so als ein Mittel, dem sozialen Elend seinen Stachel zu nehmen und es stattdessen in einen Gegenstand ästhetischer Betrachtung zu verwandeln, an dem das bürgerliche Publikum seine Empfindsamkeit demonstrieren kann.
Müsste man Erich Mühsam mit einem Wort beschreiben, so wäre am treffendsten wohl der Begriff "Freigeist".
Als 17-Jähriger wurde er 1896 wegen "sozialdemokratischer Umtriebe" der Schule verwiesen. Als er nach dem Ersten Weltkrieg an der Gründung der Münchner Räterepublik beteiligt war, brachte ihm das jedoch unter einer sozialdemokratisch geführten Reichsregierung fünf Jahre Festungshaft ein.
Er war überzeugter Anarchist, stand jedoch zeitweilig der KPD nahe und arbeitete auch in der damals dieser Partei eng verbundenen Roten Hilfe zur Unterstützung politischer Gefangener mit. Dies musste er mit einem Ausschluss aus der Föderation Kommunistischer Anarchisten bezahlen, die auf einer klaren Grenzziehung zur KPD beharrte.
Mühsam pflegte auch enge Kontakte zur Lebensreformbewegung und lebte eine Zeit lang in der Vorzeigekommune auf dem Monte Verità im schweizerischen Ascona. Charakteristisch für ihn ist allerdings, dass der Traum von einem freien Leben in seinem Fall weder esoterische Züge annahm noch auf den Gesundheitsbereich mit Reformkleidung und -ernährung beschränkt blieb.
Stattdessen versuchte Mühsam den Gedanken einer idealen Gemeinschaft auf die soziale Realität zu übertragen. Dafür bemühte er sich in München um die Gründung einer lebensreformerisch orientierten Gemeinschaft mit marginalisierten gesellschaftlichen Gruppen wie Prostituierten, Obdachlosen und ehemaligen Gefängnisinsassen.
Auch in Liebesdingen war Mühsam flexibel. Als er 1901 von Lübeck nach Berlin umgezogen war, lebte er zunächst in einer homoerotischen Beziehung. 1915 heiratete er jedoch Kreszentia Elfinger, die sich mit ihm als "rote Zenzl" an der Errichtung der Münchner Räterepublik beteiligte.
Schließlich war Mühsam, wie sein Vater ein ausgebildeter Apotheker, auch ebenso sehr literarischer Aktivist wie politisch engagierter Literat.
Durch seine Mitarbeit an zahlreichen Zeitschriften sowie die Gründung eigener Publikationsorgane mischte er sich politisch ein, fand aber auch immer wieder neue Wege, seine politischen Überzeugungen literarisch auszudrücken. So war er eine feste Größe in Kreisen der Berliner und Münchner Bohème, wo gesellschaftliche und künstlerische Erneuerungsentwürfe zusammengeführt wurden.
Dass ein Freidenker und bekennender Anarchist wie Mühsam den Nationalsozialisten ein Dorn im Auge sein musste, versteht sich von selbst. Für sie kam dabei erschwerend hinzu, dass Mühsam aus einer jüdischen Familie stammte – obwohl er selbst als Anarchist natürlich kein gläubiger Jude war.
So gehörte Mühsam zu den Ersten, die nach der Machtergreifung von den Nationalsozialisten verhaftet wurden. Im Juli 1934 wurde er im Konzentrationslager Oranienburg von SS-Wachleuten ermordet.
Otto Julius Bierbaum (1865 – 1910) hat in seinem relativ kurzen Leben ein erstaunlich vielfältiges Oeuvre hervorgebracht. Er wirkte als Redakteur für verschiedene literarische Zeitschriften, verfasste Gedichte, die sich in ihrem volkstümlichen Stil bewusst von der gedrechselten Sprache des George-Kreises absetzten, und betätigte sich ebenso als Bühnenautor wie als Verfasser von Prosatexten.
Bierbaums längere Prosa steht der Tradition des Schelmenromans nahe. So erschuf er in dem Kinderbuch Zäpfels Kern eine deutsche Variante des Pinocchio. Mit dem Roman Das Schöne Mädchen von Pao (1899) stellt er sich – wie er im Vorwort anmerkt – explizit in die Tradition der chinesischen "wilde[n] Geschichte". Der Roman greift einen Stoff auf, den Bierbaum während seines Studiums am Berliner Orientalischen Seminar kennengelernt hat – wobei er sich nach eigener Aussage bemüht hat, "die wilde Geschichte noch ein bisschen wilder zu machen, als sie schon war" [11].
Immer wieder überschreiten Bierbaums Texte auch die Grenze zum Grotesken. Dies gilt insbesondere für seine 1908 in drei Bänden erschienenen Sonderbaren Geschichten.
Dem literarischen Facettenreichtum entspricht im Privaten Bierbaums Abneigung, sich auf einen bestimmten Wohnort festzulegen. Sein Studium (in Jura, Philosophie und Sinologie) absolvierte er in Zürich, München, Berlin und Leipzig. Auch danach lebte er, in den 1890er Jahren, an verschiedenen Orten – außer in München und Berlin auch in Südtirol und Wien. Erst zu Beginn des neuen Jahrhunderts zog er für längere Zeit nach München, ehe er kurz vor seinem Tod nach Dresden übersiedelte.
Literarisch hat Bierbaum seine Lust am Unterwegssein in einem Buch über eine Reise verarbeitet, die er 1902 mit seiner zweiten Ehefrau, Gemma Pruneti-Lotti, über Prag und Wien nach Italien unternommen hat. Die Empfindsame Reise in einem Automobil nimmt Bezug auf Laurence Sternes Sentimental Journey through France and Italy aus dem Jahr 1768, überträgt diese allerdings in die Moderne: Bierbaum begründete mit seinem Werk die Tradition der motorisierten Reise und der darauf beruhenden Berichte.
Nachweise
[1] – [8]: Otto Julius Bierbaum: Stilpe. Ein Roman aus der Froschperspektive (1897). Berlin 1909: Schuster & Loeffler; digitalisiert im Projekt Gutenberg und im Deutschen Textarchiv:
[1] Drittes Buch, erstes Kapitel
[2] Drittes Buch, zweites Kapitel
[3] Viertes Buch, zweites Kapitel
[4] Viertes Buch, drittes Kapitel
[5] Ebd.
[6] Viertes Buch, viertes Kapitel
[7] Ebd.
[8] Viertes Buch, Schlusskapitel (fünftes Kapitel)
[9] Mühsam, Erich: Das Cabaret. In: Die Fackel Nr. 199 (1906), S. 16 – 21 (hier S. 18 - 20).
[10] Kraus, Karl: Anmerkung zu Mühsam, Erich: Bohême. In: Die Fackel Nr. 202 (1906), S. 4 – 10 (hier S. 8).
[11] Otto Julius Bierbaum: Vorwort. In: Ders.: Das Schöne Mädchen von Pao. Leipzig 1899: Schuster & Loeffler.
Weiterführende Literatur zu Bierbaum und Mühsam:
Hirte, Chris: Erich Mühsam – eine Biographie (zuerst 1985); Neuauflage herausgegeben und mit einem Vorwort versehen von Stephan Kindynos. Freiburg/Brsg. 2009: Ahriman.
Weyand, Björn / Zegowitz, Bernd (Hgg.): Otto Julius Bierbaum – Akteur im Netzwerk der literarischen Moderne. Berlin 2018: Quintus.
Zu Erich Mühsam gibt die Erich-Mühsam-Gesellschaft ferner eine eigene Schriftenreihe heraus.
Das Jahr 1901 markiert den Anfang des deutschsprachigen Kabaretts. Die Aufbruchsstimmung verflog jedoch schon bald wieder – was außer am Widerstand der Obrigkeit auch an Uneinigkeit über die Ziele der neuen Kunstform lag.
Angeregt von den Pariser Cabarets und inspiriert von Otto Julius Bierbaums Roman Stilpe, entwickelte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch im deutschsprachigen Raum eine eigene Kabarettkultur. Im Jahr 1901 kam es dabei zu einer regelrechten Gründungswelle von Kabarettbühnen.
Den Anfang machte Ernst von Wolzogens Buntes Brettl, das am 18. Januar 1901 in Berlin seine Tore öffnete – exakt 30 Jahre nach der Ausrufung des Deutschen Reichs im Spiegelsaal von Versailles.
Das Datum war wohl nicht zufällig gewählt, war doch mit der Reichsgründung der Wilhelminismus zur prägenden Kraft in Deutschland geworden. Dass die erste Kabarettgründung im deutschsprachigen Raum sich gegen dessen epigonenhafte Kultur und freiheitsfeindliche Politik richtete, zeigt auch die Spielstätte, die sich direkt gegenüber dem Polizeipräsidium am Alexanderplatz befand.
Wolzogens Kabarett war unmittelbar von Bierbaum beeinflusst, der dort auch selbst auftrat. So nimmt der Name, unter dem die Bühne berühmt wurde, denn auch unmittelbar auf die Kabarett-Phantasien in dem Roman Bezug. Als Überbrettl greift Wolzogens Projekt offenbar einen Ausruf von Bierbaums Protagonist auf, wonach man "den Übermenschen auf dem Brettl gebären" werde [1].
Die Anspielung auf Nietzsche ist dabei wohl weniger auf dessen Philosophie bezogen als auf den künstlerischen Anspruch, der sich mit der neuen Kunstform verband. Diese sollte der Überwindung des bloßen Tingeltangels dienen, sich gleichzeitig aber auch vom bürgerlichen Theater abgrenzen – und so in ähnlicher Weise zu einem Raum für gesellschaftliches Probehandeln werden, wie es einst das Theater für das aufstrebende Bürgertum gewesen war.
Nach dem Überbrettl rief Max Reinhardt noch im selben Jahr, ebenfalls in Berlin, das Kabarett Schall und Rauch ins Leben. Im November gründete Felix Salten in Wien das Jung-Wiener Theater zum lieben Augustin, das allerdings schon nach wenigen Vorstellungen wieder geschlossen wurde. 1903 folgte in München Kathi Kobus' Simplicissimus (kurz "Simpl"), bei dem es sich jedoch eher um eine Gaststätte mit angeschlossener Vortragsbühne handelte. Gleiches gilt für die Anfänge des 1912 eröffneten gleichnamigen Kabaretts in Wien – das sich später allerdings zu einer der bedeutendsten österreichischen Kabarettbühnen entwickeln sollte.
Ebenfalls in München formierten sich im April 1901 Die Elf Scharfrichter. Der Name dieses Kabaretts bezog sich nicht nur auf die anfängliche Zahl der auftretenden Künstler. Er war auch ein unverhohlener Protest gegen die ein Jahr zuvor erlassene "Lex Heinze". Durch dieses Gesetz wurde der Straftatbestand der "Unsittlichkeit" so weit gefasst, dass faktisch jede nicht den Konventionen entsprechende Äußerung oder Handlung als Gesetzesverstoß geahndet werden konnte.
Die neue Darbietungsform hatte anfangs sowohl in künstlerischer Hinsicht als auch für das Publikum eine befreiende Wirkung. Dies lag vor allem daran, dass sich Kabarettaufführungen weniger stark von der Zensur kontrollieren ließen als in Schriftform vorliegende Werke.
Zwar mussten auch Kabarettprogramme die Zensur passieren. Der Ablauf der Vorstellungen war jedoch prinzipiell unvorhersehbar. Außerdem ließen sich im mündlichen Vortrag, durch Prosodie, Mimik und Gestik, viel besser Zwischentöne und Zweideutigkeiten einflechten als in einem Buch.
Hinzu kam, dass die Menschen, die zu den Kabarettaufführungen kamen, für eben diesen Subtext besonders empfänglich waren und bewusst auf ihn achteten. Daraus ergab sich eine Atmosphäre der Komplizenschaft zwischen Ensemble und Publikum, die allein schon einen aufrührerischen Geist ausstrahlte.
Trotz der großen Anfangserfolge mussten die frühen Kabarettbühnen größtenteils schon nach kurzer Zeit wieder ihre Tore schließen. Dies lag daran, dass sie gleich von zwei Seiten unter Druck standen.
Zunächst einmal sah die Obrigkeit dem Treiben auf den neuen Brettl-Bühnen natürlich nicht tatenlos zu. Wenn man auch vor einem vollständigen Verbot zurückschreckte, so ließ man die Veranstaltungen doch engmaschig überwachen. Immer wieder schritten Ordnungshüter dabei auch ein, wenn einzelne Darbietungen gegen ihr Verständnis von Sitte und Moral verstießen.
Die dadurch ausgelösten Tumulte ließen sich anfangs zwar noch für eine Bloßstellung der Staatsmacht nutzen, als Beleg für deren kleinliche Unterdrückung jeder Abweichung von dem vorgegebenen Normenkorsett. Mit der Zeit entfaltete das Damoklesschwert der Zensur aber doch eine lähmende Wirkung. Auch wirkte die Gefahr, ins Visier der Ordnungshüter geraten zu können, abschreckend auf das bürgerliche Publikum.
So standen die Kabarettbühnen vor der Wahl, ihr künstlerisches Projekt entweder ganz ad acta zu legen oder einer Versuchung nachzugeben, die schon in Bierbaums Roman Stilpe als inhärente Gefahr von Kabarettveranstaltungen skizziert worden war: sich in unpolitische Variété- oder Tingeltangel-Bühnen zu verwandeln.
Max Reinhardt kehrte vor diesem Hintergrund dem Kabarett bereits 1903 den Rücken und wandte sich anderen Projekten zu. Nicht anders erging es den Münchner Elf Scharfrichtern, die sich 1904 auflösten. Ein Teil der Künstler machte 1906 im Wiener Cabaret Nachtlicht weiter, doch auch dieses musste schon ein Jahr später wieder aufgeben. Das 1907 in Wien gegründete CabaretFledermaus war ein Jugendstil-Projekt, das vor allem durch die künstlerische Ausstattung hervorstach und 1913 in das Revue-Theater Femina überging.
Das Überbrettl wandte sich nach seinem Umzug in die Köpenicker Straße ab 1902 ebenfalls von politischen Ansprüchen ab und wandelte sich zu einem Lustspieltheater. Diese Entwicklung mag allerdings auch damit zusammenhängen, dass Wolzogen, der sich schon früh aus dem Kabarettbetrieb zurückzog, vor der von seinem Projekt ausgelösten revolutionären Eigendynamik selbst zurückgeschreckt war.
Es war sicher kein Zufall, dass Wolzogen sich später völkischem Gedankengut zuwandte und Hitler 1932 im Völkischen Beobachter als "Kandidat der deutschen Geisteswelt" feierte [2]. Schon 1922 hatte er in seiner Autobiographie sein "aristokratisches Gewissen" herausgestellt. Dieses habe ihn "von Kindesbeinen an verpflichtet, der Masse gegenüber Distanz zu halten" [3].
Mit dem von ihm gegründeten Kabarett wollte Wolzogen folglich nicht Aufruhr schüren, sondern umgekehrt ein Ventil für die Unzufriedenen schaffen, um einem revolutionären Aufruhr vorzubeugen:
"Ein unterdrücktes Gelächter treibt allemal Galle ins Blut, während umgekehrt ein aufgestauter Galleüberschuss durch kein Mittel leichter entfernt wird als durch eine kräftige Erschütterung des Zwerchfells. Die weitgeöffnete Tatze, die sich lachend auf die Schenkel schlägt, ist weit harmloser als die in der Tasche geballte Faust."[4]
Es waren auch solche Inkonsequenzen, die das frühe deutsche Kabarett als Strohfeuer enden ließen.
Lasst mich schnobern, lasst mich schnüffeln
durch die Stille der Wälder fort.
Schon wittre ich das schwellende Fleisch der Trüffeln,
der saftigen Brünetten von Perigord.
Hier ist der Ort. Ich wetze die Hauer,
ich bohre den Rüssel wohl in den Grund –
wie macht doch Arbeit das Leben sauer,
die Seele krank und die Glieder wund!
Gierig verschling ich die prickelnden Früchte,
bis mich der Satan im Rücken kneipt –
es ist die alte Passionsgeschichte,
dass unsre Freude sich selbst entleibt.
Sie lässt sich erjagen, sie lässt sich haschen,
die Pulse fliegen, das Herz schlägt wild.
Und zieht man die Himmelstochter auf Flaschen,
sie schwindet dahin wie ein Schattenbild. –
Noch eine der haltbarsten Delikatessen
ist frischer Lippen flammender Kuss;
der Hunger steigert sich mit dem Essen,
und im Genießen wächst der Genuss.
aus: Frank Wedekind: Die vier Jahreszeiten (1905)
Périgord: dem heutigen Département Dordogne entsprechendes Gebiet im Südwesten Frankreichs (berühmt für die dort wachsenden Trüffeln)
Zum Künstlerteam der Münchner Elf Scharfrichter gehörte anfangs auch Frank Wedekind, der dort seine Gedichte zur Gitarre vortrug. In seinen Theaterstücken kritisierte er offen die heuchlerische Prüderie der wilhelminischen Gesellschaft. Sein für die Zeit unüblicher offener Umgang mit der menschlichen Sexualität spiegelt sich auch in seinem Gedicht Pirschgang wider.
Ist schon die Fügung "das schwellende Fleisch" dazu angetan, sexuelle Assoziationen zu wecken, so signalisiert spätestens die – die dunkelbraune Farbe der Trüffeln mit 'brünetten' Frauen verbindende – Bezeichnung der Trüffeln als 'saftige Brünetten', dass das Gedicht auf zwei Ebenen gelesen werden kann.
Als zweideutig erscheint es demzufolge auch, wenn der Eber seinen "Rüssel" in den "Grund" 'bohrt' und die "prickelnden Früchte" 'verschlingt', bis ihn "der Satan im Rücken kneipt". Vor dem Hintergrund des Verweises auf die Eigenart menschlicher "Freude", 'sich selbst zu entleiben', liest sich dies als nur oberflächlich kaschierte Beschreibung des Liebesspiels, bei dem sich die Lust mit dem Erreichen des Höhepunkts selbst aufhebt.