Lob des Autodidakten - Armin Peter - E-Book

Lob des Autodidakten E-Book

Armin Peter

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Beschreibung

In der Entwicklung des Bildungswesen hatte der Autodidakt einen wichtigen Platz. Heute ist er in unserem hocheffizienten und hochdifferenzierten Bildungssystem an den Rand gedrängt. Aber er ist keineswegs marginal. Im Muster der nicht-curricularen Bildung ist Widersprüchliches vereint: Bildungsnot und Bildungsglück, Einsamkeit und Ehrgeiz, Selbstständigkeit und Verführbarkeit, Zweifel und Selbstgewissheit, Freiheit und Zwang, die in jeder ausgeprägten Selbstmotivation liegen. Die Bildungspolitik hat Gründe, sich intensiver mit dem Phänomen des Autodidaktentums und seinen faszinierenden Facetten zu beschäftigen. Sie könnte zusätzliche Erkenntnisse über die Natur des Kraftquells und die Mutter des Lernerfolgs, die wir Motivation nennen, gewinnen.

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Inhalt

1 Die informelle Bildung – jenseits aller Definitionen

2 Der eigene Kurs

3 Der Rückzug der Autodidakten

4 Bildungswelten, anekdotisch und episodisch

5 „Aus sich selbst“

6 Vom nicht-curricularen Lernen

Erster Exkurs: Die Halbbildung

7 Der Roman des Autodidakten

Zweiter Exkurs: Über Dilettantismus

8 Über Selbstmotivation

9 Die unverbriefte Bildung

10 Der Selbstunterricht im Kaleidoskop

11 Das pädagogische Defizit

12 Die geborenen Autodidakten

13 Die Verführbarkeit des Autodidakten

14 Einsames Lernen

Dritter Exkurs: Der Autodidakt des Lebens

15 Die große Lerngenossenschaft – ein Traum

16 Der gelernte Autodidakt

17 Internet – didaktische Hilfe

18 Ein Examen für den Autodidakten?

19 Didaktische Selbsthilfe: Summe und Urteil

Anhang: Zwei kleine Bildungsromane

A Eckermann oder Das Genie der Dienstbarkeit

B Rousseau oder Das Feuer der Herrschaft

Dank

1 Die informelle Bildung – jenseits aller Definitionen

Ich vertraue auf meine Unbefangenheit als Autodidakt. Bisher fiel mir alles schwer, was anderen leicht schien, und ich bewältige spielend Dinge, die anderen unlösbar vorkamen. Der Autodidakt ist nämlich nicht durch die Schule in eine bestimmte Richtung gedrängt, geht daher auch nicht achtlos an Seitenpfaden vorbei, die nur scheinbar Seitenpfade, in Wahrheit aber Hauptstraßen sind. Und der Autodidakt bringt oft die abgelegensten Dinge zueinander, die dann eine völlig neue Kombination ergeben. Einen Universalgelehrten hat Egmont Colerus in seinem Roman Leibniz – der Lebensroman eines weltumspannenden Geistes zum Autodidakten erklärt. Ist es kühn, dieses Lob eines Autodidakten auf höchstem intellektuellen Niveau und innovativen Ertrag des Denkens?

Auf einer anderen Stufe autodidaktischer Bildung steht der Held des Abenteuerromans von Jack London: Wolf Larsen im Seewolf. Der Gentleman Humphrey van Weyden, den eine Schiffskatastrophe auf den Robbenfänger „Ghost“ geschleudert hat, macht in der Kajüte seines brutal-autoritären Kapitäns eine irritierende Entdeckung. An der Wand, dicht neben dem Kopfende der Koje, befand sich ein volles Büchergestell. Ich warf einen Blick darauf und sah zu meinem Erstaunen Namen wie Shakespeare, Tennyson und Poe. Auch wissenschaftliche Werke gab es, darunter Bücher von Darwin. Astronomie und Naturwissenschaften waren vertreten, und ich bemerkte Bulfinchs ‚Zeitalter der Fabel‘, Shaws ‚Geschichte der englischen und amerikanischen Literatur‘ und Johnsons ‚Naturgeschichte‘ in zwei dicken Bänden. Ferner eine Anzahl von Grammatiken. Und ich musste lächeln, als ich ein Exemplar von Deans ‚Die englische Sprache‘ sah. Ich konnte diese Bücher nicht mit dem Manne, wie ich ihn bisher kennen gelernt hatte, in Einklang bringen.

Jack London, ein Bestsellerautor seiner Zeit, hat in der Verwunderung eines Schöngeistes über den Bildungshorizont eines ungehobelten Mannes ein kleines Selbstporträt entworfen. In seinem Roman Martin Eden hat er den Lebensroman eines Autodidakten geschrieben, der sich vor seiner schriftstellerischen Laufbahn in selbstquälerischem Selbststudium einen Wissenskosmos und eine gesellschaftliche Welt erschlossen hat.

Aus der Zeit gefallen muss das Phänomen der informellen Bildung einer Gesellschaft erscheinen, die durch ein hochgradig formelles Bildungssystem in Schule, Berufsbildung und Universität in pyramidalen Formen von „Abschlüssen“ geprägt ist. Lohnt es sich, den unscharfen Konturen eines pädagogischen Informel nachzugehen? Hat es noch ein Terrain in der strukturierten Lernlandschaft einer Gesellschaft, die sich als Bildungsgesellschaft versteht?

Ein autodidaktischer Bildungsgang hat seine historische Eigenständigkeit weitgehend verloren. Doch es ist reizvoll, dem charakteristischen Bildungsweg als Phänomen zu folgen und zu beschreiben, um die eigenartigen Perspektiven, die er bietet, zu sehen und vielleicht für persönliche, ja, auch gesellschaftlich relevante Bildungskonzepte zu nutzen.

Es sind im wesentlichen drei Elemente, die einen autodidaktischen Bildungsweg markieren.

Erstens: Auf ihm lernt jeder allein. Nun ist jeder Lernprozess, wie immer er unterstützt wird, ein einsamer Prozess: jeder lernt selbst und diese Anstrengung kann ihm niemand abnehmen. Entsprechend dem griechischen Ursprung des Wortes bezieht sich die Silbe „auto“ auf dieses Selbst des Lernens. Der Wortbestandteil „didakt“ bezieht sich nicht auf das Lernen, sondern auf die Lehre. Der Autodidakt ist ein Selbst-Lehrender, ein Sich-selbst-Belehrender.

Ein Autodidakt belehrt sich und lernt als Partner seiner Lehre völlig unabhängig von irgendeinem institutionellen Rahmen, beziehe er sich auf eine „Lehranstalt“, auf Lerninhalte oder auf Lernstufen mit Abschlüssen, die einen Lernfortschritt nach objektiven Maßstäben messen, bewerten und durch Zertifikate oder Prämien belohnen.

Drittens: Der Lernprozess des Autodidakten ist nicht curricular gesichert. Das heißt: Die Lerninhalte und -ziele sind nicht entsprechend den Bildungsidealen der Zeit und den gesellschaftlichen Erfordernissen in Folgerichtigkeit bestimmt und pädagogisch-didaktisch klug strukturiert.

Diese drei charakteristischen Züge machen die autodidaktische, nicht geleitete Bildung zu einer absolut solitären Bildung in einem informellen Lernprozess. Nicht die Gesellschaft oder das Bildungsideal ihrer pädagogischen Sachwalter schreibt das Programm, sondern das Ich allein. Natürlich bewegt es sich dabei auch in einem gesellschaftlichen Erwartungs- und Erfahrungsumfeld, die der Bildung einen hohen Stellenwert geben muss. Das pädagogische Informel kennt keinen Führer auf der Bildungsbahn, keinen Regisseur von Lernszenarien, keine Magister im erzieherischen Labor. Der autodidaktische Schüler ist das unerzogene Kind in einer Schule, die ihr Reifezeugnis erst am Ende eines Lebens verleiht.

Nicht selten begegnen wir dem Wort „Autodidakt“, auch mit den Eigenarten, die einem Autodidakten zugeschrieben werden. „Typischer Autodidakt“, hören wir, wenn sich einer ohne die Spur einer zertifizierten Kompetenz mit verbissener Gründlichkeit einer Sache hingibt. Der Autodidakt neige zu Übertreibungen, lässt Fontane seinen Dubslav von Stechlin sagen – über einen erfolgreichen adligen Geschäftsmann, der im Kaiserreich als Parvenu galt. Ein forschender Lehrer, heißt es dort, zeige in seinem Prioritätswahnsinn den ganzen Trotz des Autodidakten.

Für Heinrich Heine ist der Autodidakt ein Halbwisser. Georg Klein, der sich mit Arno Schmidts bizarrer Zetteluniversalität beschäftigt, spricht von der Besserwisserei des Autodidakten. Vom Furor des Autodidakten hat Pitt (so nennt sich im Laufe seines Versuchs der Verfasser) einmal gelesen, und er bittet den klugen Kopf, der ihn beobachtet hat, um Entschuldigung, dass er sich seinen Namen nicht gemerkt hat. Anlässlich einer neuen Werkausgabe nennt Paul Ingendaay den Steinmetzen, Zeichner, Kleinbürger Günter Grass auch einen Autodidakten.Er habe die ganze übrige deutsche Literatur in die Tasche gesteckt, nicht nur im Schreiben, sondern auch im Reden, Streiten, Debattieren. Fontanes Übertreiber? Besserwisser? Trotzkopf? Autodidakten haben halt die schlechtesten Lehrer, sagt der Diplom-Pädagoge, Komponist und Produzent Jacky Dreksler, dem seine Mutter auf den Weg gab, Ich wünsch dir ein glückliches Leben (so der Titel seines Buchs) – er meinte sein Gitarrenspiel.

Bildungswissenschaftliche Theorien werden für jede Generation von Lehrern, Schülern, Eltern oder Meistern in Vielfalt entwickelt. Das Phänomen „Autodidakt“ steht jenseits aller Systeme, Theorien und Methoden. Ihm kann man sich nur auf dem Weg des kaleidoskopischen Versuchs nähern. Dabei ist dieser Eckensteher im persönlichen und gesellschaftlichen Spiel der Bildung bedeutend. Sein Bildungsweg abseits aller Regeln kann nicht Gegenstand einer akademischen Lehre oder eines Ratgebers sein, denn er folgt keinem Stand und keiner formellen Regel. Dass der Autodidakt in der pädagogischen Literatur nur als eine Fußnote existiert, wird seinem Bildungselan, der gute Resultate haben kann, in keiner Weise gerecht. Wir müssen an einer Wiedergutmachung für den vernachlässigten Autodidakten arbeiten.

In einer Blütezeit autodidaktischer Bildung ist der Artikel Erziehung in der vierten Auflage von Meyers Konversationslexikon von 1890 mit seinen vielen Links in sieben Spalten erschienen. Dagegen wenige dürre, doch umständlich präzise Sätze, wie sie den alten Lexika eigen sind, im Artikel über den Selbstgelehrten:

Autodidakt (griech. ‚Selbstgelehrter‘), ein Mensch, der in einer Kunst oder Wissenschaft einen gewissen Grad von Tüchtigkeit erlangt hat, ohne darin unmittelbar unterrichtet worden zu sein. Oft versteht man unter Autodidakten auch solche, die in dem Fach ihres Wissens und Könnens nur des mündlichen, schulgerechten Unterrichts entbehrt, aber in selbständigem Studium Bücher, Muster und andere Lehrmittel benutzt haben. Man findet bei ihnen als Folge ihres eigentümlichen Bildungsganges in der Regel Kraft, Selbständigkeit und Gewandtheit des Geistes, nicht selten indessen auch Einseitigkeit und Selbstüberschätzung ausgeprägt. Das glänzendste Beispiel eines Autodidakten in diesem weiteren Sinn ist aus der neueren Geschichte Benjamin Franklin. Autodidaxie, das Lernen ohne Lehrer.

Joseph Meyer hat in seinem ab 1840 in 46 Oktavbänden erschienenen Großen Conversations-Lexicon nicht nur dem aufstiegswilligen Bürgertum, sondern auch dem Autodidakten eine gewaltig sprudelnde Bildungsquelle erschlossen. War er nicht selber einer? – der Schuhmachersohn, der gelernte Kolonialwarenhändler, der Londoner Kaffeehändler, der Shakespeare-Bearbeiter und Scott-Übersetzer, der Gründer des Bibliographischen Instituts, der das Buch zur Massenware zu machen trachtete, der fortschrittliche Politiker, der rastlose geniale Unternehmer in vielfältigen industriellen Feldern, den kein unternehmerisches Scheitern – „Falliment“ sagte man – abschrecken konnte, Neues anzupacken, bis zum tödlichen Schlaganfall des Sechzigjährigen im Jahre 1856. Vor den gewaltigen Steinbruch des Wissens hat er das Portal mit seinem Wahlspruch „Bildung macht frei“ gestellt.

Die Stelle des selbst-genialen Meyer hat heute das große Autoren-Kollektiv von Wikipedia, das wohl erstaunlichste Produkt der noch nicht sehr alten Internet-Welt, übernommen. Wie viele Autodidakten mag es unter seinen Autoren geben? Sie kooperieren, kenntnisreich und selber wissbegierig, mit Profis aller Wissensgebiete, sie kommunizieren alle „auf Augenhöhe“ (aber das sollte man nach Michael Maars neuem Stilführer nicht sagen), und natürlich ist die Millionenschar der Nutzer des fluiden Lexikons nicht nur autodidaktisch unterwegs.

Als Wolfgang Staudte 1971 den Seewolf mit dem ungebärdigen Raimund Harmstorf verfilmte, ließ er Jack Londons Autodidakten Wolf Larsen in San Franciscos Slums jeden Tag sieben Stichwörter aus dem Lexikon pauken – „Paradoxon“ zum Beispiel. Hat er einen typischen Charakterzug ins Bild gesetzt? Dass auch Hochgelehrte einen nach Stichworten geordneten enzyklopädischen Bildungsbegriff haben mögen, zeigt der Philosoph Ernst Cassirer, der ja nicht nur Rektor der Hamburger Universität, sondern auch Vorstandsmitglied der Volkshochschule war. Seinen Großneffen, der von seinen Eltern die 24bändige Encyclopedia Britannica geschenkt bekommen hatte, fragte er – so sein Biograph Thomas Meyer – schon einige Wochen später, ob er sie schon zu Ende gelesen habe.

Die Mechaniker des Paukens? In ihrem Roman Stille Zeile Sechs lässt Monika Maron die autodidaktischen Karrieristen des DDR-Systems (von denen einer ihr Stiefvater war) Lexika auswendig lernen, um ihre durch Herkunft, Krieg und Gefangenschaft mangelhafte Bildung auszugleichen. Und natürlich folgen die Professoren ohne Abitur, deren Universität der Klassenkampf war und die Marx und Lenin anstelle des Lateins paukten, streng dem Alphabet.

In den Tagebüchern Victor Klemperers Und so ist alles schwankend klingt die Beschreibung eines KPD-Funktionärs in seinem kompensatorischen Bildungsstreben menschlicher: Volksschule, Autodidakt, Idealist, Sucher, Schwärmer – nicht Fanatiker, bildungshungrig.

In Jean-Paul Sartres Roman Der Ekel – der für den hochgebildeten Karl Heinz Bohrer ein Schlüsselroman seines intellektuellen Werdegangs war, wie er in Jetzt schildert – gibt es die wiederkehrende Figur des Autodidakten. Sie hat in der Erzählung keinen Namen, nur in einer Fußnote: Ogier P., Gerichtssekretär. Sie ist ein farblos-unsympathisches Wesen, deren wunderschöne, wenn auch verstörte Augen immerhin auffällig sind. Sie ist ein unermüdlicher Leser. Der Erzähler ist irritiert durch die Namen der zuletzt gelesenen Autoren: Lambert (Abriss der hebräischen Grammatik), Langlois (Übersetzung des Rigveda), Larbalétrier, Lastex, Lavergne. Und er versteht plötzlich die Methode des Autodidakten: er bildet sich in alphabetischer Reihenfolge. Er frisst sich durch die Bibliothek von links oben nach rechts unten. Er ist rücksichtslos vom Studium der Käfer zur Quantentheorie übergegangen, von einem Werk über Tamerlan zu einem katholischen Pamphlet gegen den Darwinismus: nicht einen Augenblick lang ist er aus der Fassung geraten. Die Zäsuren sind nur die Pausen, in denen er sein Brot isst und eine (Pitt besonders gut schmeckende) Tafel Gala Peter – er braucht offenbar viel Energie – knabbert. Hinter ihm, vor ihm liegt ein Universum. Als er später der Bibliothek verwiesen wird, ist er erst beim Buchstaben N angelangt – eine abgebrochene, eine auf absurde Weise unvollendete, eine auf verrückt systematische Weise zufällige Bildung, vor der nicht nur dem Gymnasiallehrer Sartre grausen muss.

Müssen aber die Hochgebildeten die Autodidakten unbedingt als Lernende darstellen, die in einer schrägen ABC-Sucht eine Krüppelform des alphabetisierten Geistes darstellen? Muss sich intellektueller Hochmut, der dem Autodidakten fremd ist, über autodidaktisches Streben lustig machen? Pitt fühlt sich erinnert an das kluge Buch „The Tyranny of Merit“ von Michael J. Sandel, das er auf seinem E-Book hat: an seine Warnung, die Menschen, die nicht das unverdiente Glück der Bildung und des Wohlstands haben, verächtlich zu machen.

Der Bildungstyp des Autodidakten ist so weit verbreitet und vielfältig, dass es sich lohnt, die farbigen Splitter des Kaleidoskops zu schütteln. Vielleicht lässt sich in der Mannigfaltigkeit der Erscheinungen doch so etwas wie ein geheimes Design entdecken. Die Taxonomie der pädagogischen Ziele kommt mit dem Typ nicht zurecht.

Den Entschluss, den Versuch über die solitäre Bildung zu unternehmen, fasste Pitt vor Jahrzehnten vor dem Marmorportal der Public Library in New York, diesem Geistzentrum im Herzen der Stadt an der 5th Avenue mit seinen prachtvollen Lesesälen und seinen Sammlungstempeln. Die Bibliothek wurde von Martin Radtke aus Litauen (1883– 1973) gefördert: mit dem finanziellen Dankeschön eines Autodidakten, der keine formale Erziehung genossen hatte.

Stoßen wir hinein in das bunte pädagogische Informel, in ein Reich der Bildung, das keine „Knabenführer“ kennt!

2 Der eigene Kurs

Wolf Larsen, der auch als Autodidakt navigatorische Instrumente austüftelt, sagt: Ich hab’ nie eine Schule von innen gesehen – leider. Hab’ alles selbst ausgraben müssen. Lesen und Schreiben lernte er als zwölfjähriger Kajütjunge in der englischen Handelsmarine. Maritimer Aufstieg, hart: unendlicher Ehrgeiz und unendliche Einsamkeit, ohne Hilfe, ohne Verständnis. Ich tat alles aus eigener Kraft, lernte selbst Navigation, Mathematik, Naturwissenschaft, Literatur und ich weiß nicht, was alles.

Sein intellektueller Antipode, der zum Gentleman erzogene Weyden, der fünfunddreißig Jahre zwischen Büchern verträumt hat, hört eines Nachts, aufs Schaumgekräusel der Wellen lauschend, die Stimme des Seewolfs Verse sprechen: „Denn wir fahren unseren alten Kurs, unseren eigenen Kurs, / Fern von den andern. / Denn wir fahren, denn wir wandern, unsern großen Kurs, / Den südlichen Kurs in das ewige Blau.“

Der Begriff Autodidaxie oder Lernen ohne Lehrer darf nicht ins Deutsch-Pädagogische übersetzt werden mit „Selbstbildung“ oder „Selbsterziehung“. In den Selbst-Begriffen – bis hin zum Ich-Modell des Selbstverwirklichungsmilieus (Gerhard Schulze) oder zum kalifornischen Selbstkult (Michel Foucault) – geht es um den „großen Kurs“ des Lebens, seine Sinngebung. Die Pädagogen, Theologen, Philosophen, die den jungen Menschen auf den Weg der Selbsterziehung schicken, haben die sittliche autonome Persönlichkeit im Auge. Wenn Friedrich Schneider am Beginn des mörderischsten aller Kriege, gestützt auf seine Theorie der Selbsterziehung, auch die Praxis der Selbsterziehung in 52 erläuterten Beispielen schildert, steht immer die Selbstformungsarbeit des eigenen Ich in der ethischen Wertwelt im Fokus. Und der erfolgreichen Selbsterziehung ist die Erkenntnis des eigenen Selbst vorgeschaltet. Auch Wilhelm von Humboldts universitäres Ideal der Selbstbildung ruht auf einem Fundament klassischer sprachlicher und philosophischer Bildung.

Es kapselt in seinem Freiheitsbegriff den tiefliegenden Impuls ein, in der Bildung von institutionellen und konventionellen Beschränkungen frei zu sein. In die Nähe des Autodidakten rückt er damit nicht.

In Schneiders Sorge um die Selbsterziehung wird Benjamin Franklin, in dem der Meyer das Urbild eines Autodidakten sieht, überhöht in einen Selbsterzieher großen Stils, der als Patriot und Staatsmann, Erfinder und Schriftsteller im Rahmen eines Lebensplans unablässig danach strebt, ein Täter des Guten zu sein. Er wird ein Vorbild sittlicher Vervollkommnung. Dass Franklin auf dem Gipfel einer in autodidaktischem Streben angelegten Laufbahn im Strahlenglanz seines Lebenserfolgs meint, einen von Kindesbeinen an verfolgten Vorsatz verwirklicht zu haben, ist verständlich für das 16. Kind eines vor dreihundert Jahren in die Staaten eingewanderten Seifensieders, das mit 10 Jahren im väterlichen Geschäft, mit 12 Jahren in der Buchdruckerei des Stiefbruders jede freie Stunde über den Büchern verbringt.

Die Selbsterziehung in diesem sittlichen Drang zum Besser- und Reiferwerden gehöre zum Wesen des Menschen, und auch die Fremderziehung sei im Wesentlichen nur Anregung zur Selbsterziehung, schreibt Hans R. Franz, ein Schneider-Schüler, in seiner Dissertation über die Selbsterziehung des Autodidakten Friedrich Hebbel, der seine erkämpfte fragmentarische Bildung mit einem erstaunlichen Selbstbewusstsein verbindet. Dennoch habe sich die pädagogische Theorie mit dem Wesen und den Phasen der Selbsterziehung wenig befasst. Ein Beispiel für ein „Paradoxon“, das Wolf Larsen in seinem Lexikon verstehen will?

Warum sollte sich die Pädagogik um den Autodidakten theoretisch oder nur empirisch kümmern? Er ist kein Klient des pädagogisch-medialen Komplexes mit seinen 600 000 Lehrerinnen und Lehrern und 100 000 Professorinnen und Professoren und den Heerscharen von Helfern und Ratgebern; er ist kein Kunde des akademischen Betriebs. Er folgt seinem eigenen Kurs aus Not, aus Eigensinn, manchmal in Selbstüberschätzung, oft in anarchischer Gesinnung. Und manchmal im naiven Glauben an die universelle Schlüsselgewalt von Bildung. Außerdem dürfe man nicht vergessen, sagt der Philosoph Hans Blumenberg in seinen Höhlenausgängen, in denen er sich auch mit dem Phänotyp des Erziehbaren beschäftigt, dass der Mensch nicht selbstverständlich und seiner Herkunft nach ein belehrbares Wesen sei. Er darf das sagen, denn er hat sich den Weg in die akademische Karriere früh als absoluter Leser (Rüdiger Zill) freigekämpft.

Ist der Autodidakt nicht der Schüler, den es nicht geben sollte? Der Homunculus, der seinen Glaskokon zerschlagen will und den Rat von Philosophen sucht, hört von Mephistopheles in der Klassischen Walpurgisnacht: Willst du entstehen, entsteh’ auf eigene Hand. Dagegen protestiert der Philosoph Hans Blumenberg: nein, der entwicklungsfähige Mensch brauche unabdingbar die Lehre, zu der die Festlegung des Menschen auf Mittelbarkeit, langfristig und vielfach gestuft gehört? Hat Mephisto also vielleicht eine Warnung ausgesprochen?

Der neuerdings häufig auftretende Begriff „Selbstunterricht“ ist mittlerweile okkupiert durch die digitalen Strategien des programmierten Lernens, wie sie in der Pandemie der frühen 2020er Jahre vielfach genutzt wurden und von vielen als Lernmodell der Zukunft angesehen werden. Sie haben mit einem autodidaktischen Lernen nichts zu tun, sind eher sein Gegenteil. Der „Selbsterzieher“ scheidet für die Zwecke unseres Versuchs aus wie Meyers altertümlicher „Selbstgelehrter“. Martin Walsers Selbstausbilder, den er uns anbietet im Schwanenhaus für einen Immobilienmakler mit Nichtabitur, der cleverer als ein Konkurrent mit Doktortitel ist, mag für die berufliche Weiterbildung der vielen Seiteneinsteiger stehen bleiben.

Wir Deutschen müssen wohl, wenn es um die pädagogisch einfachen Formen des Selbstunterrichts geht, griechisch sprechen. Sogar der Volksschüler Franz Beckenbauer nennt sich in der Talkshow fröhlich einen „Autodidakten“, wenn er erklärt, warum er als Fußballgladiator in New York im Central Park und nicht in der Berlitz School sein Englisch gelernt habe.

Der heroische Selbstgestalter, den Hans R. Franz in Friedrich Hebbel sieht, hat sich über sein Werden bitter geäußert: Er kommt allenthalben zu spät und gelangt wenigstens nie zu einer vollkommenen Persönlichkeit. Ihm muss es stets mehr um ein Bewerben um Kenntnis und Wissenschaft gehen als um den Erwerb. Denn der ist nicht möglich für den, der die für das Beziehen der Akademie erforderliche Reife noch nicht erlangt hat und nur darauf pochen muss, dass ich für manche positive Kenntnis, die mir abgehen mag, einen Ersatz haben kann.

Die Autodidakten höherer Ordnung will Pitt aus seinem Versuch aussperren, so lehrreich sie als Typ sind. Sie beschreibt Heinrich Bosse, 2012, in seinem Buch Bildungsrevolution 1770–1830. Arthur Schopenhauer (1788–1860), der gestützt auf ein umfassendes selbstorganisiertes Lern- und Lesepensum den Selbstdenker in sich und anderen feiert, ist ganz und gar ein Kind seiner Zeit. „Selbstlernen“, „Selbststudium“, ja „Selbstkritik“, begleitet von theoretischen programmatischen Texten, in der eine autodidaktische Pädagogik entwickelt wird, sind Schlüsselwörter einer verheißenen Bildungs- und Berufskarriere jenseits der überkommenen ständischen Zwänge. Die Geister der Aufklärung, der Klassik, der Romantik dringen überall ohne lehrhafte Begleitung in geistiges Neuland, bis sich nach und nach die akademische Gleisführung ausprägt, in der die Nebengleise des selbst geleiteten und nicht kontrollierten Selbstlernens vernachlässigt, ja geringgeschätzt werden.

Der Historiker Reinhart Koselleck stellt die Selbstbildung als einen zentralen Begriff der Aufklärung dar. In dieser kurzen wirkungsmächtigen Epoche deckte er sich beinahe mit dem Begriff der Bildung. Diese Bildung als „self-education“ wollte ja alle autoritären Fesseln abstreifen zugunsten eines mündigen Selbsttrainings und Lernens in „Selbsterziehung“ und mit dem Mut, sich des eigenen Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen, wie es der Kantsche Aufklärungsbegriff ans Herz legte. Für die Theologie sprach Schleiermacher von der Selbsterziehung in Liebe. Wilhelm von Humboldt mit seinem Ideal der zweckfreien Bildung will in der Theorie der Bildung des Menschen, dass der sich Bildende allem Stoff die Gestalt seines Geistes aufdrücken müsse. Für den Soziologen Hans Joas umfasst die Selbstbildung den kindlichen Prozess der Sozialisation, in dem der Mensch sich „gesellig“ entwickelt.

Wir tun gut daran, auf der Spur des Autodidakten das deutsche Selbst oder das angelsächsische Self zu meiden, denn die uferlosen Sources of the Self (Charles Taylor) speisen das Feld des Lebens schlechthin. Und wenn wir uns gar dem irrlichternden Begriff der „Selbstverwirklichung“ – selbst in seinem vorinflationären Gebrauch – nähern wollten, müssten wir den geistesgeschichtlichen Code von Klassik, Romantik und Moderne entziffern – wie es der Philosoph Christoph Menke 2004 in seinem Vortrag über den Wert der Selbstverwirklichung in einem spannenden Kolloquium der „Stiftung für nachberufliche wissenschaftliche Bildung“ unter der Ägide des Topmanagers Klaus Wiegandt in der Europäischen Akademie Otzenhausen tat.

Am pädagogischen Königshof – wie er sich in Teilen der Pädagogischen Literatur und den Prospekten privater Schulen präsentiert – geht es um die Persönlichkeitsbildung in sozialen Bezügen, um Urteilsfähigkeit in Autonomie und um Kompetenzen, für die Wissen und Können kollaterale Effekte sind. Mit der Wirklichkeit des formalen Prüfungswesens hat das nichts zu tun. Insofern muss der Autodidakt nicht wie das Aschenbrödel in der Küche zum Schloss schauen, wo die Töchter des Adels um den Prinzen buhlen.

In Heinrich Roths Begabung und Lernen, dem monumentalen Gutachten für den Deutschen Bildungsrat von 1969, einem für die Bildungsgeschichte wichtigen Jahr, findet der Autodidakt – was Wunder – in einem umfangreichen Sachregister keinen Platz. Auch das Programm des „lebenslangen Lernens“ und all die pädagogischen Postulate der Erwachsenenbildung zielen nicht auf Autodidakten. Auch sie wollen das gelenkte und betreute Lernen in den Curricula der formalen Effizienzkontrolle und gesellschaftlichen Funktionalität. Und mittlerweile ist ja auch das Lesen selbst – eine nicht nur für den Autodidakten unverzichtbare Basiskompetenz – zu einem von vielen mahnenden Zeigefingern begleiteten betreuten Lesen geworden.

Oft ist zu lesen, der Zweck aller pädagogischen Anstrengungen liege darin, Schüler zum selbstständigen Lernen zu erziehen. Im Lernenlernen liege das Ziel jedes Lehrprogramms. Der gesamte schulische Unterricht könnte demnach angesehen werden als ein Plan, den Schülern den Universalschlüssel zur eigenständigen Eroberung der Bildungs- und Wissenswelt in die Hand zu drücken und sie zu motivieren, ihn in die Schlösser vieler Türen zu stecken. Auf einer höheren Stufe gilt das für die Universitäten nach dem Humboldtschen Konzept, das nicht die Vermittlung von Berufsqualifikationen für Massen im „Credit Points“-Wettlauf gegen die Zeit zum Ziel hat.

In einer dynamischen Gesellschaft mit rascher Wissensentwertung müsse der Schüler mit den Methoden der Wissensaneignung und -verarbeitung vertraut sein, sagt Carl Weiß in seiner Soziologischen Pädagogik IV und nicht nur er allein. Müsse darum der Schüler zum Autodidakten erzogen werden, um sich einmal selbstständig in der Welt orientieren und mit ihren Fragen fertig werden zu können? Für die heutige Bildungswelt ist das Wort „Autodidakt“ hier nicht gut gewählt. Ein solcher Leitbegriff wäre systemfremd.

Bilden muss im Grunde der Mensch sich selbst – oder ihn das Leben, sagt Theodor Geiger, und zum Leben gehört die Gesellschaft in ihren mannigfaltigen Gruppen, die Familie, das berufliche Umfeld. Bildung sei ein Prozess, dem der Mensch ausgesetzt ist, bis in den Sarg. „Erziehung“ ist nach Geiger die auf die Bildung gerichtete Tätigkeit, durch die den Menschen Bildungshilfe gegeben wird: sie ist anstaltlich organisiert.

Der Soziologe Helmut Schelsky fügt etwas Wichtiges hinzu: Aus der Bildungshilfe sei eine bürokratische Zuteilungsapparatur von Lebenschancen geworden und die Schule sei die primäre, entscheidende und nahezu einzige Dirigierstelle für Rang, Stellung und Lebenschancen des Einzelnen in unserer Gesellschaft. Daraus folgt der Vorschlag einer Kurzdefinition: Der Autodidakt lernt nicht in einer Anstalt. Seine Selbsterziehung ist ein Selbstunterricht ohne didaktisches und methodisches Fundament, ohne curriculare Leitung.

Diese Selbsterziehung kann sogar eine Flucht in die Freiheit sein, wenn der offiziell-förmliche Erziehungsprozess stark von sozialen und politischen Ideologien geprägt und beherrscht ist. Aber man muss wohl ein Gelehrter sein wie Theodor Geiger, der in seinem Buch Erziehung als Gegenstand der Soziologie von der Warte höchster akademischer Bildung aus sagen kann: Wir alle sind ja vieles, vielleicht das Beste dessen, was wir sind, nicht durch unsere Erziehung, sondern in Abwehr gegen sie geworden. Doch sogar dieser produktive Widerstand fehlt dem Autodidakten.

3 Der Rückzug der Autodidakten

Der erfreuliche Ausbau eines alle Begabungsreserven erschließenden mehrstufigen Bildungssystems mit vielfältigen Einstiegs- und Umstiegschancen hat den Autodidakten, der in zentralen Schichten des Volkes einmal im Mittelpunkt des Bildungsgeschehens gestanden hat, an die Peripherie gedrängt. Das klassische Gymnasium ist heute nur ein Weg unter vielen zu höheren Abschlüssen. Gesamtschulen, Gemeinschaftsschulen, Sekundarschulen u. dgl. haben abiturfähige Oberstufen. Auch nach der Realschule finden viele Jugendliche den Zugang zur Hochschule an beruflichen Gymnasien, höheren Fachschulen, Fachoberschulen. In Baden-Württemberg sieht der Soziologe Hans-Peter Blossfeld in der „Zeit“ (2023) schon 40 Prozent aller Abiturienten auf diesem Weg.

Der Rückzug des Autodidakten soll hier in einem historischen Modell durch die Bildungsgeschichte einer Aufsteigersippe über „sieben Brücken“ nachgezeichnet werden. Im Nullpunkt steht ein Kind des Jahres 2024.

Ahn 1 wird 1839 als Sohn eines Häuslers in einem Dorf der katholischen Provinz geboren. Er lernt nach Abschluss der Zwergschule das Tischlerhandwerk, findet in der dörflichen Welt kein Auskommen und geht mit 30 Jahren nach H., wo er seinen Meister macht, sich aber als Selbstständiger nicht etablieren kann. Er stirbt 1908. Eine Spur seines nicht-beruflichen Bildungsinteresses ist erkennbar in dem Buch Jugendjahre, das er seinem Sohn (Ahn 2) zur Firmung geschenkt hat. Das ist der Bildungsroman des hochberühmten Augsburger Domherrn, Kirchenscholarchs und Jugendschriftstellers Christoph von Schmid, den Martin Walser in seiner Jugend noch gelesen hat. In Friedrich Schneiders Praxis der Selbsterziehung gilt dieser Autor als vorbildliche Persönlichkeit und sein Buch steht auf einer Liste pädagogisch wertvoller Darstellungen – auch der Ahn wird das so gesehen haben.

Ahn 2, Jahrgang 1869, lernt das Schlosserhandwerk, geht auf Wanderschaft, verliert als Schlossermeister seinen Betrieb in den Kriegswirren, wird Facharbeiter mit gewerkschaftlich-sozialdemokratischem Engagement in einem Großbetrieb in H. Er stirbt 1929. In ihm hat das autodidaktische Feuer mächtig gelodert. Er gibt trotz großer Familie viel Geld für Bücher aus, bildet sich zum Freizeitbotaniker und wirkt als Referent in der Erwachsenenbildung. Seine umfangreiche Bibliothek überlebt das Flammeninferno des Jahres 1943 nicht, ist aber dank eines Zufalls in zentralen Rudimenten erhalten: z. B. in Meyers Konversations-Lexikon 1887–92, Schlossers zwanzigbändiger Weltgeschichte, Ernst Haeckels Welträtsel.

Ahn 3, an der Jahrhundertwende geboren, wird nach der Volksschule in eine Präparandenanstalt gesteckt, die begabte junge Leute für die Volksschullehrer-Seminare qualifiziert. Er flieht aus der Anstalt in den Ersten Weltkrieg und kehrt zurück in eine problematische Republik. In Gelegenheitsarbeiten und fleißigem Abendstudium – „autodidaktisches Studium“, schreibt er in einen seiner Lebensläufe – entdeckt er seine Talente für Wort und Grafik, wird Journalist und Werbeleiter einer Tageszeitung. Seine autodidaktische Laufbahn, die ihn wohl weit geführt hätte, wird 1942 durch den frühen Tod beendet.

Ahn 4 wird 1938 in H. geboren. Der früh Vaterverwaiste erwirbt nach Volks- und Handelsschulen die fakultätsgebundene Reife und studiert Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Seinen als schmerzlich empfundenen Mangel an gymnasial-allgemeiner Bildung trachtet er durch intensive Lektüre wettzumachen, und seine Fachstudien ergänzt er durch ein persönliches, nicht-strukturiertes Studium generale. Als Manager eines Konzerns in F. geht er in den Ruhestand.

Ahn 5 wird 1963 in F. geboren. Er besucht das Gymnasium Musterschule – Anfang des 19. Jahrhunderts eine bürgerliche Reformschule, an der auch Friedrich Fröbel lehrte – bis zum Abitur und studiert nach einer Banklehre und dem Zivildienst Rechtswissenschaften und arbeitet in einer Bank in F.

Ahnin 6 wird 1988 in Bad H. geboren. Sie besucht eine Freie Waldorfschule. Nach Schulaufenthalten und Studien in Frankreich und in den Vereinigten Staaten studiert sie Politische Wissenschaften in B. und kann dank ihrer Exzellenz und fördernder Umstände hoffen, im Fach Umweltökonomie einen Lehrstuhl zu gewinnen.

Das Kind ist 2022 geboren. Es ist von den Eltern – der Vater, ledig, ist Professor in Schweden – bereits in einem renommierten Internat in der Schweiz angemeldet.

Die Autodidakten sind eine marginalisierte Art in der weitläufig-differenzierten Erziehungs- und Bildungslandschaft. Bis zur Mitte des vergangenen Jahrhunderts waren sie eine stille Mehrheit, eine breite fundamentale Schicht in der Bildungspyramide. Deren Basis schmilzt weg, als habe man Gletscherblöcke für ihren Bau verwendet. Es wird ein in seiner Vielfalt reizvolles und überaus konstruktives Bildungsphänomen geschwächt. Das Bildungssystem hat – in der Wirkung, nicht im Motiv – die auf Selbsthilfe angewiesenen oder vertrauenden Eigenbrötler zu Randsiedlern der Bildungslandschaft gemacht. Wird es für sie Reservate geben wie für die Indianer der Regenwälder und Prärien? Werden ihre Spürnasen und Fährtenaugen auf den glatten, harten, umzäunten Wegen der hochprofessionellen und hochformalisierten Bildungszivilisation mit ihren 18 000 akademischen Studiengängen und ihren in Milliarden Kreditpunkten glänzend verbrieften Graden nicht mehr gebraucht?

Pitt war Zeuge einer Zeremonie: Die Gewerkschaft ver.di verlieh die Herbert-Wehner-Medaille an die Schülerinnen und Schüler der Klassen 8 und 9 einer Hauptschule in Hamburg-Billstedt für ein bewundernswertes zivilgesellschaftliches Engagement. Als die jungen Preisträger etwas verlegen, doch fröhlich im Rampenlicht standen, sagte ihre Lehrerin etwas, das Pitt erschütterte: „Die jungen Menschen brauchen Wertschätzung. Sie gehören zur Minderheit der Schüler, die unsere Gesellschaft ab Klasse 6 ausgrenzt.“ Die Hauptschule eine „Restschule“? Nur ein Viertel aller Schüler besuchen die Hauptschule, die doch einmal (als Volksschule) ein lebenswichtiger Bildungspfeiler neben Realschule und Gymnasium war.

Als die Volksschüler Mitte der 1950er Jahre ihre Schule verließen, konnte der Rektor in der Abschiedsfeier sagen: „Ihr habt das Rüstzeug für ein tüchtiges Leben.“ Allerdings: damals machten nur 7 Prozent eines Schülerjahrgangs das Abitur und 20 Prozent hatten den Abschluss einer sog. Mittelschule. Von Ausgrenzung konnte nicht die Rede sein. Das solide Bildungsfundament war Trägerin dessen, was „Wirtschaftswunder“ genannt wurde. Auf ihm konnten sich die Potentiale einer späteren autodidaktischen Bildung gut entfalten.

Das sanfte Sterben des Autodidakten begann in jener Zeitzone des bildungspolitischen Aufbruchs („Aufstieg durch Bildung“) der 1960er und 1970er Jahre, für den Namen wie Georg Picht und Ralf Dahrendorf (Stichwort: Chancengleichheit) stehen. Bis zu dieser reformatorischen Zäsur gab es in den so genannten Volksschulen viele begabte junge Menschen, die mit ihren klugen Köpfen an einen starren Deckel stießen und die ein höheres Bildungs- und Berufsziel auf eigene Faust – in vielen Fällen mit Hilfe der Möglichkeiten des Zweiten Bildungsweges – als Selbstunterrichter anstreben mussten, aber auch konnten.

Heute können wir erwarten, dass jeder junge Mensch von der Grundschule aus in differenziert aufbauende Schulformen geführt wird, in denen er im Idealfall seine Begabung bis zu persönlichen Grenze ausfalten kann. Das autodidaktische Hilfsprinzip der Pädagogik scheint sein Recht verloren zu haben.

Doch die schichtenspezifischen Hemmungen für eine höhere Bildung sind heutzutage keineswegs residual. Deutschland ist mittlerweile das Land, an dem höhere Bildungsabschlüsse am stärksten durch die familiäre Herkunft begrenzt sind. Die von den Bildungsforschern Kai Maaz, Ulrich Trautwein und Franz Baeriswyl im Auftrag der Vodafone-Stiftung erarbeitete Studie Herkunft zensiert? (2011) zeigt: Bei einer schichtenunabhängigen Benotung – das heißt: würden Arbeiterkinder für gleiche Leistungen die gleichen Noten erhalten wie Akademikerkinder – würde sich der Anteil der Arbeiterkinder auf Gymnasien von 19,2 auf 28,5 Prozent erhöhen, und der Wert könnte auf 32,5 Prozent gesteigert werden, würden sich die Eltern beim Übergang auf die höhere Schulform unabhängig von ihrer sozialen Lage entscheiden (können).

Viele andere, ähnliche Studien deuten darauf hin, dass es auch in Zukunft viele Menschen geben wird, die sich als Autodidakten von den sozial bestimmten Entscheidungen ihrer Eltern emanzipieren und ihr Lern- und Begabungspotential auf eigene Faust ausschöpfen wollen. Ein großes Reservoir strebenden Autodidaktentums wächst in den Millionen Einwanderern hinzu (wobei nicht nur an den wichtigen Spracherwerb zu denken ist, der allerdings auch bei Autochtonen problematisch wird, wie die neueste Pisa-Studie zeigt).

Dennoch gilt im Allgemeinen: Die Autodidakten sterben aus. Die Weltgeschichte, sagt Schiller, ist das Weltgericht: das hat ihre Kompetenz gewogen und für zu leicht befunden für eine komplizierte Welt, die höchste Anforderungen an ein ausgefeiltes, auf Effizienz gerichtetes Lernprogramm im globalen Wettbewerb stellt. Sie sahen das gelobte Land, das die Bildungsreformer gezeigt haben, vor sich liegen und konnten es nicht betreten. Sie sahen ihren Traum von den Enkeln gelebt. In ihrer Potenz gehörten sie zu den urwüchsigen Geschlechtern, die vor ihnen ausstarben: den heilkräftigen Barbieren und heidnischen Magiern, den Astrologen und Alchimisten und Straßenmusikanten, den Landsknechten und fahrenden Rittern. Und Tropfen ihres alten mutigen Blutes rollen in den Adern aller hochgebildeten Spezialisten der modernen Zeit.

Der Baum der Erkenntnis gehört zu Gottes Garten, in dem ohne Aufsicht keine Früchte gepflückt werden dürfen. Mit der nie stillbaren Neugier Evas haben alle Aufseher, die mit dem Erzieherprivileg der A 13 bis A 15 und der C- und W- und B-Ränge belehnt und belohnt sind, ihre Probleme. Der Staat mit seinen Bildungs- und Kultusministerien und ihren Konferenzen kennt den Autodidakten nicht. Er ist nicht administrierbar. Ob er förderungswürdig sei, muss nicht erörtert werden, denn er bewegt sich in einer formlosen Bildungskategorie. Er ist z. B. der 2023 verstorbene Konzernherr Claus Wisser, der sein Studium abbrach, sich mit Eimer und Putzlappen selbstständig machte in einer Ich-AG, aus der sich ein Reinigungs-, Facility- und Immobilienunternehmen mit Milliarden Umsatz entwickelte, das beinahe daran gescheitert wäre, dass man dem Ungelernten die Führung eines selbstständigen Meisterbetriebs verweigerte.

Die Autodidakten bilden eine virtuelle Akademie ohne Statut und Gremien. Sie erkennen sich an ihren Unzulänglichkeiten und an ihrem Streben. Vielleicht rotten sich gerade die hartnäckigen Exemplare ihrer Art kommunikativ, übers Internet, zusammen, um gegen den kollektiven Untergang zu protestieren. Sollten die Einzelgänger jedoch, ähnlich den Schriftstellern in den 1960er Jahren, ihre eigenartigen Lernprozesse kollektiv organisieren, stünden sie auf der Schwelle einer Aula, in der ein Rektor am Pult mit der Diplomurkunde wartet.

Wie die Eule der Minerva nachts fliegt, will Pitt versuchen, den autodidaktischen Bildungstyp in seinem Dreiklang von Bildungsglück, Bildungsdrang und Bildungsnotstand zu beschreiben, und sei es nur für ein pädagogisches Archiv oder für ferne Generationen, darunter das im Jahre 2022 geborene „Kind“ unseres Generationen-Modells, das ihr Bildungspatent schon mit der Taufe empfängt.

Vielleicht wird etwas vom Zauber der Bildungswelt jenseits von Programm und Curriculum spürbar. Sie war jedenfalls offener für Abenteuer als heutzutage, in denen Ganztagsschülerinnen und -schüler in ihrem von Eltern und Lehrern auferlegten Bildungsstress oder die Studierenden in ihren Bologna-Zwangsjacken und Klausurenfahrplänen weder Zeit noch Kraft haben für das lustvolle Wandern im Labyrinth des Wissens, des Entdeckens und der Erkenntnis. Der autodidaktische Furor darf nicht in der säkularen Domestikation des Lerntriebs verschwinden. Bundeskanzler Helmut Schmidt hat in der „Zeit“ fröhlich bekannt, dass er an seiner Hamburger Universität „nur wenig gelernt“, jedoch nach dem Krieg „unendlich viele Bücher gelesen“ habe. Professor Rainer Hering, der ihn in einem Aufsatz für die „Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte“ (2023) so zitiert, belegt aber nach dem Studienbuch aus dem Archiv einen staunenswert umfangreichen Vorlesungskatalog.

Und vielleicht gibt es eine Flucht in die autodidaktische Freiheit als Gegenwehr zur bildungsformalen Fesselung, wenn der amerikanische Ökonom Bryan Caplan mehr Aufmerksamkeit für eine kühne These gewinnt. Das lange, Lebenszeit und -kraft verschlingende formale Dauerstudium bringe nicht mehr das große Plus an Kreativität, Lösungsintelligenz und Produktivität durch verwertbares Können und Wissen. Es verbriefe nur noch die Fähigkeit, abstrakte Aufgaben zu lösen, deren Lösung gar nicht gefragt ist, weder intellektuell noch ökonomisch. Das Diplom ist danach das Siegel einer Produktivitätsvermutung und verschafft einen Vorteil im Wettbewerb um Chancen, die erst das Tor für ein produktives Tun öffnen, in dem das eigentliche Lernen beginnt. Übersieht er nicht etwas Entscheidendes? Wer ein anspruchsvolles Diplom erringt, hat bewiesen, dass er ein verbindliches Ziel in kluger Methodik in einem langwierigen konsistenten Handeln, das auch ein bisschen Askese verlangt, erreichen kann. Darauf kommt für Leben und Erfolg eben alles an.

4 Bildungswelten, anekdotisch und episodisch

Dem 7-Generationen-Modell können wir Skizzen bildungsgeschichtlicher Stadien zuordnen, in denen sich das gesellschaftliche Erziehungssystem seiner Zöglinge in prägnant unterschiedlicher Weise angenommen hat:

Der Ahn 1 des Modells wurde schon in einem pädagogischen Jahrhundert geboren, in dem jedes Kind mindestens vom 6. bis 14. Jahr eine – oft konfessionelle – Volkschule besuchte, in der es in der christlichen Religion, in der Muttersprache, im Rechnen und der elementaren Raumlehre, in Geschichte, Erd- und Naturkunde, in Zeichnen, Singen, Turnen und (weiblicher) Handarbeit unterrichtet wurde. Diese Schulform trug ihren Namen zurecht: denn sie war die Regelschule für die große Mehrheit des Volkes, die nicht zu Adel und höherem Militär, zur Gelehrtenrepublik, zum gehobenen Beamtentum und gut situierten Bürgertum gehörte. In der Gemeinde konnte man für jeden Täufling die Schullaufbahn prognostizieren.

Die für die Volkschule Geborenen konnten nur durch lebensgeschichtlichen Zufall und durch eine fördernde höhere Hand in eine andere Laufbahn gehoben werden. Pitt will zwei Beispiele nennen, die ihn fasziniert haben.

Der Philosoph Johann Gottlieb Fichte (1762–1814), Kind eines Bandmachers in der Oberlausitz, im Dorf früh durch seine Intelligenz auffällig, wurde von einem Adligen der Umgebung, dem Ernst Haubold von Miltitz, als förderungswürdig entdeckt, weil der Achtjährige ihm die Predigt des Pfarrers wiederholen konnte, die er wegen einer Verspätung in der Kirche nicht hören konnte. Der Gönner brachte den Knaben in ein Pastorenhaus, mit zwölf auf die Meißener Lateinschule und wenig später zur berühmten Fürstenschule Pforta bei Naumburg, eine wahre Pflanzstätte von Genies.

Ein anderer Glückspilz, im Eichsfeld geboren, ist der Fürstbischof von Breslau, Bismarcks kraftvoller Gegenspieler im Kulturkampf, Georg Kardinal von Kopp (1835–1914). Der Sohn eines Webers wurde vom Duderstädter Stadtpfarrer entdeckt und aufs Progymnasium geschickt, später zum bischöflichen Gymnasium in Hildesheim, einer Jesuitengründung, und er kam nach dem Abitur über den Umweg des Telegrafendienstes zum theologischen Studium.

Als der Tischler nach H. kam, standen die Arbeiterbildungsvereine in Blüte; als Katholik ist er vielleicht zu einem Kolping-Verein gegangen. Vorträge, Diskussionen, Unterricht – aber das Wichtigste waren die Lesezimmer und Bibliotheken, die Emporlese-Bibliotheken, wie der SPD-Bildungspolitiker Peter Glotz sie nannte. Zuständig für die Bibliothek des Leipziger Arbeiterbildungsvereins war der Drechsler August Bebel: der gründete 1869 in Eisenach seine sozialdemokratische Arbeiterpartei. Eine der großen deutschen Volksparteien ist von Autodidakten gegründet worden. Friedrich Wilhelm Fritzsche, der den hochgebildeten, brillanten Ferdinand Lassalle einlud, mit seinem Offenen Antwortschreiben die Parteigründung zu initiieren, ist in seinem Leben ein halbes Jahr zur Schule gegangen (er hat, nebenbei, den Gedichtband „Blut-Rosen“ veröffentlicht, den Pitt 2021 neu herausgegeben hat). Lassalle, zum Kaufmannsstand bestimmt, erstritt sein Abitur als Externer durch einen glänzenden Selbstunterricht und heftigen Kampf gegen die Schulverwaltung. Die Schlacken des Autodidaktentums will Klaus Harpprecht noch an manchem Mitglied der Regierung Willy Brandts, dem er als Ghostwriter diente, entdeckt haben.