Lore-Roman 94 - Helga Winter - E-Book

Lore-Roman 94 E-Book

Helga Winter

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Beschreibung

Irina und Gunnar leben ein bürgerliches Leben. Sie sind jung, gesund und haben zwei prächtig geratene Kinder. Schon bald wollen sie in ihr eigenes Häuschen ziehen. Während Gunnar zufrieden ist, reicht Irina das Leben als Hausfrau und Mutter nicht. Manchmal wünscht sie sich mehr, obwohl sie weiß, dass sie eigentlich viel besitzt - eine glückliche Familie, um die sie viele Leute beneiden.
Gunnar hat schon unzählige Komplimente über seine reizende Frau gehört. Auf jedem Betriebsfest der Firma ist Irina der heimliche Star. Auch in diesem Jahr wartet man gespannt, wann Irina die Bühne betritt und wieder einen Schlager zum Besten gibt. Sie besitzt das gewisse Etwas in der Stimme und einen natürlichen Charme, dem niemand widerstehen kann. Die Leute sind ganz aus dem Häuschen nach ihrem Auftritt. Man klatscht sich die Hände wund und trampelt gleichzeitig mit den Füßen. Irina dankt mit reizendem Lächeln für den Beifall, und als sie das Podium verlassen will, stellt sich ihr ein Fremder in den Weg. Sein Name ist Alexander Richter, und er möchte Irina zum Star machen ...


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Inhalt

Cover

Impressum

Liebe war ihr nicht genug

Vorschau

BASTEI LÜBBE AG

Vollständige eBook-Ausgabeder beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe

© 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln

Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller

Verantwortlich für den Inhalt

Titelbild: Stokkete / shutterstock

eBook-Produktion:3w+p GmbH, Rimpar (www.3wplusp.de)

ISBN 9-783-7517-0691-9

www.bastei.de

www.luebbe.de

www.lesejury.de

Liebe war ihr nicht genug

Sie wollte Karriere machen

Von Helga Winter

Irina und Gunnar leben ein bürgerliches Leben. Sie sind jung, gesund und haben zwei prächtig geratene Kinder. Schon bald wollen sie in ihr eigenes Häuschen ziehen. Während Gunnar zufrieden ist, reicht Irina das Leben als Hausfrau und Mutter nicht. Manchmal wünscht sie sich mehr, obwohl sie weiß, dass sie eigentlich viel besitzt – eine glückliche Familie, um die sie viele Leute schrecklich beneiden.

Gunnar hat schon unzählige Komplimente über seine reizende Frau gehört. Auf jedem Betriebsfest der Firma ist Irina der heimliche Star. Auch in diesem Jahr wartet man gespannt, wann Irina die Bühne betritt und wieder einen Schlager zum Besten gibt. Sie besitzt das gewisse Etwas in der Stimme und einen natürlichen Charme, dem niemand widerstehen kann. Die Leute sind ganz aus dem Häuschen nach ihrem Auftritt. Man klatscht sich die Hände wund und trampelt gleichzeitig mit den Füßen. Irina dankt mit reizendem Lächeln für den Beifall, und als sie das Podium verlassen will, stellt sich ihr ein Fremder in den Weg. Sein Name ist Alexander Richter, und er möchte Irina zum Star machen ...

»Irina ...!« Gunnar Hoffmann stand plötzlich da. »Du weinst?« Er ließ seine Aktentasche fallen und schloss seine junge Frau in die Arme. »Was hat es denn gegeben, Liebes?«

»Die Gardinen! Michael hat sie heruntergerissen. Sie sind hin. Wieso kommst du jetzt schon? Wie spät ist es eigentlich?«

»Ich konnte heute eine Stunde früher Schluss machen.« Gunnar Hoffmann zog sein Taschentuch hervor und tupfte behutsam die Tränen aus ihren Augen. »Nun lach wieder«, bat er.

»Ich kann nicht.« Irina schüttelte den Kopf. »Die Gardinen sind kaputt, sie haben einen langen Riss. Und ich habe mich doch so darüber gefreut ...«

»Kinder sind nun einmal so. Nimm es nicht so tragisch. Sicherlich lassen sich die Gardinen flicken.«

»Hast du eine Ahnung! Und ich will auch keine geflickten Gardinen.« Irina presste ihren Kopf an die Brust des Mannes. »Dein Essen ist auch noch nicht fertig. Michael muss endlich begreifen, dass er zu gehorchen hat. Ich kann doch nicht immer hinter den beiden stehen.«

»Wir bringen die Kinder heute Abend früher ins Bett, und dann gehen wir aus. Siehst du mir nichts an, Liebes?«

Irina beugte sich etwas zurück und musterte ihn.

»Haben wir im Lotto gewonnen?«

Der Mann schüttelte den Kopf.

»Vom nächsten Ersten bekomme ich hundert Mark im Monat mehr. Der Chef ist mit meiner Arbeit zufrieden. Und deshalb lade ich dich heute zu einer Flasche Wein ein.«

»Hundert Mark mehr ... Die Gardinen haben über vierhundert Mark gekostet.«

»Aber nicht die Stores allein«, erinnerte der Mann. »Du bist geschickt, du bringst die Sache bestimmt in Ordnung. Habe ich dir schon gesagt, dass ich dich liebe?«

»Ach du ...!« Irina errötete tatsächlich noch, als der Mann sie in den Arm nahm und küsste. Eigentlich war es albern, dass sie noch immer wie in den Flitterwochen lebten; aber Gunnar war nun einmal so. Und im Grunde fand sie es herrlich.

»Die Kinder! Sie können jeden Augenblick auf den Flur kommen ...«, murmelte sie.

»Und? Sie dürfen ruhig sehen, dass Papa und Mama sich liebhaben. Ich helfe dir noch in der Küche, damit du heute früher fertig wirst.«

»Eigentlich habe ich gar keine Lust auszugehen. Wäre das mit den Gardinen nicht passiert, dann schon eher.«

»Es ist keine Tragödie. In drei Jahren werden wir in einem eigenen Haus leben können, stell dir das nur einmal vor! In einem Haus mit einem schönen Garten. Dort können die Kinder sich austoben.«

»Die hundert Mark sind auch nicht viel mehr.«

»Ich zahle sie selbstverständlich auf unseren Bausparvertrag ein. Desto geringer sind später die Lasten. Sind wir nicht zu beneiden, Irina? Jung, gesund, wir haben zwei prächtig geratene Kinder ...«

»... die neue Gardinen zerreißen«, warf Irina bitter ein.

»Und bald werden wir in einem eigenen Häuschen wohnen«, fuhr Gunnar fort, ohne ihre Klage zur Kenntnis zu nehmen.

»Ich wünschte, ich wäre so veranlagt wie du, so zufrieden.«

Irina war verlegen, als der Mann sie auslachte. Manchmal wünschte sie sich nämlich mehr, obwohl sie wusste, dass sie viel besaß.

Aber es machte einfach keinen Spaß, wenn man als Hausfrau mit jedem Groschen rechnen musste. In den großen Läden gab es so herrliche Sachen zu kaufen — aber nicht für sie. Später einmal, wenn sie das Haus abgezahlt haben würden.

Aber dann bin ich schon eine alte Frau, dachte Irina. Jetzt, wo ich Freude daran habe, mir hübsche Kleider zu kaufen, kann ich sie mir nicht leisten.

Dabei verdiente Gunnar ausgezeichnet. Aber ein Haus war natürlich ein Luxus, der mit Entbehrungen bezahlt werden musste.

»Du hast heute deinen schwarzen Tag.«

Gunnar Hoffmann gab seiner Frau einen Kuss auf die Nasenspitze. Er kannte ihre Stimmungen, aber er nahm sie nicht ernst. Irgendwie gelang es ihm stets, sie wieder zum Lachen zu bringen.

»Du wolltest gerade Geschirr abwaschen? Da bin ich zur rechten Zeit nach Hause gekommen.« Er griff nach einem Trockentuch. »Was gibt es denn heute Gutes zu essen?«, erkundigte sich der Mann, als er nach dem ersten Teller griff.

»Bratkartoffeln mit Ei. Heute ist Donnerstag.«

»Und am Freitag bekommt Frau Hoffmann erst ihr Haushaltsgeld.« Gunnar schmunzelte. »Ich esse Bratkartoffeln sehr gern«, beteuerte er. »Und die Kinder auch.«

»Wäre es anders, dann würde es auch nichts ändern. Ich komme mit dem Geld einfach nicht aus. Alles wird teurer.«

»Du wirtschaftest gut. Gehungert haben wir noch nicht, soweit ich mich erinnere.« Der Mann beugte sich vor und drückte einen Kuss auf ihren schlanken Nacken. »Den ganzen Tag freue ich mich auf das Nachhausekommen«, murmelte er.

Irina lächelte jetzt auch. Er hatte ja recht, es war Unsinn, sich über einen Riss in der Gardine zu ärgern. Sicherlich konnte sie ihn stopfen oder sonst etwas machen, damit er nicht auffiel. Sie neigte nun einmal dazu, Kleinigkeiten viel zu tragisch zu nehmen.

Gunnar war ganz anders veranlagt. Nicht leichtlebig, das konnte man nicht sagen, aber er war ein richtiger Lebenskünstler, der sich über Dinge, die er nicht ändern konnte, nicht ärgerte.

»So, und jetzt werde ich unseren Kindern guten Tag sagen. Ich habe Michael lange genug zappeln lassen.« Die beiden mussten ihn kommen gehört haben, und sicherlich zitterte der Kleine vor Angst. Gunnar Hoffmann fand, dass diese Angst Strafe genug war.

»Sei streng mit ihm«, gab Irina ihm mit auf den Weg. Sie schnitt die Pellkartoffeln in die Pfanne. »Sonst tanzen sie dir auf dem Kopf herum.«

»Wäre ein bisschen eng für die beiden«, meinte Gunnar todernst und legte die Linke auf sein Haar. Bevor er hinausging, nahm er Irina noch rasch in den Arm. »Ich kann mir gar nicht vorstellen, ohne dich zu sein«, sagte er leise.

»Dann stände jetzt eine andere Frau an meiner Stelle in der Küche, und du würdest ihr die gleichen Komplimente machen«, behauptete Irina.

Und ein klein wenig glaubte sie sogar daran. Gunnar war ein vernünftiger Mann, der der Ehe ihre besten Seiten abgewann. War es nicht viel vernünftiger, seiner Frau immer wieder zu versichern, dass er sie liebe, als gleichgültig neben ihr herzu leben?

Wie denkt und fühlt er wirklich?, fragte sich die junge Frau, als ihr Mann hinausging. Sie selbst war in keiner Weise etwas Besonderes. Sie hatte als Stenotypistin in der Firma gearbeitet, in der Gunnar Abteilungsleiter war, und schon ein halbes Jahr nach ihrem Kennenlernen hatte er sie geheiratet.

Irina wusste, dass es klügere und schönere Frauen gab als sie, sparsamere und vernünftigere. Sie hielt nicht so viel von sich wie Gunnar von ihr.

»Ich wollte es nicht, Vati, ich habe da nur mal angefasst, und da waren sie schon unten.« Michaels Worte überstürzten sich. »Frag Dörthe.«

»Mutti hat dir verboten, an den neuen Gardinen zu reißen. Du bekommst morgen keinen Pudding.«

»Darf ich seinen mitessen?« Dörthe schaltete rasch und leckte sich schon im Vorgeschmack des Genusses die Lippen.

Gunnar Hoffmann strich seinem verängstigten Sohn über den Kopf.

»Du hast deiner Mutti großen Kummer bereitet, Michael. Du musst jetzt besonders lieb zu ihr sein, damit sie nicht mehr weint. Versprichst du es mir?«

»Ja, Vati.« Verehrungsvoll schaute Michael zu dem Mann hoch.

***

»Frau Eilert könnte auf die Kinder aufpassen«, meinte Gunnar Hoffmann ein paar Tage später, als sie abends im Wohnzimmer zusammensaßen. Die Kleinen schliefen schon, Gunnar rauchte eine Pfeife, während Irina einen Strumpf stopfte.

»Muss ich wirklich mit?« Die junge Frau krauste die Nase. »Aus euren Betriebsfesten mache ich mir nichts. Die meisten Leute trinken zu viel und erzählen dann schmutzige Witze, und die Damen bei euch ...«

»Du musst mitkommen«, bestand er dann auf seinem Willen. »Man würde es übel vermerken, käme ich allein. Seit einigen Jahren feiern wir unsere Feste mit den nächsten Angehörigen. Und du hast ein neues Kleid, das du unbedingt ausführen musst.«

»Wenn du meinst ... Aber dass wir Frau Eilert bitten sollen, auf die Kinder aufzupassen ...«

»Was hast du gegen Frau Eilert? Sie ist doch sehr nett.«

Irina warf ihm einen schrägen Blick zu.

»Mir ist sie zu nett«, gestand sie dann. »Sie ist eine Frau ohne Mann, und man erzählt sich allerlei über sie.«

»Seit wann gibst du etwas auf Klatsch?«, wollte Gunnar wissen.

»Es ist nicht lauter Klatsch, was man sich erzählt. Und vergiss nicht — sie hat ein uneheliches Kind.«

»Das ist heutzutage keine Schande mehr.«

»Ich mag die Art nicht, wie sie dich anschaut«, ließ Irina schließlich die Katze aus dem Sack. »Du scheinst ihr Typ zu sein.«

»Bist du etwa eifersüchtig?« Gunnar legte seine Pfeife in den Aschenbecher und beugte sich vor. »Auf Frau Eilert? Das ist doch nicht möglich.«

»Du findest sie jedenfalls sehr nett, das hast du mir schon öfters gesagt. Ich weiß nicht, was ihr Männer an solch einer Frau findet.«

»Nun ...« Gunnar griff nach seiner Pfeife und schob sie zwischen die Zähne. Er hätte seiner Frau einige Vorzüge der Nachbarin aufzählen können.

»Mag sein. Müssen wir eigentlich über Frau Eilert sprechen? So interessant finde ich sie nicht.«

»Aber sie dich. Ich habe doch Augen im Kopf und sehe, wie sie dich anstarrt. Zu mir ist sie immer so süßfreundlich, und dabei möchte sie mir bestimmt Gift in den Kaffee tun, darum möchte ich wetten.«

»Warum? Hast du ihr etwas getan?«

»Ich bin verheiratet, mit dir verheiratet, und sie hat keinen Mann.«

»Und das ist deiner Meinung nach Grund für eine Frau, einer anderen den Tod zu wünschen?« Gunnar schüttelte nachsichtig den Kopf.

»Für die ja. Ob ich vor dem Fest noch zum Friseur gehen muss?«

»Brauchst du nicht. Du hast das hübscheste Haar der Welt.«

»Zu meinem neuen Kleid brauchte ich eigentlich eine andere Tasche. Ich kann unmöglich die schwarze nehmen, und die braune sieht schon schäbig aus. Dass ich mir auch nie alles passend kaufen kann«, knurrte sie. »Immer sieht bei mir alles zusammengesucht aus.«

»Wie teuer ist die Tasche denn?«

»Ich habe eine ausgestellt gesehen für zweiundsiebzig Mark. Ein Traum! Sie passt genau zu meinem Kleid.«

»Kauf sie dir morgen.«

»Gunnar!« Irina schlang die Arme fest um seinen Nacken und küsste ihn leidenschaftlich.

Geklärt werden musste nur noch, wer auf die Kinder aufpassen sollte. Frau Eilert würde es gern tun, und außerdem wohnte sie nebenan. Aber wenn Irina absolut nicht wollte ...

Er schätzte Frau Eilert sehr. Sie war klug, hatte Humor, und sie verstand, sich sehr elegant zu kleiden.

»Bist ein kleines Schäfchen«, murmelte er ihr zärtlich ins Ohr. Er kannte ihre Schwächen, aber deshalb liebte er sie nicht weniger. »Wollen wir schlafen gehen?«

»Ich bin eigentlich noch gar nicht müde.«

»Aber ich.« Gunnar drückte sie fest an sich. »Ich würde mit keinem Menschen auf der Welt tauschen«, gestand er, bevor er sie auf die Füße setzte. »Auf dem Betriebsfest wird man mich um dich beneiden.«

»Die Frauen der Direktoren tragen sicherlich viel kostbarere Kleider. Und denn den Schmuck, mit dem sie sich behängen ...«

»Um von ihren Falten abzulenken. Du brauchst keinen Schmuck, Irina. Ich bin stolz auf dich. Willst du wieder ein Lied singen wie letztes Mal?«

***

»Gefällt es dir?« Gunnar musste beim Tanzen fast schreien, um sich Irina verständlich zu machen. Dabei war seine Frage fast überflüssig, denn die Augen der jungen Frau strahlten glücklich.

»Ich langweile mich tödlich!«, schrie Irina lachend zurück.

Sie sah erhitzt aus, ihre Frisur lag nicht mehr so korrekt wie zu Beginn des Abends, aber gerade dadurch wirkte sie so frisch und natürlich.

Kein Wunder, dass nicht nur Gunnar sie immer wieder verzaubert anschaute. Irina besaß einen Charme, dem sich einfach niemand widersetzen konnte. Gunnar hatte schon unzählige Komplimente über seine reizende Frau gehört und war entsprechend stolz auf sie.

Nach dem Tanz führte er sie an ihren Tisch zurück und goss ihr das Weinglas wieder voll.

Unter dem Tisch griff er nach ihrer Hand und drückte sie.

»Ich bin heute noch verliebter als sonst«, beteuerte er.

»Alter Schmeichler.«

»Gegen das Alt verwahre ich mich entschieden.« Widerstrebend nur ließ Gunnar ihre Hand los. »Ich glaube, das gilt dir«, meinte er, als die Musiker einen Tusch bliesen.

Der Conférencier dieses Abends, von Beruf Buchhalter, der wirklich ungemein witzig ansagte, verneigte sich.

»Ja, dein Lied. Ich drücke dir beide Daumen. Hast du Lampenfieber?« Gunnar war ein wenig blasser geworden, als der Ansager Irinas Auftritt ankündigte.

»Nein, kein bisschen.«

Die junge Frau trank rasch das Glas leer und ging dann zum Podium. Starker Beifall empfing sie. Sogar die Damen klatschten eifrig, denn Irina war nicht der Typ Frau, auf den sie eifersüchtig waren. Sie sah aus wie eine Frau, auf die man sich verlassen kann.

»Und womit werden Sie uns dieses Jahr erfreuen, gnädige Frau? Wir alle haben Ihren Auftritt vom letzten Jahr noch in bester Erinnerung«, begrüßte sie der Conférencier.

»Vielen Dank.«

Irina stand unbefangen vor dem Mikrofon. Es war merkwürdig, dass sie so gar keine Hemmungen hatte, vor den vielen Menschen zu singen. Aber es war ja niemand da, der kritisch und sachverständig zuhörte. Der Unterhaltungsteil des Abends wurde allein durch Darbietungen von Betriebsangehörigen bestritten.

Irina nannte einen neuen Schlager, der überall gesungen und gepfiffen wurde. Die Musiker setzten mit dem Vorspiel ein, und dann sang Irina, als wäre sie es gewohnt, täglich aufzutreten.

Gunnars Herz klopfte stark in seiner Brust. Ich bekäme es niemals fertig, mich da oben zu präsentieren, dachte er. Wie nett und natürlich sie ist, und wie hübsch das Lied klingt, wenn sie es singt!

Der Beifall nach ihrem Lied ließ das Nachspiel des Orchesters völlig im Lärm untergehen. Man klatschte sich die Hände wund und trampelte gleichzeitig mit den Füßen. Viele waren aufgesprungen und schrien noch dazu.

Irina dankte mit reizendem Lächeln für den Beifall. Aber als sie das Podium verlassen wollte, stellte sich ihr der Conférencier in den Weg. Was er sagte, konnte man nicht verstehen, aber sicherlich bat er Irina um eine Zugabe.

»Toll!«, sagte ein Mann an einem Tisch in der Nähe des Eingangs. »Wirklich toll.«

»Schon wieder eine Entdeckung?« Stefan Timke lächelte über den Eifer seines Freundes Alexander Richter.

»Die Frau ist ein Phänomen! Ich werde sie managen und sie ganz groß herausbringen. Sie ist genau der Typ, der im Showgeschäft fehlt. Kennst du ihren Namen?«

»Irina Hoffmann. Ich bin mit ihrem Mann befreundet. Das heißt, wir arbeiten zusammen«, schränkte er seine Behauptung ein wenig ein. »Ein netter Kerl und sehr tüchtig.«

»Sei ruhig.« Alexander Richter hob die Rechte, als Irina ein neues Lied sang. Dann ging er auf das Podium zu, ohne darauf zu achten, dass er einigen ins Blickfeld geriet.

Ein Naturtalent, das stand für ihn fest. Ihre Stimme war nicht besonders umfangreich, aber sie besaß das gewisse Etwas, auf das es ankam. Außerdem konnte man mit einer Stimme im Studio so ziemlich alles machen, was man wollte. Die Stimme war nicht wichtig, nur der Mensch.

Stefan Timke schmunzelte. Sein Freund betätigte sich seit einigen Jahren als Manager im Showgeschäft, verdiente dabei auch ganz gut, aber die wirkliche Prominenz vermittelten andere. Dafür entdeckte Alexander Richter alle paar Wochen einen neuen Schlagerstar. Leider war bisher noch keinem seiner Stars der Durchbruch gelungen.

Irina singt wirklich nett, dachte er. Aber das, was sie kann, können andere auch.

Der Beifall wollte kein Ende nehmen, und es dauerte lange, bis Irina an ihren Tisch zurückkehren konnte.

Gunnar ging ihr entgegen und umschloss ihre Rechte mit beiden Händen.

»Das hast du wunderbar gemacht, Mädchen«, behauptete er strahlend. »Wie ein ganz großer Star. Du wirst jetzt Durst haben. Ich habe dir noch einen Schluck Wein übrig gelassen.«

»War ich wirklich gut?« Irina trank den Wein wie Wasser. »Bei der zweiten Strophe kam ich mit meinem Einsatz zu spät.«

»Hat niemand bemerkt. Die Leute haben doch getobt, Irina.«

»Mir hat es Spaß gemacht. Ob die Kinder schlafen?«

»Frau Eilert wird schon nach ihnen sehen.«

Irina hatte trotz aller Vorbehalte die Nachbarin gebeten, in ihrer Wohnung nach dem Rechten zu schauen.

»Einen Moment, bitte, gnädige Frau.«

Irina und Gunnar schauten erstaunt auf den fremden Mann, der zu ihnen an den Tisch trat.

»Richter ist mein Name. Alexander Richter. Ich betreibe eine Agentur für Künstler und vermittle hauptsächlich fürs Fernsehen, für den Film und für den Rundfunk.«

Es war gut, dass Stefan Timke diese Behauptung nicht hören konnte, denn er hätte sicherlich nicht mit einem bissigen Kommentar gespart. Alexander Richter hatte noch niemanden ans Fernsehen vermitteln können, vom Film ganz zu schweigen.

»Was können wir für Sie tun?«, fragte Gunnar reserviert.

»Haben Sie einen Moment Zeit für mich? Ich habe Sie eben singen gehört, gnädige Frau, und als Fachmann muss ich sagen, dass Sie ungewöhnlich talentiert sind. Was sage ich, ungewöhnlich? Sie sind einmalig, Sie sind eine Sensation.«

Gunnar lachte über seinen Überschwang. Irina dagegen sog seine Komplimente auf wie ein Löschblatt Feuchtigkeit.

»Ich möchte Sie managen. In kürzester Zeit, das garantiere ich Ihnen, können Sie zur absoluten Spitze gehören. Bei meinen Verbindungen werden Sie sich rasch durchsetzen.«

»Sie machen doch nur einen Witz.« Gunnar schüttelte den Kopf. »Es tut mir leid, mein Herr, aber meine Frau ist vollkommen ausgelastet.«

»Darf ich wissen, was Sie im Augenblick arbeiten, gnädige Frau?« Alexander Richter war kein Mann, der sich leicht abspeisen ließ.

»Ich bin Putzfrau, Kindermädchen, Köchin.« Irinas Worte sollten wie ein Scherz sein, aber eine ganze Portion Bitterkeit schwang in ihnen mit.

»Unmöglich, ausgeschlossen! Solch ein Talent am Kochtopf! Sie haben das Zeug, Millionen Menschen mitzureißen, gnädige Frau. Und Sie können Geld verdienen, viel Geld.«

»Der Preis ist uns zu hoch, Herr Richter. Ich will keine Frau haben, die ständig auf Reisen ist. Und wenn sie sich einmal zu Hause sehen lässt, dann ist sie mit ihren Nerven am Ende. Entschuldigen Sie uns jetzt bitte, wir wollten gerade tanzen.«

Er zog Irina um Alexander Richter herum.

»Ein komischer Kauz«, meinte er schmunzelnd. »Wer weiß, welcher Spaßvogel ihn zu uns geschickt hat. Wenn da man nicht Direktor Koch dahintersteckt. Er liebt solche Scherze.«