Louis Lalage - Michael Marker - E-Book

Louis Lalage E-Book

Michael Marker

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Beschreibung

Johannes Werther studiert Literaturwissenschaft in Bonn und unternimmt mit seinem Schulfreund eine Wanderung rheinaufwärts. Als sein Freund erkrankt, findet ihre Reise ein abruptes Ende. Während seiner Besuche im Krankenhaus lernt er einen offensichtlich sehr gebildeten alten Herrn kennen. Dieser bittet ihn, selbst todkrank, nach dem Verbleib seiner Verwandten auf der anderen Rheinseite zu forschen. Nach und nach erfährt er dabei die Geschichte einer Familie zwischen nationalen Egoismen und die Tragödie eines sehr moralischen Menschen. Nebenbei gewinnt er dabei den Stoff für seine nächste Semesterarbeit über vergessene Dichter.

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Vorwort

Alle Charaktere dieser Erzählung, mit Ausnahme zweier lediglich erwähnter „Personen der Zeitgeschichte“ (C. S. & E. Sch.), entspringen ebenso wie Dorfnamen, Firmennamen und die Handlung selbst ausschließlich der Phantasie des Verfassers. Etwaige Ähnlichkeiten wären rein zufällig.

Es kann daher niemand in eigenen Persönlichkeitsrechten oder denen bereits Verstorbener beeinträchtigt sein.

Wodurch der Verfasser zum Namen (R. D.) angeregt wurde, mag der gebildete Leser selbst kombinieren. Ein Hinweis darauf findet sich im Text.

Oktober 2022

Michael Marker

Damals, als sich die Begebenheiten zutrugen, von denen ich hier berichten will, studierte ich in Bonn Literaturwissenschaft. Gerade hatte ich das fünfte Semester hinter mich gebracht und stand nun meinem Professor gegenüber, bei dem ich mich um einen Job als studentische Hilfskraft beworben hatte.

„Vergessene Dichter - Leben und Werk in Einzeldarstellungen”

Über das Thema des kommenden Semesters hatte ich mir bisher keine Gedanken gemacht, obwohl es seit einiger Zeit am schwarzen Brett angeschlagen war.

“Ich lege eine Autorenliste im Vorzimmer aus. Tragen Sie sich ein. Ich erwarte ein Referat von einer Stunde mit anschließender Diskussion sowie eine schriftliche Ausarbeitung von mindestens vierzig Seiten.

Meinetwegen können Sie aber auch über irgendeinen anderen Dichter arbeiten.”

Bis dahin fließt noch viel Wasser den Rhein hinunter. Erst einmal werde ich die Vorbereitungen für die Semesterferien treffen.

Meine Freundin hatte sich zu einer Exkursion zu provinzial-römischen Ausgrabungen in Österreich und Ungarn breitschlagen lassen, so dass wir den Sommer getrennt verbringen mussten. Als studentische Hilfskraft konnte sie das Angebot ihres Herrn und Meisters, ihn zu begleiten, schlecht ablehnen. Professoren pflegen auf den Hormonhaushalt ihrer Studenten im Allgemeinen keine Rücksicht zu nehmen. Er beteiligte sich an einem Projekt über die römischen Provinzen und hatte sich auf Pannonien spezialisiert.

“Solange Sie nicht gerade die Emilie Schäfer nehmen. Interessante Person eigentlich, ist dem Umfeld von Carmen Sylva zuzurechnen. Hat aber nie Bedeutung erlangt. Stammt übrigens wie Sie aus dem Sauerland. Hat Gedichte über Walther Vogelweide verfasst und darüber lamentiert, dass die ganze böse Welt sich gegen ihren lieben guten Kaiser verschworen hat.”

Mein Schulfreund Ulrich, derzeit ebenfalls Single, hatte mir vorgeschlagen, ein paar Wochen lang mit ihm den Rhein aufwärts zu wandern. Wir wollten in Jugendherbergen übernachten und bei Bedarf zwischendurch jobben.

“Den Schein für dieses Semester können Sie bei Gelegenheit im Vorzimmer abholen. Ihre Arbeit war ganz brauchbar, wenn auch nicht überragend. Damit haben Sie die Klausur wettgemacht. Im nächsten Semester sollten Sie sich mehr Mühe geben. Ich erwarte von meinen Mitarbeitern etwas mehr Engagement.”

Ulrichs Vorschlag war keine schlechte Idee. Nachher in der Mensa wollten wir das festmachen.

“Die Rezeption des Minnesangs scheint nicht unbedingt ihre Stärke zu sein. Vielleicht liegen Ihnen modernere Dichter mehr.”

“Haben sie eben etwas von Sauerland gesagt? Ich stamme nicht aus dem Sauerland.”

“Egal, alles jenseits des Siebengebirges ist ohnehin fast schon Sibirien.”

Viel braucht man ja nicht für so eine Wanderung.

“Also halten Sie sich ran. Wir sehen uns dann pünktlich zu Semesterbeginn.”

Ich freute mich auf die Tour mit Ulrich. Aber wer bitte war Emilie Schäfer?

Im Rhythmus gemütlicher Wandertage und ausgedehnter Ruhe- und Besichtigungsphasen waren wir ein gutes Stück vorangekommen. Inzwischen hatten wir den Rheingau hinter uns gelassen, wo wir zwischendurch an einem Wochenende als Aushilfskellner die auf lieblich gezuckerten Verschnitte Marke Liebfrauenmilch oder Lorley Extra an amerikanische oder japanische Touristen verramscht hatten. Neben einem Feldbett auf dem Dachboden und Verpflegung, Landbrot vom Vortag mit Margarine und Sülze oder übrig gebliebenen Schnitzeln mit Tütensoße hatten wir an Trinkgeld fast mehr eingenommen, als der Wirt uns schwarz in die Hand gedrückt hatte. Der Verdienst dreier Tage als Aushilfe in einem Getränkegroßhandel war leider für die Reparatur einer Schuhsohle mit eingetretenem Nagel und die von einem verknacksten Knöchel erzwungene Ruhepause draufgegangen.

Das Rhein-Main-Gebiet hatten wir entlang der Nahe und quer durch den Pfälzer Wald umgangen, um bei der Weinstraße wieder die Rheinebene zu gewinnen.

Seit ein paar Tagen klagte Ulrich nun schon über Übelkeit und Bauchschmerzen, was wir auf den zu reichlich genossenen Saumagen und den sauren Wein zurückführten. Immer öfter waren wir gezwungen, Rast zu machen. Entsprechend langsam kamen wir voran. Schließlich ging gar nichts mehr. Ulrich fieberte. Kalter Schweiß stand auf seiner Stirn. Er konnte kaum mehr ein Bein vor das andere setzen, so dass wir froh waren, das nächste Dorf zu erreichen. Am selben Nachmittag noch wurde Ulrich mit einem Ileus bei eitrig mazeriertem Appendix und beginnender Peritonitis ins Krankenhaus eingeliefert.

“Eine Zeit lang wird er schon bei uns bleiben müssen”, hatte der Arzt mir auf meine Frage geantwortet.

In den folgenden Tagen besuchte ich Ulrich jeden Nachmittag, während ich an den Vormittagen versuchte, durch kleine Jobs mein Quartier in einem nahe gelegenen Gasthof zu finanzieren.

Zunächst ging es Ulrich naturgemäß ziemlich bescheiden. Die zahlreichen Besucher seiner Mitpatienten, einmal zählte ich ganze siebzehn allein bei dem mit dem Bänderriss, gingen nicht nur mir auf den Geist. Ich machte mir Gedanken darüber, dass deren lautstarkes Gebabbel Ulrichs Genesung nicht förderlich sein könnte. Am Ende hatte das Personal ein Einsehen und verlegte Ulrich zu zwei älteren Herren.

Bei dem einen wechselten sich dessen Ehefrau und die Kinder mit den Besuchen ab, trugen ihm Obst und Säfte an und versorgten ihn mit den neuesten Begebenheiten aus seinem Dorf. Er hatte eine leichte Operation hinter sich und befand sich bereits auf dem Wege der Besserung.

“Es ist schön, wie Sie sich um Ihren Bruder kümmern. Das hat man heutzutage leider immer seltener. Ja, bei uns im Dorf, da kennt jeder jeden und man hilft sich, wo man gebraucht wird, aber in der Stadt…”

“Wir sind Schulfreunde, Studenten auf Wanderschaft. Seine Eltern sind verreist, sonst kämen sie sicherlich auch.”

“Was studieren Sie denn?”

“Ulrich studiert Mathematik und ich Literaturwissenschaft.”

“Da müssen Sie sicher viel lesen. Unser Enkel, der Georg, der studiert auch. Auf Ingenieur. Der repariert Ihnen alles, vom Bügeleisen bis zum Trecker.”

“Das ist praktisch.”

“Ja. Aber jetzt, wo meine Frau gleich kommt, da wollen wir Sie besser in Ruhe lassen. Ihrem Freund geht es noch nicht so gut. Was fehlt ihm denn?”

“Der Blinddarm. Er hat sich ziemlich heftig verabschiedet.”

“Au weh, das war dann wohl arg knapp.“

Er begann zu flüstern und zog mich näher zu sich heran. Mit dem Kopf deutete er in Richtung des dritten Bettes unter dem Fenster.

“Er da drüben, der hat Krebs. Nichts mehr zu machen. Aber ich weiß nicht, ob sie es ihm gesagt haben.”

“Oh.”

“Ja, das ist ein ganz armer Hund, kriegt fast nie Besuch. Nur seine Putzfrau ist ein paar Mal da gewesen. Er schläft viel. Deshalb gehe ich mit meinem Besuch auch immer raus auf den Flur, damit er seine Ruhe hat.”

“Das ist sehr rücksichtsvoll von Ihnen. Leider denken nicht alle so. Erst lag Ulrich ja auf Zimmer Sechs. Da geht es zu wie im Taubenschlag. Das hält ja selbst ein Gesunder nicht aus.”

Inzwischen war der alte Mann mit seiner Frau rausgegangen. Ich sprach leise mit Ulrich, um den Todkranken nicht aufzuwecken.

“Meinetwegen brauchen sie nicht so zu flüstern.”

Die Stimme des Krebspatienten war trotz seiner schweren Erkrankung und seines hohen Alters, er mochte so um die achtzig Jahre sein, erstaunlich fest und klar.

“Ich habe nur meine Augen geschlossen, um besser in meinen Gedanken lesen zu können, soweit es das Morphium zulässt.”

“Haben Sie Schmerzen? Soll ich nach der Schwester klingeln?”

Eine dumme Frage. Natürlich hatte er Schmerzen. Und die Klingel konnte er sicher auch selbst betätigen.

Er versuchte zu lächeln, aber es geriet ihm zur Grimasse.

“Ich versuche, die Spritze so lange wie möglich hinauszuschieben. Es ist eine Gratwanderung, wenn man seinen Geist nicht ganz benebeln will.”

“Kann ich nichts für Sie tun?”

“Ich bin mit allem versorgt, vielen Dank. Sie sind der Erste in den vielen Wochen, der wenigstens fragt.”

Da lag Verbitterung in seinen Worten. Es war nicht die Verzweiflung des Todgeweihten, die mit der ganzen Welt wegen des Unabwendbaren hadert. Es war das Abgeschobensein, abgeschrieben, nichts mehr zu machen, aufgegeben, das sich Bahn brach. `Nach dem kräht kein Hahn mehr.´ Im Folgenden blieb er still.

So ging das mehrere Tage. Wir wussten nie, was er von unseren Gesprächen mitbekam und was nicht.

Dann kam ich einmal und fand Ulrichs Platz leer, das heißt, das ganze Bett war mit ihm verschwunden.

“Sie müssen sich keine Sorgen machen um Ihren Freund. Sie haben ihn nur für weitere Untersuchungen abgeholt.”

“Danke. Mir fällt ein Stein vom Herzen. Ich dachte schon, ihm sei etwas zugestoßen.”

“Sie hängen wohl sehr an ihm?”

“Er ist eben mein Schulfreund. Sie wissen doch, wie das ist.”

“Meist endet das mit der Schulzeit. Man trifft sich allenfalls noch einmal nach zehn oder fünfzehn Jahren aus Neugier, was aus jedem geworden ist.”

“Mag sein. So weit sind wir noch nicht. Er hat mir einmal sehr geholfen, das vergesse ich ihm nicht.”

“Das ist anständig von Ihnen. Ich nehme an, er täte das Gleiche für Sie.”

“Hatten Sie nie einen Freund, mit dem Sie Pferde hätten stehlen können?”

“Oh doch, auch wenn es keine Pferde waren, sondern nur Hühner.”

“Was ist aus ihm geworden?”

“Der Krieg. 1916. Verdun. Wir waren ein Herz und eine Seele sozusagen, bis zuletzt. Dass wir politisch andere Ansichten hatten, berührte unsere Freundschaft ebenso wenig, wie das Mädchen, das sich für ihn entschieden hat. Genau genommen waren wir sogar so etwas wie Cousins. Unsere Familien waren um ein paar Ecken verschwippt.”

Die Wirkung des Morphiums musste wohl nachgelassen haben. Von ihm kann nichts mehr außer einem Stöhnen. Ich klingelte nach der Schwester.

Am nächsten Tag fand ich ihn so schweigsam wie zu Anfang. Ich wollte nicht aufdringlich erscheinen. Vielleicht hatte er sich hinreißen lassen, Dinge zu sagen, die ihm einem Fremden gegenüber nun unangenehm waren. So ging auch der nächste Tag dahin.

Seine von den Jahrzehnten eines wechselvollen Lebens zerfurchte Stirn zuckte und krampfte des Öfteren. Die Bewegung seiner Mundwinkel, seine zusammengepressten Lippen, das Zusammenkneifen seiner Augen, all das waren die einzigen Regungen, die er zeigte.