IM Julia - Michael Marker - E-Book

IM Julia E-Book

Michael Marker

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Beschreibung

Die Einsichtnahme in die Stasiakten seiner Familie wird für den Journalisten Johannes Werther zu einer Reise in die Vergangenheit, zur Erinnerung an den Zauber von Natur und Kultur der Mark Brandenburg und an eine unter den Bedingungen der deutschen Teilung von Anfang an aussichtslose Romanze. Sein Leben verändert sich nachhaltig...

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Bisherige Veröffentlichungen des Autors:

IM Julia - Novelle

ISBN: 9783756816101

Jenny – Erzählungen

ISBN: 9783752629293

Louis Lalage – Novelle

ISBN: 9783756836895

Für Ulrike, meine Leib- und Seelenärztin

Vorwort

Die Teilung Deutschlands hat in vielfältiger Weise das Leben von Millionen Menschen schicksalhaft beeinflusst.

Ein verbrecherisches Regime hat rücksichtslos mit den Gefühlen von Menschen gespielt.

Diese Geschichte ist dafür nur ein Beispiel.

Sie entspringt zwar ausschließlich der Phantasie des Verfassers, könnte sich aber durchaus so oder so ähnlich zugetragen haben.

Dezember 2022

Michael Marker

Bis vor kurzem lebte ich mehr oder weniger glücklich mit meiner Frau und unserer Tochter in einem geräumigen Doppelhaus in einer ruhigen, aber zentralen Siedlung, am Rande der Stadt, in der ich für das Fernsehen arbeitete und nebenbei für die Kulturredaktion einer großen Wochenzeitung schrieb.

Die beiden Doppelhaushälften aus der Vorkriegszeit hatten wir glücklicherweise gleichzeitig erwerben können. Wir hatten sie zu einem Einfamilienhaus zusammengelegt, weil Sandra fand, es werden heutzutage keine schönen Gebäude mehr errichtet, die Architektur sei zu einer reinen Ingenieursdienstleistung verkommen, die nichts mehr mit Baukunst zu tun habe. Wir hatten eine ganze Menge in die Umgestaltung unseres Heimes investiert, es rundum modernisiert und abgesichert, damit unser Kind beschützt aufwachsen konnte, und weil Sandras Vater ein nicht ganz unbekannter, dafür aber unbequemer, Politiker war. Zum Schutz unserer Privatsphäre hatten wir das Grundstück mit einem stabilen Zaun eingefriedet und blickdicht mit Eiben, Kirschlorbeer und allerlei Dauergrün abgepflanzt. Hinten vor dem Gartenhaus hatten wir zwischen Rhododendren einen Sitzplatz angelegt, auf dem wir im Sommer, wenn die Sonne voll auf unsere Terrasse knallte, in angenehmer Kühle sitzen und die Fische in unserem Gartenteich füttern konnten. Den Garten hatten wir so gut es ging pflegeleicht angelegt, weil wir beide berufstätig waren und unsere Zeit entsprechend knapp bemessen war.

Bei der Aufteilung der Räume hatten wir uns von pragmatischen Überlegungen leiten lassen. Das Erdgeschoss nahmen Wohn- und Esszimmer, Bibliothek mit Kamin und ein kleines häusliches Büro ein. Im Obergeschoss hatten wir die ehemaligen Elternschlafzimmer zu unseren Arbeitszimmern umfunktioniert. Wir selbst bezogen je eines der früheren Kinderzimmer, weil wir oft zu unterschiedlichen Zeiten spät nach Hause kamen und einander nicht stören wollten, aber auch weil Sandra fand, ich schnarche ganz fürchterlich.

Unsere Tochter hat sich vor ein paar Jahren unter dem Dach ihr eigenes Reich geschaffen. Sie braucht ihre Freiräume, wo sie in eigener Verantwortung schalten und walten, Musik hören und sich zurückziehen kann. Bisher klappte das eigentlich ganz gut.

Wir hatten eine ganze Reihe schöner Jahre zusammen. Dort war unsere Kleine herangewachsen, die jetzt bereits ein hübscher Teenager ist, hatten im Garten mit Freunden gespielt. Zu Weihnachten hatten wir immer einen der Bäume vor der Terrasse mit einer Lichterkette geschmückt. Als sie noch klein war, waren wir im Urlaub meist nach Holland gefahren, später in die Bretagne oder an die Côte.

Sarah ist jetzt fast siebzehn. Sie beginnt, ihr eigenes Leben zu leben. Nicht mehr lange und sie wird aus dem Haus gehen, an einem fremden Ort studieren, sich ihre eigene Familie aufbauen, während ich vor den Scherben meines Lebens stehe.

Was war geschehen?

Seit die Mitteilung der Gauck-Behörde gekommen ist, habe ich ein ungutes Gefühl. Ich kann es nicht beschreiben. Ich habe keine Albträume, wache nicht schweißgebadet auf, aber da ist etwas in meinen Gedanken, das ich nicht los werde. Manchmal schmeckt mir das Essen nicht, obwohl Sandra trotz ihrer anspruchsvollen beruflichen Tätigkeit eine ausgezeichnete Köchin ist und ich mich oft wundere, wie sie das alles unter einen Hut bekommt. Plötzlich krampft sich meine Brust zusammen, ich verspüre ein Gefühl der Enge wie bei einem Herzanfall, bekomme keine Luft, obwohl ich organisch gesund bin und meine diagnostischen Parameter alle im grünen Bereich liegen.

Es ist eine Art Angst, nicht so, dass ich ständig den Drang verspürte, mich zu erleichtern, ein Relikt übrigens unserer steinzeitlich geprägten Fluchtinstinkte, sondern eher eine unspezifische Befürchtung, nicht näher zu definieren und auch nicht an irgendeiner konkreten Bedrohung fest zu machen, nur eben eine vage Gewissheit, dass etwas unausweichlich auf mich zukommt, dem ich nicht gewachsen sein werde.

Vor einer Woche hat Sandra den Termin für unsere Akteneinsicht festgemacht. Seither ist nichts mehr wie es war. Ich ertappe mich, wie ich selbst bei kleinen Dingen gereizt reagiere, unbeherrscht und ungerecht werde. Am meisten hierunter leidet mein kleiner Engel. Sie ist im Frühjahr fünfzehn geworden, musste gerade erst ihren ersten Liebeskummer erleben, den sie noch immer nicht ganz überwunden hat und ist entsprechend nah am Wasser gebaut. Es tut mir weh, sie so traurig zu sehen.

Sandra war nicht davon abzubringen gewesen, schon wegen ihres Vaters nicht, der als scharfer Kritiker des Regimes in dessen Visier gestanden hatte. Nachdem wir beruflich und privat unser Leben danach ausgerichtet hatten, Rücksicht zu nehmen, um den Schergen des Regimes keine Angriffsmöglichkeiten zu bieten, wollte sie unbedingt wissen, inwieweit auch wir selbst im Fadenkreuz der Ermittlungen gestanden hatten, wer von unseren Freunden vielleicht falsches Spiel getrieben hatte. Mich persönlich hatte das nicht interessiert, aber das Argument, die Vergangenheit ruhen zu lassen, hatte bei Sandra nicht gezogen. Sie hatte damit gekontert, bei dieser Gelegenheit endlich auch einmal im Park von Sanssouci spazieren zu gehen, eine Kahnpartie im Spreewald zu unternehmen und in Rheinsberg unsere Liebe aufzufrischen. Außerdem wollte sie endlich die Heimat meiner Vorfahren kennenlernen und nachvollziehen, worüber ich promoviert hatte. Womit wir einmal mehr den Bezug zu unserem gemeinsamen Metier, der Literatur, hergestellt hätten.

Jetzt fuhren wir schon seit Stunden unserer ungewissen Zukunft entgegen. Je weiter wir kamen, desto schneller raste mein Puls, und nachdem wir Braunschweig hinter uns gelassen hatten und uns dem ehemaligen Checkpoint Alpha näherten, bekam ich Schweißausbrüche und Atemnot. Schließlich konnte ich nicht mehr weiterfahren. Beim Rastplatz Waldkater brachte ich unsere Familienkutsche zum Stehen. Sandra sagte, ich solle mich erst einmal ausruhen, verteilte kalte Getränke. Aber es half nichts. Sobald ich mich wieder ans Steuer setzte, waren die Beklemmungen unvermindert heftig da. Schließlich blieb nichts anderes übrig, als Sandra den Volant zu überlassen und mich auf die Rückbank zu legen.

So erreichten wir schließlich unser Hotel, das außerhalb der alten „Chur- und Hauptstadt“ malerisch an einer Bucht des Sees gelegen war. Sandra organisierte ein Beruhigungsmittel. Ich legte mich aufs Bett und versuchte mich zu entspannen, während meine beiden Frauen sich Fahrräder liehen und entlang des Sees der Stadt entgegenradelten.

Wir trafen uns erst zum Abendessen wieder, das

wir bei dem herrlichen Sommerwetter auf der

Terrasse einnahmen.

Wie hatte es soweit kommen können?

Mein Name ist Johannes A. Werther, aber dafür kann ich nichts. Dies soll keine Entschuldigung sein, auch wenn es vielleicht so klingt, allenfalls eine Erklärung.

Das `A´ steht übrigens für Arthur, nach meinem Großvater. Johannes heiße ich nach dem Apostel und Lieblingsjünger Jesu und weil meine Eltern in der Johanneskirche getraut worden waren.

Werther ist nun einmal ein Familienname wie jeder andere. Die meisten Menschen wurden früher nach ihrem Beruf, ihren Eigenschaften oder ihrer Herkunft benannt. So ist auch Werther nichts als eine Herkunftsbezeichnung, die sich nicht auf einen konkreten Ort bezieht, auch wenn es ein Städtchen dieses Namens gibt, sondern dem Wortstamm `Werth´, `Wörth´ oder ähnlich entspringt, der sich etwa in `Kaiserswerth´, `Donauwörth´, `Werder Bremen´ und vielen anderen Ortsbezeichnungen erhalten hat, zum Beispiel `Werder an der Havel´. Womit wir auch schon mitten drin im Geschehen wären, denn meine Eltern stammen aus dem Havelland, wenn auch nicht aus Werder selbst, sondern aus der Region, wo es in einem See sogar Inseln mit Namen Kiehnwerder, Buhnenwerder und Kälberwerder gibt. Die genaue Bedeutung kann jeder Interessierte im Grimmschen Wörterbuch oder entsprechenden etymologischen Nachschlagewerken recherchieren.

Jedenfalls hat der Name gar nichts mit Literatur zu schaffen, nur weil ein versponnenes Frankfurter Bürgersöhnchen die von ihm geschaffene Figur eines neurotischen Selbstmörders so benannt hat.

Nein, ich werde mich trotz allem nicht erschießen.

Meine Neigung zur Literatur rührt auch nicht etwa von dieser zufälligen Namensgleichheit her. Eher wäre dies geeignet gewesen, mir die Lust an der Literatur gründlich zu verderben, wenn ich etwa an die pubertären Hänseleien meiner Klassenkameraden, die Zickereien einiger Mädchen und die dümmlichen Anspielungen diverser Deutschlehrer denke.

Vielleicht habe ich mich ja auch nicht des Namens wegen, sondern gerade all den sich daraus ergebenden Widrigkeiten zum Trotz für das Studium der Literatur entschieden.

Dass ich mir dabei den ollen märkischen Weltschmerzpoeten als Spezialgebiet aussuchen sollte, hätte ich mir zunächst nicht träumen lassen. Ganz sicher hängt das nicht mit der Herkunft meiner Eltern aus der Mark zusammen, denn ich kann mich nicht erinnern, dass sie jemals mit mir über Literatur im Allgemeinen oder gar über den alten Märker im Besonderen gesprochen hätten. Gewiss, es gab die eine oder andere eher rudimentäre Begegnung, wie etwa die, als mein Klassenkamerad Helmut, der Sohn unseres Pfarrers, einmal erzählte, seine Mutter habe in ihrer Jugend unter dem berühmten Ribbeckschen Birnbaum Rast gehalten. John Maynard war mir als Beispiel heldenhafter, absoluter Selbstaufopferung natürlich ein Begriff, und als wir im Englischunterricht Macbeth lasen, ließ unser Klassenclown die Bemerkung fallen, das mit den drei Schadhexen habe Willi Schüttelspeer doch wohl aus der Brücke am Tay abgeschrieben, woraufhin ihm unser Lehrer einen Vogel zeigte und er sich einen Tadel eintrug.

Den ersten intensiven Kontakt zu dem alten Ruppiner, respektive zu dessen Werk, bekam ich erst später durch eine Kommilitonin, die ich in einem Seminar über die deutsche Literatur des späten 19. Jahrhunderts traf.

Jasmin, sie hieß wirklich so, schleppte mich in alle Verfilmungen der Geschichte der unglücklichen Ehebrecherin und anderer seiner Werke und arbeitete anhand der verschiedenen kinematographischen Umsetzungen der Vorlagen die Unterschiede in der Rezeption des literarischen Vorbildes heraus, was ihr nicht nur eine hervorragende Note eintrug, sondern auch eine Stelle als studentische Hilfskraft und die Aussicht, in ein paar Jahren vielleicht eine Promotionsassistenz zu bekommen.

Den Sommer wollte sie unbedingt jenseits des Tweed verbringen, was mir insofern entgegen kam, als ich vorher die Spuren des Lausitzer Parkomanen in England verfolgen konnte.