Lovesong - Cat T. Mad - E-Book

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Cat T. Mad

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Beschreibung

Achtung: Neuauflage - Erstauflage 2016

 

Noah versucht seit fünfzehn Jahren seinen Traum umzusetzen und ein erfolgreicher Countrysänger zu werden. Statt auf der Welle des Erfolgs zu schwimmen, befindet er sich jedoch auf einer existenziellen Talfahrt. Sein Lebensabschnittsgefährte ist hochprozentig und heißt Jim Beam.

Nach einem katastrophalen Auftritt glaubt er, dass es nicht weiter bergab gehen kann. Durch Zufall wird er Zeuge, wie Chad von seinem Bruder vor die Tür gesetzt und verprügelt wird. Noahs Gerechtigkeitssinn lässt ihn einschreiten. Aus der Not heraus teilt sich Noah seinen Wohnwagen vorerst nicht nur mit Jim Beam, sondern auch mit dem schwulen Kellner Chad. Es ist ja schließlich nur vorübergehend.

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Veröffentlichungsjahr: 2022

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Cat T. Mad

Lovesong

BookRix GmbH & Co. KG81371 München

Kapitel 1

Sein Dodge hustete verdächtig beim Anlassen. Noah schloss die Augen und schickte ein Stoßgebet Richtung Himmel, dass der Wagen nicht ausging. Das gleichmäßiger werdende Geräusch des Motors wurde von seinem erleichterten Seufzen begleitet.

»Guter Junge«, murmelte er dankbar.

 

Der Pick-up hatte bereits genauso viele Jahre auf dem Buckel wie er selbst. Sie waren beide Baujahr 1980, also inzwischen fünfunddreißig. Es war nicht als selbstverständlich anzusehen, dass ihn das betagte Gefährt quer durch Nashville und an den Rand der Stadt brachte. Dort befand sich der Trailer Park, der vor knapp zwei Jahren aus Kostengründen sein neues Zuhause geworden war.

Noah fädelte sich in den noch immer regen Straßenverkehr ein und machte das Autoradio an. Seine Miene wurde missmutig über den Countrysong, der ihm entgegenplärrte. Es war ihm ein Rätsel, wie derartiger Schrott es in die Top Ten schaffte. Rabiat drückte er den Knopf, um die Musik abzustellen. Zeitgleich fragte er sich, ob es nicht vielleicht der Neid war, der aus ihm sprach. Seit fünfzehn Jahren versuchte er den Sprung in den Erfolg. 

Bilanz zu ziehen war eine schmerzhafte Sache, die er nur selten tat. Er hatte 75 Dollar vom Auftritt in der Tasche, einen Pick-up, der nicht mehr lange machen würde, und lebte in der Gosse. Anders konnte man den Trailer Park nicht bezeichnen, in dem er untergekommen war, als er das Geld für die Miete der Wohnung nicht zusammengekratzt bekam.

 

Am Drive-in einer Fast-Food-Kette stoppte er. Nachdem er die Tüte mit dem Tagesangebot auf den Beifahrersitz gestellt hatte, fuhr er weiter. Der Geruch von altem Frittierfett erfüllte das Innere des Wagens und brachte seinen Magen zum Rebellieren. Noah grübelte, ob es nicht besser wäre nichts zu essen, statt dieses Zeug in sich zu stopfen. Er kurbelte das Fenster ein kleines Stück hinunter. Frische Luft schlug ihm entgegen, die für eine Gänsehaut auf den Armen sorgte. Auch wenn der April tagsüber durch über zwanzig Grad verlockte, die Abende waren noch kühl. Noah ignorierte, dass er zu frieren begann. So bestand wenigstens nicht die Gefahr, hinter dem Steuer müde zu werden.

 

Knapp eine Stunde später bog er in den schottrigen Weg ein, der zu einer Ansammlung von Wohnwagen und Baracken führte. Der hölzerne Torbogen mit der Aufschrift Heaven tauchte im Licht der Scheinwerfer auf. Die Zeiten, in denen er sich über den Namen amüsiert hatte, waren längst Vergangenheit. Vom Himmel war dieser Trailer Park weit entfernt. Zumindest von dem für Menschen. Für Ratten und Ungeziefer war es einer. Der Parkbesitzer scherte sich nicht darum, wie es hier aussah oder zuging. Er kam lediglich alle vierzehn Tage vorbei, um die Pacht einzukassieren. Doch eine Alternative gab es weder für Noah noch die anderen Bewohner. Danach kam die Straße.

In den Wohnwagen, die er passierte, brannte nur vereinzelt Licht. Es war nicht verwunderlich, denn die Uhr zeigte, dass es bereits halb zwei in der Nacht war. Noah sah jemanden aus dem Weg kommen, der zu den Toiletten und Duschgelegenheiten führte. Er grüßte zurück, auch wenn die Dunkelheit nicht genau erkennen ließ, um wen es sich handelte. Ihm hätte man Geld dafür zahlen müssen diesen Bereich zu betreten. Aus der Not heraus war er die ersten Wochen dort auf Toilette und duschen gegangen. Der Gestank und Dreck, der dort herrschte, beflügelte ihn rasch seinen Wagen umzubauen.

 

Am Ende des Grundstücks befand sich sein Stellplatz. Noah parkte den Pick-up rechts von seinem mobilen Heim. Er schnappte die Tüte vom Sitz, seine Gitarrentasche, die davor stand, und versuchte die Autotür leise zu schließen. Ein Bewegungsmelder veranlasste, dass spärliche Beleuchtung vor dem Eingang des Wohnwagens ansprang, sodass er das Schloss finden konnte. Der Geruch von schalem Bier, kaltem Fast Food und dreckiger Wäsche schlug ihm entgegen, als er die Tür öffnete. Er rümpfte die Nase, zuckte jedoch gleichzeitig mit den Schultern. Vielleicht würde er morgen für ein wenig Ordnung sorgen.

Er schob die leeren Fast Food Verpackungen beiseite, die bereits den kleinen Tisch der Essecke einnahmen, und stellte die neue dorthin. Seine Gitarre fand auf einem Teil der Bank Platz, auf reichlich zerknitterter Schmutzwäsche, die dort lag. Jene warf er in eine andere Ecke, um sich selbst zu setzen. Er langte über den schmalen Gang zum Kühlschrank, nahm ein Bier heraus und trank mit einem Zug die halbe Flasche aus. 

Eine leise Melodie ertönte. Noah zog mit gerunzelter Stirn sein Handy aus der Gesäßtasche. Nachdem er die Kurznachricht gelesen hatte, lächelte er schief und tippte die Antwort. Natürlich hatte er Zeit kurzfristig aufzutreten. Dass ihm der krankheitsbedingte Ausfall eines anderen Sängers entgegenkam, behielt er für sich. Eine lauwarme, ranzig riechende Fritte fand den Weg in seinen Mund. Während er sie angewidert kaute, landete sein Blick auf der angebrochenen Flasche Jim Beam, die ebenfalls auf dem Tisch stand. Er griff danach, drehte sie auf und nahm einen kräftigen Schluck. Der Alkohol schmeckte wesentlich angenehmer als das Essen. Sein Handy meldete sich erneut. Die Nachricht auf dem Display verriet ihm, dass er um zwanzig Uhr einen Auftritt in einer kleinen Bar außerhalb der Stadt hatte. Er war dankbar, dass Patrick ihm den Job vermittelte. Dem Kneipenbesitzer verdankte er auch den Wohnwagen, in dem er saß. 

Noch einmal setzte er die Flasche an, ließ die Flüssigkeit seine Kehle hinabrinnen und brummte anschließend: »Morgen wird alles besser.«

Kapitel 2

»Tut mir leid, dass es so scheiße gelaufen ist.«

Noah nickte und schluckte den Kloß hinab, der in seinem Hals saß. 

Der Barbesitzer hielt ihm einen fünfzig Dollarschein entgegen. »Ist das okay so?«

»Sicher.« Noah nahm das Geld und steckte es in die Hosentasche. Er war davon ausgegangen, dass er nach diesem Desaster weniger bekam.

»Nichts für ungut. Wie gesagt, es tut mir leid. Alles Gute.« Der Mann drehte sich um, verschwand durch die Hintertür in seinen Laden und ließ ihn in der Sackgasse zurück.

 

Noahs zittrige Finger glitten durch die kurzen dunklen Haare, während der Griff mit der anderen Hand um die Gitarrentasche fester wurde. Erschöpft lehnte er sich gegen die Backsteinwand. Er durchforstete seine Erinnerungen, doch einen so katastrophalen Gig wie diesen fand er in der Vergangenheit nicht. Er fuhr sich über das Gesicht und schnaufte, um das Gefühl der Verzweiflung abzumildern.

 

An diesem Abend hätte eine Sängerin auftreten sollen, deren Repertoire aus Covern der bekanntesten Countryhits bestand. Aus diesem Grund waren die Gäste dort aufgetaucht. Und dann kam er daher, mit eigenen Songs, die niemand kannte. Sie hatten auch für Stimmung gesorgt, allerdings durch die Bahn weg für schlechte. Buhrufe waren das geringste Übel, das ihm in den letzten eineinhalb Stunden zuteilgeworden war.

Noah riss sich zusammen und ging auf seinen Pick-up zu, den er in der Nähe abgestellt hatte. Obwohl er schon lange Musik machte, erschütterte ihn das Erlebnis zutiefst. Waren seine Songs so mies? Lag es an ihm, dass der Auftritt so nach hinten losgegangen war? Er hatte mit platter und belustigender Unterhaltung noch nie etwas anfangen können, ob sich sein Leben deshalb in einer Sackgasse befand? Sollte er darüber nachdenken, seine Träume zu beerdigen? Noah schüttelte den Kopf, als er glasige Augen bekam, um die aufkommenden Tränen zu verhindern.

 

Er schloss den Pick-up auf, parkte seine Gitarre auf dem Beifahrersitz und ließ sich hinter das Steuer gleiten. Jedoch sah er sich nicht in der Lage den Motor anzulassen, sondern kämpfte noch immer gegen die Flut an Zweifeln an, die ihn malträtierten. Seit Jahren hangelte er sich von einen Tag in den nächsten. Mal mehr, mal weniger gut, doch das Gefühl des völligen Versagens hatte ihn noch nie so eingenommen wie in diesem Moment. Musik war alles, was sein Leben ausmachte. Für diesen Wunsch hatte er sich sogar gegen seine Eltern gestellt und mit ihnen gebrochen. Auch wenn er inzwischen nicht mehr so blauäugig wie vor Jahren war, seine Musik war die Luft, die er zum Atmen brauchte. Nun wurde sie knapp, so fühlte es sich zumindest an.

»Das kannst du nicht machen. Mir gehört die Hälfte dieses Hauses!«

Noah schaute hoch. In der Nähe war eine Tür aufgegangen. Licht fiel auf die sonst im Dunkeln liegende Gasse.

»Und ob. Du perverse Sau«, brüllte eine weitere Stimme.

Er beobachtete, wie ein junger Mann aus dem Eingang geschubst wurde. Ein Kerl folgte ihm, packte ihn am Kragen des Shirts und verpasste ihm einen kräftigen Faustschlag in das Gesicht. Nach einem weiteren ließ der Angreifer los, sodass der andere zu Boden ging. »Du Schwanzlutscher! Kranker Abschaum!« Ein Fußtritt traf den Liegenden in den Bauch.

Das Opfer versuchte abzurücken und sich in Sicherheit zu retten, doch ein weiterer Hagel Tritte verhinderte das Fortkommen.

»Komm mir nicht mehr unter die Augen, sonst bringe ich dich um!«

Noah sah, wie der Peiniger den Kopf des anderen anpeilte.

»Shit!« Fluchend öffnete er die Wagentür und stieg aus. Er hoffte, dass seine breiten Schultern und die Größe von 1,85 genug Eindruck auf den Angreifer machten, um von dem Typen am Boden abzulassen.

Dieser schaute tatsächlich in seine Richtung, dann jedoch erneut auf das Opfer. »Haben wir uns verstanden?« Ohne eine Antwort abzuwarten, spuckte der Mann auf den Verletzten, machte kehrt und verschwand im Haus. 

Mit dem Knallen der Tür herrschte Dunkelheit auf der Gasse. In einem gegenüberliegenden Gebäude ging das Licht an, sodass Noah wieder etwas erkennen konnte. Er trabte auf das Opfer zu und hockte sich daneben. Ein benommener Blick aus blauen Augen traf seinen. Blutiger Speichel lief aus dem Mundwinkel des blonden Jungen. Noah half ihm, sich unter Ächzen aufzurichten.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte er hilflos.

Der Fremde schnaufte, drehte den Kopf zur Seite und spuckte Blut auf das Pflaster. »Sieht es so aus?«

»Ähm. Nein. Soll ich die Polizei rufen?«

»Bloß nicht«, kam postwendend und sein Gegenüber rappelte sich auf.

Gerade als Noah ebenfalls wieder stand, schwankte der Mann bedenklich. Er hielt ihn vorsichtig am Arm fest.

»Geht gleich«, wurde ihm zugebrummt.

Noah bemerkte einen Schatten auf dem Kopfsteinpflaster. Er schaute sich um und sah, dass eine Frau an dem Fenster aufgetaucht war, das für Licht sorgte. Sie hatte einen Telefonhörer in der Hand.

»Wenn du keine Polizei haben willst, sollten wir hier verschwinden.«

Der Blick des Lädierten folgte seinem und wurde ängstlich.

»Kannst du irgendwo unterkommen?«

»Nein.«

Noah rang Sekunden mit sich. Sein Gewissen veranlasste ihn zu sagen: »Komm, mein Auto steht da vorne.«

Sie gingen gemeinsam dorthin. Noah öffnete die Beifahrertür und stellte die Gitarre in den Fußraum. Dann half er dem Fremden einzusteigen. Kurz darauf saß er auf dem Fahrersitz und startete den Pick-up. »Ich heiße Noah und du?«

»Chad.«

»Okay, Chad. Darf ich dich fragen, wie alt du bist?«

»Einundzwanzig.«

Noah konnte sich den skeptischen Blick nicht verkneifen, denn Chad sah jünger aus. Der nestelte an seiner Gesäßtasche, zog ein Portemonnaie hervor und hielt Noah einen Ausweis entgegen. Die Neugier ließ ihn den Wagen anhalten und das Licht des Innenraums anmachen. Sein Mitfahrer hieß tatsächlich Chad. Chad Michael Milligan war einundzwanzig und wurde im August zweiundzwanzig.

»Danke.« Er reichte den Ausweis zurück, löschte das Licht und fuhr weiter. Ein rascher Seitenblick zeigte ihm, dass Chad nicht auf den Weg zu achten schien, sondern stattdessen aus dem Fenster starrte.

»Wer war der Typ, der dich rausgeworfen hat?«

»Mein Bruder, Paul«, erwiderte Chad so leise, dass Noah es nur knapp verstand.

Ihm lagen zig Fragen auf der Zunge, aber gleichzeitig bestand das untrügliche Gefühl, dass Chad gerade keine ausführlichen Antworten geben würde. Mit beklemmendem Schweigen als dritten Begleiter fuhren sie zum Trailer Park. 

Als sie auf das Gelände kamen, guckte Noah zu Chad, um eine Reaktion über die Umgebung abschätzen zu können. Doch der Mann schaute nach wie vor aus dem Seitenfenster.

»Ist nicht das Hilton«, scherzte Noah entschuldigend. Es wussten nur wenige, wo er wohnte, und er vermied es, dass jemand vorbeikam. Eine Beziehung hatte er nicht, denn irgendwie besaß er kein geschicktes Händchen für Frauen.

Er stellte das Auto am üblichen Ort ab und als er die Wagentür öffnete, tat Chad es gleichfalls. »Reich mir mal die Gitarre rüber.«

Einen Moment später schloss Noah die Tür Wohnwagens auf und schaltete das Licht in der winzigen Behausung an. Der altbekannte Geruch schlug ihm entgegen und sein Blick glitt durch das Chaos, ehe er seinem Gast Platz machte. »Sorry, hab nicht mit Besuch gerechnet.«

Er beobachtete Chad, wie dieser sich skeptisch in dem Chaos umschaute.

»Ähm. Ich hab nur ein Bett, aber es ist groß.« Noah zuckte hilflos mit den Schultern, weil ihm in diesem Augenblick erst richtig bewusst wurde, dass er Chad ohne nachzudenken mitgenommen hatte.

Chads Augen wurden schmal. »Erwartest du dafür irgendwelche Gegenleistungen?«

»Hä?«

»Ich habe keinen Bock meinem Retter den Schwanz zu lutschen, lieber penne ich auf der Straße!«

Noah wich zurück, als hätte er einen Stromschlag erhalten. »Nein, an so etwas habe ich nicht gedacht!« Er schüttelte den Kopf, verzog entsetzt das Gesicht und hob abwehrend die Hände.

Chads zuvor biestig wirkende Miene wandelte sich in Sekunden und wurde freundlicher. »Okay.«

»Okay?«

»Ja.«

Noah legte seine Gitarre auf die vollgeräumte Bank. »Hab nur Bier da, wenn du was trinken willst«, bot er mit einem Blick auf die leere Jim Beam Flasche an.

»Danke. Aufs Ohr hauen wäre mir am liebsten.«

»Ähm. Okay. Ich habe hier rechts eine Toilette, Waschbecken und Dusche, falls du da vorher reinmusst. In der Zeit kümmer ich mich mal um Bettzeug.« Er deutete auf eine Falttür.

Chad nickte nur und öffnete diese.

 

Noah verdrückte sich, ehe noch mehr Scham über die auch dort herrschende Unordnung aufkam. Er ging in den hinteren Bereich des Wohnwagens, in dem sich das von einer zur anderen Seite reichende Bett befand. Er kratzte sich am Kopf und grübelte, wann er zuletzt das Bett bezogen hatte. Seufzend zog er eine im hölzernen Bettgestell eingebaute Schublade auf und machte sich daran, eine saubere Schlafstätte für zwei herzustellen.

»Hast du Eis da und vielleicht ein Schmerzgel?« Die Lamellentür wurde wieder geöffnet und Noah drehte sich um. Chad stand in Shorts, T-Shirt und Socken auf dem schmalen Gang. Er deutete auf sein Gesicht. Die linke Gesichtshälfte war bereits stark angeschwollen.

»Eis hab ich … im Kühlschrank ist ein kleines Gefrierfach, da ist ein Beutel mit zerkleinertem Eis drin.«

Chad guckte sich um, dann ging er auf den Kühlschrank zu. Seine Jeans und das Shirt legte er auf die Bank. Noah hingegen bezog das Bett weiter. Als er fertig war und sich umdrehte, sah er Chad vornübergebeugt auf der Bank sitzen. Der Junge stützte sich mit den Ellenbogen auf den Beinen ab. Den Beutel Eis hatte er mit dem Pullover umwickelt und hielt ihn an den lädierten Wangenknochen. Chad schaute ihn an. »Kann ich mich hinhauen?«

»Mach das. Ich bin noch nicht müde und werde ein Bier trinken.«

Chad packte das Eis zurück ins Gefrierfach und drückte ihm anschließend eine Flasche in die Hand. 

Während Noah sich auf den vorgewärmten Platz setzte, verkroch sein Gast sich unter die Bettdecke.

»Noah?«

»Hm?«

»Danke.«

»Kein Ding«, wiegelte er ab und konzentrierte sich auf sein Getränk. 

Er spürte den Wunsch den Tisch aufzuräumen, doch er wollte keinen Lärm verursachen. Stattdessen kramte er einen Bleistift aus der Seitenablage, zog eine Papptüte näher heran und strich sie langsam glatt. Er zeichnete wahllos Noten darauf, danach wirre Muster, die keinen Sinn ergaben. 

Den letzten vernünftigen Song hatte er vor Monaten geschrieben. Seither herrschte Leere in seinem Kopf oder er brachte nur depressiven Mist zu Papier, den er nicht mal selbst hören wollen würde. Womöglich war es tatsächlich an der Zeit auszusteigen und sich geschlagen zu geben? Aber gab es Alternativen? Ein leises Schniefen riss ihn aus den Gedanken. Noah lauschte. Es dauerte einen Moment, doch dann war das Geräusch erneut zu hören. Zweifellos weinte Chad. Noah nagte auf seiner Unterlippe. Tröstende Worte fielen ihm keine ein, zumindest keine, die nicht hohl und bedeutungslos in Anbetracht von Chads Situation erschienen. Den Jungen in den Arm zu nehmen war auch keine Option. Zum einen war er kaum der Typ dafür und zum anderen wagte er nicht, Chad nach der Aktion vorhin zu berühren. Wieder drang das Hochziehen der Nase bis zu ihm hin, dann bekam Chad Schluckauf.

 

Noahs Mundwinkel zuckten automatisch. Es war Jahre her, dass er dieses Lied geschrieben hatte. Seinen Hiccup-Blues hatte er nie öffentlich gespielt, immer nur für sich selbst. Vielleicht war das ein passendes Mittel, um Chad ein wenig zu trösten? Noah zog sich bis auf die Shorts aus, packte die Gitarre aus und deckte sich einen Augenblick später zu. Jedoch lag er nicht, sondern hatte sich an die Wand gelehnt. Als seine Fingerspitzen die Saiten der Gitarre streiften, breitete sich das Gefühl von Frieden in ihm aus. Dann begann er leise für Chad zu singen.

 

Kapitel 3

Ehe Noah die Augen aufschlug, hörte er Atmen, das nicht von ihm stammte. Es dauerte einen Moment, bis die Ereignisse des letzten Abends präsent waren. Er öffnete die Lider einen Spalt und linste in die Richtung, aus der das Geräusch kam. Chad lag auf dem Rücken und beanspruchte Dreiviertel des Bettes. Die Decke war ihm bis zu den Hüften hinabgerutscht und das T-Shirt ein Stück hinauf. Noah nahm zwar zur Kenntnis, dass Chad ausgesprochen schlank war. Mehr Beachtung schenkte er allerdings dem Bluterguss, der in sich in tiefstem Rot von der sonst hellen Haut abhob. Noahs Blick huschte auf Chads Gesicht. Hier zeigten sich ebenso deutliche Spuren. Der Junge sah wirklich ramponiert aus.

 

Er bewegte sich vorsichtig, um Chad nicht zu wecken. So leise wie möglich schlüpfte er in seine Klamotten und beschloss, dass er wenigstens eine Kleinigkeit für ein Frühstück besorgen sollte. Außer Bier hatte er nichts da. Noah griff in seine Hosentasche und befühlte den Schein, den er gestern bekommen hatte. Anschließend fuhr er sich durch die Haare und zog seine Stiefel an. Als er den Wohnwagen verließ, ignorierte er den Pick-up und ging stattdessen zu Fuß. Das Anlassen seines altersschwachen Autos würde Chad bestimmt aus dem Schlaf reißen.

 

Er schlenderte den Hauptweg zum Ausgang entlang und schaute sich seit Langem das erste Mal wieder genauer um. Normalerweise achtete er lediglich darauf, dass ihm niemand vor das Auto lief. Es standen nur wenige einigermaßen gut erhaltene Wohnwagen auf den kleinen Stellplätzen. Einige hausten hier inzwischen in Bretterverschlägen, die keinem Sturm standhalten würden.

 

Er spürte ein sehnsüchtiges Ziehen in der Brust, als er an seine alte Wohnung am Stadtrand von Nashville dachte. Gleichzeitig erinnerte er sich aber auch an die Monate, in denen er Schwierigkeiten hatte die Miete zusammenzubekommen und mit knurrendem Magen durch die Gegend gelaufen war. Die zweihundertfünfzig pro Monat, die er jetzt berappen musste, waren eine ganze andere Hausnummer als die siebenhundertfünfzig für die Einzimmerwohnung. Würde er sich überhaupt je noch mal eine Wohnung leisten können? Schnaufend schob er den Gedanken beiseite und konzentrierte sich stattdessen lieber darauf, was er einkaufen wollte.

 

Eineinhalb Stunden später und um fünfundvierzig Dollar erleichtert, war er auf dem Rückweg und passierte erneut die Bretterverschläge. Statt der geplanten Frühstückszutaten schleppte er zwei prall gefüllte Tüten nach Hause. Es befanden sich nicht nur Lebensmittel darin, sondern auch Schmerztabletten und eine Salbe für Chad. Während es auf dem Hinweg noch recht ruhig im Park gewesen war, plätscherte inzwischen Musik zu ihm hinüber. Er nickte hier und dort höflich, wo er glaubte jemanden zumindest vom Sehen zu kennen.

»Morgen, Noah.«

Er drehte sich um. Es war Stan, einer seiner unmittelbaren Nachbarn. Einer der wenigen, dessen Namen er kannte. »Morgen, Stan.«

Der ältere, hagere Mann holte auf. »Hab neu’n gebrannt, falls du willst.«

Noah zischte und ein Schauer raste über seinen Rücken. »Ne, lass mal. Aber danke.«

Der Alte kicherte und begann dann zu husten.

Noah hatte, kurz nachdem er in den Park gezogen war, als Willkommensgeschenk eine Flasche von Stans selbstgebranntem Schnaps bekommen. Allein bei der Erinnerung daran dankte er Gott, noch sehen zu können und am Leben zu sein. Dieses Destillat verdiente eindeutig den Namen Feuerwasser. Stans Feuerwasser, das Noahs Meinung nach am besten zum Anzünden von Grillkohle geeignet war.

»Hast ’ne Braut, die bei dir putzt, wa?«

»Hä?«

»Na, da stehen doch die Müllsäcke vor deinem Wagen.«

Noah verharrte im Schritt und guckte Stan schockiert an.

Der Alte kicherte belustigt. »Tja, was lach'ste dir auch’n Weib an.«

»Na, nee.«

»Wie nee?«

Noahs Gedanken überschlugen sich einen Moment. Was sollte er Stan sagen? Am besten war wohl die Wahrheit, denn er würde Chad früher oder später sowieso sehen. »Hab gestern jemandem aus der Klemme geholfen und erst einmal bei mir aufgenommen.«

»’Ne heiße Braut?«, hakte Stan mit wackelnden Augenbrauen nach.

»Nee.«

»’Ne hässliche Schachtel?«

»Auch nicht. Chad ist ’n Kerl.«

»’N Kerl, der bei dir putzt? Was’n das für einer?«

Ihm fiel keine passende Antwort ein, daher zuckte er nur knapp mit den Schultern. »Ich geh dann mal gucken, was er da veranstaltet.«

»Mach das. Man sieht sich.« Stan dackelte kichernd in eine andere Richtung.

Noahs Schritte wurden langsamer, als er auf seine Bleibe zuging. Neben der Eingangstür standen drei große, prall gefüllte Müllsäcke. Seine Gefühle legten eine rasante Achterbahnfahrt hin. Erst nahm ihn Unglauben ein, dann Wut und anschließend schämte er sich, weil Chad seinen Müll wegräumte. In seinem Wohnwagen. Jener kam in dieser Sekunde mit einem weiteren Müllsack in der Hand heraus.

»Da bist du ja«, begrüßte ihn Chad mit einem schiefen Lächeln.

»Was machst du da?«

»Siehst du doch, oder?«

Noah spürte, wie erneut Zorn in ihm aufloderte.«Hat deine Ma dir nicht beigebracht, dass man in dem Zeug fremder Leute nicht herumwühlt?«

Kaum hatte er den Satz ausgesprochen, zuckte Chad unter seinen Worten zusammen, als hätte er einen Schlag erhalten. Er wurde so kalkweiß, dass der geschwollene, rote Wangenknochen noch mehr leuchtete.

Noah sah, dass sich Chads Augen mit Tränen füllten, und bekam sofort ein schlechtes Gewissen. Hatte er sich so im Ton vergriffen, oder in ein Fettnäpfchen getreten? Nachdem er die Tüten abgestellt hatte, machte er einen Schritt auf Chad zu. Dieser wich jedoch aus, und schien abhauen zu wollen. 

Noah packte ihn am Ärmel des Shirts und hielt ihn zurück. »Ich … es tut mir leid. Du musst das nicht machen.«

Chad starrte auf den Boden und schnaufte lediglich, statt etwas zu sagen.

»Sieht da drinnen scheiße aus, das weiß ich. Aber ich kann meinen Krempel auch alleine wegräumen.«

»Das sieht man aber nicht«, murrte Chad.

»Ich hab doch gestern erklärt, dass ich nicht mit Besuch gerechnet habe.«

Chad schaute hoch. Seine Augen waren zwar noch immer glasig, allerdings brachte er ein halbherziges Lächeln zustande. »Du scheinst schon ’ne ganze Weile nicht mehr mit Besuch gerechnet zu haben. Ich wollte nur nicht blöd rumsitzen und auf dich warten. Rumgewühlt habe ich übrigens nicht, sondern nur das Offensichtliche weggeworfen.« Chad guckte vielsagend zu den Müllsäcken.

»Hab Frühstück mitgebracht«, wechselte Noah das Thema und hoffte, dass Chad das Friedensangebot annehmen würde. »Schmerztabletten und eine Salbe habe ich auch besorgt.«

Chad zückte sein Portemonnaie aus der Gesäßtasche. »Was bekommst du von mir?«

»Nichts. Du hast mich nicht darum gebeten dir den Kram mitzubringen.«

Es sah so aus, als wenn Chad Widerworte leisten wollte. Noah schüttelte den Kopf. »Es gibt Dinge, über die braucht man mit mir nicht zu diskutieren, verstanden?«

 

Zehn Minuten später saßen sie gemeinsam an dem kleinen Tisch in Noahs Wohnwagen. Es sah durch Chads Einsatz bereits deutlich ordentlicher aus. Das verschaffte jedoch ein noch schlechteres Gewissen. Er hatte wochenlang nicht geschafft, was Chad innerhalb kürzester Zeit hinbekam.

Mit dem ersten Schluck Kaffee spülte sein Gast eine Schmerztablette hinab. Anschließend fragte er: »Machst du beruflich Musik, oder ist es nur ein Hobby?«

»Beruf, seit etwas über fünfzehn Jahren«, erwiderte Noah kauend. »Was machst du?«

Es dauerte ein paar Sekunden, bis Chad antwortete. »Ich hab in einer Bar bedient.«

Noah schaute ihn neugierig an. Bekam er noch mehr Informationen, oder hüllte Chad sich lieber in Schweigen? Er bemerkte den Wandel in Chads Miene. Gerade wirkte er gefasst, doch nun erneut traurig.

»Ich hatte vor ’ner Weile was mit einem Kerl in Nashville. Hab mitbekommen, dass er mich nach Strich und Faden belogen und betrogen hat, also habe ich ihn abgesägt. Der ist vor zwei Tagen in dem Laden aufgetaucht, in dem ich gearbeitet habe. Keine Ahnung, was der für Drogen intus hatte, aber er hat mich vor allen Leuten geoutet. Damit war ich dann meinen Job los und mein Bruder hat es natürlich auch gehört. Warst ja Zeuge, wie das gelaufen ist.«

Es tat Noah leid, was Chad widerfahren war. Er hatte selbst genug Momente erlebt, wo ihn die Engstirnigkeit der Leute verletzte, jedoch war es nie so einschneidend gewesen. »Was ist mit deinen Eltern?«

Chads Miene wurde noch betrübter. »Sie sind vor acht Monaten bei einem Autounfall gestorben.« 

Noah wurde Chads Reaktion auf seinen Spruch wegen des Herumschnüffelns bewusst. Er bereute mehr als zuvor, den Mann so angefahren zu haben.

Ein verzweifelter Blick traf ihn. »Ich hab keine Ahnung, wie es weitergehen soll und nur noch ein paar Dollar auf dem Konto.«

Noah hatte auch keinen Plan, eines war ihm allerdings klar: »Das kriegen wir schon irgendwie hin. Du bleibst erst einmal hier, alles andere findet sich.«

 

Kapitel 4

»Das ist ’ne blöde Idee, Noah.« Chad starrte auf die Neonreklame des Clubs.

»Ist es nicht. Dass du einen Neustart machen musst, ist eine Sache, aber du kannst deine letzten fünfzig Bucks nicht für Klamotten ausgeben, also werden wir sie holen.«

Chad brummte ungehalten, doch Noah öffnete unbeirrt die Tür des Wagens und stieg aus. Er klopfte auf das Dach des Pick-ups, um seinen Beifahrer zum Aussteigen zu bewegen. »Komm. Wir besorgen uns Unterstützung. So haben wir es vorhin abgemacht, als du mich zum Putzen gezwungen hast.«

Chad lief hinter ihm, als sie den Club namens Desert betraten. Der Laden gehörte Patrick, der ihm schon mehr als einmal geholfen hatte. Hoffentlich auch jetzt. Da es später Nachmittag war, befanden sich nur wenig Gäste in der Kneipe. Noah fühlte sich hier ausgesprochen wohl, denn die Einrichtung war einem alten Westernsaloon nachempfunden.

 

Ein grauhaariger Mann mit einem Cowboyhut und Holzfällerhemd stand hinter dem Tresen. Noah lächelte, als Patricks Blick auf ihn fiel. Der Gastwirt hob grüßend die Hand.

»Hey, Noah«, begrüßte Patrick ihn, als sie in unmittelbarer Nähe waren.

»Hi, Patrick.« Noah setzte sich auf einen der Holzhocker. Er bemerkte, dass Chad kurz zögerte, dann aber ebenfalls Platz nahm.

Patrick musterte ihn neugierig.

»Patrick, das ist Chad.«

»Freut mich, Chad.« Patrick langte über den Tresen und reichte seinem Sitznachbarn die Hand. Anschließend wandte er sich ihm zu. »Ich hab gehört, dass es gestern nicht so toll gelaufen ist. Tut mir leid, Noah. Ich wusste nicht, dass sie eine Hupfdohle erwartet haben.«

Noah machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ich habe es überlebt, wie du siehst.«

Ohne dass sie bestellt hätten, stellte Patrick zwei Flaschen Bier auf den Tresen.

Sie bedankten sich unisono.

Noah räusperte sich und erklärte: »Der Auftritt hatte auch was Gutes. Ich habe Chad aufgesammelt. Als der Gig zu Ende war und ich gerade im Auto saß, hat sein Bruder ihn verprügelt und aus dem Haus geworfen.«

Patricks zuvor freundliche Miene wurde ernst. Er musterte erst Noah, danach Chad.

»Ich würde mit Chad gern ein paar seiner Sachen holen. Er braucht schließlich Klamotten. Im Moment hat er nur das, was er anhat. Aber so, wie ich seinen Bruder gestern erlebt habe, würde ich ungern mit Chad alleine dort auftauchen. Kennst du jemanden, der uns begleiten könnte?«

»Wie wäre es mit dem Sheriff? Der ist nämlich bei Körperverletzung zuständig.« Patrick warf einen vielsagenden Blick auf Chads lädierte Gesichtshälfte.

Erst sah es so aus, als wenn Chad etwas erwidern wollte, doch es kam nichts.

»Wir würden es lieber nicht ganz so offiziell regeln«, merkte Noah an. Er überlegte, ob er Patrick den Grund sagen sollte, warum Chad den Eklat mit seinem Bruder hatte, beschloss es jedoch zu lassen. Zwar war Patrick ein toleranter Mann, der absolut kein Problem mit Homosexualität hatte, doch es war Chads Sache, wem er davon erzählte.

»Wann wollt ihr da hin?«

»Mein Bruder kommt meistens gegen 19.00 Uhr nach Hause.«

Patrick schaute kurz gedankenverloren in die Luft, danach nickte er. »Bin in ’ner Minute wieder da, ich geh mal telefonieren.«

Kaum war der Tresen nicht mehr besetzt, murmelte Noah. »Du kannst ihm übrigens ruhig sagen, dass du schwul bist. Er hat damit kein Problem.«

»Ich muss es aber nicht jedem auf die Nase binden, oder?«

»So war das nicht gemeint. Ich meine nur, falls er nachfragt, warum es den Stress zwischen dir und deinem Bruder gegeben hat. Es wäre nicht fair Patrick anzulügen, wenn er uns schon hilft, oder?«

»Stimmt.« Chad sah zerknirscht auf seine Bierflasche, während Noah ihn musterte.

 

Noah hatte noch nie in seinem Leben das Bedürfnis gehabt, jemanden zu beschützen, doch Chad weckte diesen Instinkt in ihm. Allein der Blick des jungen Mannes neben ihm genügte und Noah hatte den Wunsch Chad zu sagen, dass alles gut werden würde.

»Steve kommt in einer knappen Stunde.«

Noah schaute zu Patrick, der in dieser Sekunde wieder zurückkam.

»Danke«, kam es rascher von Chad als von ihm.

»Von mir auch.«

Patrick nickte. »Kein Problem.«

Chad guckte sich in der Kneipe um. Sein Blick blieb auf dem Billardtisch hängen. »Wie sieht es aus, Noah?«

»Ich bin ein lausiger Spieler.«

»Ich auch.«

Noah stand seufzend auf. Er ahnte, dass Chad ein Billardspiel vorschlug, damit Patrick die Situation nicht hinterfragen konnte.

 

»Ha! Versenkt!«, jubelte Chad.

Noah schnaufte ungehalten, denn Chad, der vorgegeben hatte ein lausiger Spieler zu sein, war bereits das dritte Mal Sieger.

»Hey.«

Noah drehte sich überrascht um und guckte, wer sie angesprochen hatte. Vor ihm stand ein finster wirkender Riese, den er auf mindestens zwei Meter schätzte.

»Ich bin Steve. Patrick hat mir gesagt, ihr bräuchtet Begleitung.«

Noah starrte den Kerl noch immer an. Dann sorgte die Höflichkeit dafür, dass er ein »Hi« herausbrachte.

Steves Grinsen ließ ihn nicht lockerer werden. Chad schaute den Hünen ebenso perplex an.

»Also, Jungs. Wohin soll es gehen?«

 

Noah sah, wie Chads Finger zitterten, als sie auf die Klingel zuglitten. Mut machend drückte er dem Mann vor sich kurz die Schulter und murmelte: »Denk daran, du bist nicht allein.«

Chad nickte, wich jedoch einen Schritt zurück, als Schritte zu hören waren.

Noah hatte Chads Bruder zwar erst einmal gesehen, erkannte ihn jedoch sofort, als die Tür geöffnet wurde. 

Ein abschätzender Blick aus schmalen Augen traf das Trio, dann richtete Paul Milligan seine Aufmerksamkeit auf Chad. »Ich dachte, ich habe mich klar ausgedrückt.«

»Ich brauche meine Sachen.« Dafür, dass Chad so nervös war, klang seine Stimme überraschend fest.

Paul schnaufte, trat einen Schritt zurück, doch statt sie einlassen zu wollen sah es so aus, als wenn er die Tür wieder verschließen wollte. Noah reagierte schnell, machte einen Satz nach vorne an Chad vorbei und schob seinen Fuß dazwischen.

»Was soll das werden? Verschwindet, oder ich rufe die Cops!!«

»Ach, um dich zu der anstehenden Anzeige wegen Körperverletzung an deinem Bruder zu äußern?«, mischte sich nun Steve ein und kam näher heran.

Pauls selbstgefällige Fassade bröckelte vor ihren Augen.

»Ich kann schlecht Hausfriedensbruch in meinem eigenen Haus begehen«, begehrte nun auch Chad auf. »Mir gehört die Hälfte, schon vergessen?« Mit jedem Wort wurde der schmal gebaute, zierliche Mann selbstsicherer. »Aber ich denke, das Thema klären wir über einen Anwalt und nicht persönlich. Während ich meine Sachen packe, kannst du dir ja schon mal überlegen, wie du mich ausbezahlen willst!«

Noah spürte ein stolzes Pochen in seiner Brust.

Die Worte schienen auf Paul Eindruck zu machen, zumindest ging die Tür wieder so weit auf und er beiseite, dass Noah den Flur des Hauses betreten konnte. Chad und Steve folgten ihm, sodass der gerade noch groß erscheinende Durchgangsbereich auf einmal beengt und winzig wirkte.

»Nimm nichts mit, was nicht dir gehört«, fauchte Paul. »Und pack auch nichts von meinen Sachen an, wer weiß, was für Krankheiten du hast.«

Chad zuckte und sah seinen Bruder entsetzt an. »Das glaubst du?«

Paul drehte den Kopf beiseite, doch Noah konnte die angewidert wirkenden Gesichtszüge noch kurz erhaschen.

»Das glaubst du?«, fragte Chad ein weiteres Mal, jedoch deutlich aufgebrachter als zuvor.

»Pack deine Sachen, Schwuchtel. Wenn Ma und Pa davon wüssten, was für ein perverses Schwein du bist, würden sie sich im Grabe umdrehen!«

Chad zuckte zusammen, als hätte er einen Schlag erhalten.

»Halt deine Klappe, ansonsten siehst du gleich schlimmer aus als dein Bruder«, knurrte Steve gefährlich klingend.

Noah war erneut dankbar, dass sie in der Begleitung des Riesen waren. Er hatte ebenso den Wunsch, Paul blaue Augen zu verpassen. Seine Hände waren bereits zu Fäusten geballt.

»Wo ist dein Zimmer, Chad?« Ob Steve wusste, dass er die Situation mit diesen Worten vor der Eskalation bewahrte?

»Oben«, krächzte Chad.

 

Noah legte ihm die Hand auf die Schulter und schob ihn behutsam auf die Treppe zu, die vom Flur in die obere Etage führte. Steve folgte ihnen nicht, sondern schien stattdessen beschlossen zu haben auf Paul aufzupassen.

Knapp eine Stunde später hatten sie sich von Steve verabschiedet und stiegen in den reichlich beladenen Pick-up. Chad sah bedrückt aus und Noah konnte nachfühlen, wie sehr ihn die Worte seines Bruders verletzt hatten. Daher schwieg er ebenfalls, statt womöglich hohl klingende Worte vom Stapel zu lassen. Wie bei ihrer ersten gemeinsamen Fahrt starrte Chad aus dem Beifahrerfenster.

Als sie vor dem Wohnwagen anhielten, kam Leben in Chad. »Du hast doch gar keinen Platz für meine ganzen Sachen. Wohin soll ich denn jetzt damit?«, fragte Chad verzweifelt.

Noah setzte ein schelmisches Grinsen auf. »Da du mich ja heute fast den ganzen Tag dazu genötigt hast für Ordnung zu sorgen, ist jetzt eindeutig genug Platz.«

 

Er schaffte es, Chad ein schiefes Lächeln abzuringen. Der Blick des Mannes wirkte dabei jedoch so traurig, dass es ihm einen kleinen Stich ins Herz versetzte. Noah stieg aus und schnappte den ersten Karton von der Ladefläche, während Chad eine Reisetasche griff. Der schlanke Mann folgte ihm in den Wohnanhänger hinein, und als Noah sich umdrehte, sah er, wie sehr Chad um seine Fassung rang, wenn er die Blicke nicht bemerkte. Chads Atem klang ungleichmäßig und zittrig. Noah schimpfte Paul in Gedanken einen hohlen Schwachkopf, dem er doch eine hätte verpassen sollen. Er stellte den Karton beiseite, zog seine Jacke aus und warf sie achtlos auf die Bank der Sitzecke. 

Chad gab einen ungehaltenen Laut von sich, parkte die Tasche und hängte Noahs Jacke an einen Haken, der sich an der WC-Tür befand. »Reicht schon, wenn meine Klamotten hier gleich für Unordnung sorgen«, scherzte er halbherzig.

Noah sah jedoch, dass Chad kurz davor war, in Tränen auszubrechen.

 

Chad drehte sich hastig um und verließ den Wohnwagen. »Ich hol mal die anderen Kartons«, glaubte Noah gehört zu haben.

In Anbetracht von Chads Emotionen fühlte er sich hilflos. Er konnte es schlecht wie gestern Abend handhaben, als er zur Gitarre gegriffen hatte. Seufzend schloss Noah sich Chad an und verließ den Wohnwagen. Er sah, dass Chad sich mit den Händen an der Kante der Ladefläche abstützte und auf den Boden starrte. Ein rascher Blick traf ihn. Chad rieb sich über die Wange und eine Tränenspur fort. »Ich bin so scheiß wütend, weißt du?« Er lachte, doch es klang freudlos. »Wütend, weil meine Eltern nicht mehr da sind … wütend, weil eine Familie zusammenhalten sollte, und mein Bruder …« Chad schlug mit der flachen Hand auf die Ladefläche, dann schluchzte er.

Noah raufte sich die Haare und ging langsam auf Chad zu.

Dieser wischte sich noch einmal die Tränen aus dem Gesicht. »Ent… entschuldige, geht gleich wieder«, schniefte er.

Noah gab seinem nächsten Impuls nach. »Muss es nicht«, brummte er, stapfte auf Chad zu und nahm ihn in die Arme. Er spürte, wie Chad sich erst versteifte, sich dann jedoch wie ein Ertrinkender an ihn klammerte und die Tränen nicht mehr zurückhielt.

 

Sie standen geraume Zeit an dem Pick-up, doch Noah war es egal. Ebenso, wie es ihn nicht scherte, ob der ganze Trailer-Park sie sah. Es tat gut, dass er Chad mit seiner Umarmung mehr Trost spenden konnte, als durch womöglich unbeholfene Worte. Überrascht bemerkte er, dass Chads Geruch ausgesprochen angenehm war und dass es sich nicht im Geringsten komisch anfühlte, einen anderen Mann zu umarmen. Im Gegenteil.

Kapitel 5

 »Das klingt gut!«

»Ehrlich?«

»Wenn ich es sage. Ehrlich, Noah.«

Diese Aussage ging ihm herunter wie Öl. Noah strahlte und stellte seine Gitarre zur Seite. »Ich mach mir ein Sandwich, möchtest du auch eines?«

Chads Lächeln war ihm Antwort genug. Er ließ ihn vor dem Wohnwagen, wo sie es sich bequem gemacht hatten, zurück und ging ins Innere. Während er die großen Weißbrotscheiben belegte, ließ er die letzten Tage Revue passieren. Es erstaunte ihn selbst, wie konfliktfrei sie miteinander auskamen, obwohl sie auf engstem Raum zusammenlebten. Nicht einmal das Teilen des Bettes störte ihn oder schien Chad zu schaffen zu machen. Sie unterhielten sich viel, doch es gab auch Momente, da konnten sie schweigen, ohne dass es sich unbehaglich anfühlte. Als Bonus hatte Chad etwas in ihm wach gekitzelt, das er seit Langem nicht mehr verspürt hatte. Den Wunsch, neue Lieder zu komponieren. Und wenn er Chad Glauben schenkte, waren sie gut.

Noahs Lächeln wurde breiter. Zufrieden summend verließ er den Wohnwagen und stellte einen reichlich gefüllten Teller auf den Tisch.

 

***

 

Noahs Magen kribbelte und Endorphine fluteten seine Adern. Mit Einsetzen des Applauses schaute er sich unauffällig um, bis er Chad in einer Ecke des Clubs gefunden hatte. 

»Danke schön«, raunte er ins Mikrofon. Das Publikum bezog es fraglos auf sich, doch er sprach den Dank für Chad aus, auch wenn dieser wohl nicht wusste, dass er ihm galt. So beflügelt wie an diesem Abend hatte er die letzten Jahre nicht mehr gespielt. Sein Enthusiasmus konnte mit dem seiner Anfangszeiten mithalten, als er noch täglich damit rechnete, dass ihn ein Talentscout ansprach und unter Vertrag nahm.

Noah stieg von der Bühne und erntete auf dem Weg dorthin den einen oder anderen Schulterklopfer, der ihm ausgesprochen gut tat. Das Publikum im Desert enttäuschte ihn nie, doch heute glaubte er besonders viel Lob zu erhalten.

»Guter Gig, mein Junge!« Patrick griente ihm hinter dem Tresen stehend zu und schob ein Bier über die Holzplatte.

»Danke, Patrick.«

»Wie geht es dem Kleinen? Mehr als ein Hallo haben wir ja vorhin nicht geschafft.«

»So weit ganz gut. Er wartet noch, bis sein Gesicht nicht mehr ganz so blau ist, dann macht er sich auf die Suche nach einem neuen Job. Du brauchst nicht zufällig jemanden, der dir hilft?« Noah zwinkerte Patrick zu. Obwohl er die Frage nicht im Scherz meinte.

Patricks Seufzen konnte Noah durch den Geräuschpegel nur erahnen. »Du weißt, dass hier nur am Wochenende viel los ist, und da hilft mir Henry.« Patrick deutete mit dem Kinn auf einen anderen Mann, der gerade mit einem Tablett hinter den Tresen kam. Aber ich kann mich gern mal umhören, wenn Du möchtest.«

»Gern. Danke!«

»Drei Whisky Cola und fünf Bud«, rief Henry Patrick zu.

»Ich muss.« Patrick klopfte kurz auf den Tresen, dann verschwand er und kümmerte sich um die Bestellung.

Noah nahm sein Bier und arbeitete sich den Weg durch die Menschenmenge, bis er die Ecke erreichte, in die Chad sich zurückgezogen hatte. Das Gedrängel sorgte dafür, dass er Chad auf den Pelz rücken musste. »Wie hat es dir gefallen?«

»Es war erstklassig.«

Noah glaubte dem strahlenden Gesicht. Er beugte sich näher zu Chad herunter. »Patrick hat mich gefragt, wie es dir geht. Ich habe ihm erzählt, dass du dich, wenn dein Gesicht wieder in Ordnung ist, nach einem Job umschauen willst. Er hat gesagt, dass er sich mal umhört. Ich hoffe, das ist okay für dich?«

»Willst du mich loswerden?«, scherzte Chad, doch seine Augen funkelten nicht mehr so fröhlich, wie noch vor Sekunden.

Noah starrte den Mann perplex an. »Wie kommst du denn auf so einen Mist?«, brummte er ungehalten und diese Aussage entsprach dem, was er fühlte.

Chad zuckte nur mit einem schiefen Lächeln die Schultern.

»Gebe ich dir etwa das Gefühl?«

»Nein.«

»Gut, dann will ich so etwas nicht mehr hören, ja?«, knurrte er ein wenig beleidigt.

Chad biss sich auf die Unterlippe und lächelte verschmitzt. »Okay, Sir.«

Noah schnaufte und verpasste seinem Gegenüber spielerisch eine Kopfnuss. Anschließend trank er einen Schluck Bier. Als er wieder zu Chad schaute, merkte er, dass der in eine andere Richtung sah. Noah guckte ebenfalls dorthin und stellte fest, dass sie von einer kleinen Gruppe älterer Männer abschätzend gemustert wurden. Es interessierte ihn nicht weiter, denn er kannte es, dass er angeschaut wurde, wenn er zuvor auf der Bühne gestanden hatte.

»Willst du noch lange bleiben?«, fragte Chad und schaute ihn dabei mit ernster Miene an.

»Nein, wenn du möchtest, können wir verschwinden.«

»Das wäre prima.«

Noah leerte sein Bier in einem Zug. »Ich bringe nur noch meine Flasche weg, dann geht es los.«

Wenige Minuten später verließen sie gemeinsam den Club und steuerten die Seitengasse an, in der Noah den Pick-up abgestellt hatte.

»Vielleicht ist es besser, wenn ich dich nicht zu den Auftritten begleite.«

Noah blieb abrupt stehen und schaute Chad überrascht an. »Weil?«