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Sie sind Männer, wie sie unterschiedlicher nicht sein können: Jim Parson, Spieler und Abenteurer und stets bereit zum Risiko. Dave Kerwood dagegen ist ruhig und besonnen und hat in seinem bisherigen Leben nie viel Glück gehabt. Als sich die Wege der beiden Männer eines Tages kreuzen, ahnen weder Parson noch Kerwood, dass ihr Schicksal von nun an untrennbar miteinander verbunden ist. Aus Freundschaft wird schließlich Hass – und der Wunsch nach Rache und Vergeltung überlagert alles andere. Und als sich die beiden schließlich wieder gegenüberstehen, gibt es nur noch eine Sprache – nämlich die der Colts!
John F. Beck hat mit diesem epischen, meisterhaft erzählten Roman ein wahres Feuerwerk an Spannung und Dramatik vor einer historischen Kulisse geschaffen. Es ist sein bisher umfangreichster und engagiertester Roman überhaupt. Ein absolutes MUSS für jeden Westernfan!
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John F. Beck
Man nannte ihn
Windreiter
Western-Roman
Neuausgabe
Copyright © by Authors/Bärenklau Exklusiv
Cover: © Steve Mayer, 2024
Korrektorat: Sandra Vierbein
Verlag: Bärenklau Exklusiv. Jörg Martin Munsonius (Verleger), Koalabärweg 2, 16727 Bärenklau. Kerstin Peschel (Verlegerin), Am Wald 67, 14656 Brieselang
Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.
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Inhaltsverzeichnis
Impressum
Das Buch
Man nannte ihn Windreiter
Prolog
Jim Parson
Dave Kerwood
Jim Parson – Dave Kerwood
Jim Parson
Dave Kerwood
Jim Parson
Jim Parson – Dave Kerwood
Jim Parson
Epilog
Eine kleine Auswahl der bereits veröffentlichten Western-Romane des Autors John F. Beck
Sie sind Männer, wie sie unterschiedlicher nicht sein können: Jim Parson, Spieler und Abenteurer und stets bereit zum Risiko. Dave Kerwood dagegen ist ruhig und besonnen und hat in seinem bisherigen Leben nie viel Glück gehabt. Als sich die Wege der beiden Männer eines Tages kreuzen, ahnen weder Parson noch Kerwood, dass ihr Schicksal von nun an untrennbar miteinander verbunden ist. Aus Freundschaft wird schließlich Hass – und der Wunsch nach Rache und Vergeltung überlagert alles andere. Und als sich die beiden schließlich wieder gegenüberstehen, gibt es nur noch eine Sprache – nämlich die der Colts!
John F. Beck hat mit diesem epischen, meisterhaft erzählten Roman ein wahres Feuerwerk an Spannung und Dramatik vor einer historischen Kulisse geschaffen. Es ist sein bisher umfangreichster und engagiertester Roman überhaupt. Ein absolutes MUSS für jeden Westernfan!
***
14. August 1884. Die kleine Stadt Yellow Flat am Rande der Ausläufer der Nevada-Wüste wirkte wie ausgeglüht. Kein Lufthauch bewegte das Windbrunnenrad auf dem Holzgerüst hinter dem Mietstall. Straße, Gehsteige und Vorbauten lagen leer. Das einzige sichtbare Lebewesen war ein alter, magerer Hund, der mit heraushängender Zunge hechelnd unter den Verandabrettern vor dem Hotel ruhte. Es war ein doppelstöckiges, wenig einladend wirkendes Gebäude. Droben stand in einem der rückwärtigen Zimmer eine ein wenig zur Üppigkeit neigende Frau am Fenster und blickte in die Hitzeschleier, die über der sandigen Ebene waberten.
»Er hat eine Abkürzung genommen«, sagte sie ohne sich umzudrehen. »Mindestens fünf Meilen von der Poststraße entfernt. Weiß der Kuckuck, woher er kommt.«
Der Mann auf dem Bett schräg hinter ihr hatte sich aufgesetzt. Er war nur mit aufgeknöpftem Hemd und Hose bekleidet. Ein Hustenanfall hatte ihm schlimm zugesetzt. Mit einem weißen Taschentuch tupfte er sich ein paar Blutstropfen aus dem rechten Mundwinkel. Sein Gesicht war fahl, hohlwangig, im Ganzen aber recht gut geschnitten. Eine schweißfeuchte blonde Strähne klebte an seiner Stirn. Trotz der Nachmittagshitze im Zimmer schien er zu frösteln. Er zog die leichte Decke halb über sich.
»Wie sieht er aus?«
»Zu weit weg.«
»Nimm das Fernglas, Sally.«
Der Mann trank einen Schluck aus dem Glas mit einer dunkelbraunen Flüssigkeit, das neben ihm, auf dem Kästchen stand. Das übrige Mobiliar bestand aus einer Kommode mit Waschschüssel, einem wurmstichigen Schrank und einem wackeligen Stuhl.
Die Frau öffnete die zur Abreise bereit gestellte große Stofftasche und entnahm ihr ein Fernglas. Die reichliche Schminke konnte die Spuren des beginnenden Alters auf ihrem Gesicht nicht verbergen. Das Rot ihrer Haare war zu grell, um echt zu sein und in dem smaragdgrünen, wenn auch gut modellierten Kleid hätte sich bestimmt keine der Stadtbewohnerinnen zu zeigen gewagt.
Jim Parson wartete geduldig, bis Sally wieder am Fenster stand.
»Nun?«
»Von Kopf bis Fuß mit Staub bedeckt.«
»Kein Wunder bei der Strecke, die er anscheinend hinter sich hat. Sein Pferd?«
»Ein Schecke.«
»Naja, Brown Boy ist inzwischen alt geworden – falls er überhaupt noch lebt.« Parson lachte rissig, worauf er wieder zu husten begann.
Die Frau drehte sich ruckartig. »Du kennst ihn?«
»Möglich.« Parson atmete jetzt gleichmäßig.
»Bewaffnet?«
»Ein Revolver.« Sally benutzte wieder das Fernglas.
»Wo?«
»Links, mit dem Kolben nach vorn.«
»Dann ist er es.«
»Wer? Mann, Jim, lass dir nicht alles aus der Nase ziehen!«
»Dave Kerwood, mein ehemals bester und einziger Freund.«
»Wie du das sagst! Das ist doch kein Zufall, dass er hier auftaucht. Was will er von dir?«
»Ich nehme an, er kommt, um mich zu töten.«
»Das ist nicht dein Ernst.«
»Doch.«
»Darum also die Hetze in letzter Zeit. Jim, lass uns von hier verschwinden.«
Parson lächelte schief. »Du vergisst, dass wir keine Pferde haben und auf die nächste Postkutsche angewiesen sind, Honey. Die kommt erst in zwei Tagen.«
»Aber du …«
»Reg dich ab, Sally. Noch bin ich am Leben, und ich gedenke es auch zu bleiben. Wie lange wird es noch dauern, bis er in der Stadt ist?«
Sally kehrte hastig ans Fenster zurück. »Er ist schon da. Eben biegt er in die Southern Road.«
In jenem Jahr 1850 lagen die Felder, Wiesen und Wälder im nördlichen Illinois bereits Mitte November unter einer dicken Schneedecke. Die Nacht vom 18. auf den 19. war sternenklar. Ein eisiger Wind blies glitzernde dünne Schleier um das alte Farmhaus auf einer Anhöhe über Whitewater. Die Läden waren geschlossen. In den Ritzen schimmerte es gelb.
Ein hungriger Fuchs war vom nahen Wald zur Rückwand des Hühnerstalls herüber geschlichen und suchte schnüffelnd und kratzend nach einer Lücke oder einem morschen Brett. Plötzlich drehte er den Kopf, spitzte die Lauscher und jagte dann mit flachen Sätzen in den Schutz der schneevermummten Fichten zurück.
Der Schrei aus dem Farmhaus wiederholte sich. Es war die Stimme einer Frau, durchdringend, voller Pein. Dann nur mehr ein Röcheln, Keuchen, das in schweres Atmen überging.
»Sie haben es geschafft, Mrs. Parson«, sagte die zweite Frau in dem von einer Kerosinlampe erhellten engen Schlafzimmer zu der schweißgebadet im Bett Liegenden. »Ein Junge, ein kräftiges, hübsches Kerlchen. Sehen Sie nur.«
»Nein, nein! Schaffen Sie’s weg, schaffen Sie’s weg!«
Die Frau aus Whitewater, die das matt zappelnde Bündelchen Mensch sachgerecht in saubere Tücher hüllte, hielt erschrocken inne. »Um Himmels willen, Mrs. Parson, versündigen Sie sich nicht! Sie wissen ja nicht, was Sie reden!«
»Ich will’s nicht sehen! Schaffen Sie’s weg!«
»Beruhigen Sie sich doch. Es ist ja alles vorbei.« Die Hebamme bettete den Kleinen behutsam in ein bereitstehendes Körbchen, das als Wiege dienen sollte. Ihre zuvor so sicheren Hände zitterten jetzt. Sie vermied es, Sarah Parson anzusehen.
»Vorbei?«, keuchte diese und hustete bei dem vergeblichen Versuch verzweifelt zu lachen. »Die Farmarbeit … der Mann, der an der Whiskyflasche hängt … dazu noch ein Kind … Wie soll ich das bloß schaffen!«
»Wenn Bob erst mal seinen Sohn gesehen hat, wird er sich bestimmt bessern, Mrs. Parson.«
Sarah Parson schloss erschöpft die Augen. Ihre verarbeiteten Hände lagen schlaff auf der Decke. »Und wo ist er jetzt?«, murmelte sie. »Sie wissen es so gut wie ich. Er sitzt mit seinen Kumpanen bei O’Hara und lässt sich volllaufen.«
Ein schwaches Quäken kam aus dem Körbchen. Die Frau aus Whitewater hob den neuen Erdenbewohner heraus, setzte sich auf einen Stuhl und während seine Mutter einschlief, wiegte sie ihn mit feuchten Augen an ihrer Brust.
Im Geburtenregister von Whitewater stand: James Milford Parson geb. am 19. November 1850, Eltern Sarah Parson geb. Milford und Robert Parson. Der Junge wuchs in einen tristen Farmalltag hinein. Die Mutter sorgte zwar für Nahrung und Kleidung, ansonsten war er, sobald er laufen konnte, die meiste Zeit sich selbst überlassen. Er konnte sich später an kein freundliches Wort oder ein Lächeln von Sarah Parson erinnern. Als er schon ein wenig anpacken konnte, musste er auf den Feldern und im Stall helfen. Die Parsons besaßen ein altersschwaches Pferd, das gerade noch taugte, den Pflug zu ziehen, eine Milchkuh und ein halbes Dutzend Hühner.
Die Farmarbeit war Jim genauso verhasst wie seinem Vater. Der saß lieber in O’Haras Kneipe oder trieb sich tagelang mit einer alten Kentucky Rifle in den Wäldern herum. Wenn es ihn gelegentlich überkam, einen Zaun auszubessern oder das Dach zu flicken, dann war abzusehen, dass er nach wenigen Stunden alles stehen und liegen ließ und im Schatten der Fichten und Tannen jenseits der Felder verschwand.
Jim bezog zwar häufig Prügel von ihm, aber wenn Bob Parson sich gerade die richtige Menge Fusel einverleibt hatte, erzählt er dem Jungen Geschichten – wahre und erlogene – aus seinem Leben, von denen Jim gar nicht genug hören konnte. Mit zehn durfte Jim seinen Vater auf seinen Jagdstreifzügen begleiten, während Sarah Parson sich bis zum Zusammenbruch auf den Feldern abrackerte. Damit war Jim in seinem Element. Bald kannte er sich mit Fährten und beim Fallenstellen fast so gut aus wie sein »Alter«. Mit elf erlegte er seinen ersten Schwarzbären, und zur Belohnung schenkte ihm Bob ein zweischneidiges Messer mit Perlmuttgriffschalen, fortan Jims kostbarster Schatz, sein Heiligtum.
Die Jagd war keine verachtenswerte Einnahmequelle. Außer O’Hara gab es noch den einen oder anderen Abnehmer für Wildbret in der kleinen Stadt. Die Farm kam indessen immer weiter herab. Jims Mutter war mit fünfunddreißig Jahren bereits eine verbrauchte und verbitterte alte Frau. Die beiden Parson-Männer gingen ihr nach Möglichkeit aus dem Weg.
An einem Morgen als sie gerade wieder zur Jagd aufbrechen wollten, kamen vier Reiter den Hang herauf, bärtige, kräftige Männer, zwei von nicht weit entfernten Farmen, zwei aus der Stadt.
»Hallo, Parson.« Der Sprecher trug den blauen Waffenrock der Nordstaaten Armee über seinem Werktagshemd und zu seiner geflickten Hose. »Wieder mal schwer bewaffnet, eh? Das trifft sich gut.«
Parson, die Rifle in der Armbeuge, kniff die Augen zusammen. »Was meinst du damit, Murphy?«
»Hast du’s noch nicht mitbekommen, Parson? Wir stellen eine Freiwilligen-Kompanie für das Zweite Illinois-Regiment zusammen, um den verdammten Johnny Rebs mal tüchtig aufs Haupt zu schlagen. Da kannst du deine Schießkünste besser anwenden als bei Hasen und Rehen. Na, was sagst du?«
Bob Parson war ein drahtiger, nicht sehr großer Mann mit einem wettergegerbten Gesicht, das sich jetzt in tausend Falten und Fältchen zerlegte als er grinste. »Ich sage dir, Murphy, dass ich auf euren Scheißkrieg pfeife und mir ein Hase oder ein Reh vor meiner Flinte bedeutend einträglicher scheint als ein Kugelloch in der Uniform eines Johnny Reb.«
Die Mienen der Reiter hatten sich schlagartig verfinstert. Ben Murphy, dem die Eisenwarenhandlung in Whitewater gehörte, beugte sich im Sattel vor. »Du willst doch nicht etwa behaupten, Parson, dass du mit diesem verdammten Südstaatler- und Sklavenschinderpack sympathisierst?«
»Ich behaupte lediglich, dass mir meine eigene Haut näher ist als die von irgendeinem Nigger und dass es mir egal ist, ob Abe Lincoln oder Jeff Davis auf dem Präsidentenstuhl im Weißen Haus sitzt, solange ich mir bei O’Hara eine Flasche Whisky kaufen oder mit meinem Jungen hinter einem Bären oder Hirsch her sein kann. Was, Jim ?«
»Klar, Pa.« Jim versuchte das Grinsen seines Vaters nachzuahmen.
Murphy richtete sich steif auf. Er warf seinen Begleitern einen bedeutsamen Blick zu. »Wer weiß wie lange du das mit solchen Ansichten noch kannst, Parson.«
Sie drehten ihre Pferde und ritten zur Stadt zurück. Parson spuckte aus. »Lass dich nicht ins Bockshorn jagen, Junge. Wenn du kämpfst, dann für deine eigene Sache, nicht für die Hirngespinste irgendwelcher Idioten.«
»Klar, Pa«, antwortete Jim und spuckte ebenfalls aus.
*
Knapp eine Woche später klopfte Bob Parson mit zwei frischen Rehkeulen in dem Sack, den er geschultert trug, an O’Haras Hintertür. Der glatzköpfige, stämmige Ire empfing ihn missmutig. Eine Zigarre pappte zwischen seinen Wulstlippen.
»Kein Bedarf mehr, Bob. Tut mir leid.«
»Hab ’nen anstrengenden Tag hinter mir und bin müde. Mach also keine blöden Witze.«
»Seh ich aus als wäre ich zum Spaßen aufgelegt? Der Großteil meiner Gäste ist fort, unterwegs zu den Schlachtfeldern im Osten. Was soll ich mit dem Fleisch?« Parson beäugte ihn misstrauisch. »Hat Ben Murphy dir das eingeflüstert?«
»Ben ist ebenfalls auf dem Weg zum Ruhm«, knurrte O’Hara und paffte geräuschvoll »Und du?«
»Ich kann auch ohne Ruhm leben. Und einer muss hier ja schließlich die Stellung halten bei all den Weibern, von denen bald viele Witwen sein werden.«
Bob Parson nickte verständnisvoll, dann seufzte er. »Gib mir wenigstens eine Flasche Whisky mit auf den Heimweg.«
»Kannst du bezahlen?«
»Schreib’s an.«
O’Haras Miene veränderte sich. »Damit ist’s vorbei. Hast bei mir noch ’ne gehörige Rechnung offen. Und ich brauch das Geld, nachdem die meisten Jungs fort sind, Ich brauch es bald – sagen wir, in zwei Tagen.«
Parson riss die Augen auf. »Du hast sie wohl nicht mehr alle, Mike! Du weißt genau, dass ich kein …«
O’Hara nahm die Zigarre aus dem Mund. »Mrs. Blackwells Milchkuh ist gestern krepiert. Sie ist mit ihrer Stube voller Kinder auf die Milch angewiesen. Ich werde ihr deine Kuh verkaufen, dann sind deine Schulden beglichen, Bob. In zwei Tagen.«
»Das kannst du nicht …«
»In zwei Tagen.«
»Die Hölle soll dich fressen, Mike!« Zähneknirschend wandte Parson sich ab. Er fluchte fortwährend vor sich hin, als er, die beiden Rehkeulen auf der Schulter, den Weg zu seinem Anwesen hinauf stapfte.
Jim kam dem mittlerweile nur mehr Keuchenden ahnungslos entgegen. »Ich will verdammt sein, Pa, wenn du nicht daherkommst wie ein abgewrackter Alter«, grinste er, worauf er prompt eine Ohrfeige kassierte, die ihn fast umwarf.
»Fass mit an, du Nichtsnutz. Und wenn du’s dann noch schaffst, da unten in dem Kaff irgendwo ’ne Flasche Feuerwasser zu stibitzen, dann gibt’s heute Abend ein Festessen: gebratene Rehkeule mit Waldbeeren und Whiskysoße.«
*
Zwei Tage später war die Milchkuh trotz Sarahs Gezeter und Bobs wüstem Gefluche fort. O’Hara hatte zwei ältere, aber grimmig und entschlossen aussehende Männer mitgebracht, beide mit schwerkalibrigen Hinterladern ausgerüstet. Er selber trug eine doppelläufige alte Steinschlosspistole im speckig glänzenden Gurt. Als Jim mit der langläufigen Kentucky Rifle seines Vaters auf den Hof gekommen war, hatte er von seinem »Alten« eine noch heftigere Ohrfeige als vor zwei Tagen eingefangen, sodass er sich, ohne die Rifle fallen zu lassen, auf den Hosenboden gesetzt hatte.
»Du sollst nur schießen, wenn du sicher bist, dass du hinterher weder gehenkt noch eingebuchtet wirst«, hatte ihm Bob Parson eingeschärft nachdem die anderen fort waren.
In der darauffolgenden Nacht wurde bei O’Hara eingebrochen. Weder O’Hara, der sowieso für seinen tiefen Schlaf bekannt war, noch seine Frau bemerkten etwas. Am Morgen fehlte seine Kneipenkasse, in der sich inzwischen auch der Kaufpreis befand, den Mrs. Blackwell für ihre neue Milchkuh entrichtet hatte.
Ein vor Wut fast platzender O’Hara eilte mit der Pistole fuchtelnd und die gesamte übrig gebliebene männliche Einwohnerschaft von Whitewater im Schlepptau zur Parson Farm hinauf. Es war ein kühler Herbstmorgen. Die heraufziehenden dunklen Wolken kündeten Regen an. Mrs. Parson war bereits dabei die Hühner zu füttern. Jim lugte aus einem Fenster, rieb sich den Schlaf aus den Augen und grinste ahnungsvoll.
»Wenn ihr Pa sucht, er ist nicht hier.«
»Wo ist der Mistkerl hin?«, brüllte O’Hara.
»Keine Ahnung.«
Das entsprach der Wahrheit. Was Jim verschwieg war, dass er beim Aufwachen fünf Dollar unter seinem Kopfkissen gefunden hatte. Bob Parson wurde in Whitewater und Umgebung nie mehr gesehen.
*
Es gab kein Anzeichen dafür, dass Bob Parsons Verschwinden seinem Sohn besonders nahe ging. Seine Mutter bekam ihn jetzt noch seltener zu sehen, und die Nachbarn und Stadtbewohner waren noch mehr darauf bedacht, ihre Lebensmittel, Hühner und Feldfrüchte sicher zu verwahren. Denn Jims Ehrgeiz bestand mittlerweile darin, sich möglichst außer Haus zu verköstigen. Bis nach seinem vierzehnten Geburtstag eine Wandlung eintrat, die alle überraschte – Jim selber am meisten.
Sein Schulbesuch hatte sich bis dahin auf zwei Winterhalbjahre beschränkt. Da Jim ein helles Köpfchen besaß, hatte das genügt, ihm die Grundkenntnisse der Lese-, Schreib- und Rechenkunst beizubringen. Etwas mühsamer war es gewesen, sich den nötigen Respekt unter seinen Mitschülern zu verschaffen. Die Parsons galten in der Stadt und deren Umkreis als Außenseiter, vor denen man auf der Hut sein musste. Und Bobs Ruf als Whiskyvertilger und Schuldenmacher bot Anlass genug, seinen Sohn zu hänseln.
Jim hatte sich die drei bösartigsten Spötter einzeln vorgenommen und ihnen eine Abreibung verpasst, die sie nicht so schnell vergessen würden. Dann allerdings waren sie auf dem Heimweg zu dritt über ihn hergefallen. Jim hatte mehrere Tage lang mit grün und blau verschwollenem Gesicht und schmerzenden Rippen daheim im Bett gelegen. Sarah Parson hatte keinerlei Mitleid gezeigt, was Jim auch gar nicht erwartet hatte.
Er war dann nur mehr mit dem Messer, das sein Vater ihm geschenkt hatte, unterwegs gewesen und er hatte, wenn der Lehrer nicht zur Stelle war, Kunststücke damit vorgeführt, die den hartgesottensten Farmerlümmel davon abhielten, ihn auch nur mehr schief anzusehen. Freunde hatte ihm das keine gebracht. Aber darauf hatte Jim gepfiffen.
Dass er schließlich mit vierzehn freiwillig nochmals die Schulbank drückte, hatte mit Jims erster und einziger wahrer Liebe zu tun. Es begann mit einem plötzlichen, eine halbe Stunde dauernden heftigen Regenguss im Spätherbst. Da es über den östlichen Talhängen bereits wieder aufzuklaren begann, zog es die Kundschaft in Eric Larsens Store vor, erst einmal abzuwarten.
Es waren vier oder fünf Frauen und ein paar Oldtimer von den umliegenden Farmen. Letztere beschauten zwischen den Regalen die neuesten Coltmodelle, obwohl sie selber keinen Bedarf dafür hatten. Auf dem Vorbaudach plätscherte es. Drinnen war es so dämmrig, dass Larsen schon überlegte, ob er eine Lampe anzünden sollte. Denn die Ladies suchten eifrig die Dielen nach einer Münze ab, die Mrs. McPherson beim Einstecken des Wechselgeldes aus der Hand gerutscht war.
Da fiel sein Blick auf Jim Parson. Fröstelnd und durchnässt schob der sich an den Frauen vorbei zur Ladentheke. Larsen, eingedenk schlechter Erfahrung, rief sofort: »Parson, wenn du kein Geld hast, dann verschwinde! Ich verkaufe nicht auf Pump.«
»Ich habe Geld«, erwiderte Jim trotzig und legte ein Fünfzig-Cent-Stück auf die Platte. Das hatte er, nachdem er verdächtig um Mrs. Blackwells Hühnerstall herumgeschlichen war, von der Witwe sozusagen als freiwilliges Lösegeld für ihr Federvieh geschenkt bekommen. Außerdem hatte sie nicht vergessen, dass ihre neue und ergiebige Milchkuh eine ehemalige Parson-Kuh war.
In Larsens Store wurde es schlagartig still, als der Ladenbesitzer laut und betont langsam sagte: »Sieh an, genau fünfzig Cent.« Alle drehten sich dem blonden Jungen zu, und über Jims Kopf hinweg fragte Larsen: »War es nicht eine Fünfzig-Cent-Münze, die Sie vorhin verloren haben, Mrs. McPherson?«
Die Stille vertiefte sich. Auch die alten Männer zwischen den Regalen waren aufmerksam geworden. Jim, kreidebleich, die Zähne zusammengebissen, verharrte reglos.
Da sagte eine ruhige, aber entschieden klingende Frauenstimme: »Ich habe nicht gesehen, dass der Junge sich nach irgendetwas gebückt hat, seit er hereingekommen ist.«
Ruckartig drehten sich die Köpfe in die neue Richtung. Nur Jim starrte noch auf das Geldstück, das zwischen ihm und dem Ladenbesitzer lag. Und wieder die Stimme von vorhin: »Vielleicht sollten Sie die Lampe anzünden, Mr. Larsen, damit wir uns nochmals nach Mrs. McPhersons fünfzig Cent umschauen.«
Nur ein sehr aufmerksamer Zuhörer hätte einen Unterton von Verachtung in dieser gleichbleibend ruhigen Stimme wahrgenommen. Der Vorschlag wurde überflüssig, denn eine andere weibliche Stimme rief: »Sehen Sie nur, Mrs. McPherson, das Geld hat sich in Ihrem Kleidersaum verfangen!«
Verlegenes Lachen folgte. Larsen war rot geworden. »Was willst du?«, fragte er den Jungen barsch.
Wortlos drehte Jim sich ab. Die Frau an der Tür trat lächelnd zur Seite. Sie war jung, trug ein einfaches, aber geschmackvolles Kleid und besaß das ebenmäßigste und schönste Gesicht, das Jim je gesehen hatte. Für ihn eine Erscheinung wie aus einer anderen Welt.
»He, Parson, dein Geld!«
Jim beachtete Larsen nicht mehr. Draußen schüttete es immer noch, aber er spürte es nicht.
*
Zwei Tage später sah er sie wieder. Er hatte sich entschlossen, die zurückgelassene Münze doch noch in etwas Essbares umzuwandeln und verließ gerade mit einer Dose Kekse Larsens Store. Sie stand im Gespräch mit einer anderen Frau, die ein kleines Mädchen an der Hand hielt, vor Murphys Eisenwarenhandlung. Im nächsten Moment entdeckte Jim einen ehemaligen Kontrahenten aus seiner Schulzeit, der aus einer Seitengasse kam und sich sofort zurückziehen wollte, als er Parson bemerkte.
»Komm her, Tom!«, rief Jim scharf.
Tom zögerte. Dann näherte er sich misstrauisch.
»Wer ist die Frau dort?« Jims Kinn wies die Richtung.
Tom grinste erleichtert. »Lebst du hinterm Mond, Mann? Das ist Miss Beiden, die neue Lehrerin. Der alte Griesgram Watkins hat sich nach Chicago verzogen. Haus geerbt oder sowas.« Er neigte sich vertraulich zu Jim. »Nicht übel, die Puppe, was?« Und als Jim nicht reagierte: »Möchte sie gerne mal ohne den Stoff um sie herum sehen. Was die für Titten …«
Jims Faust klatschte ihm ins Gesicht. Er taumelte gegen die Hausecke. »Bist du verrückt geworden? Was soll das?«
Das wusste Jim selber nicht. Sein abwesender Gesichtsausdruck erschreckte Tom Riley noch mehr. Mit seiner Schimpfkanonade begann er aber vorsichtshalber erst, als er schon weit genug entfernt war.
Eine Woche danach saß Riley auf seinem angestammten Platz in der hintersten Bankreihe im Schulzimmer und traute seinen Augen nicht. Der Unterricht hatte schon begonnen. Vor den Fenstern des flachen Holzgebäudes tanzten die ersten Schneeflocken dieses Winters. Der Kanonenofen bullerte, und Miss Elisabeth Beiden schrieb mit Kreide eine Rechenaufgabe an die Tafel.
Da ging vorsichtig die Tür auf. Jim Parson stand auf der Schwelle. Haltung und Miene verrieten Unsicherheit – aber nur, bis er alle Blicke auf sich gerichtet sah. Da straffte er sich, schloss geräuschvoll die Tür und steuerte mit einem Packen halb zerschlissener Schulbücher unterm Arm den Platz neben Tom Riley an.
»Guten Morgen, Jim.«
Das war dieselbe ruhige und melodische Stimme, die er in Larsens Store gehört hatte. Jim blieb stehen. Röte übergoss sein Gesicht.
»Guten Morgen, Miss Beiden.«
»Es freut mich, dass du dich zum Kommen entschlossen hast.«
»Nur den Winter über, Miss Beiden.«
»Das ist schon in Ordnung so, Jim.« Die junge Lehrerin lächelte. »Ich habe ja gehört, dass du ansonsten ein tüchtiger Jäger und Waldläufer bist, der im Sommer keine Zeit für die Schule hat.«
Alle Altersstufen waren in dem Raum vertreten, und alle, vom Siebenjährigen bis zu den Halbwüchsigen, hielten den Atem an. Auch Jim. Noch nie war über einen Parson in Whitewater ein anerkennendes Wort geäußert worden.
»Setz dich nur, Jim«, sagte die Lehrerin und drehte sich wieder zur Tafel.
Jim setzte sich neben den säuerlich dreinschauenden Tom Riley. »Du weißt, was dir blüht, wenn du mir nicht vorsagst und mich nicht abschreiben lässt«, flüsterte er ihm zu. Tom wusste es.
Von der Stunde an wunderte sich Elisabeth Beiden, wie wenig aufmüpfig die »großen Jungs« in den hinteren Bankreihen auf einmal waren und wie respektvoll sie behandelt wurde. Eine Ahnung beschlich sie zwar, aber erst viel später, nach ihrer Zeit in Whitewater, wurde ihr bewusst, unter welchem Schutz sie gestanden hatte.
Jim berührte es nicht, dass seine Klassenkameraden ihn außerhalb der Schule mieden. Die Mädchen jedoch begannen ihm bewundernde Blicke zuzuwerfen. Und außer der Macht, die er nun insgeheim ausübte, hatte er sich ja zu einem hübschen und kräftigen jungen Mann entwickelt.
*
Um zehn Uhr vormittags am 12. April 1865 preschte ein Reiter die Hauptstraße von Whitewater entlang. Er schwenkte einen Packen druckfrischer Zeitungen, die er aus der fünfzehn Meilen entfernten Nachbarstadt mitgebracht hatte.
»Wir haben sie geschlagen! Wir haben sie geschlagen!«, brüllte er. Im Nu füllte sich die Straße mit Menschen. Der Mann zügelte seinen schweißbedeckten Braunen. »Vor drei Tagen hat Lee bei Appomatox kapituliert! Wir haben’s geschafft, Leute! Der Süden ist hin, der Krieg vorbei!«
Jubel brach aus, Freudentränen flossen. Miss Beiden hatte die Schulhaustür geöffnet. »Ich glaube, Kinder, ihr geht jetzt am besten nach Hause und feiert mit euren Eltern. Morgen sehen wir uns wieder.«
Sie blieb allein zurück, wischte die Tafel ab und ordnete ihre Bücher auf dem Pult. Draußen lärmte und tobte es. Sie lauschte eine Weile. Dann, mit einem Seufzer der Erleichterung, wandte sie sich zum Gehen. Sie war auf halbem Weg zur Tür, da löste sich Jim Parson seitlich aus dem Schatten.
Ihr Herzschlag stockte, als sie das Messer in Jims Hand sah. Jim bemerkte ihr Erschrecken nicht. Er lächelte. »Bleiben Sie stehen, Miss Beiden, ich will Ihnen nur zeigen …«
Sie sah nur das Messer. Ihre Erstarrung löste sich in einem markdurchdringenden Schrei. Gleichzeitig flirrte etwas an ihrem Kopf vorbei. Mit zitterndem Nachschwingen blieb die schmale Klinge in dem Kreis stecken, den Jim zuvor heimlich mit Kreide an einen Stützpfeiler gezeichnet hatte.
»Um Himmels willen, Miss Beiden, ich wollte doch nur …«
Ein Mann tauchte in der Tür auf. Im Vorbeilaufen hatte er den Schrei gehört. Als er sah, wie Jim das Messer aus dem Pfeiler zog, prallte er zurück und schrie: »Der verdammte Parson-Junge ist mit dem Messer auf die Lehrerin losgegangen!«
Jim duckte sich wie eine in die Enge getriebene Raubkatze. Dann war er mit wenigen Sätzen bei einem Fenster, riss es auf und sprang ins Freie. Der Tumult auf der Straße verlagerte sich zum Schulhaus. Miss Beiden lehnte bleich neben der Tür an der Außenwand.
»Nein, nein, lasst nur! Wahrscheinlich wollte er …«
»Er flieht! Lasst ihn nicht entkommen!«, gellte es.
Jim hetzte durch Seitengassen, über Hinterhöfe, scheuchte Hühner auf, wischte durch eine Zaunlücke und verschwand im Dickicht am Ufer des Creeks, nachdem die Siedlung benannt war. Nie wieder wollte er seine Kunstfertigkeit mit dem Messer vorführen – vor allem keiner Frau.
Jim Parson blieb für die Bewohner von Whitewater genauso verschollen wie sein Vater. Aber als Miss Beiden am nächsten Tag vom Schulunterricht in das ebenerdig gelegene Zimmer zurückkam, das sie bei Mrs. Blackwell am Stadtrand gemietet hatte, stand das Fenster zum Garten offen. Auf dem Bett lag eine Lederscheide, aus der der mit Perlmuttschalen ausgelegte Griff eines Messers ragte.
Mit zitternden Händen nahm sie es an sich. Viele Jahre später – sie war bereits Ehefrau und Mutter eines Zwillingspärchens – bewahrte sie es, in ein blaues Seidentuch gewickelt immer noch in einer Lade ihrer Spiegelkommode auf.
*
An einem frühen Nachmittag in der ersten Maiwoche näherte sich eine müde und abgerissen wirkende Gestalt den Häusern von Greerly am Illinois River. Für die Jahreszeit war es schon ungewöhnlich warm, fast sommerlich. Die von Radgleisen gefurchte Straße war leer. Die meisten Fenster standen offen. Geschirrgeklapper und gedämpfte Stimmen waren zu hören. Aus der offenen dämmrigen Schmiede drang Hammerschlag.
Jim Parson kam vom Fluss herüber, wo er sich Gesicht und Hände gewaschen hatte. Das zottelige blonde Haar hing ihm über den schmutzigen Hemdkragen. Der rechte Ärmel war zerrissen, und die Schuhe sahen nicht danach aus, als würden sie noch etliche Meilen durchhalten. Bei den ersten Zäunen zögerte der Junge argwöhnisch, aber sein knurrender Magen trieb ihn vorwärts.
Ein dünner Mann mit einem über die Mundwinkel herabhängenden Schnurrbart schleppte gerade eine Kiste aus einem Hauseingang zu dem davor abgestellten Karren. Auf dem Schild über der Tür stand in halb verblichenen Buchstaben »Harper’s Generalstore«. Außer dem Schnurrbärtigen war niemand zu sehen. Jim blieb stehen.
»Mr. Harper?«
Der Mann hob mit einer ruckartigen Bewegung, die an einen Raubvogel erinnerte, den Kopf. »Was willst du?«
Jim versuchte sein gewinnendstes Lächeln. »Ich nehme Ihnen gerne jede Arbeit ab, Sir, wenn Sie mir dafür eine Mahlzeit spendieren.«
Der Storebesitzer musterte ihn von Kopf bis Fuß. Währenddessen tauchte schräg hinter ihm ein Mädchen etwa in Jims Alter in der dämmrigen Tür auf. Jim ließ sich nicht ablenken. Trotzdem stellte er nebenbei fest, dass sie mager, farblos und auch sonst ziemlich unansehnlich war.
»Jede Arbeit?«, fragte Harper mit hämischem Unterton.
»Jede Arbeit«, bestätigte Jim.
»Dein Pech nur, dass ich keine habe. Nicht für dich, du Strolch. Und du wirst hier in Greerly auch sonst keinen finden, der dir Arbeit gibt. Wir mögen hier keine Herumtreiber. Verstanden?«
»Ich bin nicht taub, Mann«, erwiderte Jim in verändertem Ton.
Der Storekeeper stockte einen Moment, dann schrie er: »Hau bloß ab! Verschwinde und zwar auf der Stelle!«
»Nur mit der Ruhe, Mann. Die Straße gehört nicht Ihnen.«
Jim zwang sich zu einem Grinsen. Dann schlenderte er nach einem schnellen Blick in Richtung zu dem reglos verharrenden Mädchen die sonnenbeschienene Straße hinab. Schimpfworte und Drohungen folgten ihm. Aber erst als Jim eine Biegung hinter sich hatte und von Harper nicht mehr gesehen werden konnte, verschwand seine vorgetäuschte Lässigkeit. Erschöpft wischte er sich mit dem zerrissenen Ärmel den Schweiß vom Gesicht.
Eine Stunde später lehnte der junge Parson halb schlafend an der Rückwand eines alten Bretterschuppens. Das Rauschen des halb von Bäumen verdeckten Flusses füllte die Stille. Dann näherten sich Schritte. Leichte, unregelmäßig Schritte von jemand, der hinkte. Jim veränderte seine Haltung nicht, öffnete nur ein wenig die Augen.
Die Schritte hielten vor ihm. Er sah den unteren Teil eines grau-blau gemusterten Kleides, einen zierlichen braunen Schuh und einen großen klumpigen, der dem unförmigen Fuß angepasst war. Als er den Kopf hob, schaute er in ein blasses, mageres Gesicht. Eine der üblichen Stoffhauben verbarg die Haare. Die dunklen Augen musterten ihn ängstlich.
»Hallo«, sagte Jim.
Das Mädchen aus dem Store reichte ihm schweigend ein Päckchen. Es waren zwei in altes Zeitungspapier gewickelte Brotscheiben, dick mit Rauchfleisch belegt. Jim griff gierig zu. »Du bist ein Schatz, Honey.« Er hatte bereits einen Bissen im Mund. »Wie heißt du?«
»Eve.«
»Hübscher Name.«
»Ein Name wie tausend andere.« Das klang abweisend.
»Ich bin Jim. Komm, setz dich zu mir, Eve.«
Das Mädchen zögerte. Dann setzte sie sich umständlich neben Jim, die Beine angezogen, dabei versuchte sie ihren unförmigen rechten Fuß unter dem Kleidersaum zu verbergen. Jim tat als bemerkte er es nicht. Er kaute hungrig.
»Ich hab vergessen danke zu sagen. Seit Tagen habe ich nichts Richtiges mehr in den Magen bekommen. Dein Pa ist nicht sehr … sehr …«
»Ich weiß«, sagte Eve leise.
»Du bist sehr mutig, Eve.«
»Ich wollte nicht, dass du hungrig aus Greerly fortgehst.« Sie blickte starr vor sich auf den Boden.
Jim legte vorsichtig seine Linke auf ihr rechtes Knie. Sie erschauerte, hielt einen Moment den Atem an. »Dein Freund kann verdammt stolz auf dich sein, Eve.«
Sie stand sofort auf. »Du weißt genau, dass ich keinen Freund habe.«
»Wieso denn?«, fragte Parson mit vollen Backen.
»Sieh mich doch an.«
»Na und?« Jim schluckte was er im Mund hatte hinunter. »Du siehst aus wie alle anderen Mädchen.« Er überlegte kurz und lächelte. »Nur deine Augen sind viel, viel schöner. Da wo ich herkomme, hatte kein Mädchen so schöne Augen wie du.«
Ihr Gesicht war auf einmal wie von Feuer übergossen.
»Du lügst«, sagte sie leise. Dann heftig: »Du lügst! Du willst mir nur schön tun!«
Sie ballte, den Tränen nahe, die kleinen Hände. Dann entfernte sie sich hastig. Ihre dünne Gestalt bewegte sich mit grotesken Rucken. Jim blickte ihr eine Weile nach, dann widmete er sich wieder seinen Broten.
*
Es war längst dunkel, als Eve Harper ein Klopfen an der Hintertür hörte. Sie stand noch in der Küche, hielt die Petroleumlampe in der Hand, um damit ins Schlafzimmer zu gehen. Das Klopfen wiederholte sich. Eve trat auf den Korridor und ging dicht an die Türe heran. Sie atmete flach. »Wer ist da?«
»Ich bin’s – Jim.«
»Du bist ja närrisch! Wenn Pa dich sieht …«
»Dein Pa sitzt mit ein paar Freunden im Saloon und lässt sich’s gut gehen, und deine Ma hat sich bei Mrs. Miller einquartiert, die ein Baby erwartet. Nicht schlecht ausgekundschaftet, was?« Ein leises Lachen kam aus der Nacht. »Ich möchte mich ja nur verabschieden, Eve. Und, na ja, vielleicht hast du noch eine Kleinigkeit an Proviant für mich, bevor ich mich auf den Weg mache.«
»Jetzt? Mitten in der Nacht?«
»Der Mond wird bald aufgehen. Das ist die richtige Zeit. Ich hab keinen Cent in der Tasche, um mir was zu kaufen. Komm, Eve, mach auf.«
Das Mädchen kämpfte mit sich. Dann schob sie behutsam den Riegel zurück. Geschmeidig wie eine Katze huschte Jim herein. Sein blondes Haar leuchtete im Schein der Lampe.
»Guten Abend, Eve.«
Ohne Zeit zu verlieren, so zielsicher als wäre er hier zuhause, ging er an ihr vorbei in dem zur Straße liegenden Laden. Eve hatte Mühe, ihm zu folgen.
»Jim, warte doch! Was hast du vor?«
Jim stand schon zwischen den Regalen, Kisten und Fässern. Das wechselnde Spiel von Licht und Schatten geisterte über sie. Jim, in Eile, schaute sich suchend um.
Das Erste, was er grapschte, war ein großes, festes Tuch, in das er Dosen und Schachteln mit Essbarem häufte. Eve stand wie versteinert.
»Das kannst du nicht machen, Jim.«
Der Junge suchte weiter. »Habt ihr denn keine Schuhe? Ich brauche Schuhe oder Stiefel, verdammt nochmal!«
»Wenn du nicht verschwindest, schreie ich!« Eve war den Tränen nahe.
Da fiel Parsons Blick auf die Ladenkasse.
»Nein, Jim!«, schrie das Mädchen als es den Ausdruck gieriger Wildheit auf seinem Gesicht sah.
Jim war schon an der Theke, aber die Kasse war verschlossen. Da half kein Rütteln, kein Fluchen. Eve stellte die Lampe ab, hinkte zu ihm und versuchte ihn wegzuziehen. Jim riss sich los. Er entdeckte einen Hammer, und mit zwei, drei wuchtigen Schlägen hatte er die Kasse aufgebrochen.
»Bitte, Jim, bitte, lass das Geld hier!«, schluchzte Eve.
»He, was ist los da drinnen?«, rief eine raue Stimme auf dem Gehsteig vor dem Haus. »Bist du es, Eve? Ist alles in Ordnung?« Jemand versuchte durch die Ritzen der Läden zu spähen. »Eve, ich bin’s – Abe Baxter. Was ist los?«
Jim stopfe Münzen und Geldscheine in seine Hosentaschen. Mit einem Griff drehte er das Tuch mit den Schachteln und Dosen zu einem Bündel zusammen, schwang es sich auf die Schulter und wollte zur Hintertür. Eve klammerte sich an ihn.
»Tu’s nicht, Jim! Tu’s nicht!«
Parson stieß sie so heftig zurück, dass sie stürzte. Sie weinte hemmungslos. Auf der Straße waren nun mehrere aufgeregte Stimmen zu hören. Ein Mann schrie: »Lauf doch zu Clayton und sag Harper Bescheid, dass bei ihm zu Hause was faul ist!«
Tritte polterten in dem Durchlass zu Harpers Hinterhof. Jim hatte es vorausgesagt: der Mond ging auf, eine silberne Leuchte über den Bäumen am Fluss. Die Männer, die auf Harpers Hinterhof bogen, sahen deutlich eine schlanke Gestalt an Harpers Abtritthäuschen vorbei hetzen. Sie nahmen sofort die Verfolgung auf.
Der Junge lag auf dem Bauch im Gebüsch neben dem Bootssteg und drückte sein Gesicht ins feuchte Gras, damit sein heftiger Atem ihn nicht verriet. Er hatte das Bündel mit dem Proviant auf halber Strecke zum Fluss weggeworfen. Das hatte ihm genügend Vorsprung verschafft, sodass seine Verfolger ihn aus den Augen verloren hatten. Jetzt hörte er ihr Getrampel und Gefluche auf den Stegplanken.
»Mein Boot ist weg!« Das war die raue Stimme, die vor dem Store Alarm geschlagen hatte. »Dieser Mistkerl hat mein Boot geklaut!«
»Dann treibt er den Fluss hinab. Wenn wir Pferde haben und die Biegung bei Blackstones Farm abkürzen, können wir ihn bei der großen Sandbank abfangen.«
»Pferde? Dann müssen wir zu dir, Nat.«
»Ja, zum Teufel, was stehen wir hier dann noch herum?« Das Durcheinander der Stimmen und Tritte entfernte sich in Richtung Greerly. Jim wagte noch immer keine Bewegung. Erst als nur mehr schwache Geräusche aus der Stadt drangen, kroch er aus seiner Deckung. Sein Herzschlag beruhigte sich allmählich.
»Blöde Bande!« Er grinste und spuckte aus.
Jetzt konnte er nur hoffen, dass der Kahn, den er losgebunden und vom Steg zur Flussmitte gestoßen hatte, ihnen nicht vorzeitig vor die Augen kam. Er stand auf und überlegte. Dann ging er vorsichtig zurück, um das Bündel mit den geraubten Lebensmitteln zu suchen. In Greerly war es nun still. Flussabwärts entfernte sich dumpfer Hufschlag, vom Bellen eines Hundes begleitet. Wolken zogen über den Mond. Ein Nachtvogel strich vorbei.
Jim fand das Bündel neben seiner Spur zwischen kniehohen Stauden. Es war halb aufgegangen, aber der Junge hatte es im Nu wieder zusammengeknotet und auf die Schulter geschwungen. Als die Sonne aufging, hatte er bereits mehrere Meilen zurückgelegt. Das Plätschern einer Quelle lud ihn schließlich zur Rast. Es war ein geschütztes, von den ersten Sonnenstrahlen gewärmtes Plätzchen.
Auf einmal wurde ihm bewusst, wie hungrig er war. Er öffnete das Bündel gerade so weit, dass er hineingreifen konnte – und erlebte den Schock seines Lebens. Etwas bewegte sich gleitend zwischen seinen Fingern, dann spürte er auch schon einen stechenden Schmerz am rechten Handballen.
Parson schrie. Das Tuchbündel fiel vollends auseinander, und eine Schlange glitt blitzschnell heraus und verschwand unter den Sträuchern neben der Quelle. Taumelnd, mit entsetzt aufgerissenen Augen, kam der Junge hoch. Alle Farbe war aus seinem Gesicht gewichen.
»Ich werde sterben, ich werde sterben«, stammelte er.
Die Bissmale waren deutlich zu sehen. Seine Hand rötete sich. Hilfesuchend schaute er sich um. Aber weit und breit gab es kein Anzeichen von menschlichem Leben, nur Waldstreifen und Wiesenflächen, auf denen es weiß und gelb blühte.
Von Jims sonstiger Kaltblütigkeit war nichts mehr vorhanden. Ohne recht zu wissen, was er tat, tauchte er die verletzte Hand ins kühle Wasser. Er wartete darauf, dass der Schmerz sich ausbreitete, dass ihm schwindlig wurde, aber nur sein Herz pochte wild vor Aufregung. Schließlich raffte er sich auf und schleppte sich aufs Geratewohl weiter. Tuch, Dosen und Schachteln ließ er liegen.
Nach einer Weile roch er Rauch. Sein altes Misstrauen erwachte. Doch die Angst trieb ihn weiter. Er hatte ja nicht mal ein Messer, um die Bisswunde aufzuschneiden, damit mit dem Blut das Gift herauskam.
Auf einer Lichtung saßen drei Männer an einem matt glosenden Feuer. Sie trugen verschmutzte und zerschlissene blaue Uniformen. Einem fehlte der linke Unterarm. Um den Kopf seines Nebenmannes war ein dicker Verband geschlungen. Sie sahen Jim im selben Moment wie er sie und griffen sofort zu den neben ihnen liegenden Waffen.
Der mit dem Kopfverband hatte noch eine gebratene Truthahnkeule zwischen den Zähnen.
Es waren ehemalige Unionssoldaten auf dem Weg zu ihrer Heimatstadt. Der Einarmige besah sich Jims Verletzung. Dann musterte er Jims bleiches, schweißüberströmtes Gesicht.