Meeresfahrt - Jens Münchberger - E-Book

Meeresfahrt E-Book

Jens Münchberger

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Beschreibung

Seepiraten bringen am ersten Abend eines für drei Tage geplanten Segeltörns auf der Nordsee den Gaffelschoner "Anne L." aus Greifswald mit Passagieren und Besatzung in ihre Gewalt. Sie erwirken eine Kursänderung und fordern die Abschaltung aller Atomkraftwerke in den Nordsee-Anrainerstaaten. Ein Wettlauf mit der Zeit und zugleich eine Odyssee beginnt und führt den Segler bis zu den norwegischen Fjorden und dann weiter zu den Orkney-Inseln vor Schottland und schließlich in den Englischen Kanal. Diese Reise stellt sowohl Passagiere und Besatzung auf eine harte Probe und verlangt eine disziplinierte Seemannschaft. Zugleich wird sehr verständlich die Problematik der Atomindustrie und der Wiederaufbereitungsanlagen beschrieben.

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Jens Münchberger, geboren 1958, Dipl.-Bauingenieur. Während des Ingenieurstudiums Gasthörer an der Kunstakademie in Dresden. Arbeit als Bauingenieur. Gründung eines Büros für nachhaltiges Bauen. In den 1990-er Jahren Eröffnung einer Galerie und verstärkte Hinwendung zur Malerei. Auch Holzarbeiten und Keramiken.

Veröffentlichung von Kurzgeschichten und der Romane „Meeresfahrt" und „Unter dem Atlantik" und „Die Insel im Atlantik" sowie der Erzählungen „Roter Feuerstein“ und „Am Meer“ und „Der Besuch“.

Jens Münchberger lebt in Schleswig-Holstein.

Die Handlung und alle Personen sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit der Realität sind zufällig, manchmal auch beabsichtigt.

Der Verfasser.

Allen Reisenden zugeeignet

Mephistopheles:

„Das freie Meer befreit den Geist.

Wer weiß da, was Besinnen heißt!

Da fördert nur ein rascher Griff,

Man fängt den Fisch, man fängt ein Schiff...

Man hat Gewalt, so hat man Recht.

Man fragt ums Was, und nicht ums Wie.

Ich müsste keine Schiffahrt kennen:

Krieg Handel und Piraterie,

Dreieinig sind sie, nicht zu trennen.“

Johann Wolfgang von Goethe, Faust II.

Inhaltsverzeichnis

Zum Beginn

Der erste Tag

Der 1. Abend (1)

Zwischenbericht

Der 1. Abend (2)

Der zweite Tag (1)

Zwischenbericht

Der zweite Tag (2)

Zwischenbericht

Der zweite Tag (3)

Der dritte Tag (1)

Zwischenbericht

Der dritte Tag (2)

Zwischenbemerkungen

Der dritte Tag (3)

Zwischenbericht

Der vierte Tag

Die vierte Nacht

Der fünfte Tag (1)

Zwischenbericht

Der fünfte Tag (2)

Die fünfte Nacht

Der sechste Tag (1)

Zwischenbericht

Der sechste Tag (2)

Der siebente Tag

Zwischenbericht

Der achte Tag

Zwischenbericht

Der neunte Tag

Der zehnte Tag oder Die Rettung

Zwischenbericht

Heimfahrt

Literaturen

Zum Beginn

Am Tag vor der Reise trafen wir uns bei Jochen. So, wie immer.

Mit seiner Frau führte er, weniger als einen Steinwurf vom Deich entfernt, eine Pension.

Ulrike, meine Frau, und ich waren bereits am frühen Nachmittag bei Jochen angekommen. Wider jede Gewohnheit und Tradition. Meistens waren wir die vorletzten, vor Lisa, die war immer die Letzte, die bei Jochen ankamen. Wir hatten nicht damit gerechnet, so gut und schnell auf der Autobahn voran zu kommen.

„Und das während der Urlaubszeit, mitten im Sommer...“, kommentierte Ulrike unser zeitiges Eintreffen.

„Macht nichts!“, sagte Jochen und war dabei behilflich, unser Gepäck auszuladen, „die anderen haben angerufen und ebenfalls zeitigeres Eintreffen angekündigt!“

Dann, für den Abend geplant, aber am Nachmittag geschehen, waren alle da, die an unserer Reise teilnehmen wollten. Nach uns kamen Peter und Judith. Eine halbe Stunde später erreichten Hannes und Gudrun die Pension, fast zeitgleich mit Paul und Renate und dann kam Lisa. Die fragte erschrocken:

„Bin ich schon wieder die Letzte?“

„Ja!“, sagte Paul.

„Ich musste noch die Katze im Garten suchen. Aber nun ist alles in Ordnung und wir können fahren: Katze gefangen, Wellensittich in das Bauer gesperrt, bei meiner Mutter abgemeldet, Haus abgeschlossen...“

„Und die Tickets hast du mit?“, fragte Paul.

„Ja, ich glaub’ schon“, erwiderte Lisa und kramte aus ihrer Tasche einen Briefumschlag und daraus dann wiederum die Fahrscheine.

„Na, das ist in Ordnung!“, quittierte Paul Lisas Bemühungen.

Irgendjemand hatte damals, als wir begannen, ein-oder manchmal auch zweimal in jedem Jahr gemeinsam zu genau dieser Küste zu verreisen, Jochens Pension entdeckt. Seit dem kommen wir immer wieder hierher, bevor wir eine Reise antreten. Und wenn unsere Reise beendet ist, nehmen wir wieder bei Jochen und seiner Frau Quartier. Dann sitzen wir noch einen Abend zusammen und lassen die Reise in uns nachklingen. Wir meinen, es ist besser so, als nach einer gemeinsamen Tour rasch auseinander zu gehen. Wir sind uns ausnahmslos alle darüber einig, man sollte, ebenso, wie man die Fahrt gemeinsam begonnen hat, sie auch gemeinsam beenden.

Auch um die diesmalige Einquartierung bei Jochen kümmerte sich Lisa. Sie telefonierte mit ihm und reservierte die Zimmer. Jochen und seine Frau kannten inzwischen sehr genau unsere Wünsche: Wer dieses und wer jenes Zimmer beziehen möchte. Wer das Frühstücksei hart gekocht essen wollte und wer gern Rührei oder Spiegelei aß. Eben diese, eigentlich als belanglos zu bezeichnenden, Details, die aber den Aufenthalt bei Jochen und seiner Frau vor und auch nach den Reisen bisher zu einem nicht zu unterschätzenden Erlebnis machten.

Es ist falsch anzunehmen, nur die viermal zwei Leute, die sich diesmal vor der Reise und bei Jochen trafen, und Lisa fahren immer gemeinsam an die Küste. Nein! Das ist nicht richtig! Manchmal reisen auch dreimal zwei Leute, manchmal auch Personen aus unserer Reisegruppe, die dieses Mal nicht mitgekommen waren. Wie Dieter und Petra. Die sind zu Hause geblieben:

„Unsere älteste Tochter wird in wenigen Tagen von unserem ersten Enkelkind entbunden werden. Ihr versteht, da sind wir etwas aufgeregt... So, zum ersten Mal Großeltern zu werden...“, meinte Petra.

Selbstverständlich hatten wir dafür Verständnis und sicherten die Übersendung einer Ansichtskarte zu.

So hatten sich zu dieser Reise die Leute getroffen, die für diese drei Tage nichts anderes geplant hatten.

Und Lisa war immer, bei jeder Reise, dabei. Sie war die einzige von uns, die sich immer den Luxus der Reisen gönnte. Denn, zugegeben, zum Spartarif waren unsere manchmal mehrere Tage währenden Touren nicht zu erhalten.

Lisa war nicht verheiratet und das nach eigenen Angaben auch nie gewesen.

„Aber wie eine Nonne lebe ich trotzdem nicht!“, erklärte sie immer ’mal wieder stolz und auch mit dem ihr eigenen Trotz. Egal, ob sie danach gefragt wurde oder nicht. Allerdings, sie ist nie in Begleitung eines Mannes gesehen worden. Weder von uns, die mit ihr bereits einige Jahre auf Reisen gehen, noch von irgendwelchen unserer Bekannten. Vielleicht war diese Aussage auch nur eine Schutzbehauptung. Vielleicht dafür, um vermeintliche Zufriedenheit zu demonstrieren, wer weiß...

Lisa hatte keine Kinder und lebte in einem kleinen Haus inmitten eines mittelmäßig verwilderten Garten am Rande einer Stadt in Küstennähe. Sie war früher Lehrerin an einem Gymnasium und unterrichtete Deutsch und Kunsterziehung. Irgendwann, lange bevor wir sie kennen lernten, begann sie, Bücher zu schreiben und unter einem Pseudonym zu veröffentlichen.

Heute lebt Lisa von den Tantiemen ihrer Bücher und umsorgt ihre Mutter. Sie hatte die alte Dame vor einigen Jahren, als sie den Dienst in der Schule quittierte, in die Stadt und in eine altersgerechte Wohnung geholt:

„So habe ich meine Mutter bei mir, aber dennoch hat jeder seine eigenen Hausstand.“

Es war Lisa wichtig, ihr eigenes Leben und das auch allein, zu führen. Eigenständig und unabhängig.

Und wenn sie dann manchmal nicht allein frühstückte... dann war’s doch wohl ihre ureigenste Angelegenheit... Oder?

Die anderen, Peter und Judith, Hannes und Gudrun und Paul und Renate reisten ebenfalls oft und gern. Erst vor einem halben Jahr, wenige Tage nach Weihnachten, waren wir gemeinsam auf der damals winterlichen und eingeschneiten und vereisten Insel im Wattenmeer. Es war bitterkalt und die Saunabesuche nach den langen Strandspaziergängen keineswegs ermüdend. Eher erholsam für alle.

Damals, im Januar, waren allerdings Dieter und Petra noch mitgekommen. Aber nun, als werdende Großeltern, hatten sie andere Sorgen. Was auch nur allzu verständlich ist...

Jochen und seine Frau begrüßten uns erst dann offiziell, als alle angekommen waren. Wie immer mit auf einem Tablett befindlichen und gefüllten Schnapsgläsern. Auch in diesem Fall kannten und wussten sie genau, wer welchen Schnaps trinken mochte.

„Ihr seid ja diesmal nicht so viele“, sagte Jochen, „aber dennoch herzlich willkommen!“

Wir stießen gegenseitig an und wünschten uns eine gute Reise. Dann sagte Paul:

„Lisa hat sich ja größte Mühe gegeben, noch ein paar Leute für die Reise zu interessieren. Aber außer Dieter und Petra, die glaubhaft versicherten, gern mitgefahren zu sein, aber dem Großelternstatus entgegen warten, konnte sie niemanden begeistern. Ist auch egal. Dann fahren wir eben mit Lisa allein!“

„Ja, so’n kleiner Kreis hat auch ’was!“, entgegnete Jochen und bedeutete seiner Frau, die Gläser auf dem Tablett noch einmal zu füllen. Dann fragte er:

„Und wohin soll’s gehen?“

„Drei Tage auf See. Ohne Landgang. Nur Wasser und Wellen und Wind.“, antwortete Paul wahrheitsgemäß.

„Ab morgen früh?“, fragte Jochen.

„Ja, um acht geht’s los!“

„Also um sieben Frühstück?“, fragte Jochen.

Als einige Augenblicke keiner ’was sagte und statt dessen Lisa ansah, sagte die nur:

„Ja! Also, ich meine... Wenn ihr das auch so wollt... Um sieben dann!“

„Ist in Ordnung. Um sieben gibt’s Frühstück!“, bestätigte Jochen, als seine Frau die Ausgabe der erneut gefüllten Schnapsgläser beendet hatte und

„Prost dann!“ gesagt hatte.

„Und eine angenehme Reise für uns alle!“, ergänzte Paul, bevor er seinen Schnaps trank.

Wir standen dann noch auf der seeseitigen Terrasse und warteten darauf, dass Jochen uns zum Abendessen einlud. Er hatte ein kleines Büfett mit sorgfältig von ihm ausgesuchten und zubereiteten Spezialitäten aus der Region für uns angerichtet.

Nach dem guten und reichlichen Essen am Abend saßen wir noch bis zum Einbruch der Dunkelheit auf der Terrasse. Bei Bier und Wein sprachen wir über die Dinge des Lebens, was uns bewegte und auch darüber, was sich in unseren Familien ereignet hatte.

Plötzlich sagte Renate, die Frau von Paul:

„Seid ihr absolut sicher, dass wir in drei Tagen wieder hier sitzen? Gesund und munter, um dann über unsere Seereise zu erzählen?“

„Ja, warum denn nicht?“, fragten Gudrun und meine Frau beinahe gleichzeitig.

„Nee, schon gut. Ich hatte da nur so eine Vorstellung!“, entgegnete Renate.

„Aber irgendwoher musst du doch diese Vorstellung oder Ahnung haben. Das kommt doch kaum aus dem Nichts!“, sagte Gudrun.

„Wenn es dann das Nichts gibt!“, ergänzte Paul.

„Es gibt kein Nichts! Nicht auf der Erde und auch nicht irgendwo!“, sagte Peter, Judiths Mann.

„Und die Schwarzen Löcher. Irgendwo da oben?“, fragte Gudrun.

„Das ist mehr als Nichts...“, sagte meine Frau.

„Quatsch!“, entgegnete Peter.

„Weshalb?“ fragte Gudrun.

„Schwarze Löcher sind energiereiche Objekte“, begann Peter zu erklären, „was bedeutet, das da alles andere als das Nichts ist!“

„Und warum werden die dann Schwarze Löcher genannt?“, fragte meine Frau.

„Im Innern dieser Objekte... Nee, lass es mich versuchen, anders zu erklären! Stell dir vor, unsere Erde, die ist nun bestimmt kein Leichtgewicht, hätte nicht einen Durchmesser von etwas weniger als dreizehntausend Kilometern, sondern vielleicht nur von wenigen Metern. Das Gewicht wäre aber unverändert...“

„Wie viel wiegt die Erde?“, fragte Gudrun, „Das weißt du doch als Physiklehrer! Oder?“

„Du kannst am Abend auf einer Terrasse hinterm Deich Fragen stellen!“, entgegnete Peter, „Aber ich meine, das Gewicht der Erde ist etwa sechs Mal zehn hoch 24 Kilogramm. Oder, um es anders zu sagen, die mittlere Dichte der Erde beträgt etwa fünfeinhalb Gramm je Kubikzentimeter.“

„Meinst du?“, fragte Gudrun.

„Meine ich!“

„Das bedeutet, die gesamte Gravitationskraft der Erde würde sich auf einen, astronomisch betrachtet, winzigen Punkt vom winzigsten der Winzigkeiten beschränken?“, wollte Gudrun weiter wissen.

„Ja, so ungefähr!“, antwortete Peter, „Es ist also so, bei den Schwarzen Löchern ist die Gravitationskraft auf einen sehr kleinen Bereich im Verhältnis zur Masse verteilt!“

„Das habe ich schon ’mal, zumindest so ungefähr, irgendwo gelesen“, sagte Hannes und sah Peter an.

„Und was hast du gelesen?“

„Dass die Gravitation, also die Anziehungskraft so groß ist, dass das Licht, eine Form der Energie, sich nicht mehr von diesem Schwarzen Loch entfernen kann. Ich habe da über einen Vergleich gelesen...“

„Und was ist verglichen worden?“, fragte Peter.

„Man hat diese Tatsache, ich meine, dass das Licht sich nicht von einem Schwarzen Loch entfernen kann, mit einem Ball verglichen. Wenn du auf der Erde einen Ball zum Himmel schießt, dann kommt der immer wieder auf die Erde zurück. Wegen deren Anziehungskraft auch auf den Ball. Und so, wurde in dem Artikel geschrieben, muss man sich das mit dem Licht oder anderen Energieträgern, die von einem Schwarzen Loch ausgestrahlt werden, auch vorstellen: Die wollen weg und werden immer wieder eingefangen. Weshalb sie auch nicht registriert werden können. Egal, ob mit dem Teleskop oder einem radioastronomischen Instrument. Und weil man dann an dieser Stelle des Himmels nichts beobachten kann, ist da eben dieses ‚Schwarze Loch’!“, Hannes sah Peter sehr selbstbewusst an, dann auch die anderen von uns.

Dann nahm er die Flasche mit dem Rotwein, goss sein Glas voll, nahm einen Schluck und fragte:

„Oder habe ich nicht Recht?“

„Doch, doch! So kann man die Sache mit den Schwarzen Löchern durchaus erklären!“, entgegnete Peter erneut.

„Und darum gibt es auch kein Nichts!“, stellte meine Frau Ulrike fest, „Es kann doch nicht sein, philosophisch gemeint, dass es etwas nicht gibt, nur weil wir es nicht wahrnehmen. Egal, wie diese Wahrnehmung erfolgt oder erfolgen könnte!“

„Ja!“, ergänzte Peter, „Womit das Problem mit dem vermeintlichen Nichts geklärt ist und nun noch besprochen werden muss, warum Renate daran zweifelt, dass wir in drei Tagen erneut hier sitzen werden.“

„Vielleicht kannst du uns ’mal erklären, warum du das meinst! Da kann einem Angst und Bange werden, wenn du so sprichst. Ich sehe mich schon über eine Schiffsplanke hängen und über’s Meer treiben!“, sagte Hannes zu Renate.

Die sah zunächst unsicher, anschließend fragend, jeden von uns an. Dann stand sie auf und sah auf ’s Meer. Danach sah sie wieder in die Runde und sagte:

„Manchmal hat man eben solche Vorstellungen. Ich will hier keine Ängste heraufbeschwören, auch keine Zweifel an der Richtigkeit unserer Reise nähren!“

Renate sah wieder auf ’s Meer und sagte nach einigen Augenblicken:

„Ich habe eben ’mal laut gedacht. Das hätte ich auch sein lassen können! Ich wünsche uns alles Gute für die Fahrt über’s Meer!“

„Ja, ich glaube, du hast Recht!“, erklärte Lisa, die bis jetzt unserem Gespräch stumm zugehört hatte, „Wir müssen hier keinesfalls ’was sagen, nur um zu reden! Manchmal, da hat man, in diesem Falle Frau, eben solche Gedanken. Oder ist euch das noch nie so ergangen?“

Nun, so schien es, war die Diskussion um Renate’s Äußerungen beendet, noch ehe sie begonnen hatte. Hannes und Peter nickten nur mit dem Kopf und meinten, nahezu unverständlich: „Ja, ja!“

Und die anderen sagten gar nichts mehr. Was wohl auch besser war, denn wie wollte es Lisa, vielleicht, verstanden wissen?

Man musste nicht immer etwas sagen. Man kann es auch lassen.

Der erste Tag

Das Schiff lag nur einen Steinwurf vom Tor zum alten Fischereihafen entfernt am Kai. Vorne und Achtern an Dalben fest vertäut.

„Im Reiseprospekt wird die Fahrt mit einem Segelschiff angekündigt. Aber es gibt so viele unterschiedliche Segelschiffstypen. Ich kenne mich da sowieso nicht aus!“, sagte Lisa, sah uns an und ergänzte nach einigen Augenblicken:

„Aber schön sieht das Schiff aus!“

„Ja“, stimmte Gudrun zu, während sie den Kopf in den Nacken legte, um die Spitze des Großmast zu erkennen.

Wir hatten unsere Reisetaschen neben der Reling abgestellt. Dann gingen wir zum Bug des Seglers und einige Schritte weiter und betrachteten die Galionsfigur unter dem Bugspriet.

„Da habe ich schon schönere Frauen gesehen!“, maulte Paul, legte seiner Renate die Hand auf die Hüften und sagte: „Hier, zum Beispiel!“

Renate war diese Geste offenbar nicht recht, denn sie nahm Pauls Hand von sich und hielt sie, um einem erneuten Liebesbeweis vorzubeugen, fest.

„Das sind doch die Schutzengel der Schiffe?“, fragte Peter, der sonst eigentlich immer alles wusste und sah mich an.

Ich wusste nicht, woher Peter die Gewissheit nahm, ich würde ihm diese Frage beantworten können. Vielleicht hatte seine Arbeit als Lehrer für Mathematik und Physik am Gymnasium während der vergangenen Jahre ihn gelehrt, diese Ahnungen zu entwickeln. Vielleicht war es auch nur Zufall, dass sein Blick am Ende seiner Frage mich erreicht hatte. Es hätte auch Lisa sein können oder Gudrun, die er am Schluss seines Satz ansah. Nun war ich es. Auch gut. Wichtig war doch für alle, ich konnte die Frage beantworten: Vor einigen Tagen hatte ich, spät am Abend, einen Dokumentarfilm über Galionsfiguren gesehen. So erklärte ich, als wäre es für mich die selbstverständlichste Sache der Welt, mein Wissen über die Galionsfiguren an Segelschiffen:

„Galion bedeutet im spanischen ‚Balkon’. Und so wurde auf früheren Segelschiffen ein balkonartiger Vorbau vor dem Vordersteven ebenfalls Galion genannt. Und die Figur, aus Holz geschnitzt, war die ‚Galionsfigur’. Heute befindet sich am Vordersteven der Segelschiffe kein Balkon mehr, wohl aber immer noch die Figur. Diese soll, dem Aberglauben der Seeleute ist’s geschuldet, den Kurs des Schiffes beobachten und Unglück vom Schiff fern halten...“

Alle sahen mich an und Peter meinte nur:

„Aha!“

Ohne zusätzliche und ergänzende Kommentare abzuwarten, sagte ich weiter:

„Ungefähr im 17. Jahrhundert wurde begonnen, an den Bug der Segelschiffe diese Galionsfiguren zu befestigen. Diese Tradition währte bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts. Dann war bekanntlich die hohe Zeit der Segelschiffe vorbei und sie wurden von Motorschiffen auf den Meeren ersetzt...“

Ich blickte meine Begleiter an und sagte noch:

„Was nicht bedeutet, dass ein heute gebautes Segelschiff keine Galionsfigur bekommt!“

„Die gehört doch an ein Segelschiff!“, ergänzte Paul.

„Ach so, beinahe hätte ich vergessen, euch noch auf ein Detail hinzuweisen!“

„Nämlich?“, fragte Gudrun.

„Nämlich darauf, dass es als Alternative zur Galionsfigur die Krull, auch Krullgalion oder Bugkopf genannt, gibt...“

„Was ist das?“, fragte erneut Gudrun.

„Eine spiralförmige Verzierung des Vordersteven, so ähnlich wie die Schnecke am oberen Ende vom Steg einer Geige.“

„Davon habe ich noch nie etwas gehört!“, meinte Peter und fragte mich dann:

„Und die Figur an unserem Schiff? Welche Bedeutung hat sie?“

Ich konnte diese Fragen nicht beantworten. Und das sagte ich auch. Schließlich und letztlich kann ich nicht alles über jede Galionsfigur wissen, die heute noch über die Meere geschippert wird. Und über diese Figur somit auch nicht. Nur weil ich mir diesen Film angesehen habe. Zugegebenermaßen auch noch zufällig.

Ein Zugeständnis musste ich aber machen: Es war eine ausnehmend schöne Figur: Eine Frau mit üppiger Figur prangte am Vordersteven. So, wie sie dort mit dem Schiff über’s Meer fuhr, sich scheinbar aus dem Schiff windend, denn es war nur der Oberkörper, etwa ab der Hüfte, zu sehen, war das eine sehr imposante Erscheinung. Ich wandte mich zu Peter und sagte:

„Ich kann dir deine Fragen nicht beantworten. Vielleicht weiß jemand von der Besatzung über diese Galionsfigur Bescheid?“

Peter sah mich enttäuscht an, knurrte etwas für mich Unverständliches und betrachtete nochmals die Frau aus Holz am Vordersteven des Segelschiffes.

Später, als wir längst den Hafen verlassen hatten, fragte Peter tatsächlich ein Besatzungsmitglied...

Doch darüber werde ich später berichten.

Wir standen am Bug und betrachteten diese sehr schöne Galionsfigur, als ein Mitglied der Besatzung zu uns kam und sagte:

„Sie sollten sich an Bord begeben, wir legen gleich ab! Es ist bereits wenige Minuten nach acht Uhr. Oder haben Sie es sich anders überlegt und wollen nicht mit uns fahren?“

Ich meinte, so, wie diese Frage an uns gerichtet war, hatte sie ’was Drohendes und Unbehagliches und erinnerte mich an Renate’s Feststellung am Abend zuvor.

Lisa beeilte sich zu erwidern, es wäre keineswegs unsere Absicht, die Reise nicht anzutreten, während wir schnell zur Gangway eilten, um uns, wie es in diesem Falle üblich war zu sagen, einzuschiffen.

Gudrun betrat als die Letzte die Deckplanken und danach begann sofort das Ablagemanöver.

*

Es war genau sieben Minuten nach acht Uhr am Morgen.

Wir hatten unser Gepäck, so wie die anderen Passagiere, auf dem Deck abgestellt und verfolgten das Tun der Besatzung, während das Segelschiff, von einem Motor angetrieben, sich von der Kaimauer entfernte und dann die Schleuse an der westlichen Hafenkante ansteuerte. Deren Tore begannen sich langsam, sehr langsam, zu öffnen.

Ich stand am Bug des Schiffes, vermutlich war unter mir, am Vordersteven, die Galionsfigur.

Auf dem Meer und deshalb auch im Hafen war Ebbe und beide Tore der Schleuse geöffnet, denn es gab nichts zu schleusen: die Wasserstände waren gleich.

Wenige Meter vor der Schleuse mit ihren weit geöffneten Toren verringerte das Schiff die Fahrt und glitt in Schleichfahrt durch beide Tore des Bauwerks.

Dann fuhr das Schiff in dem Priel, der als Zufahrt zum Hafen diente. Zu beiden Seiten dieses Wasserlaufes war die beinahe unendliche Weite des Meeresbodens, der sich jetzt bei Ebbe, bis zum Horizont erstreckte, zu sehen. Ich wurde, als ich das sah, an Theodor Storm’s „Meeresstrand“ erinnert: „Ich höre des gärenden Schlammes geheimnisvollen Ton...“. War es wirklich so, bei Hochwasser, bei Flut, befand sich diese graublaue Fläche annähernd drei Meter unter der Wasseroberfläche? Kaum zu glauben!

Ich bemerkte nicht, dass sich meine Frau Ulrike neben mich gestellt hatte. Vielleicht schon sehr lange, wer weiß? Ich nicht! Aber ich hörte, wie sie zu mir sagte:

„Na, woran denkst du?“

„Ach, eigentlich an nichts. Ich genieße den Morgen und die Tatsache, dass wir mit einem Segelschiff auf ’s Meer fahren!“

„Ich glaube, wir werden diese Reise mit dem Segelschiff nicht bereuen!“, erwiderte Ulrike.

„Hoffentlich nicht! Und hoffentlich sind wir bald aus diesem Priel heraus und auf der offenen See und hoffentlich weht dann Wind und die können diesen stinkenden und zudem lauten Motor abstellen!“, erwiderte ich.

„Aber vorher sollten wir unser Gepäck in die Kabine bringen!“

„Ja, komm! Und dann will ich nichts weiter tun, als hier am Bug stehen und auf ’s Meer schauen. Vielleicht noch ’n Bier trinken!“

Wir nahmen unser Gepäck und folgten dem jungen Mann von der Besatzung, der sich als Jürgen bei uns vorgestellt hatte, zu dem Niedergang mittschiffs.

„Das Schiff verfügt auf der Steuerbord- und der Backbordseite über jeweils sechs Kajüten für unsere Passagiere. Die jeweils vordere und achtere Kabine verfügen über Stockbetten, die vier mittleren Kajüten sind mit Doppelbetten ausgestattet. In jeder Kabine ist eine Nasszelle mit separater Dusche, WC und Waschbecken. Um unseren Gästen die Orientierung zu erleichtern, haben alle Kabinen Namen. Die steuerbordseitigen beginnen mit dem Buchstaben „S“ und die backbordseitigen mit dem Buchstaben „B“...“

Jürgen deutete auf eine der Kabinentüren, auf der ein Messingschild mit dem Namen „Sirius“ angeschraubt war.

„Und wo ist steuerbord und wo backbord?“, fragte Ulrike.

„Das ist eine der Fragen, die ich jedem Passagier, der noch nicht auf einem Schiff gefahren ist, beantworten muss“, sagte Jürgen und meinte dann:

„Das ist ganz einfach zu merken: Das Wort „steuerbord“ hat in der Mitte den Buchstaben „r“ und das ist der erste Buchstabe im Wort „rechts“...“

„Dann ist steuerbord die rechte Schiffsseite und backbord die linke!“, stellte Ulrike fest.

„In Fahrtrichtung gesehen“, ergänzte Jürgen.

„Na, das habe ich nun verstanden!“, sagte Ulrike.

„Und warum, bitte, haben die erste und letzte Kabine auf jeder Seite Stockbetten?“, fragte ich unseren Begleiter.

„Das ergibt sich aus dem Grundriss des Deck. Die vorderen Kabinen, um Ihre Frage präzise zu beantworten deshalb, weil vor den vorderen Passagierkabinen die Besatzung untergebracht ist. Und die Leute wollen auch ’mal duschen. Und die achteren Kabinen, weil sich nach den Kabinen die Küche, also die Back, befindet und so’n bisschen Stauraum wird auch hier benötigt. Und auf der Steuerbordseite ist die Messe für die Passagiere. Und da wird ebenfalls auch Stauraum benötigt. Genauer gesagt, Platz für’s Geschirr und Besteck.“

„Aha!“ bestätigte ich das, was Jürgen erklärt hatte.

Wir waren vor der Tür unserer Kabine angekommen, sie wurde von unserem Begleiter geöffnet und Ulrike und ich wurden hineingebeten.

Jürgen musste Ulrike’s und meine skeptische Miene bemerkt haben, unverzüglich sagte er:

„Nun ja, auf einem Segler ist’s etwas beengt. Wir sind hier nicht in einer Hotelsuite!“

„Nee, nee! Ist schon in Ordnung!“, beeilte sich Ulrike zu antworten.

Und die Kabine war nun in der Tat, so wollte es uns erscheinen, um das Bett gebaut. Links und rechts vom Bett etwa 50 oder 60 Zentimeter Platz, am Fußende weniger als einen Meter bis zum Schrank und links daneben der Zugang zum bescheidenen Bad.

Wir stellten unser Gepäck ab, um sofort wieder an Deck zu gehen. Auf dem Weg zum Niedergang blieb Ulrike vor einigen Kabinentüren stehen und las die Namen auf den Schildern vor: „Sirius“ und „Belinda“, „Bootes“, „Becher“ und „Sagitta“, dann „Serpens“.

„Und die anderen Kabinen haben die Namen „Solar“ und „Skorpion“, Ihre übrigens „Stier“. „Beagle“, „Bellatrix“ und „Bildhauer“ gibt’s auch.

„Das sind doch Namen von Sternen und anderen Himmelskörpern, soweit ich mich noch an meinen Astronomieunterricht vor über fünfzig Jahren erinnern kann!“, sagte ich zu unserem Begleiter.

„Ja, da haben Sie Recht!“, erwiderte Jürgen, „Und das soll daran erinnern, dass die Nautiker früher nach den Sternen den Kurs für ihr Schiff bestimmten.“

„Das ist eine sehr nette Reverenz an die Seefahrer vergangener Jahrhunderte!“, sagte meine Frau.

„Ja, sicher!“, antwortete unser Begleiter von der Besatzung und ließ meiner Frau und mir den Vortritt, als wir den Niedergang aufstiegen.

Ich eilte sofort wieder zum Bug des Schiffes, um erneut die Weite des Meeres, wohl besser: des Meeresgrundes, zu erleben. Denn noch immer fuhr das Segelschiff durch den Priel.

Sehr lange stand ich auf dem Vorschiff und blickte auf ’s unendliche Meer. Das Segelschiff hatte den Priel verlassen. Es war Wind aufgekommen und der Dieselmotor abgestellt und die Segel gehisst. Wir waren so weit vom Land entfernt, dass auch die Möwen uns nicht mehr begleiten wollten. Manchmal blickte ich mich um und sah, wie die anderen Passagiere das Segelschiff in Augenschein nahmen, das Eine berührten, über das Andere staunten und wiederum viele weitere Dinge, die sich an Bord befanden und zum Betrieb des Schiffes benötigt wurden, inspizierten. Manchmal gaben Männer eine vermeintlich sachkundige Erklärung ab. Meistens redeten sie, um zu imponieren, ohne zu wissen, was sie sagten und worüber sie redeten. Ich meinte, das recht gut einschätzen zu können, was da und dort vermeintlich sachkundig erklärt wurde.

Während meines gesamten Lebens war die Seefahrt meine stille und heimliche Liebe. Meine Frau wusste und akzeptierte das. Was sollte sie auch weiter tun? Mir meine Liebe verbieten? Das hätte nichts genutzt. Im Gegenteil, es hätte bestimmt bedeutet, ich würde noch mehr Zeit und vor allem Liebe der Seefahrt zukommen lassen.