Mein Mörder und ich
von
Siegfried Langer
1. Kapitel
„Wir unterbrechen unser Programm für eine wichtige Meldung. Auf dem Bahnhof in Memmingen wurde eine Frau vor einen einfahrenden Intercity gestoßen. Sie ist direkt am Unfallort verstorben. Augenzeugen berichten von einem männlichen Täter in einem ockerfarbenen Trenchcoat. Er hat sich zu Fuß vom Tatort entfernt, dichtes Schneetreiben verhinderte jedoch eine Verfolgung. Der mutmaßliche Täter ist weiterhin flüchtig und das Landeskriminalamt bittet die Bevölkerung um Mithilfe. Der Zugverkehr in und um Memmingen soll in Kürze wieder aufgenommen werden.“
Die interessantesten Geschichten schreibt immer noch das wahre Leben, dachte ich und schaltete das Radio aus. Ich fühlte mich sehr erleichtert, heil hier oben angekommen zu sein. Am Wegweiser hatte viel zu viel Schnee geklebt, um den Ortsnamen richtig entziffern zu können, aber mit etwas Fantasie hatte es für mich tatsächlich wie ‚Spielmannsau‘ ausgesehen. Bereits auf der A7 war die Sicht stark eingeschränkt gewesen, die gesamte Strecke über, von Memmingen bis zur Ausfahrt Waltenhofen, hatte ich nur mit maximal 40 Stundenkilometern fahren können. Zwischen Sonthofen und Oberstdorf war es dann noch schlimmer geworden: Schneeverwehungen auf der Straße, Weiterfahrt im Schneckentempo. Die Positionen der Leitpfosten hatte ich nur noch an den darauf montierten Schneestangen erkannt.
Sehr unwahrscheinlich, dass ich ein, zwei Stunden später mein Ziel noch erreicht hätte.
Entsprechend froh war ich, nun auf dem Parkplatz zu stehen - und ich hoffte, dass es tatsächlich der Parkplatz war. Zumindest standen drei weitere Autos hier und ich hatte meines einfach daneben zum Stillstand gebracht.
Als ich die Wagentür öffnete, fiel sofort Schnee ins Fahrzeuginnere; mit ihm kam die Kälte. Rasch stieg ich aus, schloss den Reißverschluss meiner Fliegerjacke und schlüpfte in meine Handschuhe. Dann ging ich um den Wagen herum und machte den Kofferraum auf. Oben auf meiner Reisetasche lag meine Wollmütze. Vor Jahren hatte eine meiner Nichten sie mir im Handarbeitsunterricht gestrickt, ein wirres Durcheinander an Farben. Von Anfang an hatte ich sie für potthässlich gehalten – und dennoch geliebt. Ich setzte sie auf und zog sie über die Ohren. Dann schlüpfte ich in meinen Rucksack und zurrte ihn fest. Zum Schluss griff ich nach der Reisetasche. Als vage Silhouette erkannte ich drei Häuser. Ich ging einfach auf das nächstgelegene zu.
Bereits nach den wenigen Metern bis zur Haustür war ich voller Schnee. Doch überraschenderweise störte mich das nicht. Genauso wenig wie die kalte Luft, die ich gierig einsog. Ich hatte das Gefühl, sie würde für Reinheit und Klarheit in meinem Geist und in meinem Körper sorgen.
Ich wischte den Schnee von dem kleinen Schild neben dem Klingelknopf: ‚Auleitner‘ stand dort; der Name, den ich bereits aus der Buchungsbestätigung kannte. Nachdem ich gedrückt hatte, hörte ich sogleich ein lautes ‚Ding-Dong‘. Auch ein Hund musste das Klingeln vernommen haben. Sehen konnte ich ihn nicht, doch aus der Entfernung, aus dem Schneetreiben, hörte ich lautes Bellen.
Befand er sich tatsächlich im Freien?
Bei diesen Witterungsverhältnissen?
Die Tür öffnete sich und vor mir stand ein Mann, etwa fünfundzwanzig Jahre alt. Er trug, wie es heute bei den jungen Männern wieder Mode war, einen Vollbart.
Ihm fiel die Kinnpartie hinab.
„Wow! Sie sind tatsächlich noch hier hochgefahren? Bei dem Sauwetter?“
Rasch machte er einen Schritt zur Seite.
„Kommen Sie rein. Kommen Sie rein. Sonst schneit es uns noch die Bude ein.“
Ich klopfte den Schnee ab und folgte seiner Aufforderung. Hinter mir schloss er die Tür und streckte mir sogleich seine Hand entgegen.
„Timo Auleitner“, stellte er sich vor.
Ich erwiderte die Geste, ohne meinen Handschuh auszuziehen, was ihn nicht weiter zu stören schien.
„Jeder andere hätte die Anfahrt wohl auf morgen verschoben. Der Schneefall soll über Nacht merklich nachlassen.“
Er musterte mich, dann sagte er: „Ich habe Sie mir irgendwie ganz anders vorgestellt.“
„Was meinen Sie damit?“
„Na, Sie sind doch der, der die ganzen Krimis schreibt, oder? Mit diesem schrulligen Kommissar aus dem Unterallgäu.“
Ich nickte.
„Was haben Sie denn gedacht, wie ich aussehe?“
Er zuckte mit den Schultern.
„Weiß auch nicht. Irgendwie anders.“
„Vermutlich trockener“, antwortete ich und es genügte, um ihn zum Lachen zu bringen.
„Meine Mutter hat alle Romane von Ihnen gelesen“, sprach er weiter, vergaß dabei aber nicht, mir meine Reisetasche abzunehmen. Er trug sie durch eine Tür in ein angrenzendes Zimmer, rustikal eingerichtet, mit großem Esstisch aus Holz, Wandvertäfelungen und einem dunkelgrünen Kachelofen in der Ecke.
„Möchten Sie einen Tee?“, fragte er. Auf dem Tisch stand eine Kanne und er schenkte mir daraus eine Tasse ein, ohne meine Erwiderung abzuwarten. Es roch nach Pfefferminz. Glühwein wäre mir jetzt lieber gewesen.
Ich schnallte den Rucksack ab, zog Mütze und Handschuhe aus und öffnete meine Jacke, ehe ich mich setzte.
„Ich muss gestehen, dass ich noch keinen einzigen gelesen habe, aber die Verfilmung habe ich gesehen, lief ja letztens wieder im Fernsehen. Nehmen Sie Zucker?“
Diesmal hielt er inne, bis ich geantwortet hatte.
„Ja, bitte zwei Würfel.“
Natürlich gab es nicht ‚die‘ Verfilmung. Abgesehen vom neuesten Roman, der erst kürzlich veröffentlicht wurde, waren bisher alle verfilmt worden.
Mit einer kleinen Zange packte er nacheinander die Zuckerstücke und bugsierte sie in meine Tasse. Es sah nicht so aus, als wäre er sehr geübt darin. Und es spritzte, als sie in den Tee fielen.
„Wollen Sie wirklich noch nach oben in die Hütte?“
„Auf jeden Fall“, antwortete ich, ohne zu zögern, denn ich sehnte mich nach Einsamkeit. Zudem hatte die Radiomeldung meine Fantasie angeregt und ich spürte, wie es mich an meinen Laptop drängte. Außerdem wäre ich wohl den ganzen Abend seinem Wortschwall ausgesetzt, wenn ich hierbliebe.
„Sehen Sie, ich komme ja wegen der Abgeschiedenheit hierher. Bei dem Wetter werde ich da oben sicher die gewünschte Ruhe finden.“
„Sie kommen aus Memmingen, gell?“
„Ja“, bestätigte ich.
„Haben Sie etwas mitbekommen von diesem Mord am Bahnhof? Sie bringen es seit über einer Stunde immer wieder im Radio.“
„Das habe ich auch gehört. Ansonsten weiß ich auch nicht mehr als Sie.“
„Der Täter ist doch bestimmt schon über alle Berge, oder? Was meinen Sie als Experte?“ Natürlich schmeichelte mir die Formulierung.
„Keine Ahnung“, entgegnete ich. „Kommt drauf an.“
„Worauf?“
„Zum Beispiel, ob er einen Plan hat. Und falls ja, welchen. Vielleicht versteckt er sich sogar irgendwo in Tatortnähe.“
„Glaub ich nicht. Ich würde versuchen, Land zu gewinnen.“
Auleitner schien die Tat als eine Art Rätselspiel anzusehen. Und er wollte meine Gedankengänge dazu wissen. Ich sagte: „Manchmal ist das gar nicht notwendig.“
„Wie meinen Sie das?“
„Zum Beispiel, wenn die Umstände so sind, dass kein Verdacht auf ihn fallen kann.“
„Sie meinen einen ‚perfekten Mord‘? Den gibt es doch nur in Büchern, oder? Die Polizei klärt alles auf, so wie ihr schrulliger Kommissar. Wie heißt er noch gleich?“
Eigentlich kannte den Namen jeder - abgesehen von meinem Gegenüber.
„Gscheidinger.“
„Ja, genau, der ist clever. Der überführt alle.“
„Ich dachte, Sie hätten erst den einen Film gesehen.“
„Ja, aber meine Mutter schwärmt doch so von Ihren Büchern. Ständig liegt sie mir damit in den Ohren. Lies doch auch mal einen Roman von dem Matthias Volk.“
„Michael Volk“, unterbrach ich, um ihn zu berichtigen.
„Wie? Ach ja. Michael Volk. Den wirst du nicht mehr aus den Händen legen, sagt sie. Ich lese ja auch, aber eher Fachzeitschriften. Über Motorräder und so.“
Ich führte die Teetasse zum Mund und dachte mir meinen Teil.
„Sie haben ihr sogar mal eine Autogrammkarte geschickt.“
Mann, war der Tee heiß, beinahe hätte ich mich verbrüht.
„Sie können sich gar nicht vorstellen, wie sehr sie sich darüber gefreut hat. Mein Vater wäre sicher mehrere Tage lang eifersüchtig auf Sie gewesen. Gott hab ihn selig.“
Er bekreuzigte sich.
„Müssen wir eigentlich noch irgendwelche Formalitäten erledigen?“, fragte ich, denn ich war dem Gespräch schon länger ausgesetzt, als mir angenehm war.
„Normalerweise müssen wir uns den Personalausweis zeigen lassen und benötigen eine Anzahlung. Aber bei Ihnen brauchen wir das natürlich nicht. Es ist alles so in Ordnung. Meine Mutter kann es kaum erwarten, Sie zu sehen.“
Wenn sie nur halb so viel redete wie ihr Sohn, dann kam ich überhaupt nicht mehr hier weg. Wer weiß, ob ich dann noch zur Hütte durchkommen würde, bei dem Schneegestöber. Im schlimmsten Fall müsste ich wohl hier übernachten.
Gemeinschaftliches, abendliches Zusammensitzen am Kachelofen.
Mit Timo und seiner vermutlich ebenso redseligen Mutter. Nein, danke.
Ständig würde ich irgendwelche neugierigen Fragen beantworten müssen.
Wie kommen Sie nur auf solche Ideen, Herr Volk?
Fliegen die einem einfach so zu?
Haben Sie das selbst erlebt?
Haben Sie irgendwelche Vorbilder für Ihre Figuren?
Sind Ihre Romane autobiografischer Natur?
Ja, selbstverständlich liebte ich das Interesse an meinen Romanen und meiner Person. Aber alles zu seiner Zeit. Dafür gab es ja Lesungstermine. Hier und heute wollte ich einfach etwas Abgeschiedenheit. Deswegen zog es mich in diese Hütte.
„Vielleicht sollte ich los, ehe der Weg komplett zugeschneit ist. Und ich muss dort sein, bevor es dunkel wird.“
„Ich kann Sie nicht gehen lassen!“, sagte er mit einer großen Ernsthaftigkeit in der Stimme.
Ich zuckte zusammen.
„Was meinen Sie?“, fragte ich erschrocken.
„Meine Mutter würde mir das nie verzeihen. Sie ist nur drüben im Stall, bei den Kühen. Sie ist bestimmt bald hier.“
„Aber im Moment ist ein Aufstieg noch machbar.“ Ich zeigte zum Fenster hinaus, wo sich das Schneetreiben gerade etwas beruhigt hatte. „Laut Wetterbericht soll es im Laufe der nächsten Stunden deutlich schlimmer werden. Wir sollten das Zeitfenster nutzen.“
Er überlegte, während ich auf meinen Tee pustete und noch einmal davon trank. Dann stellte ich Timo Auleitner vor vollendete Tatsachen, indem ich aufstand, mir wieder Mütze und Handschuhe anzog, meine gefütterte Fliegerjacke schloss und in die Tragegurte meines Rucksacks schlüpfte. Er schien sich zu fügen, denn bevor ich nach der Reisetasche greifen konnte, hatte er sie bereits angehoben.
„Ich trage sie für Sie“, kommentierte er das Offensichtliche.
Anschließend sagte er: „Wir gehen noch zum Stall.“
Das passte mir ganz und gar nicht, doch sein Tonfall duldete keinen Widerspruch.
Vielleicht sollte ich einfach geradewegs zur Hütte marschieren, sobald wir draußen waren?
Ich folgte ihm zur Haustür und trat erneut hinaus in dieses unwirtliche Wetter.
Suchend blickte ich mich um. Wo befand sich überhaupt der Weg? Kein Hinweisschild weit und breit. Alles weiß. Wenigstens hatte der Schneefall im Moment etwas nachgelassen.
Zielstrebig stapfte Timo los und ich mangels Alternative hinterher.
Bereits nach wenigen Metern erreichten wir eine Tür. Der Geruch bestätigte mir, dass wir beim Stall angelangt waren. Timo trat ein und ich folgte ihm.
„Da ist sie ja!“, rief er erleichtert und deutete nach hinten.
Die Augen zusammenkneifend konnte ich zwischen mehr als drei Dutzend Kühen einen Schatten entdecken, der sich uns näherte und immer mehr zu einer übergewichtigen Frau in Gummistiefeln wurde. Am Auffälligsten waren ihre stark durchbluteten Wangen.
„Herzlich willkommen, Herr Volk“, sagte sie. Sie streckte mir ihre Hand entgegen, nur um sie sofort wieder zurückzuziehen.
„Oh, entschuldigen Sie, die ist etwas schmutzig. Aber kommen Sie doch mit rüber in die gute Stube. Ich habe Ihnen so viel zu erzählen.“
Bitte nicht.
„Herr Volk möchte rasch nach oben, Mama. Bevor man den Weg überhaupt nicht mehr finden kann.“
Danke, Timo.
„Das ist aber schade.“ Ihre Enttäuschung war unüberhörbar. Sie schien kurz zu überlegen.
„Aber Sie haben recht, Sie schaffen das sonst heute vielleicht nicht mehr.“
Ich atmete auf.
„Aber Sie müssen mir zwei Dinge versprechen.“
Okay, die Sache hatte noch einen Haken, nein, zwei.
„Bevor Sie abreisen, darf ich Sie noch bekochen.“
„Mama macht die besten Kässpätzle im ganzen Allgäu.“
Wie viele Söhne hier in der Region dies wohl behaupteten?
„In Ordnung?“, hakte sie nach und ich bestätigte. Vielleicht fiel mir ja später eine Ausrede ein.
Was würde die zweite Bedingung sein?
Meinen fragenden Blick schien Frau Auleitner korrekt zu deuten, sie sagte: „Mein Sohn begleitet Sie nach oben.“
Obwohl mir dies überhaupt nicht passte, kam mir der Vorschlag nicht ungelegen. Ich wusste ja nicht einmal, in welche Richtung ich loslaufen musste.
„Ich bestehe darauf“, beharrte sie, nachdem ich zögerte. „Timo kennt den Weg im Schlaf.“
„Das stimmt. Ich bin als Kind täglich da hinaufgelaufen und bringe auch heute noch die ganzen Sachen nach oben. Außerdem hätte ich das sowieso gemacht. Da hätten Sie nie und nimmer hingefunden, Herr Volk, ist ja alles zugeschneit. Wenigstens schneit es momentan nicht mehr so arg, sonst hätte ich Sie für diese Nacht hier unten einquartieren müssen.“
Ich erschrak. Das wollte ich auf keinen Fall.
„Schaffen Sie es denn danach wieder rechtzeitig nach unten?“, fragte ich. Nicht dass ich um ihn in Sorge war, doch ich fürchtete, er würde dann oben bei mir übernachten wollen. Meine Ruhe wäre dahin.
„Klar doch.“
Also willigte ich ein.
„Wegen dem Gepäck ist es auch geschickter“, meinte Timo. „Ich schnalle mir Ihre Reisetasche einfach auf eine Kraxe.“
Wunderbar. Dann musste ich sie zumindest nicht selbst schleppen.
Und schon hatte er sie gepackt und war damit aus dem Stall verschwunden.
„Ich habe alle Ihre Bücher gelesen“, schwärmte Frau Auleitner und ihre Augen leuchteten.
Unruhig trat ich von einem Fuß auf den anderen.
Na ja, vermutlich nur ein paar Augenblicke, die ich mit Smalltalk überbrücken musste …
2. Kapitel
Als ich aus dem Stall kam, streckte mir der junge Auleitner ein paar Schneeschuhe entgegen, die ich nach seiner Anweisung an meine Stiefel schnallte. Er selbst trug ebenfalls welche. Wie angekündigt hatte er meine Tasche mit Expandern auf einer Rückentrage festgezurrt. Sie wurde hochkant befördert und ich hatte sie genau im Blick, während er vor mir hermarschierte.
Trotz des eher moderaten Schneefalls war sie bereits nach wenigen Metern voller Schnee.
Schon nach kurzer Zeit plagte ein eisiger Wind meine Stirn und meine Wangen. Zudem erschöpfte mich das Gehen mit den Schneeschuhen. Am liebsten hätte ich sie mir von den Stiefeln gerissen. Aber Auleitner hatte mir erklärt, dass es ohne sie noch viel anstrengender wäre, weil ich mit jedem Schritt tief in den Neuschnee einsinken würde. So versuchte ich, vernünftig zu sein und stapfte missmutig hinter ihm her.
Und das sollte ich fünfundvierzig Minuten lang aushalten?
Moment. Fünfundvierzig Minuten Wanderweg war auf der Buchungsbestätigung gestanden. Das hatten sie doch sicher bei bestem Wetter gemessen und keinesfalls mit solchen Dingern an den Füßen, oder?
Bestimmt musste ich mich auf mindestens eine Stunde einstellen.
Mittlerweile bezweifelte ich, dass es eine gute Idee war, ausgerechnet bei diesen Witterungsverhältnissen die Einsamkeit und Abgeschiedenheit in einer Berghütte zu suchen.
Irgendwann drehte sich Auleitner zu mir um, seinen Vollbart schmückten inzwischen zahllose Eiskristalle.
Er wollte wohl prüfen, ob ich Schritt halten konnte. Dass ich ihm immer noch auf den Fersen war, quittierte er anerkennend mit einem angedeuteten Kopfnicken. Dann drehte er sich wieder um und marschierte weiter. Er konnte ja nicht wissen, wie sehr ich bereits jetzt mit mir kämpfte. Trotz der Kälte war ich schon völlig nassgeschwitzt. Am liebsten hätte ich mir die Jacke vom Leib gerissen.
Die Strecke, die er entlangging, hätte ich alleine unmöglich als Weg erkannt. Ich hatte keine Ahnung, woran sich der junge Auleitner orientierte.
Im Gesicht dagegen fror ich – auch an den Ohren und an den Fingerspitzen.
Trotz der Wollmütze meiner Nichte. Trotz dicker Handschuhe.
Wenn es mir nicht gutging, hatte ich mir angewöhnt, an etwas Schönes zu denken.
Selbstsuggestion.
Wo mochte es jetzt im Moment angenehme Temperaturen haben?
Ich dachte an meinen letzten Urlaub auf Mallorca.
Mit meiner Frau war ich dort gewesen. Wir hatten ein Traumwetter genossen und vieles erlebt.
Die Drachenhöhle bei Porto Cristo.
Die antike Ausgrabungsstätte bei Alcúdia.
Das Naturschutzgebiet bei Albufera.
Obwohl die Bilder sich nicht greifen ließen und mitsamt dem Gesicht meiner Frau in meiner Erinnerung verschwammen, lenkten mich die Gedanken an diese schönen, sonnigen Tage zumindest etwas ab.
So langsam verlor ich auch das Gefühl für meine Zehen. Ich konnte sie kaum noch spüren.
Nach einer viel zu langen Zeit meinte Timo Auleitner, wir hätten ein Drittel des Weges geschafft.
Was? Erst so wenig?
Zu meinem Erschrecken verstärkte sich nun auch noch der Schneefall!
Gerne hätte ich auf mein Handy gesehen, um zu wissen, wie viel Zeit wir bis hierher benötigt hatten. Doch das hätte geheißen, mindestens einen der Handschuhe auszuziehen und meine Jacke zu öffnen, um das Handy aus der Innentasche zu holen. Das wollte ich mir nicht antun.
Die Angst vor der Kälte siegte über meine Neugier.
Wieso kam mir gerade jetzt der Mann mit dem Trenchcoat aus der Radionachricht in den Sinn?
Als könne er tatsächlich ebenfalls hier in der Gegend unterwegs sein, drehte ich mich prüfend einmal um mich selbst.
Natürlich konnte ich ihn nicht entdecken, warum sollte ich auch?
Wahrscheinlich war mir die Meldung eingefallen, weil auch ich so einen Trenchcoat besessen hatte - eines meiner absoluten Lieblingsstücke. Wann hatte ich ihn zuletzt getragen? Meiner Frau hatte er nie gefallen. Hatte sie ihn irgendwann bei einer Altkleidersammlung weggegeben?
Rechts von uns ging es steil nach unten. Das dichte Schneetreiben verhinderte, dass ich sehen konnte, wie tief ich fallen würde, wenn ich vom Weg abkam. Auleitner stapfte zielstrebig weiter, ohne einen Blick auf den Abgrund zu verschwenden. All meinen Mut zusammennehmend blieb ich ihm auf den Fersen.
Nicht auszudenken, wie ich den Aufstieg alleine hätte schaffen sollen.
Danke, Mutter Auleitner, dass Sie Ihren Sohn mitgeschickt haben.
Nach einer weiteren Ewigkeit – gerade als ich nach einer Pause betteln wollte - verkündete Auleitner, dass wir nun etwa zwei Drittel geschafft hätten. Ich entschied mich, mir diese Blöße nicht zu geben und den Rest der Strecke durchzuhalten.
Inzwischen sah man kaum mehr zwei Meter weit. Ich hatte nach wie vor keine Ahnung, woran er sich überhaupt orientierte.
Ein schneebedeckter Baum sah für mich aus wie der andere. Sie verschwammen alle zu einer weißen Masse, waren kaum noch als solche erkennbar.
Warum musste ich ausgerechnet jetzt an Stalingrad denken?
Das deutsche Trauma.
Zu viel Kälte. Zu schlechte Kleidung.
Und keine Aussicht auf eine Veränderung der Situation.
Wissentlich in den Kältetod gehen.
Ich klammerte mich an den Gedanken, dass ich es – im Gegensatz zu den Wehrmachtssoldaten - bereits in Kürze wieder warm haben würde.
Auleitner, der mit unveränderter Geschwindigkeit weitermarschierte, wäre sicher einer der am längsten überlebenden Soldaten gewesen, in diesen zum Glück vergangenen Tagen. Genutzt hätte es ihm wohl auch nichts.
Trotz meiner tauben Zehen und meiner gefühllos gewordenen Fingerspitzen hielt ich mit ihm Schritt.
Und jammerte nicht ein einziges Mal.
Immer weitergehen. Weiter und weiter.
„Wir sind da“, sagte er und hörte sich dabei so fröhlich an, als befände er sich in einer völlig anderen Welt als ich. Endlich, dachte ich und hob den Blick, den ich zuletzt nur noch stur auf den Boden gerichtet hatte. Doch als ich mich umsah, entdeckte ich – nichts.
Erst als ich die Augen fest zusammenkniff und mich konzentrierte, konnte ich in einiger Entfernung die Umrisse einer Hütte erkennen.
Na, die paar Meter würde ich auch noch schaffen.
Stoisch ging ich weiter.
Dort angekommen, öffnete Auleitner die Tür und trat ein.
Nur eine Sekunde später erhellte eine Glühbirne den Eingangsbereich.
Ich atmete auf.
Zivilisation, du hast mich wieder.
3. Kapitel
Auleitner stampfte mehrfach auf und schüttelte sich, so dass der Großteil des Schnees von ihm abfiel. Ich tat es ihm gleich.
Dann schlüpften wir durch die Tür und zogen sie rasch hinter uns zu. Sofort fühlte ich mich wohler.
Wir standen in einer kleinen Diele. Die Hütte war zwar gemauert, aber innen alles mit Holz vertäfelt.
„Die Hütte steht schon seit über hundert Jahren“, klärte Auleitner mich auf, während er die Rückentrage löste und ich meinen Rucksack auf den Boden stellte. „Meine Vorfahren haben sie errichtet und seit Generationen kümmert sich unsere Familie um ihren Erhalt.“
Mit Erfolg. Sie befand sich trotz des Alters in tadellosem Zustand.
Mittels eines Generators werde sie mit Strom versorgt, meinte Auleitner und deutete auf die Glühbirne. Und fließendes Wasser, das von einem unterirdischen Gebirgsbach hochgepumpt wurde, sollte es hier auch geben, so mein Gastgeber.
In der Diele befand sich eine Garderobe und Auleitner forderte mich auf, meine Sachen abzulegen.
Als ich aus meiner Jacke schlüpfte, stellte ich fest, dass es wärmer war, als ich erwartet hatte.
Auleitner öffnete eine der drei Türen, die von dem kleinen Raum abgingen und sofort hörte ich das Prasseln eines Feuers, was erklärte, warum es sich hier so angenehm anfühlte.
Auleitner war heute also schon einmal hier oben gewesen und hatte alles für meine Ankunft vorbereitet. Sehr schön.
Vor dem Kamin luden ein Sofa und ein Sessel, die um einen Tisch gruppiert waren, zum Sitzen ein. In einer Ecke des Raums gab es eine rudimentäre Küchenzeile mit lediglich einem Spülbecken und einer kleinen Arbeitsfläche, darauf ein Gaskocher, wie ich ihn aus Campingurlauben kannte. Daneben ein Kühlschrank.
„Ich zeige Ihnen schnell das Wichtigste“, sagte mein Gastgeber. „Und dann muss ich zurück. Bevor es dunkel wird. Da möchte bei diesem Wetter nicht einmal ich die Strecke laufen.“
Das konnte ich verstehen.
Auleitner drückte die Klinke der zweiten Tür: die Toilette, ein Plumpsklo.
„Und der dritte Raum“, kündigte er an, während er die letzte Tür öffnete. Sogleich blickte ich in ein winziges Schlafzimmer, das gerade Platz für ein Doppelbett und einen schmalen Wandschrank bot.
Wie schade, dass Annika nicht hier war. Sich in der Nacht anzukuscheln, um sich wechselseitig zu wärmen, wäre hier bestimmt besonders romantisch, zumal die Temperatur deutlich unter der der Wohnstube bleiben dürfte, weil der Raum über keine eigene Heizung verfügte. Aber bei meinem Vorhaben konnte ich sie einfach nicht gebrauchen.
„Haben Sie noch Fragen, Herr Volk?“
Ich schüttelte den Kopf.
„Herzlichen Dank, dass Sie mich heraufgeführt haben.“
„Kein Problem.“
Er zuckte mit den Schultern, als wolle er mir signalisieren, der Aufstieg wäre nicht mehr als ein kurzer Spaziergang für ihn gewesen. Die Höflichkeit hätte es geboten, ihn noch auf ein Tässchen Tee zum Aufwärmen einzuladen, bevor er sich wieder in das Schneetreiben begab, andererseits konnte ich es kaum erwarten, endlich für mich zu sein.
„Kann ich Sie wirklich alleine hinuntergehen lassen?“
Fast hätte ich selbst über meine Worte gelacht, denn eine Unterstützung war ich ihm während der Wegstrecke sicher nicht gewesen, und ich meinte auch, ein unterdrücktes Schmunzeln in seinen Mundwinkeln wahrzunehmen.
„Aber klar doch. Habe es ja auch hoch geschafft, gell?“
Dennoch machte ich mir Sorgen: „Schicken Sie mir eine SMS, wenn Sie heil angekommen sind?“
„Das kann ich gerne tun. Aber ich kann Ihnen nicht versprechen, dass sie bei Ihnen eintrifft. Das Netz hier ist auch an sonnigen Tagen sehr schlecht. Glaube nicht, dass im Moment was geht.“
Sicherheitshalber gab ich ihm dennoch meine Mobilfunknummer und er tippte sie artig in sein Handy ein.
„Sind Sie zum ersten Mal auf einer Berghütte?“
„Nein.“
„Dann werden Sie schon alles finden und klarkommen. Bis jetzt haben wir noch nie einen Gast verloren.“
Die Formulierung fand ich seltsam. Als Witz konnte er das nicht gemeint haben, denn er lächelte nicht.
Bereits wenige Augenblicke später starrte ich in das dichte Schneetreiben vor der Hütte.
Von Timo Auleitner sah und hörte ich nichts mehr.
Schnell schloss ich die Tür, denn der Wind wehte zahlreiche Flocken ins Innere.
Endlich allein: Seltsamerweise fühlte es sich gleichzeitig erleichternd und unheimlich an.
4. Kapitel
Erst einmal ein paar Minuten innehalten, dachte ich, ließ mich in den Sessel vor dem Kamin sinken und streckte meine Arme in Richtung des Feuers. Das tat gut. Und das leise Prasseln entspannte mich außerdem.
Das Schneetreiben, nun von innen durch ein Fenster zu beobachten, wirkte schon jetzt beruhigend auf mich.
Den Gedanken, dass Auleitner sich gerade wieder nach unten quälte, schob ich von mir. Der schaffte das schon. Er war ein Naturbursche, ein echter Allgäuer.
Verglichen mit der Ecke hier, war ‚mein Allgäu‘, also die Gegend um Memmingen, noch relativ flach, Hochland eben. Umso mehr freute ich mich, jetzt hier in den Bergen zu sein.
Vier Nächte waren gebucht und die erste davon würde bald anbrechen.
Mein Blick wanderte weg vom Feuer: In einer anderen Ecke des Raums, in sicherem Abstand vor Funkenflug, war Holz aufgestapelt. So viel, dass es auf jeden Fall für diese vier Nächte reichen würde.
Um Wärme musste ich mir also keine Gedanken machen.
Aber wie sah es mit Essen und Trinken aus?
In der Buchungsbestätigung hatte etwas von ‚Regionale Produkte in ausreichender Menge‘ gestanden.
Darauf hatte ich mich verlassen und nur vier Flaschen von meinem geliebten Trollinger eingepackt, ansonsten keine Nahrungsmittel.
Ich stand auf und ging zum Kühlschrank. Käse und Wurst fand ich dort, alles von Hand abgepackt, nichts aus dem Tiefkühlregal eines Discounters.
---ENDE DER LESEPROBE---