Berlin Ripper - Siegfried Langer - E-Book

Berlin Ripper E-Book

Siegfried Langer

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Beschreibung

Angst geht um in der Hauptstadt! Bereits mehrere Frauen sind einem grausamen Serienmörder zum Opfer gefallen. Alle waren sie jung, blond, attraktiv und keine Kinder von Traurigkeit. Die Medien sprechen schon vom 'Ripper von Berlin'. Die Privatdetektivin Sabrina Lampe folgt einer Spur ins Allgäu. Neugierig wühlt sie in der Vergangenheit und bringt dabei eine dunkle Familientragödie ans Tageslicht. Zeitgleich führen die Ermittlungen von Kriminalhauptkommissar Niklas Steg direkt in die höchsten Berliner Regierungskreise. Sind die beiden schnell genug, um weitere Morde zu verhindern?

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Berlin Ripper
Thriller
von
Siegfried Langer
1. Kapitel
Irgendetwas stimmte hier nicht.
Im Laufe der Zeit hatte Doris Schimmer einen untrüglichen Sinn dafür entwickelt, dies zu spüren. Seit über zehn Jahren betrieb sie nun das 'Oslo' in der Eisenacher Straße im Berliner Bezirk Schöneberg. Die Zimmer vermietete sie stundenweise und dem entsprechend rekrutierte sich ihr Kundenstamm. Vom schüchternen Liebespaar, das sich heimlich in der Mittagspause zu einem Schäferstündchen traf, bis hin zu halbseidenen, schmierigen Gesellen mit undefinierbaren Absichten hatte sie alles gesehen. Nicht selten hatte sie lautstarke Auseinandersetzungen erlebt, die in Prügeleien ausgeartet waren. Einmal hatte es sogar eine Schießerei gegeben. Die Streifenpolizisten in der Gegend kannte sie längst alle beim Namen.
Sie blickte dem Mann hinterher, der gerade eben ohne ein Wort des Grußes an ihr vorbeigehuscht war - er hatte sie nicht einmal angesehen.
Bezahlt hatte er im voraus, so wie alle ihre Gäste es tun mussten.
Doris Schimmer stellte niemals Fragen.
Auch nicht bei einem Mann, der abends mit Sonnenbrille vor ihr stand, mit einer tief in die Stirn gezogenen Schiebermütze. Und auch nicht, wenn er eine Frau im Arm hielt, die sichtlich betrunken war. Er hatte Mühe, die Frau mit sich zu führen. Es gelang ihr kaum noch, einen Fuß vor den anderen zu setzen.
Doris hatte das Geld entgegengenommen und dem Mann den Schlüssel für Zimmer 207 ausgehändigt. Danach hatte sie sich wieder dem Sudoku gewidmet, das vor ihr auf dem Tresen der Rezeption lag.
Nun löste sie den Blick vom Rätsel und sah dem Fremden hinterher, der die Hoteltür öffnete und in den lauen Spätsommerabend hinaustrat.
Für einen Moment blendete sie das Licht eines Autos, das die Straße entlangfuhr, dann fiel die Tür wieder ins Schloss.
Männer, die nicht erkannt werden wollen. Frauen, die betrunken sind.
Keine ungewöhnlichen Gäste für ein Stundenhotel.
Möglicherweise war die Frau während des Geschlechtsverkehrs eingeschlafen oder gleich danach; so müde wie sie ausgesehen hatte. Der Mann war auf seine Kosten gekommen und hatte kein Interesse daran gehabt, die Frau wieder aufzuwecken, geschweige denn sich mit ihr noch zu unterhalten. Vielleicht war er nach dem Akt einfach nur gegangen.
Nein, diesmal fühlte Doris Schimmer, dass etwas nicht in Ordnung war. Mehr noch: Mit dem Geräusch der ins Schloss fallenden Tür begann sie zu ahnen, dass es um mehr ging als um streitende oder sich prügelnde Gäste.
Der Tod hatte Einzug in ihr Hotel gehalten.
Und bald schon hatte sie das Gefühl, ihn regelrecht riechen zu können.
Sie verließ die Rezeption und ging die Treppen nach oben, ohne Eile, gerade so, als sei es ein ganz normaler Gang in eines der Zimmer, um zu lüften oder die Handtücher zu wechseln. Ein paar letzte Sekunden Normalität, ehe ihre Befürchtung wahr werden könnte.
Die Tür zu Zimmer 207 stand weit offen und Doris Schimmer trat ein.
Was sie sah, überstieg ihre Vorstellungskraft.
Eine Leiche in einem Bett liegend vorzufinden, war das eine.
Das andere war, sehen zu müssen, dass ein nackter Frauenkörper vom Bauchnabel abwärts aufgeschlitzt worden war und dass die Organe daraus hervorquollen.
Das war es, was Doris Schimmer gerochen hatte.
Für einen Moment stockte ihr der Atem, dann ging sie ruhigen Schrittes wieder zur Rezeption hinab und rief die Polizei an.
2. Kapitel
Kriminalhauptkommissar Niklas Steg hatte genug gesehen. Er verließ das Zimmer, in dem die grausame Tat stattgefunden hatte, und schlüpfte aus seinem weißen Schutzanzug, während die Kollegen von der Spurensicherung emsig weiterarbeiteten. Gemeinsam mit seiner Kollegin Jasmin Ibscher trat er hinaus ins nächtliche Schöneberg.
„Das Café in der Frobenstraße?“, fragte Jasmin und Niklas nickte.
„Wir gehen zu Fuß hinüber.“
„Du vermutest also auch einen Zusammenhang zu dem Mord von vergangener Woche?“
„Wäre ein seltsamer Zufall, wenn es nicht so wäre.“
Sie überquerten den Nollendorfplatz und gingen weiter in Richtung Kurfürstenstraße.
Prostituierte jeglichen Alters säumten ihren Weg. Die eine oder andere empfand Niklas als durchaus attraktiv, doch bei manchen wunderte er sich, dass sie Kunden fanden.
Immer wieder trafen Blicke die beiden und musterten erst ihn und dann Jasmin. Wäre er nicht in Begleitung seiner Kollegin gewesen, hätten ihn die Prostituierten sicher angesprochen.
„Na, Süßer, hast du Lust?“
Er kannte das dürftige Vokabular, meist mit osteuropäischem Akzent.
Niklas machte sich nichts aus käuflicher Liebe und auch nichts aus One-Night-Stands. Nicht, dass er moralische Bedenken gehabt hätte, aber seine Erkenntnisse daraus in jüngeren Jahren waren stets die selben gewesen: ein schlechtes Imitat von Liebe, schal, bedeutungslos und nicht erstrebenswert; danach blieb nur Leere zurück.
Eine der Prostituierten beugte sich gerade am Straßenrand zu einem geöffneten BMW-Fenster hinab; langes, wasserstoffblondes Haar, weiße Lederstiefel bis zu den Knien, ein Höschen, das diesen Namen nicht verdiente. Sie schien kaum älter als seine sechzehnjährige Tochter Tamara zu sein.
Er ertappte sich dabei, dass er auf den Hals des Mädchens stierte. In seinen Gedanken verwandelte dieser sich in den Hals der Toten, die sie vor einer Woche gefunden hatten. Noch Stunden nach ihrem Tod hatten sich darauf die Finger ihres Mörders abgezeichnet.
Mit welch unglaublicher Brutalität er zugedrückt haben musste. Danach, laut der Rechtsmedizin war sie zu dem Zeitpunkt bereits tot, hatte er mit einem Messer sinnlos auf sie eingestochen. Als wäre er in einem Blutrausch gewesen.
Die Identität der Frau hatten sie sehr schnell herausgefunden. Eine Streetworkerin hatte sie wiedererkannt. Nicolina Radu, eine Rumänin; erst vor drei Monaten war sie nach Berlin gekommen. Ob freiwillig oder nicht, das hatte die Polizei bislang nicht ermitteln können.
Genau wie die Blondine beim BMW war sie hier auf dem Strich an der Kurfürstenstraße anschaffen gegangen.
Bisher hatte der Fall eher einfach gewirkt; ein Hauptverdächtiger war schnell ermittelt: Corvin Constantin, ihr Zuhälter. Mehrere Zeugen hatten übereinstimmend ausgesagt, dass es in den Tagen vor dem Mord immer wieder Streitereien zwischen ihm und Nicolina Radu gegeben hatte. Constantin hatte ihr unterstellt, dass sie auf eigene Rechnung anschaffen und ihn um das Geld betrügen würde, das ihm zustünde. Nicht selten war er dabei handgreiflich geworden.
Weder Niklas noch Jasmin hegten Zweifel daran, dass Constantin die Prostituierte erwürgt hatte. Constantins Untertauchen nach der Tat trug nicht dazu bei, den Verdacht zu entkräften.
Niklas und Jasmin erreichten das Café an der Ecke zur Frobenstraße.
Wie Niklas fand, war 'Café' wirklich eine sehr beschönigende Bezeichnung für eine Kneipe, die rund um die Uhr mitten im Straßenstrich geöffnet hatte und entsprechendes Publikum anzog.
Trotz der späten Stunde stand die Eingangstür weit offen. Laute Musik und Stimmengewirr drangen heraus, dazu eine unangenehme Mischung aus Nikotin und diversen Körpergerüchen, deren Ursprünge Niklas lieber nicht wissen wollte.
Er hustete, als er eintrat.
Der Mann hinter dem Tresen erschrak sichtlich, als er Niklas und Jasmin sah, und drehte hastig den Lautstärkeregler der Musikanlage nach unten. Während sie die Blicke mancher Gäste auf sich zogen, wandten sich andere bewusst von ihnen ab. In solchen Kreisen erkannte man Polizisten bereits von weitem.
Jasmin stupfte Niklas an und deutete in eine Ecke.
Dort saß ein etwa vierzigjähriger Mann, im Arm eine grellgeschminkte Blondine, nicht einmal halb so alt wie er selbst. Als sie bemerkte, dass Niklas und Jasmin auf ihren Lover zukamen, rutschte sie von seinem Schoß und verschwand rasch durch eine Nebentür.
„Was wollt ihr denn schon wieder?“, begrüßte der Mann die beiden Polizisten.
„Ich wünsche ebenfalls einen schönen, guten Abend, Herr Jähnke“, erwiderte Jasmin.
„Wir hätten da ein paar Fragen zu Corvin Constantin“, sagte Niklas.
Jähnke verdrehte die Augen: „Ganz was Neues.“
„Wo ist er?“, fragte Jasmin und Jähnke verschränkte daraufhin die Arme.
„Keinen blassen Schimmer. Das habe ich euch bereits vorgestern gesagt.“
„Und Sie haben ihn seit vorgestern nicht mehr gesehen? Auch nicht zufällig heute Abend?“
„Nope!“
„Sie wissen, dass Sie sich mitschuldig machen, wenn Sie uns Informationen vorenthalten.“
„Mitschuldig? Woran?“
Niklas zog ein Foto aus der Innentasche seiner Jacke, das seine Kollegin von der Spurensicherung angefertigt hatte.
„Daran!“
Der aufgeschlitzte Unterleib, der darauf abgebildet war, brachte Jähnke nun doch aus der Fassung.
„Was ist das denn? Das ist ja ekelhaft!“
Doch sofort hatte er sich wieder im Griff: „Und was habe ich damit zu tun?“
„Das versuchen wir gerade herauszufinden“, meinte Niklas und hielt Jähnke ein weiteres Foto vor die Nase, es zeigte den Kopf der Toten. „Kennen Sie diese Frau?“
„Noch nie gesehen.“ In seinem Gesicht zuckte kein einziger Muskel.
„Diese Frau wurde heute Abend, nur wenige Meter von hier entfernt, ermordet.“
„Und?“
„Ist sie ebenfalls für Constantin und Sie anschaffen gegangen?“
„So alte haben wir nicht. Die ist ja schon mindestens dreißig.“
Niklas kämpfte schwer mit seiner Beherrschung.
„Halten Sie oder Herr Constantin sich öfter im 'Oslo' auf?“
„Das Stundenhotel in der Eisenacher?“
Niklas nickte.
„Nope!“
Jähnke besah sich ein weiteres Mal das Foto.
„Corvin war das nicht.“
„Was macht sie da so sicher?“
„Der hat längst das Land verlassen.“
Darüber schien er noch nicht einmal traurig zu sein.
„Ich rate Ihnen dringend, uns Bescheid zu geben, sobald sich Constantin wieder blicken lässt“, verabschiedete sich Niklas, Jähnke zuckte lediglich mit den Schultern.
„Wir sehen uns“, sagte Jasmin und aus ihrem Munde hörte es sich sehr nach einer Drohung an. Gerade als sie sich abwenden wollte, sagte Jähnke: „Warten Sie!“
Er sprach direkt zu Jasmin: „Falls Sie mal keine Lust mehr haben, für die Polizei zu arbeiten ...“
Dann grinste er sie frech an.
In den wenigen Monaten, seit sie nun zusammenarbeiteten, hatte Niklas Jasmin bereits mehr als einmal explodieren sehen. Heute hatte sie sich im Griff. Sie ignorierte Jähnke, lächelte ihn einfach an und folgte Niklas nach draußen.
„Wir gehen noch hinüber zu 'Olga'“, sagte Niklas. „Vielleicht kennen die die Tote.“
Der Frauentreff 'Olga' lag nur wenige Meter entfernt auf der anderen Straßenseite. Die Sozialarbeiterinnen dort kümmerten sich im Auftrag der Stadt um die Sorgen und Nöte der sich prostituierenden und oft auch drogenabhängigen Frauen. Hier erhielten sie nicht nur warmes Essen, Kondome und saubere Spritzen, sondern auch medizinische Betreuung und psychologische Beratung.
Die Streetworkerinnen kannten auch viele der Neuankömmlinge aus Osteuropa, für die der Frauentreff eine der ersten Anlaufstellen in Berlin darstellte.
Männer dagegen waren in den Räumen von 'Olga' eher ungern gesehen. Eine Mitarbeiterin nahm Niklas und Jasmin direkt im Eingangsbereich in Empfang. Nachdem sich die beiden ausgewiesen hatten, streckte Jasmin der Frau das Foto von der Toten entgegen. Die Streetworkerin schüttelte den Kopf, verschwand jedoch mit dem Bild für einige Minuten in den hinteren Räumlichkeiten.
„Nein“, sagte sie, als sie zurückkehrte. „Von uns hat sie noch nie jemand gesehen.“
Niklas steckte das Foto wieder weg und verabschiedete sich.
„Wollen wir uns noch kurz zusammensetzen?“, fragte er dann Jasmin.
„Aber nicht hier. Lass uns woanders hingehen.“
Rund um den Nollendorfplatz stellte es nie ein Problem dar, noch etwas zu trinken zu bekommen. Zu keiner Uhrzeit. Selbst die Kaiser's-Filiale dort hatte von Montagmorgen durchgehend geöffnet bis Samstag um Mitternacht.
Sie entschieden sich für das 'Café Berio' in der Maaßenstraße und bestellten sich zwei alkoholfreie Biere.
„Ich muss ständig daran denken, wie die Frau dalag“, begann Niklas.
„Ich auch. Verdrängen funktioniert nicht.“
„Furchtbar. Wie kann man so etwas nur tun?“
Ein Kellner stellte die Biere zwischen den beiden auf den Tisch. Niklas und Jasmin prosteten sich stumm zu.
„Zudem irritiert mich die Art des Todes“, fuhr Niklas fort, nachdem er getrunken hatte.
„Mich auch.“
„Nicolina Radu wurde im Affekt erwürgt, hinter einem Gebüsch, neben einem großen Parkplatz. Mit der unbekannten Toten bucht der Täter sich ein Zimmer in einem Stundenhotel und schlitzt ihr den Bauch auf, kaum dass sie auf dem Zimmer waren. Da steckt ein Plan dahinter.“
„Und sie sah nicht so aus, als ob sie sich dagegen gewehrt hätte.“
„Vermutlich war sie bereits ohne Besinnung oder sogar schon tot.“
Sicherlich konnten ihm die Kollegen von Spurensicherung und Rechtsmedizin bereits morgen Näheres zum Tathergang sagen.
„Constantin rüstet sich mit Schiebermütze und Sonnenbrille aus, plant eine Tat und führt sie aus, während in nächster Nähe nach ihm wegen eines Prostituiertenmordes gefahndet wird.“
„Sehr mutig.“
„Oder sehr dumm.“
„Die Beschreibung der Wirtin bezüglich Körpergröße und Statur könnte zu Constantin passen.“
„Das klang für mich eher so, als ob es jeder gewesen sein könnte. Und über das Gesicht konnte sie gar nichts sagen.“
Niklas zog das Foto der zweiten Toten aus seiner Jackentasche und legte es zwischen die beiden inzwischen halbleeren Biergläser.
„Zumindest in einem Punkt lügt Jähnke nicht.“
„Was meinst du?“
„Nicolina Radu war neunzehn Jahre alt, das Mädchen vorhin auf seinem Schoß kaum älter. Die Tote passt in dieser Hinsicht so gar nicht zu den Frauen, mit denen sich Constantin und Jähnke sonst umgeben.“
„Vielleicht hatte Constantin mit der Toten noch eine andere Rechnung offen. Von früher.“
„Und er wollte sich an ihr rächen, ehe er Berlin verlässt.“
„Das hieße, dass er spätestens jetzt auf der Rückreise in seine Heimat ist.“
„Aber warum schlitzt er ihr den Bauch auf?“
„Keine Ahnung. Irgendeine perverse Fantasie. Nicolina Radu sah ja ähnlich zugerichtet aus.“
„Hoffentlich finden wir bald die Identität der Toten heraus. Das sollte uns weiterhelfen.“
Sie tranken aus und verließen das Café.
Draußen, vor dem Kaiser's, hielt Niklas einen Moment inne.
Hier hatte er vor wenigen Wochen, kurz nachdem er nach Berlin versetzt worden war, Sabrina Lampe zum ersten Mal getroffen. An der Kasse. Eigentlich hatte er nur einen Liter Milch bezahlen wollen. Doch die Frau vor ihm hatte mit ihrer Handtasche versehentlich drei Fläschchen Kräuterlikör aus dem Regal geschubst. Geistesgegenwärtig hatte er zugegriffen, bevor diese auf dem Boden zerschellen konnten, dabei jedoch seinen TetraPak losgelassen, der nun seinerseits beim Aufprall auf den Boden aufgeplatzt war. Was für eine Sauerei! Heute musste er schmunzeln, wenn er daran zurückdachte. Zu diesem Zeitpunkt hatte er noch nicht gewusst, dass die Frau Privatdetektivin war und dass sich ihre Wege nach kurzer Zeit erneut kreuzen sollten.
Inzwischen war er bereits mehrfach mit Sabrina Lampe ausgegangen und hatte sich immer sehr wohl in ihrer Nähe gefühlt.
Aber irgendwie konnte er sie und die Situation nach wie vor nicht richtig einschätzen.
„Ist was?“, fragte Jasmin.
„Nein, alles okay, machen wir Feierabend für heute.“
3. Kapitel
„Rom!“
„Caorle!“
„Rom!“
„Caorle!“
„Rom!“
„Caorle!“
Sabrina Lampe fühlte sich wie bei einem Tischtennis-Spiel.
So kommen wir nicht weiter, dachte sie.
Sie saß auf der linken Seite des Sofas, vor sich auf dem Wohnzimmertisch ein großformatiger Bildband über die italienische Hauptstadt, auf der Titelseite Fotos des Colosseums, vom Forum Romanum und vom Petersdom. Auf der anderen Seite des Sofas starrte ihre Tochter Lara auf den Bildschirm des Laptops, der aufgeklappt vor ihr auf dem Tisch stand. Sie klickte sich durch blaues Meer, Badestrände und Menschen, die sich sonnten, Ball spielten oder ins Wasser liefen.
Zwischen den beiden lag Mielke, Laras dicker, roter Kater. Er schien zu schlafen und wackelte doch bei jedem Wort des Schlagabtauschs mit den Ohren.
Sabrina blickte hinüber zu Lara, die zufrieden schien, das letzte Wort behalten zu haben. Lächelnd lehnte sich Lara zurück, legte die Beine auf den Tisch, platzierte den Laptop auf ihren Oberschenkeln und besah sich weiter Fotos von der Adria.
„Vergiss es. Ich habe keine Lust, eine Woche untätig in der Sonne zu liegen. Da kann ich gleich im Strandbad Wannsee Urlaub machen.“
„Und ich habe keine Lust auf alte Steine. Da haben wir hier in Berlin genügend davon.“
„Du weißt schon, dass Rom etwa zweitausend Jahre älter ist als Berlin.“
„Alte Steine bleiben alte Steine.“
„Alte Steine! Rom ist die Wiege unserer Kultur.“
„Ja, ich weiß. Haben wir lange genug in Geschichte gehabt. Steht alles in den Schulbüchern. Deswegen muss ich doch nicht dort hinfahren.“
„Aber dann kannst du dir alles viel besser vorstellen und der Geschichtsunterricht wird interessanter.“
Während Lara die Augen verdrehte, startete Sabrina einen neuen Versuch: „Und der Petersplatz. Dort ist das Zentrum der katholischen Kirche.“
„Seit wann interessierst du dich für Religion?“
„Es geht mir um die Architektur, um die Atmosphäre.“
„Meinetwegen können wir uns den Berliner Dom angucken.“
„Das ist doch nicht das Gleiche.“
„Für mich schon. Von mir aus können wir uns dort auch eine Messe auf Lateinisch anhören.“
Zumindest wusste ihre Tochter, welche Sprache die Menschen im Römischen Reich gesprochen hatten. Das war doch schon mal etwas.
„Im Berliner Dom war ich schon mehrfach.“
„Siehst du, du hast auch genug von den alten Steinen.“
„Aber dass ich in Rom war, ist mindestens zwanzig Jahre her.“
„Was? Du warst schon mal dort? Und du willst da nochmal hin?“
„Siehst du! So toll ist es dort!“
„In Caorle ist es auch toll. Das kann ich beurteilen.“
„Aber du warst erst sechs Jahre alt. Du kannst daran gar keine Erinnerungen mehr haben.“
„Habe ich wohl. Dass ich mit Papa eine Sandburg gebaut habe.“
„An Papa erinnerst du dich? An Papa? Der soll eine Sandburg gebaut haben?“
Obwohl sie sich zum Zeitpunkt der Reise von Carsten Lampe längst getrennt hatte, hatte sie sich damals von ihm breitschlagen lassen, gemeinsam in den Urlaub zu fahren; darüber ärgerte sie sich heute noch. Rasch hatte er in der Hotelbar einen adäquaten Ersatz für seine Eckkneipe in Berlin gefunden. Nach dem Frühstück hatte er dort gesessen, nach dem Mittagessen, und nach dem Abendessen ebenfalls.
Bier gab es überall, und der Jägermeister hieß in Italien Averna.
Sollte Carsten tatsächlich am Strand gewesen sein und mit Lara im Sand gespielt haben?
Sabrina konnte das kaum glauben.
„Wir könnten ihn fragen, ob er mitkommt?“
Erschrocken zuckte Sabrina zusammen, dann sah sie, dass ihre Tochter sie frech angrinste.
„Keine Sorge, mir ist schon klar, dass das nicht funktionieren würde. Also, nach Caorle, und ohne Papa, ja?“
„So nicht, Fräulein. Du glaubst wohl, du könntest mich überlisten.“
„Okay, wir machen einen Kompromiss. Wir fahren nach Caorle und ich gucke an einem Tag mit dir alte Steine an.“
„Nein.“
„Zwei Tage.“
Sabrina schüttelte den Kopf.
„Ach, Mama, drei Tage wären mir echt zu viel. Da kann ich genausogut nach Brandenburg fahren und ein Kieswerk besichtigen.“
„Ich möchte nicht nach Caorle“, sagte Sabrina müde.
„Und ich nicht nach Rom. Ich habe Sommerferien. Ich brauche Erholung. Außerdem habe ich in der Urlaubswoche Geburtstag. Du kannst ja wohl nicht erwarten, dass ich den auf einem alten Steinhaufen feiere.“
Lara zog einen Schmollmund und schwieg. Dann starrte sie wieder auf den Monitor des Laptops.
Sabrina ertappte sich dabei, dass sie ebenfalls die Lippen aufeinanderpresste.
Klassische Patt-Situation.
Mielke begann zu schnurren. Ihm schien der Disput zu gefallen.
Sabrina fühlte sich ratlos. Sie mussten schleunigst buchen, wenn sie das Last-Minute-Angebot für Rom nutzen und kommende Woche losfliegen wollten.
Oder den Urlaub lieber gleich ganz abblasen?
Die Türklingel riss sie aus ihren Gedanken; Lara sprang auf.
„Das ist Mojito“, sagte sie. „Mal sehen, was der dazu meint.“
Sabrina hörte, wie Lara die Wohnungstür öffnete. Danach Knutschgeräusche und, wenn sie sich nicht täuschte, ein leises Stöhnen. Welcher der beiden Teenager es verursachte oder ob es gar von beiden kam, konnte sie nicht identifizieren.
„Ich bin auch noch hier“, rief sie und kurz darauf stand Mojito im Rahmen der Wohnzimmertür. Auf seinem T-Shirt ein Hakenkreuz, das von einer Faust zerschmettert wurde. Viel zu groß schlotterte es um seinen hageren Oberkörper.
„Guten Tag, Frau Lampe“, freundlich lächelnd kam er auf sie zu und reichte ihr die Hand. „Darf ich mich setzen?“
Wohlerzogen war er ja, das musste sie ihm lassen. Ob ihre Tochter solch eine Frage auch stellte, wenn sie bei Mojitos Eltern zu Gast war?
Behutsam hob er Mielke an, setzte sich auf dessen Platz und nahm den Kater dann auf den Schoß.
Mielke schien dies noch nicht einmal zu bemerken. Er schlief und schnurrte einfach weiter.
Lara setzte sich wieder an ihre alte Stelle.
Wie symbolisch, dachte Sabrina, dann sitzt der Schlichter ja nun genau in der Mitte.
„Also, Mojito, ich und meine Mutter haben da ein Problem.“
„Meine Mutter und ich“, verbesserte Sabrina sie.
„Was hat denn jetzt Oma damit zu tun? Will die etwa auch mit?“, fragte Lara.
„Nein, es heißt 'meine Mutter und ich' und nicht 'ich und meine Mutter'.“
„Ist das nicht dasselbe?“
„Nein, und es ist noch nicht einmal das Gleiche.“
Während Mojito Mielke im Nacken kraulte, wandte er sich jeweils wechselweise Sabrina und Lara zu, wenn sie sprachen. Immer freundlich lächelnd.
„Was meinst du damit?“
„Soll ich es dir erklären?“
„Ach, Mama. Willst du mir jetzt auch noch Deutsch-Nachhilfe geben? Mir reicht schon der ständige Geschichts-Unterricht. Wir müssen zu einem Ergebnis wegen dem Urlaub kommen.“
„Wegen des Urlaubs.“
Rettet den Genitiv!
Lara ignorierte den neuerlichen Einwand.
„Mama möchte alte Steine angucken und ich möchte zum Baden an die Adria.“
„Ja, ich möchte nach Rom. Lara könnte dort bestimmt ...“
Lara unterbrach sie: „Ich habe ein Idee, Mama. Was hältst du davon, wenn Mojito mitkommt?“
Sabrina fühlte sich völlig überfahren.
„Hm, ich weiß nicht so recht.“
„Bitte, Mama.“
Sabrina überlegte: Einen guten Einfluss hatte er schon auf ihre Tochter. Das hatte er schon mehrfach bewiesen. Naja, das Rumgeknutsche und das Gefummele gefielen ihr weniger. Andererseits waren die beiden alt genug, Mojito wurde in wenigen Monaten achtzehn.
„Sag schon 'ja', Mama.“
„Du hast Mojito ja noch nicht einmal gefragt, ob er möchte.“
„Klar möchte er.“
„Und seine Eltern muss er auch fragen.“
„Die erlauben das schon. Die sind viel lockerer drauf wie du.“
Als, dachte Sabrina, als, verkniff es sich aber, ihre Tochter erneut zu verbessern.
Was lernten die heutzutage eigentlich noch in der Schule?
„Also zu dritt nach Rom?“
Aber auch Lara ließ sich nicht überrumpeln: „Zu dritt nach Caorle!“
Mojito räusperte sich und Sabrina fiel erst jetzt auf, dass er sich bislang überhaupt nicht am Gespräch beteiligt hatte.
Wie auch, wenn man nicht zu Wort kam?
„Wo würdest du denn lieber hinfahren?“, fragte sie ihn.
„Ja, ich würde gerne mitfahren, Frau Lampe, und meine Eltern erlauben das bestimmt.“
„Hurra“, freute sich Lara, beugte sich hinüber und umarmte Mojito. Mielke gelang es gerade noch rechtzeitig, von Mojitos Schoß zu hüpfen, ehe er gequetscht wurde.
Noch im Sprung miaute er vorwurfsvoll auf und trabte dann hoch erhobenen Hauptes aus dem Wohnzimmer.
„Das wird schön werden, mit dir zusammen am Strand.“
Deine Mutter wird auch dabei sein, liebste Tochter.
„In Rom gibt es keinen Strand und wir beide, Lara, werden zusammen ein Doppelzimmer nehmen.“
„Ach, Mama.“
„Ich soll wohl am liebsten gleich ganz zu Hause bleiben, ja?“
„Ginge das denn?“
Sabrina war sich nicht sicher, ob Lara die Frage scherzhaft gemeint hatte.
„Darf ich auch mal was sagen?“
„Aber sicher“, antworteten Sabrina und Lara gleichzeitig.
„Ich müsste mich also zwischen Rom und Adria entscheiden?“
Mutter und Tochter nickten.
„Mich interessiert Kultur viel mehr als Baden. Ganz klar: Rom!“
Ja, Strike. Mojito, ich liebe dich. Möchtest du mein Schwiegersohn werden?
Doch Sabrina freute sich zu früh, denn Mojito fuhr fort: „Aber ich werde weder nach Rom noch an die Adria reisen. Mit der Bahn ist das zu weit. Und bei Flügen wird viel zu viel Kohlenstoffdioxid ausgestoßen.“
Sabrina erlebte ihre Tochter wie nur selten: sprachlos.
Ehe sie sich selbst dazu äußern konnte, machte Mojito bereits einen Gegenvorschlag: „Wie wäre es mit der Ostsee?“
„Ostsee?“, fragte Lara. „Kann man da überhaupt baden?“
„Nein“, meinte Sabrina. „Wir fahren zum Schlittschuhlaufen hin.“
„Klar kann man da baden“, sagte Mojito. „Ich war mal mit meinen Eltern und meiner Schwester in Heiligenhafen. War schön dort.“
„Also, wenn man dort baden kann, meinetwegen.“
Sabrina hatte keine Lust auf Ostsee. Sie hatte sich so sehr auf Rom gefreut.
„Mama?“
„Sie wollen doch auch keine unnötigen Treibhausgase produzieren, oder?“
„Nein, natürlich nicht.“
Mist, Sabrina, du hast zu schnell geantwortet, jetzt haben sie dich.
Lara drückte Mojito fest an sich und strahlte ihn an.
„Also fahren wir zusammen zum Baden.“
Für Sabrina hörte es sich fast so an, als würde sie tatsächlich gar nicht mitgenommen werden.
„Ich bin auch noch da.“
„Ja, Mama. Und danke, dass du so kompromissbereit bist.“
Also gut, dann wird die Rom-Reise eben aufgeschoben. Vielleicht würde Lara im nächsten Jahr etwas reifer sein.
Auf die Erfindung von schadstofffreien Flugzeugen wollte Sabrina jedenfalls nicht warten.
Aus Richtung Küche miaute es laut: Mielke hatte Hunger.
Als folge sie einem Befehl des Katers, stand Sabrina auf und ging zu ihm. Mielke belohnte sie damit, dass er schnurrend um ihre Waden strich, während sie die Futterdose öffnete.
Sabrina dachte an Rom, an Caorle, an Heiligenhafen.
Sie konnte noch nicht wissen, dass ihr diesjähriger Urlaub sie ganz woanders hinführen sollte.
4. Kapitel
Gerade mal vier Stunden hatte Niklas Steg geschlafen.
Jetzt saß er im Besprechungszimmer, die zweite Tasse schwarzen Kaffees vor sich, und fühlte sich müde.
Wehmütig dachte er zurück an die Zeiten, als er bis in die frühen Morgenstunden in Berliner Clubs getanzt, sich danach zwei Stunden ins Bett gelegt und sich anschließend frisch und ausgeruht in den neuen Tag gestürzt hatte.
Mit über vierzig war es nicht mehr so einfach mit zu wenig Schlaf auszukommen wie mit zwanzig.
Wie ungerecht!
Der Geruch von Nikotin kitzelte ihn in der Nase.
Warum hatte sich Zimmermann, sein Vorgesetzter und Erster Kriminalhauptkommissar beim LKA Berlin, ausgerechnet neben ihn setzen müssen?
Alles an ihm stank nach Zigaretten, bereits frühmorgens um acht.
Entweder qualmte Zimmermann schon zuhause am Frühstückstisch und dann ununterbrochen weiter im Auto, oder die Megaperls aus dem Hause Henkel hatten längst den Kampf gegen die Geruchspartikel aufgegeben.
„Was haben wir bis jetzt, Frau Link?“, fragte Zimmermann. Wenn er sprach, wurde der Gestank noch schlimmer. Niklas hustete.
Abgesehen von Zimmermann und Link nahmen auch Niklas' Kollegen Jasmin Ibscher, Emma Dombrowski und Roland Thaler an der Besprechung teil.
Andrea Link von der Spurensicherung sah aus wie das blühende Leben. Sie konnte doch auch nicht mehr geschlafen haben als er selbst. Wie schaffte sie das nur?
„Die Tote ist um die dreißig Jahre alt“, sagte sie, während sie Kaugummi kaute. „Die genaue Todesursache ist noch unklar. Entweder sind die inneren Verletzungen dafür verantwortlich oder der hohe Blutverlust.“
„Konnten Sie Spuren von einem Kampf feststellen?“, fragte Jasmin.
„Zumindest keine offensichtlichen. Die Leiche liegt nun zur weiteren Untersuchung in der Rechtsmedizin bei Dr. Bostak.“
„Was ist mit der Tatwaffe?“, fragte Zimmermann.
„Wir haben sie noch nicht gefunden. Vermutlich eine Art Bowiemesser oder ein großes Küchenmesser.“
Roland Thaler mischte sich ein: „Wir durchkämmen gerade sämtliche Parks und Grünanlagen der Umgebung und kümmern uns auch um die öffentlich zugänglichen Mülltonnen.“
„Fingerabdrücke? DNA-Spuren?“
Wie Niklas feststellte, ging Zimmermann sehr zügig durch seinen Fragenkatalog, um auf den aktuellen Stand zu kommen.
Zum einen war dies effektiv, zum anderen ermöglichte es dem Vorgesetzten, möglichst rasch wieder in sein Einzelbüro zu kommen. Der einzige Raum im gesamten Landeskriminalamt am Tempelhofer Damm, in dem trotz des allgemeinen Verbots, das eigentlich im ganzen Haus galt, noch geraucht wurde. Wo kein Kläger, da kein Richter.
„Jede Menge“, antwortete Andrea Link. „Was nicht ungewöhnlich ist für ein Zimmer in einem Stundenhotel. Die Frage ist nur, ob sich auch der Täter verewigt hat. Wir lassen die sichergestellten Fingerabdrücke mit der Datenbank abgleichen, das DNA-Material wird bereits analysiert.“
„Sehr schön. Gibt es was Neues in Sachen Constantin?“
„Abgesehen davon, dass wir ihn gestern Abend europaweit zur Fahndung ausgeschrieben haben, nein.“
„Glauben Sie an eine Verbindung zwischen den beiden Fällen?“
Niklas wollte auf gar keinen Fall voreilige Schlüsse ziehen: „Beide Leichen sind übel zugerichtet und sowohl der räumliche als auch der zeitliche Abstand der Morde ist auffällig. Dennoch ist die Frage schwer zu beantworten.“
„Sie halten mich auf dem Laufenden, Herr Steg.“
Ohne eine Bestätigung abzuwarten, stand Zimmermann auf, drehte sich um und verließ das Besprechungszimmer, in der Hand hielt er bereits eine Zigarette.
Sobald er draußen war, blies Andrea Link ihren Kaugummi zu einer Kugel auf und ließ diese platzen.
„Brauchst du mich noch, Nicky?“
Irritiert nahm Niklas zur Kenntnis, dass sie ihn bei dem Spitznamen nannte, den ansonsten nur seine Mutter verwendete. Ob es ein Fehler gewesen war, sich mit ihr auf ein 'Du' einzulassen? Siezen schuf einen sinn- und respektvollen Abstand. Vorgestern in der Kantine hatte er sich einfach von Andrea Link überrumpeln lassen.
Er beschloss, dass es wohl das Beste war, das 'Nicky' zu ignorieren.
„Im Moment nicht, Andrea.“
Auch sie ging hinaus.
„Frau Dombrowski, Sie wenden sich an die Presse. Wir brauchen dringend die Identität der Toten. Geben Sie nur das Foto mit dem Gesicht der Toten nach draußen, aber nichts über die Todesursache, auch nichts über den genauen Tatort, verwenden Sie als Formulierung so etwas wie 'in einem Hotel in der City-West'.“
„Okay“, bestätigte Emma Dombrowski.
„Ich habe in der Nacht noch einige Personalien aufgenommen“, sagte Roland Thaler. „War gar nicht so einfach, an die Namen und Adressen zu kommen. Gab einiges an Gezeter und Gemotze. Wer möchte schon gerne seinen Besuch in einem Stundenhotel dokumentiert haben?“
Er schob drei Blätter Papier über den Tisch.
„Ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Frau Schimmer, die Hotelbesitzerin, meinte, dass in der Zeit, bis die Polizei eintraf, bereits Gäste das Haus verlassen hätten. Es ist ein ständiges Kommen und Gehen dort.“
„Ja, rein-raus“, grinste Jasmin. „Ein Stundenhotel eben.“
Niklas blickte anerkennend auf die sorgfältig zusammengestellte Liste. Bei zwei Personen hatte Thaler sogar schon mit dem Kugelschreiber das Wort 'vorbestraft' dazu geschrieben, alle anderen hatte er mit einem Strich versehen.
„Waren Sie überhaupt im Bett, Herr Thaler?“
„Ich habe vorhin am Schreibtisch zwei Stunden geschlafen.“
Roland Thaler war mehr als zehn Jahre jünger als Niklas. Auch ihm konnte er den fehlenden Schlaf nicht ansehen.
„Dann fahren Sie jetzt erstmal nach Hause und legen sich hin.“
Das hätte er selbst am liebsten auch getan. Stattdessen ging er zusammen mit Jasmin hinüber in ihr gemeinsames Büro.
Dort überprüften sie die beiden Männer, die Thaler markiert hatte.
Der eine, Theodoros Meksis, hatte einige Monate wegen Drogenverkaufs gesessen, der andere, Stefan Weikert, wegen bewaffneten Raubüberfalls auf einen Zeitschriftenkiosk.
Beide hatten einen festen Wohnsitz und sich seit ihrem Gefängnisaufenthalt unauffällig verhalten.
Möglicherweise hatten sie direkt mit dem Mord zu tun. Zumindest aber bestand die Möglichkeit, dass sie dem Täter im Hotel begegnet waren. Man kannte sich in diesen Kreisen.
Niklas und Jasmin beschlossen, Meksis und Weikert als erste zur Vernehmung ins LKA einzubestellen.
Jasmin wählte Meksis' Nummer und Niklas hörte, wie Jasmin sehr sachlich und ruhig einen Termin vereinbarte, für den späten Vormittag.
„Er war überaus freundlich. Hat überhaupt nicht widersprochen“, sagte sie, nachdem sie aufgelegt hatte.
„Hat man selten.“
„Er hat sofort sehr eindringlich beteuert, dass er sich nichts hat zuschulden kommen lassen.“
„Meksis ist nur zur Bewährung draußen“, entnahm Niklas der Datei, die er zu dessen Person aufgerufen hatte.
„Der wollte sich noch nicht einmal von einem Polizeiwagen abholen lassen. Er sagte, er käme lieber mit der U-Bahn.“
Dann versuchte Jasmin es bei Weikert, erreichte dort aber nur den Anrufbeantworter.
Sie sprach ihren Dienstgrad und ihren Namen aufs Band und bat um dringenden Rückruf.
Kaum hatte sie aufgelegt, klingelte Niklas' Apparat.
„Bostak hier. Die Bluttests sind durch.“
„Und?“
„Gamma-Hydroxybuttersäure.“
„Gamma-Hydro-was?“
Bevor Niklas selbst einfiel, was Dr. Bostak meinte, antwortete dieser bereits: „Date-Rape-Drogen. Auf gut deutsch: K.-O.-Tropfen.“
„Okay.“
„Ansonsten bisher keine weiteren Auffälligkeiten. Wie bei der ersten Toten. Bei der wäre eine Untersuchung auf Gamma-Hydroxybuttersäure übrigens zu spät gewesen. Sie lässt sich nur innerhalb weniger Stunden nach der Einnahme im Blut nachweisen. Wir hatten großes Glück.“
„Hm, glaube auch nicht, dass Corvin ihr K.-O.-Tropfen eingeflößt hatte, bevor er sie erwürgt hat.“
„Dann mache ich weiter mit meinen Untersuchungen.“
„Danke.“
Noch während Niklas Jasmin über die Neuigkeiten informierte, erschien Emma Dombrowski in der Bürotür, mit hochrotem Kopf und nach Luft schnappend.
„Rufen Sie mal die Seite vom 'Schöneberger Kurier' auf!“
Ohne lange zu überlegen, tippte Niklas den Namen der kleinen Regionalzeitung in die Suchmaschine des Browsers.
Er klickte den Link zum 'Kurier'. Sofort baute sich die Homepage auf dem Bildschirm auf und vor ihm prangte das Bild einer blonden Frau, der Unterleib aufgeschlitzt, um sie herum alles voller Blut.
Und das Erschreckendste: Es war nicht die Tote, die sie im 'Oslo' gefunden hatten.
5. Kapitel
„Verdammte Paparazzi“, fluchte Jasmin, während sie den Wagen – das LKA-Gelände verlassend – auf den Tempelhofer Damm hinaus steuerte.
Sie gab Gas und Niklas packte ganz instinktiv den Haltegriff über dem Fenster der Beifahrerseite.
Hinter ihnen hupte jemand.
Eine Recherche, wo sich die Leiche befand, war unnötig gewesen. Im Artikel unterhalb des Fotos stand der Tatort: die Kleingartenkolonie 'Grüne Aue' im Schöneberger Süden.
„Wie kommt diese Postille an solch ein Foto?“, fragte Niklas, der den 'Schöneberger Kurier' bislang eher als Anzeigenblatt denn als ernstzunehmende Tageszeitung wahrgenommen hatte.
Keine zehn Sekunden, nachdem Niklas die Homepage des 'Kuriers' aufgerufen hatte, war auch eine offizielle Meldung des Leichenfunds beim LKA eingegangen. Walter und Roswitha Carow hießen die Eheleute, die die Polizei informiert hatten.
Niklas ließ den Haltegriff los und sah sich die Seite noch einmal auf seinem Smartphone an. Bei dem Artikel stand als Kürzel 'car'. Als er sich im Impressum die Mitarbeiter und ihre Namen ansah, bestätigte sich sein Verdacht.
„Der Mann, der den Artikel geschrieben hat, heißt Sebastian Carow.“
„Das erste Rätsel haben wir damit bereits gelöst.“
Mit quietschenden Reifen bog Jasmin  auf den Vorarlberger Damm ab. Am dortigen Eingang zur 'Grünen Aue' parkten bereits drei Streifenwagen und das Dienstauto von Andrea Link.
Niklas wunderte sich, dass diese es trotz Jasmins Raserei geschafft hatte, vor ihnen vor Ort zu sein. Wie hatte sie das nur gemacht?
In schnellem Schritt liefen sie in die Gartenkolonie hinein. Bereits nach wenigen Metern sahen sie in der Ferne ein rotweißes Absperrband der Polizei. Zwei uniformierte Kollegen spannten es gerade vor der Eingangstür einer Gartenparzelle.
Die beiden erkannten Niklas und Jasmin und ließen sie durch.
Die Tür zum Gartenhäuschen stand weit geöffnet, doch sie blieben im Türrahmen stehen, denn von Schutzkleidung war weit und breit nichts zu sehen, abgesehen von der, die die Person im Inneren trug. Andrea Link, kein Zweifel. Übereifrig wie immer ging sie ihren Verpflichtungen nach.
Niklas konnte gar nicht anders, als sich anzusehen, was Andrea Link mit ihrer Kamera ins Visier nahm: eine auf einem Sofa liegende Frau, die Hose bis zu den Knöcheln heruntergezogen, das Top nach oben geschoben, was freien Zugriff zu ihrem Körper erlaubte.
Der Anblick glich dem von vergangener Nacht. Die Tote schien auch in ähnlichem Alter zu sein wie die Frau aus dem 'Oslo'. Auf einem Beistelltischchen neben dem Sofa lagen zwei verwelkte rote Rosen.
Im Gegensatz zu der nächtlich gefundenen Leiche roch diese hier deutlich stärker und Niklas kämpfte mit Brechreiz. Fürs Erste reichte es ihm und er wandte sich ab.
Im Garten zogen sich bereits weitere, neu eingetroffene Beamte von der Spurensicherung Schutzkleidung über.
Am Zaun zur Nachbarparzelle entdeckte Niklas einen hageren Mann und eine dicke Frau, beide bestimmt weit über siebzig. Neugierig beobachteten sie, was die Polizei hier veranstaltete.
„Kein Zutritt!“, hörte er die resolute Stimme einer Kollegin vom Gartentor her. Dort hatten sich inzwischen zwei Männer eingefunden, die professionell aussehende Kameras in den Händen hielten.
Weitere Reporter.
Zimmermann hatte sie erst neulich wieder als Geschmeiß bezeichnet. Im Moment tendierte Niklas dazu, Zimmermann zuzustimmen.
Er ging auf die Gartennachbarn zu.
„Herr und Frau Carow, nehme ich an.“
„Ja“, bestätigte der Mann und noch ehe er den Mund geschlossen hatte, sagte seine Frau mit stolzgeschwellter Brust: „Wir haben die Michaelis gefunden.“
„Und dann erstmal Ihren Sohn informiert“, stellte Jasmin fest.
„Unser Sebastian ist Reporter. Jetzt wird er berühmt!“, meinte Roswitha Carow.
„Oder er kommt ins Gefängnis“, antwortete Jasmin lapidar.
„Gefängnis? Wieso denn ins Gefängnis?“
„Verwischen von Spuren“, sprang Niklas seiner Kollegin bei. „Vernichtung von Beweismaterial.“
„Ach was, wir haben gar nichts angefasst. Wir wissen doch, dass man das nicht darf.
---ENDE DER LESEPROBE---