Tödliche Tabus
Thriller
von
Siegfried Langer
„In meinem Staate kann jeder nach seiner Fasson selig werden.“
Friedrich II., der Große, gen. der „Alte Fritz“, (1712–1786), König von Preußen
1. Kapitel
„Ich möchte, dass du heute nach Feierabend zu mir nach Hause kommst. Es ist wichtig, Björn. Ich mache mir große Sorgen um deinen Bruder: Ich befürchte das Schlimmste!“
Die Dringlichkeit in der Stimme seiner Mutter ließ Björn keine Wahl.
Sie klang so verzweifelt wie damals, als sie ihm verkündet hatte, dass man ihr das zweite Bein ebenfalls abnehmen musste.
Und so machte sich Björn auf den Weg und stand nun vor ihrem Haus in der Lübecker Innenstadt, fuhr sich mit der Hand durch sein allmählich lichter werdendes schwarzes Haar und klingelte. Es verging keine Sekunde, bis das ihm bekannte Summen des Türöffners ertönte. Sie musste die Fernbedienung dazu bereits in den Händen gehalten haben, hatte also schon gewartet - kein gutes Zeichen.
Björn wunderte sich. Was war so dringend, dass sie ihn mit solcher Vehemenz herbeizitierte? Vor allem, da er doch erst gestern bei ihr zu Besuch gewesen war.
„Ich bin im Wohnzimmer“, hörte Björn ihre tiefe Stimme, während er die Haustür hinter sich ins Schloss fallen ließ.
Er schlüpfte aus seiner dunkelblauen Cordjacke, hängte sie an die Garderobe und ging durch den Flur, an der Küche vorbei, in den rückwärtigen Wohnbereich. Seine Mutter saß da, in ihrem Rollstuhl, die Hände im Schoß. Nur für eine Sekunde sah sie ihm in die Augen, dann wanderte ihr Blick wieder zurück auf einen imaginären Punkt vor ihr auf dem Teppich. Ihre dunkelbraun getönten Haare - ansonsten sehr gepflegt frisiert – hatten heute weder Kamm noch Bürste berührt. Björn schritt zu ihr, beugte sich zu ihr hinab und gab ihr einen Kuss auf die Wange.
„Setz dich!“
Björn nahm Platz auf dem gemütlichen, altmodischen Sofa, das seine Mutter ihr Eigen nannte, solange er sich zurückerinnern konnte – und er war jetzt achtunddreißig Jahre alt. Erst vor wenigen Wochen hatte es einen neuen dunkelblauen Bezug erhalten, die überdimensionierten Kissen ebenso.
Hier, an diesem Wohnzimmertisch hatten sie gemeinsam Mutters neunundsechzigsten Geburtstag gefeiert, keine vierundzwanzig Stunden waren seitdem vergangen. Björn, seine Schwester Marga und deren drei Kinder. Die Vier waren schon da gewesen, hatten Kuchen gegessen und Kaffee getrunken, als er gegen halb fünf eingetroffen war. Seine Zahnarztpraxis hatte Björn gestern wegen des Geburtstags vorzeitig verlassen. Margas Mann fehlte, wie immer. Mutter mochte ihn nicht; hauptsächlich deswegen, weil er eine Zigarette nach der anderen rauchte. Es erinnerte sie zu sehr daran, dass sie viel zu lange dem gleichen Laster gefrönt hatte. In einem langen, schleichenden Prozess hatte sie dafür ihre Beine eingetauscht. Marga umging den Konflikt und ließ ihren Mann einfach zu Hause. Ein bewährtes Arrangement. Dennoch schien die Situation äußerst angespannt. Ole war die Ursache dafür, Björns vier Jahre jüngerer Bruder.
Das Telefon stand direkt neben Mutters Kuchenteller und jedes Mal, wenn es klingelte, unterbrach Mutter sich mitten im Satz, schluckte schnell hinunter oder ließ die Gabel auf den Teller plumpsen. Und jedes Mal, wenn sie sich mit ihrem Namen meldete, zeichnete sich auf ihren eben noch hoffnungsfrohen Gesichtszügen nach wenigen Sekunden Enttäuschung ab. Ihre Schwester, ihre zwei Brüder, Cousinen, Cousins, ihre alte Tante Hildegard aus Stade, Nachbarn, ehemalige Patienten des Marien-Krankenhauses: Mutter würgte sie alle ab, nahm die Geburtstagsglückwünsche entgegen und beendete die Gespräche, so schnell es die Höflichkeit erlaubte. Nur, um danach erneut auf den nächsten Anruf zu warten, während Marga erzählte, wie es den Kindern in der Schule erging, welche Blumen in ihrem Garten gerade blühten oder welche Liebeleien und Kleinkriege sich draußen in ihrem Dorf abspielten. Mutter hörte nur mit halbem Ohr zu, starrte immer wieder auf das Telefon. Doch der sehnsüchtig erwartete Anruf blieb aus. Als Björn gegen acht als Letzter der Gäste ihr Haus verlassen hatte, war die Stimmung des Geburtstagskindes auf dem Nullpunkt angekommen.
Wie gestern auch, stand die Kaffeekanne auf dem Tisch. Das reichhaltige Angebot einer liebevoll eingedeckten Kaffeetafel hatte sich in eine einzelne Tasse, einen Kuchenteller und eine Platte mit einer überschaubaren Anzahl Kuchenstücke verwandelt, die Reste von gestern.
„Du hast sicher Hunger“, sagte Mutter. „Vom Eierlikörkuchen ist ja zum Glück was übrig geblieben. Den magst du doch so gerne.“
„Neue Kalorien“, sagte Björn und strich sich sein Hemd glatt.
‚Wenn man erstmal über die dreißig ist, darf man auch langsam etwas Bauch bekommen’, pflegte seine Mutter in solchen Situationen regelmäßig zu erwähnen; heute nicht.
„Schenk dir etwas Kaffee ein!“
„Und du?“
„Ich habe den ganzen Tag über Kaffee in mich hineingeschüttet. Für heute lasse ich es besser gut sein. Ist gesünder.“
Sie streckte ihre Hand aus, und Björn bemerkte, dass sie stark zitterte.
„Ja, besser, wenn ich mir selbst einschenke.“
„Ich habe heute deinen Vater angerufen.“
Björn verschluckte sich. Seine Eltern hatten nicht mehr miteinander gesprochen, seit – ja, seit sein Vater ihr damals verkündet hatte, dass er sie verlassen würde. Es war exakt an dem Tag gewesen, als seine Mutter das erste Mal ohne Beine aufgewacht war. Nachdem man sie aus dem Marien-Krankenhaus entlassen hatte, war er aus der gemeinsamen Wohnung bereits verschwunden gewesen, aus ihrem Leben ebenso. Björn und seine Geschwister hatten ihrer Mutter eine kleinere Wohnung besorgt; gelegen in einem malerischen Lübecker Stadthaus, mit ebenerdigem Eingang, sodass sie auf niemanden angewiesen war, wenn sie raus oder rein wollte, in ihrem neuen Rollstuhl.
„Du hast was?“
„Ich habe heute deinen Vater angerufen!“
Acht Jahre waren vergangen seit der Trennung. Acht Jahre, in denen Björns Vater immer wieder versucht hatte, Kontakt aufzunehmen. Er wollte sich zumindest erklären. Doch Mutter war hart geblieben. Und ihre Kinder hatten Verständnis dafür gezeigt, vollstes Verständnis.
„Wie … wie geht es ihm?“
„Danach habe ich nicht gefragt.“
„Lebt er immer noch auf Mallorca?“
„Keine Ahnung. Auf jeden Fall musste ich eine lange Nummer wählen.“
„Was wolltest du von ihm?“
„Ich habe ihn um seinen Rat gebeten.“
Ihre Finger wanderten zu der Bernsteinkette, die ihr Marga gestern geschenkt hatte. Nervös spielte sie mit den Perlen.
„Wie bitte?“
„Schließlich ist er auch sein Sohn.“
„Was meinst du?“
„Ole! Ich sagte es dir doch mittags am Telefon: Ich befürchte das Schlimmste!“
„Findest du nicht, dass du überreagierst?“
Der Kaffee war heiß, beinahe hätte sich Björn die Zunge verbrüht.
„Nein. Eine Mutter spürt, wenn etwas nicht in Ordnung ist.“
„Weil er nicht angerufen hat? Weil er dir keine Blumen geschickt hat?“
„Er war immer da an meinem Geburtstag. Und seit er nach Berlin gezogen ist, hat er zumindest jedes Mal angerufen, und Blumen hat er sonst auch geschickt, mit Fleurop.“
„Er hat es eben vergessen“, meinte Björn und schob sich ein Stück des Eierlikörkuchens auf den Teller.
„Nein, man vergisst nicht den Geburtstag seiner Mutter“, fuhr sie ihn an. „Hast du schon mal den Geburtstag deiner Mutter vergessen? Oder Marga?“
„Vielleicht hat er einen neuen Job oder eine neue Freundin.“
Björns Mutter ignorierte den Einwand.
„Ich habe sogar bei Frau Fechner aus dem Blumenladen angerufen. Ob vielleicht eine Auslieferung vergessen wurde …“
„Du machst dich lächerlich, Mutter.“
„Die in der Fleurop-Zentrale wissen auch nichts.“
Björns Kuchengabel stoppte auf halber Strecke zwischen Teller und Mund: „Du hast sogar mit der Fleurop-Zentrale telefoniert?“
„Nein, Frau Fechner hat das für mich erledigt.“
„Mutter!“, sagte Björn vorwurfsvoll.
„Irgendjemand muss ja was unternehmen.“
„Bist du einmal auf die Idee gekommen, es direkt bei Ole zu versuchen?“
„Selbstverständlich!“, entgegnete seine Mutter entrüstet. „Ich habe gestern Abend noch drei Nachrichten auf seinem Anrufbeantworter hinterlassen, nachdem ihr gegangen wart, heute Vormittag noch einmal zwei. Danach war das Band voll.“
„Du übertreibst. Wirklich!“
Er aß weiter.
„Ich übertreibe?“ Ihre Stimme vibrierte: „Das Band war voll! Wie lange hat er es dann nicht abgehört? Nein, Björn, da stimmt etwas nicht.“
„Also gut“, versuchte er sie zu beruhigen. „Ole meldet sich nicht und ist nicht zu erreichen. Dafür gibt es sicher eine logische Erklärung.“
„Ich habe bei seiner Vermieterin angerufen.“
„Ach du Schande, wen hast du denn noch alles in Aufruhr versetzt?“
„Sie hat selbst Kinder, sie versteht das.“
„Woher wusstest du überhaupt ihren Namen und ihre Nummer?“
„Ole hatte nicht das Geld für die Kaution, als er damals den Mietvertrag unterschrieben hatte. Deswegen hatte ich den Betrag für ihn hinterlegt. Ich besitze eine Kopie des Mietvertrags.“
„Und? Was sagte sie?“
Mit Hilfe des Tortenhebers bugsierte er ein zweites Kuchenstück auf den Teller.
„Die Miete wird immer pünktlich überwiesen. Die für August ging am Montag auf ihrem Konto ein.“
„Das beweist gar nichts. Er hat sicher einen Dauerauftrag. War sie in der Wohnung?“
„Ja, ich musste einiges an Überzeugungsarbeit leisten. Ich habe an ihr Herz appelliert, von Mutter zu Mutter.“
Björn wusste, wie dies in der Praxis aussah. Seine Mutter war eine Meisterin darin, ihre Mitmenschen nach ihren Vorstellungen zu manipulieren.
„Hat sie ihn angetroffen?“
„Nein, hat sie nicht. Sie sagte, es sähe alles normal aus.“
„Na, also!“
„Nur gelüftet müsste mal wieder werden.“
Er sah sie fragend an.
„Ja, sie meinte, es wäre ihr ein ganz schöner Mief aus der Wohnung entgegengeströmt, als sie die Tür geöffnet hatte. Sie wunderte sich, weil Ole doch sonst so ordentlich ist.“
„Seltsam.“ Langsam wurde auch Björn stutzig.
Ihm fiel etwas ein.
„Pflanzen! Sind Pflanzen in der Wohnung? Wurden die kürzlich gegossen?“
„Genau das habe ich die Vermieterin auch gefragt. Es sei keine einzige Pflanze da gewesen, sagte sie. Ein einsamer Efeu, dekorativ um einen Spiegel arrangiert. Sie hat ihn angefasst: Kunststoff!“
„Mist!“
Er überlegte weiter.
„Sein Briefkasten! Ist Post drin?“
„Du hast ihm nie geschrieben, seit er in Berlin lebt, oder?“
Ihre Stimme klang tadelnd.
„Nein. Warum?“
„Er benutzt ein Postfach. Wieso weiß ich auch nicht. Kostet doch nur Geld.“
„Ich habe immer angerufen, wenn etwas war, Geburtstag oder Ähnliches“, versuchte sich Björn zu rechtfertigen.
„Egal.“
„Was ist mit Werbung?“, fragte er. „Da müssen doch Prospekte im Briefkasten sein, von Supermärkten zum Beispiel.“
„Er hat einen Aufkleber angebracht: Keine Werbung!“
„Du hast lange mit der Vermieterin telefoniert, oder?“
„Ehrlich gesagt, ich hatte sie um einen zweiten Besuch gebeten. Sie wohnt nur zwei Straßen weiter.“
Dann blickte sie ihm geradewegs in die Augen, fest und willensstark, wie dem kleinen Jungen von vor dreißig Jahren, der endlich seine Hausaufgaben erledigen sollte.
„Björn!“
Zum ersten Mal an diesem Tag hörte er den seit seiner Kindheit gewohnten resoluten Tonfall, den Tonfall, der keine Widerworte duldete: „Ich möchte, dass du dort hinfährst! Morgen schon!“
Schon damals hatte er gelernt, dass seiner Mutter zu widersprechen nicht möglich war.
Doch er hatte es damals versucht, und er versuchte es heute.
„Ich wollte nach Norwegen am Sonntag, zum Angeln, eine ganze Woche, du weißt das.“
„Du wirst nach Berlin fahren und nach dem Rechten sehen. Ich würde es selbst erledigen, wenn ich könnte.“
„Aber Mutter, ich habe bereits gebucht und bezahlt.“
„Geld ist unwichtig. Wir müssen wissen, was mit deinem Bruder los ist. Glaubst du, du hättest eine einzige ruhige Nacht an deinem Fjord?“
Nicht, wenn du ein Telefon in deiner Nähe hast, dachte Björn. Doch er war klug genug, es nicht auszusprechen.
„Da ist noch etwas“, sagte seine Mutter.
„Was?“
„Ich habe ein weiteres Gespräch geführt – Nadja!“
Seine Augen weiteten sich.
Nadja. Ole hatte sie vorletztes Weihnachtsfest mit nach Lübeck gebracht. Eine tolle Frau, doch eine Nummer zu groß für Björn. Er selbst, mit seinem leichten Bauchansatz, hätte sich niemals getraut, eine Frau wie Nadja anzusprechen. Der Körperkult, dem Ole huldigte, hatte den Samen für ein hohes Selbstbewusstsein gesät und die Ernte hieß Nadja. Björn hatte sie seinem jüngeren Bruder gegönnt - und ihn gleichzeitig um sie beneidet. Doch nach ein paar Monaten war Schluss gewesen, aus heiterem Himmel. Björn hatte es damals von seiner Mutter erfahren.
„Ich weiß jetzt, warum sich die beiden getrennt haben. Mir gefällt Nadjas Geschichte nicht, Björn. Und dir wird sie ebenso wenig gefallen.“
„Erzähl sie mir!“
2. Kapitel
Ole zog sich zurück.
Sanft und schlaff glitt er aus Nadja heraus, bis er auf den kleinen, bekannten Widerstand stieß. Er spannte seine Beckenmuskulatur an und gelangte vollends ins Freie. Ein letztes weißes Band zwischen ihm und seiner Liebsten, dann teilte sich auch dieses, verblieb zur einen Hälfte in einem kleinen Tropfen an Ole kleben und vereinigte sich zur anderen mit Nadjas kurz geschorenem Schamhaar.
Die Arme ausgestreckt verharrte Ole über Nadja, einem Sportler gleich, der am Scheitelpunkt eines Liegestützes eingefroren zu sein schien. Keine Stelle seines Körpers berührte mehr die Frau, die unter ihm lag. Er blickte in ihre großen, braunen Augen und diese schienen durch ihn hindurchzustarren. Nadjas Atem ging schnell, doch regelmäßig. Dann eine fließende Bewegung, und im nächsten Augenblick lag Ole neben ihr auf dem dunkelblauen Spannbetttuch und schaute sie an.
Ihr kurz geschnittenes, dunkelblondes Haar gab ihr etwas Knabenhaftes, doch ihre Gesichtszüge waren ausgesprochen weiblich. Jahrelanges Krafttraining hatte ihren Körper geformt, und wo Veranlagung und Anstrengung ihre Grenzen gefunden hatten, hatte Nadja – wie Ole inzwischen wusste - mit entsprechenden Nahrungsergänzungen nachgeholfen. Dennoch war Nadja ganz Frau geblieben, an keiner Stelle eine Wölbung zu viel.
Rein optisch sah sich Ole als ihren idealen Partner. Er genoss es, wenn die Leute ihnen hinterhergafften: im Fitness-Studio, im Supermarkt oder wenn sie den Kurfürstendamm entlangflanierten.
Beim Training hatten sie einander kennengelernt und waren bereits am ersten Abend im Bett gelandet.
Nadja stierte immer noch an die Zimmerdecke.
Oles Hand strich an seiner rechten Brust entlang, über den Bauch hinweg zu seiner Lende. Dann wanderte sie hinüber zu Nadja und berührte sanft ihre Seite.
„Es tut mir leid“, sagte er.
„Du musst dich nicht entschuldigen, ganz im Gegenteil.“
„Ich weiß nicht, was mit mir los ist. Dein Anblick allein sollte mich in Fahrt bringen.“
Sie wandte sich ihm zu und bedankte sich mit einem Lächeln. Dann formten ihre Lippen ein O, doch er wich ihrem Blick aus.
„Komm schon, Ole, Liebster, es ist alles bestens! Zum Ende hin war es der beste Sex seit Langem.“
Er schwieg.
„Setz dich nicht unter Druck. Andere Männer brauchen gelegentlich auch – eine Anlaufzeit. Und wir Frauen lieben es doch, wenn es nicht gleich – hopplahopp – wieder vorbei ist.“
„Aber es ist ja nicht das erste Mal passiert. Mit achtzehn, mit fünfundzwanzig, da brauchte ich eine Frau nur anzusehen und in meine Hose kam Bewegung. Verdammt! Ich bin doch gerade mal Anfang dreißig!“
„Ole! Ich hatte wunderbaren Sex. Und ich versichere dir, ich hatte viele vor dir, die waren schlechter im Bett als du; und nur wenige waren dir ebenbürtig.“
„Du hast es selbst gesteuert …“
„Wie meinst du das?“
„Na, er war absolut schlaff, bevor du ihn in die Hand genommen hast.“
„Ja, und?“
„Du hast sehr fest zugedrückt. Ich habe geglaubt, meine Eichel müsste gleich platzen. Und deine andere Hand: Wie kraftvoll du nach meinem Hintern gegriffen hast. Deine Fingernägel haben sich in meine Haut gebohrt.“
Er wandte sich ihr zu. „Es tat höllisch weh - und war irrsinnig geil.“
„Na, zu irgendetwas müssen die spitzen Dinger ja nütze sein.“
„Dann ist er zumindest ein wenig steif geworden, steif genug, damit du ihn in dich hineinschieben konntest.“
„Ich habe keinen blassen Schimmer, worauf du eigentlich hinauswillst.“
Ole drehte sich von ihr weg und Nadja schnappte nach Luft.
„Ach, du meine Güte. Dein Hintern ist blutig. Auf dem Betttuch sind ebenfalls Flecken.“
Ole spürte, wie Nadja sanft seine wunde Po-Backe streichelte.
„Das wollte ich nicht!“, sagte sie. „War ich so in Ekstase?“
„Nein, Nadja“, er wandte sich ihr wieder zu und sah, wie sie entsetzt ihre blutverschmierten Fingerspitzen musterte. „Ich war so in Ekstase!“
„Ich verstehe nicht …“
„Ich habe mich hineingesteigert. Meine Fantasien. Die Schmerzen haben das unterstützt. Je intensiver sie wurden, desto mehr schien mein Kopf zu explodieren. Deswegen wuchs er so stark an, als er in dir war.“
„Wo ist das Problem?“, entgegnete sie, packte ihn an der Schulter und drehte ihn vollends auf den Bauch. Ole ließ es geschehen, während Nadja kommentierte, was sie angerichtet hatte: „Abgesehen von deinem Hintern?“
Sie strich erneut über Oles Verletzungen.
„Ich werde ihn dir nachher eincremen. Dein knappes Badehöschen kannst du vorerst vergessen. Du kaufst dir am besten eines, das die ganze Misere verdeckt, bevor wir das nächste Mal in die Schwimmhalle gehen.“
„Streicheln ist schön!“
„Ich weiß!“
„Und jetzt: Schlag zu!“
„Wie?“
„Mit der flachen Hand!“
„Nein, das Wie war anders gemeint. Ich dachte, ich hätte dich missverstanden.“
„Hast du nicht! Hau zu!“
Nadja zögerte.
„Los! Mach schon!“
Sie holte aus und schlug zu, wie er es wollte. Patsch! Doch es blieb halbherzig, zaghaft.
„Fester!“
Erneut drosch sie auf seinen Hintern ein.
Ein Mal. Ole stöhnte lustvoll auf. Ein zweites Mal, ein drittes, ein viertes.
„Ja, das ist gut“, flüsterte Ole. „Jetzt setz dich auf mich, mit deinem ganzen Gewicht, ich möchte dich spüren. Deine Fingernägel, in meine Haut, in die Schultern, in die Oberarme, in den Rücken. Und deine Handflächen, ich will sie fühlen.“
Sie blieb einfach nur neben ihm sitzen.
„Was ist?“, fragte Ole ungeduldig.
„Nein!“
Ole drehte sich wieder auf den Rücken. Er war erneut gekommen.
Laut und vernehmlich atmete er ein und wieder aus.
„Ich wollte es dir schon so lange beichten!“
Keine Reaktion.
„Ich traute mich nicht.“
Ole sah ihr an, dass das Geschehene in ihr arbeitete, in ihr nachhallte.
„Du hast vorhin von deinen Fantasien gesprochen. Was sind das, deine Fantasien?“
Er schluckte und schloss die Augen.
„O Gott, ich könnte in eine Nussschale eingeschlossen sein, und mich für einen König von unermesslichem Gebiete halten, wenn nur meine bösen Träume nicht wären.“
Sie entgegnete nichts.
„Hamlet“, löste er das Rätsel, „in anderem Zusammenhang. Aber es passt ebenso gut zu mir.“
„Verdammt noch mal, Ole, hör auf, um den heißen Brei herumzureden.“
„Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll. Ich schäme mich. Ich habe Angst, dich zu verlieren.“
„Ole, eines der grundlegenden Dinge in einer Beziehung ist Ehrlichkeit. Früher oder später kommt alles zutage. Und den Anfang hast du schon gemacht.“
Sein Körper ein einziges Kraftpaket - und dennoch war Ole nicht stark genug, die Augen zu öffnen und Nadja anzusehen.
„Da sind diese Wunschträume! Ich kämpfe dagegen an. Doch sie verschwinden nicht aus meinem Kopf.“
Sachte berührte sie seine Brust, zeigte ihm damit, dass sie da war. Er packte ihr Handgelenk.
„Nein“, sagte er scharf, „jetzt nicht. Du machst es bloß schlimmer.“
Sie gehorchte und zog ihre Hand zurück.
„Diese Fantasien, sie begleiten mein Leben seit der Pubertät. Nein, begleiten ist nicht der richtige Ausdruck, sie bestimmen es. Erinnerst du dich an die Winnetou-Filme, die in unserer Kindheit ständig im Fernsehen wiederholt wurden?“
Er wartete keine Antwort ab.
„Ich wollte nie der edle Apachen-Häuptling sein, der der Sonne entgegen reitet oder Old Shatterhand, der den Halunken im Saloon mit seinem Revolver zeigt, wo's langgeht. Nein, ich wollte derjenige sein, der am Marterpfahl steht, gefesselt, die Hände am Stamm fixiert, die Beine bewegungsunfähig gemacht, den Kopf in einer Position, in der er sich nicht hin- und nicht herdrehen lässt. Hilflos. Abhängig. Der Gnade anderer ausgeliefert. Die Szenen waren immer viel zu kurz.“
Die Bilder glitten vor seinem inneren Auge vorbei, versetzten ihn zurück in eine erregende Stimmung, eine Stimmung aus anderen Tagen.
„Oder in den Krimis: Wenn das Entführungsopfer geknebelt oder vom Hals bis zu den Fußgelenken an einen Stuhl gefesselt wurde. Beschimpft. Bespuckt. Gequält. In einen Teppich eingerollt. Transportiert wie eine Ware.“
Das Schlimmste war heraus; das Kind längst im freien Fall, um tief im Brunnen aufzuschlagen.
„Mein erster Orgasmus … Ich hatte ihn nicht, weil ich Miss Oktober aus dem Playboy entfaltet habe. Ich hatte ihn auch nicht, weil ich mich endlich ins Pornokino getraut hatte. Nein, ich hatte ihn, während vor mir im Fernseher ein Gorilla Charlton Heston in seinem Käfig mit kaltem Wasser abgespritzt hat: Planet der Affen – so geil!“
Seine Stimme wurde fester.
„Oder Roots.“ Er drehte sich ihr wieder zu, hatte Mut genug gesammelt, ihr in die Augen zu blicken. „Für alle war es ein Horror, was die weißen Amerikaner den Schwarzen angetan hatten. Mich hat es einfach nur angetörnt! Kunta Kinte, wie ein Tier gefangen, in Ketten gelegt, verschifft, gemustert, verkauft.“
Oles Hand wanderte in Richtung seines Beckens, er beachtete Nadja gar nicht mehr, seine Erregtheit war unübersehbar.
Er war groß und prall, so wie er sein sollte und so wie er in dem einen Jahr, das sie zusammen waren, selten gewesen war.
„Ich habe verstanden“, sagte sie und brach damit die Atmosphäre.
Er spürte, dass sie log. Dennoch entspannte er sich.
„Jetzt ist es heraus.“
„Deine Fantasien!“
„Ja, meine Fantasien. Wenn ich in dir bin, deine Fingernägel sich in mich bohren und mir wehtun. Wenn ich aufbrülle, weil ich die Schmerzen kaum mehr aushalte. Dann bin ich in Gedanken dort, in meinen ‚bösen Träumen’, in denen ich dein Gefangener bin, dein Diener, dein Sklave, dein Eigentum.“
Schweigen.
Ein Schweigen, das für Ole Ewigkeiten zu dauern schien.
Ein Schweigen, das für Nadja Raum schuf, Abstand und Zeit, um ihre Gedanken und das heillose Durcheinander in ihrem Kopf zu sortieren.
Es gelang ihr nicht. Die Situation überforderte sie. Ihre Welt schien sich von Oles Welt zu lösen, langsam, doch unaufhaltsam. Gemeinsamkeiten, die sie gefunden hatten, verblassten. Bande, die sie geknüpft hatten, lösten sich. Da war kein Festhalten mehr möglich.
Sie versuchte, sich zu sammeln, sich das Verbindende zu vergegenwärtigen und nicht das Trennende. Sie lauschte nach einem Echo in ihr, einer Antwort auf die unausgesprochene Frage Oles – vergeblich.
„Ich fürchte, ich kann dir das nicht geben, Ole.“
„Du verachtest mich“, flüsterte er.
„Nein“, sagte sie schnell, zu schnell.
„Ich glaube dir nicht.“
„Es ist etwas anderes.“
„Was?“
„Ich bin eine Frau, Ole. Ich mag aussehen wie eine weibliche Ausgabe von Arnold Schwarzenegger. Der ein oder andere Mann wird es durchaus genossen haben, wenn ihn ein Kraftpaket wie ich mal ein wenig härter angefasst hat. Auch Experimente im Bett sind gut und schön, mal Schläge auf den Hintern, von mir aus, bitte sehr. Ich bin kein Kind von Traurigkeit. Wer wüsste dies besser als du? Doch ich bin und bleibe eine Frau. Und ich liebe es, wenn mich ein Mann wie du in seine starken Arme nimmt, mich umschlingt, mich drückt, wenn ich mich ihm hingeben kann. Da unterscheide ich mich nicht von den meisten anderen Frauen. Ich fühle mich geborgen bei dir. Du bist ein ganzer Mann, genau so, wie ich ihn haben möchte. Alles andere, was du erzählt hast, passt nicht. Es bewegt nichts in mir. Es ist so weit weg wie der Mond von der Erde. Ich spüre nichts. Im Gegenteil. Ich hätte Angst, es würde meine Liebe zerstören.“
Oles Gesicht wurde ausdruckslos.
„Ich befürchte, ich kann dir das nicht geben, Ole“, wiederholte sie.
Erneutes Schweigen.
Am Tag darauf trennten sie sich.
3. Kapitel
Auf der Autobahn herrschte wenig Verkehr. Fast die gesamte Strecke konnte Björn die Geschwindigkeit bei mehr als 130 Stundenkilometern halten. Ein gutes Vorankommen, Samstag eben. Aus den Lautsprechern dröhnte klassische Musik, bis vor Kurzem Vivaldi, jetzt Beethoven. Auch in der Praxis spielte er den ganzen Tag die allseits bekannten Klassiker, dezent im Hintergrund, um seine Patienten zu beruhigen. Der eine oder andere war doch etwas ängstlich, wenn er zu Dr. Björn Tänzer kam, um wehrlos, in einem Stuhl sitzend, im offenen Mund nach dem Rechten sehen zu lassen; auch mancher, von dem man es im täglichen Leben nicht erwartet hätte. Um die Zahnarztpraxis würde sich in der kommenden Woche seine Kollegin Sonja kümmern, mit der er die Praxis gemeinschaftlich führte.
Eigentlich wäre nächste Woche der lang ersehnte und wohl verdiente Norwegenurlaub fällig gewesen. Während er in seinem beigefarbenen Passat über die Autobahn raste, sah er sich in Gedanken in seiner grünen Montur am Meer stehen. An einem malerischen Fjord, nur er, seine Angel und sein Eimer, in dem sich die Köderfische tummelten. Er dachte an die Wittlinge, die er aus dem Wasser zog, an die Dorsche, vielleicht erwischte er sogar einen dieser übergroßen norwegischen Heringe, die sich nur selten bis in die Fjorde wagten. Seine Tagträume ermöglichten ihm, die Sorge um seinen Bruder zu verdrängen.
Am Straßenrand wurde der Beginn der Stadtautobahn angekündigt. Das Hinweisschild riss ihn zurück in die Realität. Nein, er konnte den Samstag nicht nutzen, um in aller Ruhe seine Angeln, Rollen und Blinker zu sortieren, um auszuwählen, was davon mit auf die Reise gehen sollte. Stattdessen hatte er am Vormittag hastig gepackt, genau so, wie seine Mutter es gewollt hatte, und war nun am späten Nachmittag in Berlin angekommen.
Björn schaltete die Beethoven-CD ab und sein Navigationssystem ein. Auf der Stadtautobahn waren deutlich mehr Menschen unterwegs als außerhalb der Hauptstadt. Er war zum ersten Mal mit seinem Auto hier. In Hamburg war er einmal gewesen und das Fahren in der Großstadt hatte höchste Konzentration von ihm erfordert. Der Verkehr in und um Lübeck war doch um einiges überschaubarer, ruhiger fließend, die Leute fuhren weniger hektisch. ‚Trondheim’ sollte die weibliche Stimme des Navigationssystems mitteilen, das wäre ihm lieber gewesen, jedoch wies sie ihn auf den Kaiserdamm hin.
Kurze Zeit später setzte er den Blinker und verließ die vierspurige Straße, um auf eine andere zu gelangen. Kaufhäuser und Supermärkte waren noch geöffnet, entsprechend war das Verkehrsaufkommen. Björn hielt sich auf der rechten Spur und hoffte, dass er demnächst nicht links abbiegen musste. Mitten durch die Hauptstadt, die freundlich-resolute Stimme der Sprecherin lotste ihn geradewegs über den Kurfürstendamm, am KaDeWe vorbei, die Kleiststraße entlang zum Nollendorfplatz. Von da waren es keine fünf Minuten mehr, bis er in der Winterfeldtstraße eintraf. Das Haus mit der Nummer 14B, hier wohnte sein Bruder Ole. Doch kein Parkplatz weit und breit.
Er kurvte umher, während ihn sein Navigationssystem ständig aufforderte, er solle wenden. Schließlich schaltete er es ab. Statt eines freien Parkplatzes entdeckte er bald etwas anderes in den Seitenstraßen: Frauen!
Frauen, auffällig und grell geschminkt; Frauen, mit knallroten Haaren und mit schwarzen; Frauen, die sich ihr Haar mit Wasserstoffperoxid gebleicht hatten. Hier ein kurzer, roter Lederrock, dort eine schwarze Netzstrumpfhose. Erwartungsvolle Blicke, auffordernde Gesten, deutliche Handzeichen. Frauen jeglicher Haut- und Haarfarbe, schlanke und auch weniger schlanke. Alle paar Meter eine. Ein erster Kulturschock für den Angler und Zahnarzt aus der beschaulichen Stadt an der Ostsee: der Straßenstrich, und exakt in dieser Gegend lebte sein Bruder.
Endlich hatte er Glück. Er blinkte und setzte seinen Passat rückwärts in die gerade entdeckte Lücke, stieg aus, ging um den Wagen herum und öffnete das Heck seines Kombis. Er griff nach seiner olivfarbenen Reisetasche und hörte hinter sich eine Stimme mit einem unüberhörbar osteuropäischen Akzent.
„Oh, da hat aber einer ’ne Menge Spielzeug mitgebracht.“
Björn drehte sich um und wandte sich sofort wieder erschrocken ab. Eine übergewichtige Frau stand hinter ihm, die langen Haare streng nach hinten gekämmt, Lippen und Wimpern schwarz geschminkt, die Brüste quollen zwei Fingerbreit aus dem viel zu engen dunkelroten Top hervor. Dem Alter nach hätte die Frau seine Mutter sein können. Mehr sah er nicht, mehr wollte er auch nicht sehen; schnell widmete er sich wieder seiner Reisetasche. Nervös zog er sie aus dem Kofferraum und schlug die Heckklappe zu. Die Autoschlüssel glitten ihm aus der Hand. Er bückte sich danach, was der Frau einen lauten, dissonanten Pfiff entlockte. Rasch erhob er sich, steckte den Schlüssel ein und ging eiligen Schritts davon, den Blick verlegen zu Boden gesenkt.
„Rote Backen steh’n dir gut, mein Süßer!“, rief ihm die Frau hinterher.
Zwei Straßenzüge musste er zurück, an mehreren der Prostituierten vorbei. Den Blick starr nach unten gerichtet. Die Signale seines Körpers waren eindeutig und die Frauen ließen ihn in Ruhe. Ein Spießrutenlauf blieb ihm erspart.
Endlich kam er vor der Nummer 14B an. Es war einer jener herrlichen Altbauten Berlins, die die Bomber-Angriffe zum Ende des Zweiten Weltkriegs überlebt hatten; daneben ein Neubau, der architektonisch eher in die Achtziger gehörte.
Bei Freese solle er klingeln, hatte seine Mutter ihm gesagt. Da habe Oles Vermieterin den Schlüssel für die Wohnung hinterlegt. Als eine absolut vertrauenswürdige Person habe die Vermieterin Frau Freese bezeichnet. Und als sie Björn die Tür öffnete, war ihm sofort klar, dass Frau Freese eine solche Person auch war. Es war ein kleines, aber waches Mütterchen, das da im Türrahmen ihrer Wohnung vor Björn stand.
„Sie müssen Herr Tänzer sein!“, sagte sie freundlich, bevor Björn auch nur den Mund öffnen konnte. Ihre Augen blinzelten hinter überdimensionierten Brillengläsern. Sie hatte weißes, gelocktes Haar, ein rundliches Gesicht und sah aus, als könnte sie kein Wässerchen trüben.
„Ja, der bin ich. Guten Tag.“
„Ich habe Sie gleich erkannt. Sie sehen ihm ähnlich, Ihrem Bruder.“
„Sie kennen ihn?“
„Na ja, kennen ist übertrieben. Zwischen Tür und Angel. Er ist eher unauffällig. Geht seiner Wege. Aber grüßt immer sehr freundlich.“
Ihr Tonfall wurde leiser. „Aber ist mir lieber als die Leute, die einem ständig ein Gespräch aufdrängen wollen!“
Sie rollte mit den Augen und blickte zur Tür der Nachbarwohnung.
Björn verstand und nickte.
„Hier ist der Schlüssel. Ich muss wieder rein. Die Hitparade der Volksmusik läuft gerade. Was fürs Herz.“
„Danke. Schönen Abend noch.“
„Jaja, Ihnen auch, und viel Spaß in Berlin. Und liebe Grüße an Ihren Bruder, wo immer er auch ist.“
Die Tür fiel ins Schloss und Björn erschrak. Dann fiel ihm ein, dass die Vermieterin Frau Freese erzählt hatte, Ole sei verreist und habe vergessen, seinem Bruder, der eine Woche in Berlin verbringen wollte, den Wohnungsschlüssel zu schicken.
In den zweiten Stock hinauf, die Stufen der alten Treppe knarzten bei jedem Schritt.
Für einen Moment verharrte er vor der hölzernen, beinahe zweieinhalb Meter hohen Wohnungstür, an deren linker Seite er einen Klingelknopf und ein Namensschild entdeckte: O. Tänzer. Er läutete. Da keine Reaktion erfolgte, sperrte er auf.
Die Vermieterin hatte seiner Mutter beteuert, sie habe nichts angerührt und alles in dem Zustand belassen, wie sie es vorgefunden hatte. Inklusive der geschlossenen Fenster, dachte Björn. Die Luft roch genauso abgestanden und muffig, wie er es sich vorgestellt hatte.
Ohne die Einrichtung eines weiteren Blickes zu würdigen, stellte er seine Reisetasche im Flur ab und ging geradewegs durch die der Eingangstür gegenüber liegende Zimmertür. Durch zwei hohe doppelflüglige Fenster konnte man hinunter auf die Winterfeldtstraße blicken. Nacheinander riss er sie beide auf. Tief durchatmend drehte er sich um und musterte die Einrichtung. Es war das Wohnzimmer. Ole besaß immer noch die schwarze Ledergarnitur, die er sich damals in Lübeck gekauft hatte. Ein Sofa, zwei Sessel, im Stil der siebziger Jahre. Den niedrigen verchromten Tisch vor dem Sofa, den kannte Björn noch nicht. Auf dem Tisch standen sich sechzehn weiße und sechzehn schwarze Glasfiguren auf einem Schachbrett gegenüber, bereit zum Spiel. Über dem Sofa hingen vier quadratische Bilder, exakt in einer Linie: geometrische Formen, in Öl, ausschließlich blaue und orangefarbene Muster.
Vor den Fenstern stand Oles Schreibtisch, ein Metallgestell mit gläserner Platte. Auch den hatte er sich wohl erst hier in Berlin gekauft. Ein Monitor auf dem Schreibtisch, ein Telefon, ein Anrufbeantworter, der unaufhörlich blinkte, dazu Schreibutensilien. Unter dem Schreibtisch ein PC, ein schmales Metallschränkchen mit vier Schubladen und ein Aktenordner. Alles sehr ordentlich. Auffällig die Masken an der gegenüberliegenden Wand: Karnevalsmasken, wie man sie aus Venedig kannte, mindestens ein Dutzend. Björn hatte gar nicht gewusst, dass sich sein Bruder für so etwas interessierte. Neben den Masken hatte Ole ein Holzregal aufgestellt: in den oberen Fächern Bücher, CDs und DVDs, unten ein kleiner Fernseher mitsamt DVD-Player sowie eine Kompaktstereoanlage.
Mit der Spitze des Zeigefingers fuhr Björn über die Schreibtischplatte und besah sich den Finger: staubig. Die Angst, die er gestern seiner Mutter gegenüber nicht hatte zugeben wollen, holte ihn immer mehr ein.
Zurück im Flur öffnete er die anderen vier Zimmertüren: Schlafzimmer, Küche, Bad, die letzte führte in einen begehbaren Kleiderschrank.
In diesem lehnte auch ein zusammengeklappter Arbeitstisch an der Wand, zudem Mappen und runde Behälter, gefüllt mit Architekturplänen.
Die Fenster in Schlafzimmer und Küche gingen auf einen verwahrlost wirkenden Innenhof hinaus. Björn sorgte erst mal für Durchzug. Das Schlafzimmer war winzig, es passte gerade eben das metallene Bettgestell hinein und ein kleiner Nachttisch, mehr nicht. Ole hatte Decke und Wände in einem düsteren Grau gestrichen. Es wirkte nicht gerade einladend auf Björn.
In der Küche gab es Platz für einen Tisch, an dem zwei Personen bequem sitzen und essen konnten.
Ein Kühlschrank. Sein Anblick wirkte auf Björn wie das Glöckchen auf Pawlows Hunde. Die bekannte Form einer braunen Flasche Bier entstand vor seinem inneren Auge. Zuletzt hatte er einen Kaffee getrunken, vor knapp zwei Stunden, an einer Autobahnraststätte. Seine Kehle war wie ausgetrocknet.
Er öffnete die Kühlschranktür und ein strenger Geruch schlug ihm entgegen. Rasch erkannte er die Ursache: eine offen stehende Thunfischdose. Björn hielt die Luft an, packte die Dose und hielt Ausschau nach einem Abfalleimer. Er entdeckte ihn neben dem kleinen Esstisch, entsorgte die Thunfischdose und danach auch die angebrochene Portion Schafskäse, die mit zu dem Gestank beigetragen hatte.
Welch ein Glück: In der Kühlschranktür warteten tatsächlich drei volle Flaschen Bier auf ihn. Die Besteckschublade war schnell gefunden und in ihr auch ein Flaschenöffner. Er setzte an, nahm einen großen Schluck und musste sich sehr beherrschen, um ihn nicht gleich wieder in den Ausguss zu spucken.
Ein Blick aufs Etikett: Mist! Alkoholfrei!
Das sah Ole und seinem gesunden Lebenswandel ähnlich.
Mangels einer Alternative trank er weiter und leerte die Flasche, ohne sie ein weiteres Mal abzusetzen.
Bewaffnet mit einer zweiten ging er zurück ins Wohnzimmer, setzte sich in einen der Ledersessel und lehnte sich zurück.
Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass er sich keinen Plan zurecht gelegt hatte.
Noch während der Anreise hatte er sich der Illusion hingegeben, das ganze Problem löse sich von selbst. Er hatte sich vorgestellt, sein Bruder sei einfach verreist und würde ihn schallend auslachen, wenn er von Mutters Sorgen erzählte. Wunschdenken. Ole war nicht hier und Björn nicht schlauer als gestern im Wohnzimmer seiner Mutter.
Sein Blick verharrte auf dem Anrufbeantworter. Dessen rot blinkendes Licht schlug ihn in seinen Bann. Als wäre ihm durch das Signal ein unhörbares Kommando gegeben worden, stand er auf und betätigte die Wiedergabetaste.
Das Band spulte zurück. Das Gerät knackste.
„Hier ist Ulli. Wie sieht es aus bei dir, heute Abend, Schätzchen? Wollen wir, wie besprochen, etwas trinken gehen? Tschüss - Ulli.“
Schade, dachte Björn, die Maschine dokumentiert weder Datum noch Uhrzeit des Anrufs.
„Noch mal Ulli. Warum meldest du dich denn nicht zurück? Es ist jetzt sechs Uhr und ich würde gerne wissen, ob es klappt! Wieso ist eigentlich dein Handy ausgeschaltet? Tschüss - Ulli.“
„Schade, du bist wieder nicht zu Hause. Ich bin alleine losgezogen, gestern. Du hast echt was verpasst, Schätzchen. Melde dich, wenn du zurück bist! Tschüss - Ulli.“
„Guten Tag, Herr Tänzer. Frau Kerner am Apparat, vom Architekturbüro Braun & Partner. Herr Braun möchte gerne, dass Sie ihn zurückrufen. Danke.“
„Madeleine hier! Lange nicht hier gewesen, mein Lieber! Das Interesse verloren? Die Lust? Unvorstellbar! Ich erwarte dich!“
„Alexander Braun. Ole, wenn du Interesse an einem Auftrag hast, melde dich bitte unverzüglich im Laufe des Tages hier bei mir im Büro. Es ist dringend. Wenn ich bis 17.00 Uhr nichts von dir höre, frage ich bei Jens Veidt nach, ob er Zeit hat. Wiederhören.“
„Ole? Hier ist Alfred, Alfred von Fit & More. Wo warst du denn am Montag? Sven, Simon und ich haben dich vermisst. Naja, dann bis zum nächsten Montag!“
Björn wurde zunehmend kälter. Die Angst kroch in seinem Körper nach oben: seine Beine hinauf, die Wirbelsäule entlang, in seine Arme. Gänsehaut. Seine Kopfhaut kribbelte.
„Wieder Ulli! Seit drei Tagen versuche ich, dich zu erreichen. Habe auch schon mehrfach an deiner Tür geklingelt! Was ist denn nur los bei dir? Oder ist etwa der Anrufbeantworter kaputt? Tschüss - Ulli.“
„Ole? Hier ist deine Mutter und ich liebe es überhaupt nicht, mich mit dieser Maschine zu unterhalten. Los! Geh ran. Ole! Bist du zu Hause?“
„Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Ole! Hier ist deine Mutter, und wenn du aus dem Fenster siehst, erkennst du den riesigen Zaunpfahl, mit dem sie dir aus Lübeck zuwinkt!“
Danach folgten noch weitere Aufzeichnungen von Mutters Anrufen, immer drängender und besorgter.
Björn biss sich auf die Unterlippe und fuhr sich mit der Hand durchs Haar.
Ein lautes Klingeln ließ ihn erschrocken zusammenfahren. Oles Telefon. Jemand rief an, genau in diesem Augenblick. Mit zitternder Hand hob er ab.
„Ja? Hallo?“
Die Stimme eines Mannes: „Ole?“
„Äh – nein.“
„Wer spricht denn da?“
„Sagen Sie mir zuerst, wer Sie sind!“
Der Mann am anderen Ende der Leitung legte auf.
Björn wunderte sich. Es war definitiv keiner von den Anrufern, die eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter hinterlassen hatten. Tief und markant hallte die Stimme in ihm nach, er hätte sie sicher wiedererkannt.
Was tun?, dachte Björn. Zuerst in Lübeck anrufen, mich mit Mutter besprechen.
Er kramte sein Mobiltelefon aus seiner Reisetasche, und gerade als er die abgespeicherte Lübecker Nummer auswählen wollte, klingelte es erneut, laut und schrill.
Er zuckte zusammen. Diesmal kam das Geräusch von der Wohnungstür.
Der grelle Ton nahm überhaupt kein Ende, irgendjemand klebte da mit dem Daumen auf dem Klingelknopf.
Björn blickte zur Tür: ein Spion!
Vorsichtig guckte er hindurch.
Eine Blondine stand vor der Tür, dezent, aber verführerisch geschminkt. Hellroter Lippenstift, sanftblauer Lidschatten, die Wangen leicht gerötet. Sie trug ein eng anliegendes schwarzes T-Shirt, dazu eine knallrote Jeans; die Haare zu einer auffälligen Löwenmähne frisiert.
Grundgütiger, eine von den Nutten, dachte er, machten die hier in Berlin sogar Hausbesuche?
„Ich weiß, dass du hier bist, Ole! Ich habe von unten gesehen, dass die Fenster offenstehen!
---ENDE DER LESEPROBE---