Das Buch, das dich findet - Siegfried Langer - E-Book + Hörbuch

Das Buch, das dich findet Hörbuch

Siegfried Langer

5,0

Beschreibung

Gewinnertitel des SERAPH 2021, des Buchpreises der Phantastischen Akademie und der Leipziger Buchmesse!

"Hallo Merelie, danke, dass du mir gestern zugehört hast. Das hat mir einen richtigen Powerschub gegeben. Nun bin ich gerade auf einen seltsamen Roman gestoßen: 'Das Buch, das dich findet'. Der Anfang verwirrt mich sehr und macht mir Angst. Ich muss unbedingt mit dir darüber reden. Wir treffen uns dann morgen wie verabredet, ja?"

Alinas seltsame WhatsApp-Nachricht ist ihr letztes Lebenszeichen - jetzt ist sie spurlos verschwunden.
Ist Alina ihrem Bruder David in den Tod gefolgt, so wie es die Polizei vermutet?
Merelie, die ihrer Freundin Alina seit Davids Unfalltod tröstend und kraftgebend zur Seite stand, glaubt nicht daran und begibt sich auf die Suche. Ihr einziger Anhaltspunkt ist dieses mysteriöse 'Buch, das dich findet', das Alina so sehr beeindruckt hat. Als Merelie danach recherchiert, stellt sich heraus, dass ein Buch mit diesem Titel überhaupt nicht existiert: in keiner Bibliothek, in keinem Buchladen, in keinem Online-Shop.
Doch eines Tages liegt plötzlich eine Ausgabe davon auf ihrem Bett - und bereits die Widmung auf der ersten Seite stellt ihr bisheriges Leben völlig auf den Kopf.

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Inhalt

Das Buch, das dich findet

I. Teil

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

II. Teil

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

III. Teil

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

IV. Teil

47. Kapitel

Die Geschichte, die dich einholt

Nachwort

Bibliographie

Impressum

 

 

 

Das Buch, das dich findet

 

von

 

Siegfried Langer

 

 

 

Gewidmet Merelie, die mir in der Nacht im Traume erschien und mir das Versprechen abnahm, ihre fantastische Geschichte zu erzählen.

 

 

I. Teil

 

Alinas Ausgabe von ‚Das Buch, das dich findet‘

 

 

 

1. Kapitel

Merelies Geschichte

 

 

„Hallo Merelie, danke, dass du mir gestern zugehört hast. Das hat mir einen richtigen Powerschub gegeben. Nun bin ich gerade auf einen seltsamen Roman gestoßen: ‚Das Buch, das dich findet‘. Der Anfang verwirrt mich sehr und macht mir Angst. Ich muss unbedingt mit dir darüber reden. Wir treffen uns dann morgen wie verabredet, ja?“

 

(Letzte WhatsApp-Nachricht, die Merelie von ihrer Freundin Alina erhalten hat.)

 

 

Merelie erschrak: Am Gartenzaun vor dem Haus ihrer Freundin Alina parkte ein Streifenwagen.

Sie stieg von ihrem Fahrrad ab und schob es die letzten Meter. Trotz der Hitze dieses sonnigen Augusttages spürte sie eine plötzliche Kälte.

Ihre Gedanken überschlugen sich.

War etwas passiert? Mit Alina? Sie hatte sich doch nicht etwa …?

Oder mit Alinas Mutter? War sie schon wieder betrunken mit dem Auto unterwegs gewesen? Vor Kurzem hätte sie beinahe einen Unfall verursacht.

Nachdem Merelie das Rad abgestellt hatte, legte sie den kurzen Weg durch den Vorgarten der Rieders mit einer unguten Vorahnung zurück. Ihre Hand zitterte, als sie den Klingelknopf drückte.

Es erschien ihr ungewöhnlich lange zu dauern, bis sie endlich Schritte hörte, die sich der Haustür näherten. Ihr Erstaunen wuchs, als ein Mann öffnete, den sie noch nie zuvor gesehen hatte. Er runzelte die Stirn und sah sie fragend an.

„Ja, bitte?“, wollte er schließlich wissen.

„Ähm, ich bin Merelie, ich wollte zu Alina. Wir sind verabredet.“

Der Mann wirkte unschlüssig und machte keine Anstalten, sie hinein zu lassen.

Jetzt wurde Merelie neugierig: „Wer sind Sie?“

„Ich bin Alinas Vater.“

Ohne weiteren Kommentar trat er nun zur Seite und Merelie schlüpfte an ihm vorbei in die Diele.

Alinas Vater? Sie verstand überhaupt nichts mehr. Alina hatte ihr erzählt, er habe sich nie um seine Kinder gekümmert. Seine Karriere sei ihm immer wichtiger gewesen und deswegen wäre er ununterbrochen in der ganzen Welt herumgejettet. Sie hätte ihn auf der Beerdigung ihres Bruders David das erste Mal seit Jahren gesehen.

Was machte er so unerwartet hier?

An der Treppe, die nach oben zu Alinas Zimmer führte, hielt Merelie an. Sie drehte sich zu Alinas Vater um, doch der schüttelte den Kopf. Sein Blick wies in Richtung des Wohnzimmers, das gegenüber der Haustür lag. Merelie verstand und ging hinein.

Obwohl das Fenster offenstand, roch es nach Alkohol. Im Fernsehsessel saß Alinas Mutter; nein, sie lag mehr darin, als dass sie saß. Sie sah Merelie mit verweinten, glasigen Augen an. Auf dem Sofa daneben hatten eine Polizistin und ein Polizist Platz genommen. Der Polizist hatte einen Schreibblock in der einen Hand, einen Kugelschreiber in der anderen. Auch die Blicke der Beamten richteten sich nun auf Merelie.

„Das ist Merelie“, stellte Alinas Vater sie vor, als würde er sie bereits seit langem kennen.

„Weißt du, wo Alina ist?“

Die Worte, die die Mutter sprach, klangen undeutlich. Doch Merelie hatte inzwischen Übung darin, Frau Rieder zu verstehen. Wenn sie Alina besuchte, traf sie die Mutter selten nüchtern an.

„Nein, ich war mit ihr verabredet. Jetzt. Siebzehn Uhr.“

„Sie ist nicht mehr da.“

Merelie versuchte zu begreifen: Was sollte das heißen, sie sei nicht mehr da?

„Wo ist sie denn?“

„Wir wissen es nicht, Merelie“, räumte Alinas Vater ein.

Die Polizistin stand auf und streckte Merelie ihre Rechte entgegen: „Ich bin Polizeihauptmeisterin Bettina Guthe.“

Ganz instinktiv griff Merelie nach der Hand und schüttelte sie.

„Mein Kollege ist Polizeiobermeister Dieter Reindl. Dürfen wir noch ‚du‘ sagen?“

„Ja, klar.“

Dies mochte Merelie ohnehin lieber. Sie empfand es immer wieder als seltsam, dass sie seit einiger Zeit von Fremden gesiezt wurde. Obwohl sie sich darüber freute, als Erwachsene wahrgenommen zu werden, fühlte sich die förmliche Anrede für sie immer noch sehr ungewohnt an.

„Kannst du uns sagen, wann du Alina zum letzten Mal gesehen hast?“

Da brauchte sie nicht lange zu überlegen: „Vorgestern, wir saßen bis spät in die Nacht in ihrem Zimmer.“

„Warst du gestern nicht auch da?“, mischte sich Frau Rieder ein.

Merelie schüttelte den Kopf.

Für den Moment schien Alinas Mutter mit der Antwort zufrieden zu sein. Sie setzte sich auf und blickte suchend im Wohnzimmer umher. Merelie ahnte, dass sie nach einer Flasche Ausschau hielt, doch sie konnte keine entdecken. Üblicherweise standen hier immer mehrere herum, leere, volle und angefangene. Irgendjemand musste aufgeräumt haben, ehe die Polizei eingetroffen war. Kraftlos sackte die Mutter wieder in sich zusammen. Merelie konnte sich auf all das keinen Reim machen.

„Aber was ist denn überhaupt los?“

„Entschuldige bitte“, sagte die Polizistin. „Alina ist verschwunden.“

„Was? Ich verstehe nicht.“

Die Polizistin blickte auffordernd zu Alinas Vater, der noch im Türrahmen stand. Merelie drehte sich zu ihm.

„Alinas Mutter hat mich angerufen. Alina sei die Nacht nicht zu Hause gewesen. Ich bin sofort hierhergekommen und habe mir nicht anders zu helfen gewusst, als die Polizei hinzuzuziehen. Sie sind gerade eben, kurz vor dir, eingetroffen.“

„Kann sie nicht einfach beim Shoppen sein oder spazieren?“, fragte die Polizistin.

„Alina geht nicht spazieren“, widersprach Frau Rieder, „und zum Shoppen auch nicht mehr.“

Aus einer Sesselritze zog sie ein Taschentuch hervor und schnäuzte lautstark hinein, ehe sie fortfuhr: „Das Bett war unberührt, als ich heute Mittag in ihr Zimmer bin.“

Zum ersten Mal hörte Merelie nun die Stimme des männlichen Beamten: „Vormittags hatten sie gar nicht nach ihr gesehen?“

„Ich schlafe immer so schlecht. Und dann bin ich morgens so müde. Komme dann kaum aus den Federn. Meistens ist Alina vor mir wach. Auch jetzt, in den Ferien.“

„Kann sie nicht einfach bei einer Freundin übernachtet haben?“

„Sie trifft sich in letzter Zeit ja nur noch mit dieser Merelie.“

Merelie wusste, dass Alinas Mutter sie nicht leiden konnte. Es war ihr ein kleiner Trost, dass Alinas Mutter zurzeit überhaupt niemanden leiden konnte, am wenigsten sich selbst.

„Sehen Sie sich das Mädchen doch an, in ihren schwarzen Klamotten. Da muss man doch depressiv werden.“

Merelies erster Impuls war es, sich zu verteidigen, aufzubegehren, doch sie begriff schnell, dass es hier nicht um sie ging, und hielt sich zurück.

„Glauben Sie, dass Ihre Tochter depressiv ist?“, fragte Frau Guthe und blickte zwischen den beiden Eltern hin und her. Herr Rieder zuckte hilflos die Achseln; Frau Rieder musterte Merelie abschätzig von oben bis unten. Dann giftete sie: „Wundert Sie das? Wenn man sich mit solchen Grufties abgibt …“

Das Wort, verbunden mit dem verächtlichen Tonfall, traf Merelie wie ein Stich ins Herz. Ja, sie mochte gerne schwarze Kleidung und zuweilen schminkte sie sich auch etwas unkonventioneller, dennoch gab es niemandem das Recht, sie in eine Schublade zu stecken.

Am liebsten hätte sie Alinas Mutter widersprochen, doch sie spürte den Kummer, der aus ihr sprach. Er suchte sich einen Kanal. Alinas Mutter war nicht sie selbst. Sie wusste nicht mehr, was sie tat. Schon lange nicht mehr. Seit …

„Merelie?“, wandte sich Frau Guthe nun direkt an sie.

„Ja?“

„Glaubst du, dass Alina depressiv ist?“

Aufgrund der Reaktion der Eltern hielt die Polizistin Merelie anscheinend für kompetenter, ihr eine aussagekräftige Antwort auf diese Frage zu geben. Doch auch sie konnte nur die Schultern hochziehen.

„Ich weiß es nicht.“

„Hat sie dir gegenüber je von Selbstmord gesprochen?“

Merelie zögerte.

„Nein“, log sie dann. Denn es konnte nicht sein, was nicht sein durfte.

„Sie glauben, dass sich meine Tochter …?“

Frau Rieder begann zu weinen und Alinas Vater trat zu ihr. Er hob die Hände, als wolle er sie in den Arm nehmen und trösten, aber er ließ es dann doch bleiben.

„Wir müssen allen Spuren nachgehen, Frau Rieder. Dann haben wir die größte Chance, Alina wiederzufinden. Allerdings ist ihre Tochter bereits 18 und damit volljährig.“

Merelie vergaß oft, dass Alina ein Jahr älter war als sie selbst. Die Freundin kam ihr eher jünger vor, was ihre Reife und ihre Anschauungen betraf.

„Was soll das heißen?“, hakte Alinas Mutter nach.

„Natürlich nehmen wir Ihre Vermisstenanzeige ernst. Aber ein erwachsener Mensch kann tun und lassen, was er will. Es liegen keine Anzeichen für ein Verbrechen vor, oder?“

Die Hand, in der Frau Rieder immer noch das Taschentuch hielt, ballte sich zur Faust.

„Muss erst etwas passiert sein, ehe Sie ermitteln?“

Der Vorwurf in ihrer Stimme war nicht zu überhören. Die Polizistin versuchte sie zu beschwichtigen:

„Nein, natürlich nicht. Selbstverständlich werden wir Untersuchungen anstellen. Aber zu Ihrer Beruhigung kann ich Ihnen versichern, dass die meisten vermissten Personen innerhalb weniger Tage wieder wohlbehalten nach Hause kommen.“

„Ich habe doch schon meinen Sohn verloren.“

Alinas Mutter hörte sich kläglich an. Sie faltete das Taschentuch wieder auseinander und wischte sich damit Tränen aus dem Gesicht. Sogleich erschienen neue in ihren Augenwinkeln.

„Wir haben im Moment keine Meldungen, die wir mit dem Verschwinden Ihrer Tochter in Verbindung bringen könnten. Das ist ein gutes Zeichen.“

Merelie verstand, was die Polizistin eigentlich damit sagen wollte: In den letzten Stunden war nirgendwo eine Leiche gefunden worden, bei der es sich um Alina handeln könnte.

„Das ist alles nur deine Schuld!“

Merelie zuckte zusammen. Doch diesmal hatte Frau Rieder nicht sie gemeint, sondern warf ihrem Ex-Mann wütende Blicke zu.

„Wenn du uns damals nicht verlassen hättest, wäre das alles nicht passiert. Dann wäre David noch am Leben.“

Die beiden Beamten sahen Alinas Mutter fragend an.

„David ist Alinas älterer Bruder“, erläuterte Merelie, nachdem sich offensichtlich niemand zuständig fühlte, die Polizisten aufzuklären. „Er ist vor zwei Monaten bei einem Autounfall gestorben.“

„Jetzt bin ich ganz allein.“

Erneut hielt Frau Rieder Ausschau nach etwas Trinkbarem. Aus ihrem Gesicht sprach tiefe Verzweiflung. Merelie verspürte trotz der offen zur Schau getragenen Ablehnung in diesem Moment großes Mitleid mit ihr. Am liebsten hätte sie ihr eine Flasche Rotwein aus der Küche geholt.

Frau Guthe beachtete Alinas Mutter nicht weiter, sondern setzte ihre Befragung fort: „Hat sie vorgestern zu dir irgendetwas gesagt, Merelie? Pläne, dass sie verreisen möchte? Oder etwas Anderes, das in diese Richtung weist?“

„Nein.“

„Und, Merelie, du musst jetzt ehrlich sein: Habt ihr wirklich nicht über Selbstmord gesprochen?“

Merelie senkte den Kopf, antwortete aber nicht. Die Polizistin wartete kurz, dann bohrte sie nach: „Ich liege richtig mit meiner Vermutung, oder?“

Da Merelie weiterhin schwieg, stellte Frau Guthe eine andere Frage: „Du bist in der Gothic-Szene, oder?“

Angesichts ihrer schwarzen Kleidung und des schwarzen Lippenstifts, den sie aufgetragen hatte, konnte sie schlecht verleugnen, dass sie zumindest eine gewisse Affinität dazu hatte. Einer ‚Szene‘, wie es die Polizistin bezeichnete, fühlte sie sich jedoch nicht zugehörig.

„Ich wiederhole meine Frage: Habt ihr über Selbstmord gesprochen? Über den Tod?“

Natürlich lag die Polizistin mit ihrer Vermutung richtig: Merelie hatte mit Alina fast ausschließlich über dieses Thema gesprochen. Das war es nämlich, was Alina seit zwei Monaten bewegte, was sie wieder und wieder umtrieb. Tod und Sterben: Der Austausch darüber hatte sie zusammengeführt und zu Freundinnen werden lassen.

Merelie nickte.

„Hat sie Selbstmordabsichten geäußert?“

„Ja“, flüsterte Merelie beschämt, ohne den Blick zu heben.

Die Polizistin hakte weiter nach: „Ist sie dabei konkreter geworden?“

„Wir ...“, Merelie zögerte, bevor sie den Satz zu Ende sprach. „...haben über verschiedene Möglichkeiten gesprochen.“

Merelie nahm ein kratzendes Geräusch wahr. Sie erkannte, dass es vom Sessel stammte, der ruckartig über den Laminatboden geschoben wurde. Im nächsten Moment war das Gesicht von Alinas Mutter bereits direkt vor ihr, die Augen weit aufgerissen und voller Wut. Und schon spürte sie, wie ihr Hals zugedrückt wurde.

„Du bist schuld! Du hast meine Tochter in den Tod getrieben!“

Aus den Augenwinkeln sah Merelie, dass sich Herr Rieder und der Polizist von verschiedenen Seiten aus mühten, die Hände von Alinas Mutter zu lösen, die im Gegensatz zu ihrer sonstigen Lethargie plötzlich erstaunliche Kräfte entwickelte.

„Lassen Sie los“, hörte Merelie eine Stimme, als ihr schwarz vor Augen wurde. Sie rang nach Luft, kämpfte gegen eine Ohnmacht an.

Merelie hatte keine Ahnung, wie lange sie von Alinas Mutter gewürgt und geschüttelt wurde, doch irgendwann löste sich schließlich der Druck. Als die beiden Männer es geschafft hatten, die Hände wegzuziehen, schnappte Merelie nach Luft und sackte in sich zusammen. Reflexhaft streckte sie ihre Arme aus, um sich abzustützen, und verhinderte damit, dass sie ungebremst auf den Boden krachte.

Die Polizistin kniete sich zu ihr und legte ihr den Arm um die Schultern. Merelies Hals schmerzte sehr. Sie zwang sich, wieder ruhig und regelmäßig zu atmen. Die Schwärze vor ihren Augen verschwand und als sie aufblickte, saß Frau Rieder wieder in ihrem Sessel. Ganz entspannt wirkte sie, gerade so, als sei nichts gewesen.

Merelie wurde die Berührung durch Frau Guthe langsam unangenehm.

„Es geht wieder“, meinte sie. Die Polizistin verstand und ließ los. Langsam, auf ihr Gleichgewicht achtend, erhob sich Merelie.

„Ich habe versucht, es ihr auszureden“, sagte sie dann.

Da niemand etwas entgegnete, wiederholte sie ihre Aussage.

„Ich habe versucht, ihr einen Selbstmord auszureden. Das müssen Sie mir glauben.“

Die Polizistin nickte.

„Möchtest du Anzeige gegen Frau Rieder erstatten, Merelie?“

Merelie schüttelte den Kopf.

„Wenn Merelie vorgestern bei Ihrer Tochter war, dann haben Sie sie gestern als letzte Person gesehen, Frau Rieder. Haben Sie über irgendetwas gesprochen, das mit ihrem Verschwinden in Zusammenhang stehen könnte?“

Alinas Mutter starrte teilnahmslos zu Boden.

„Frau Rieder?“

„Ich erinnere mich nicht“, flüsterte sie schließlich.

„Sie erinnern sich nicht mehr, worüber Sie gesprochen haben?“

„Ich erinnere mich überhaupt nicht mehr an den gestrigen Tag. Einer ist wie der andere.“

Merelie dachte an das Handy-Video von Davids Abiturfeier, das ihr Alina gezeigt hatte: Frau Rieder in ihrem knallroten Ballkleid; hochhackige Schuhe; stark geschminkt; voller Stolz war sie mit ihrem Sohn zu Walzerklängen über das Tanzparkett geschwebt. Jetzt kauerte sie vor ihr in ihrem Wohnzimmersessel: verweintes Gesicht, die Haare ungekämmt, einen Morgenmantel mit Rotweinflecken tragend. Was war nur aus der einst so selbstbewussten, gepflegten Frau geworden?

Merelie bekam nun selbst feuchte Augen.

„Fehlt etwas im Zimmer Ihrer Tochter, Frau Rieder?“

Keine Antwort.

„Soll ich nachsehen?“, bot sich Merelie an.

„Das wäre sehr hilfreich.“

„Ich fasse auch nichts an.“

Sie hatte das Gefühl gehabt, etwas in dieser Art sagen zu müssen. Dann ging sie zurück zur Treppe und weiter nach oben in den ersten Stock.

In Alinas Zimmer sah alles normal aus. Schrank und Kommode geschlossen; das Bett gemacht, die Bettwäsche mit den Blumen und Schmetterlingen aufgezogen; das Poster von den Jungs der Popband ‚Halo 22‘ an den senfgelb gestrichenen Wänden. Der Bürostuhl an Alinas Schreibtisch war ein Stück zurückgefahren. Mitten auf dem Schreibtisch lag ihr Handy, die weiße Schutzhülle aufgeklappt. Auf dem kleinen hellgrünen Sofa lagen verschiedene Kleidungsstücke. Merelie erkannte Alinas dunkelblaue Jeans und ihr mintfarbenes T-Shirt. Es sah so aus, als habe Alina ihr Zimmer gerade eben verlassen.

Merelie suchte das Badezimmer auf. Dort war alles da: Alinas Zahnbürste, ihr Haarspray und auch das Schminkzeug. Merelie glaubte nicht, dass sie ihr Zuhause ohne diese für sie so wichtigen Gegenstände für längere Zeit verlassen hätte. Und schon gar nicht ohne ihr Handy.

So langsam machte sie sich doch Sorgen.

Bis jetzt hatte sie jeden Gedanken an einen Selbstmord zur Seite gewischt. Seit Davids Tod traf sie sich mehrmals in der Woche mit Alina. Sie war überzeugt, sie hätte ihr Stärke und Mut gegeben, ihr geholfen, ins Leben zurückzufinden. Ob sie sich darin getäuscht hatte? Ob Alinas Todessehnsucht in den zwei Monaten größer statt kleiner geworden war?

Aber sie waren sich in der Zeit auch sehr nahegekommen. Alina hätte ihr sicher einen Abschiedsbrief hinterlassen. Oder ihrer Mutter.

Nein, Alina konnte nicht tot sein. Alina durfte nicht tot sein.

Mit hängenden Schultern kehrte Merelie zurück ins Wohnzimmer und berichtete von ihren Beobachtungen. Frau Rieder meinte dazu, dass auch Alinas Fahrrad in der Garage stehen würde. Abschließend nahm Frau Guthe Merelies Personalien auf.

Falls Alina nicht von alleine wieder auftauchen würde, meinte die Polizistin, würde die Polizei sicher noch einmal auf sie zukommen. Sie wirkte nach wie vor so, als ginge sie von einer harmlosen Erklärung für ihr Verschwinden aus. Dann durfte Merelie gehen.

Draußen schien immer noch die Sonne, doch Merelie zitterte. Sicherheitshalber schob sie ihr Fahrrad nach Hause, quer durch den Memminger Osten. So konnte sie auch in Ruhe über das gerade Erlebte nachdenken. Denn nach all der Aufregung eben wurde sie sich erst allmählich der Tragweite der Situation bewusst: Ihre Freundin Alina war verschwunden.

 

2. Kapitel

Merelies Geschichte

 

 

„Hi Elias, hast du gerade Zeit? Kannst du bitte auf den Waldfriedhof kommen? Zu Davids Grab? Ich bräuchte dich zum Reden.“

 

(WhatsApp-Nachricht von Merelie an ihren Freund Elias.)

 

 

Merelies Großeltern, bei denen sie lebte, meckerten oft über Merelies Musikgeschmack. Die Melodien klängen so schwermütig, die Texte so traurig. Doch Merelie liebte diese Art von Liedern. Sie lag auf ihrem Bett, schloss die Augen und entspannte sich - oder bewegte sich zum trägen Rhythmus der Musik mehr schwebend als tanzend durch ihr Zimmer.

Auch heute schaltete sie beim Nachhausekommen zuerst den Lautsprecher ein und startete dann den neuen Song ‚The Last Ice Bear‘ ihrer Lieblingsband ‚Melankolia‘. Dass ihre Großeltern nicht daheim waren, nutzte sie als gute Gelegenheit, um die Lautstärke hochzudrehen. Sie setzte sich auf ihr Bett und dachte an das Poster von ‚Halo 22‘ in Alinas Zimmer: eine im Fernsehen gecastete Boygroup, die kommerzielle Popmusik spielte. Zugegebenermaßen erfolgreich, aber ihr selbst gab das nichts. ‚Melankolia‘ kannte so gut wie niemand, die isländische Band hatte gerade mal knapp über eintausend Follower auf Facebook.

Bei ‚Halo 22‘ ging es immer nur um Liebe und Herzschmerz, die Texte von ‚Melankolia‘ empfand Merelie als anspruchsvoller. Sie befassten sich mit großen Themen, wie dem Sinn des Lebens oder dem Klimawandel. Wie verschieden die Musikgeschmäcker von ihr und Alina doch waren. Überhaupt unterschieden sich die beiden jungen Frauen sehr - und doch hatte Alina Merelies Nähe gesucht.

Merelie fragte sich, ob es tatsächlich ihre Schuld sein könnte, dass Alina verschwunden war. Bisher war sie immer der Meinung gewesen, sie hätte ihr in ihrer Trauer helfen können, aber vielleicht irrte sie sich ja …

Heute deprimierten sie die Lieder von ‚Melankolia‘ sehr. Sie schaltete die Musik wieder aus und vernahm sogleich ein anklagendes Miauen.

Im Türrahmen stand Minni und blickte zu ihr. Merelie wusste, was Minni wollte: Streicheleinheiten und Futter. Sie ging zu der roten Katze, beugte sich hinab und kraulte ihr den Nacken. Minni schnurrte, dann marschierte sie zielstrebig – den Schwanz nach oben gestreckt – in Richtung Küche.

Merelie folgte ihr, öffnete eine Dose Katzenfutter und füllte den Inhalt in ein Schüsselchen. Sofort begann Minni zu fressen, Merelie beobachtete sie dabei. Während sie so dastand und der Katze zusah, wuchs in ihr das Bedürfnis, etwas zu unternehmen. Sie konnte doch nicht zu Hause sitzen und traurige Lieder anhören, während eine ihrer Freundinnen vermisst wurde!

Vorgestern hatte Alina zum ersten Mal seit der Beerdigung die Kraft gefunden, das Grab ihres Bruders David zu besuchen. Danach hatte Merelie sie nach Hause begleitet und mit ihr über David und seinen Tod gesprochen. So waren sie auseinandergegangen.

Ob dieses Gespräch etwas in Alina ausgelöst hatte, das mit ihrem Verschwinden zu tun hatte? Es drängte Merelie, den Friedhof aufzusuchen: die Unterhaltung von vorgestern Revue passieren zu lassen, Ruhe zu finden, nachzudenken. Mit jemandem darüber zu sprechen. Am besten mit Elias, ihrem besten Freund seit Kindheitstagen; auch in den letzten Jahren, während des Erwachsenwerdens, war die Vertrautheit aus der Kinderzeit geblieben. Sie schrieb ihm eine Nachricht per WhatsApp und bat ihn, sich mit ihr zu treffen. Danach streichelte sie noch einmal Minni liebevoll über den Rücken und machte sich auf den Weg.

Um zum Friedhof zu kommen, benötigte sie keine zehn Minuten; das Rad stellte sie am Haupteingang ab und trat durchs Tor. Eine alte Frau, die eine Schale mit verwelkten Blüten und Blättern vor sich hertrug, kam ihr entgegen und musterte sie neugierig. Merelie grüßte sie freundlich, dann ging sie weiter zum Grab. Sie ertappte sich dabei, dass sie hoffte, Alina würde einfach dort stehen und das Mysterium ihres Verschwindens würde sich in Wohlgefallen auflösen. Doch als sie um die letzte Ecke bog und Sicht bis zum Grab hatte, konnte sie dort niemanden entdecken.

Auf die gelben, orangefarbenen und roten Studentenblumen, die dort in einem Kreis gepflanzt worden waren, schien die Sonne. Auch auf den Grabstein aus weißem Marmor, den ein eingravierter Engel zierte; Merelie empfand ihn als etwas kitschig. Wie vorgestern auch starrte sie auf das Geburts- und das Sterbedatum: Gerade mal 20 Jahre alt war David geworden.

Hinter ihr knirschte der Kies auf dem Gehweg.

Einen Augenblick klammerte sie sich an die Hoffnung, es könnte Alina sein. Sie drehte sich rasch um, doch es war Elias, der sich ihr näherte. Genau wie sie selbst war er komplett in schwarz gekleidet, auf seinem Rücken trug er einen ebenfalls schwarzen Rucksack.

Wie lang und schlaksig Elias in den letzten Jahren doch geworden war, dachte sie. Früher war sie immer etwas größer gewesen als er. Heute musste sie zu ihm aufsehen, um ihn zu begrüßen. Er sah traurig aus.

„Hast du dir die Augen geschminkt?“, fragte Merelie und er nickte.

„Sieht ungewohnt aus.“

„Weiß auch noch nicht, ob es mir gefällt.“

Dann machte sie einen Schritt auf ihn zu und drückte sich an ihn. Er wirkte so, als wisse er nicht wohin mit seinen langen Armen. Schließlich erwiderte er die Umarmung.

„Es ist schon seltsam“, sagte er.

„Was meinst du?“

„Wir beide haben vor dem Unfall so oft über den Tod und das Totsein geredet.“ Er machte eine Pause. „Und jetzt stehen wir an einem echten Grab. Von jemandem, den wir kannten. Jemandem aus unserer Schule.“

„Er war nur drei Jahre älter als wir.“

Merelie erinnerte sich daran, dass sie David früher häufig im Freibad gesehen hatte. Wie er als Teenager mit seinen Freunden am Beckenrand gerangelt hatte. Sie hatten ihre Kräfte gemessen. Der Stärkere hatte den Schwächeren schließlich ins Wasser stoßen können. David war meistens trocken geblieben. Aber sie konnte sich nicht entsinnen, jemals mehr als ein oder zwei Worte mit ihm gewechselt zu haben.

„Ich wünschte, ich hätte ihn besser gekannt“, sagte sie.

„Ich auch.“

„Alina hat mir viel über ihren Bruder erzählt. Und jetzt ist sie verschwunden.“

„Was?“, fragte Elias ungläubig.

„Ja, sie war die letzte Nacht nicht zu Hause.“

„Vielleicht ist sie bei einer Freundin. Bei Tessa zum Beispiel.“

„Tessa“, sagte Merelie verächtlich. „Die hatte nicht einmal so viel Anstand, Alina ihr Beileid auszusprechen. Sie hat sich völlig von ihr zurückgezogen. Weißt du mit welcher Begründung? ‚Du brauchst jetzt sicher erstmal Ruhe und Abstand von allem.‘“

Sie konnte nicht nachvollziehen, wie man jemanden in solch einer Situation alleine lassen konnte, zumal wenn man sie kurz davor noch als ‚best friend forever‘ bezeichnet hatte. Ihr selbst ging es sehr nahe, andere weinen zu sehen. Unwillkürlich musste sie in diesem Augenblick an Alinas Mutter denken. Wie sie sich mit dem verheulten Taschentuch die Tränen aus dem Gesicht gewischt hatte.

Offensichtlich nahm auch Elias Tessa ihre Begründung nicht ab: „Klingt eher so, als hätte sie selbst den Abstand gesucht.“

„Na ja, wenn das eine Partygirl merkt, dass das andere Partygirl plötzlich so gar keine Lust mehr auf Partys hat …“

Elias verzog das Gesicht.

„Alina und Tessa sind zwei dumme, oberflächliche Ziegen.“

Zunächst ließ Merelie seine Worte so stehen, dann widersprach sie: „Ich habe in den vergangenen zwei Monaten eine andere Alina kennengelernt.“

Schweigend blickten sie zu Davids Grabstein.

Elias unterbrach schließlich die Stille: „Du hast dich schon lange nicht mehr bei mir gemeldet und bei den Fridays-for-Future-Demos habe ich dich in letzter Zeit auch nicht gesehen.“

Seine Stimme klang vorwurfsvoll.

„Ich war beinahe täglich bei Alina. Sie brauchte mich.“

„Und jetzt ist sie ‚verschwunden‘?“

Merelie nickte. Da sie glaubte, ein kratzendes Geräusch zu hören, drehte sie sich suchend um. Aber sie konnte keine Ursache dafür entdecken.

„Es klärt sich bestimmt auf, Merelie. Vielleicht ist sie bei einer Verwandten.“

„Die hätten doch sicher ihre Mutter informiert.“

„Ich habe gehört, dass die ziemlich bechert, seit David … Vielleicht hat sie einfach vergessen, dass Alina ihr Bescheid gegeben hat, wo sie hingeht.“

„Hm.“

Merelie überlegte kurz.

„Nein“, sagte sie dann. „Das kann nicht sein. Sie hätte doch ihr Handy mitgenommen und ihre Zahnbürste, das Schminkzeug und so.“

„Das ist alles noch da?“

„Ja.“

„Dann ist es aber wirklich merkwürdig.“

Merelie beobachtete eine Hummel, die brummend von einer Blüte zur nächsten flog.

„Meinst du“, flüsterte Elias leise, als könnte es zur Realität werden, sobald er es laut aussprach, „sie könnte sich etwas angetan haben?“

„Ich weiß es nicht“, antwortete Merelie in der gleichen Lautstärke. Sie bemerkte, dass Elias mit den Fingern einen Totenkopfanhänger hin und her drehte, den er an einem schwarzen Lederband um den Hals trug. Den hatte sie bisher noch nie an ihm gesehen.

„Es ist wirklich etwas völlig anderes: über den Tod zu sprechen oder mit ihm konfrontiert zu sein.“

„Ja, du hast recht, Elias. Aber genau deswegen hatte sich Alina an mich gewandt, obwohl wir vorher kaum mal ein Wort gewechselt hatten: Weil sie mit mir über den Tod sprechen konnte.“

„Ihre Mutter war ihr sicher keine Hilfe.“

„Und ihr Vater auch nicht.“

„Du kennst ihren Vater?“

„Heute kennengelernt.“

Wieder hörte Merelie dieses seltsame Geräusch.

„Was ist das?“, fragte sie und sah Elias forschend in die Augen. „Kommt das aus deinem Rucksack?“

Elias grinste, nahm den Rucksack ab und stellte ihn auf den Kiesweg. Nachdem er ihn geöffnet hatte, holte er eine Holzkiste in der Größe eines Schuhkartons daraus hervor. Vorsichtig entriegelte er den Deckel und hob ihn an. Dann griff er in die Kiste.

„Guck mal, was ich mir angeschafft habe.“

Auf seiner Handfläche präsentierte er eine Ratte.

„Och, ist die süß“, sagte Merelie und wollte sie streicheln.

„Vorsicht“, warnte Elias und zog das Tier weg. „Helmut beißt!“

„Helmut?“, wiederholte Merelie ungläubig den altmodischen Namen. Elias nickte grinsend.

„Ja, wie Helmut Ratkowski, unser Religionslehrer in der Grundschule.“

Merelie verzog angewidert das Gesicht bei der Erinnerung an den Pädagogen, der wenig gepflegt, dafür umso ungerechter und dogmatischer gewesen war.

„Oh, wie haben wir den gehasst. Und du setzt ihm nun ein Denkmal?“

„Nein“, verkündete Elias stolz. „Ich sorge dafür, dass der Name positiv belegt wird. Außerdem war es ein spontaner Einfall, nachdem wir Ratkowski damals schon immer ‚Ratte‘ genannt hatten.“

Merelie lachte kurz auf, hatte wegen der plötzlichen guten Laune aber sofort ein schlechtes Gewissen und wurde wieder ernst.

„Was ist?“

„Ich musste an Alina denken. Wo sie nun wohl ist?“

Elias setzte sich Helmut auf die Schulter, der die Gelegenheit nutzte, um interessiert an seinem Ohr zu schnuppern.

„Wir müssen das logisch angehen. Wann hast du sie zuletzt gesehen?“

Merelie hatte die Situation noch genau vor Augen. Sie waren in Alinas Zimmer gesessen, Merelie auf dem Bürostuhl und Alina auf der Bettkante.

„Vorgestern Abend. Es war schon dunkel, als ich nach Hause geradelt bin.“

„In welchem Zustand war sie, als du sie verlassen hast?“

Auf eine gewisse Art und Weise hatte Alina eher entspannt ausgesehen, vielleicht sogar ein wenig zuversichtlicher als sonst. Merelie hatte das Gefühl, das Gespräch mit ihr hatte Alina gutgetan.

„Sie wirkte recht stabil auf mich. Wie schon die Tage zuvor. Sie sagte, sie würde gleich ins Bett gehen, sobald ich weg sei.“

„Und gestern warst du nicht bei ihr? Ich dachte, du seist fast täglich dort?“

„Ja eben, fast. Gestern musste ich tagsüber meiner Oma helfen und abends war ich im ‚Weißen Ross‘. Mein Großonkel Franz hatte seinen Sechzigsten und die ganze Familie war zum Abendessen eingeladen. Es war zu spät, um danach noch zu Alina zu fahren.“

Merelie erzählte ihm auch von der WhatsApp-Nachricht, die sie von Alina erhalten hatte.

„Und ihre Mutter hat sie danach nicht mehr gesehen?“

„Die weiß vermutlich nicht einmal, welchen Wochentag wir heute haben.“

„Oh je. So schlimm?“

Einen Moment überlegte Merelie, ließ die Begegnungen mit Alinas Mutter an sich vorbeiziehen. Dann seufzte sie.

„Ich fürchte: ja. Alina würde es besser gehen, wenn ihre Mutter stärker wäre. Eigentlich hätte sie gerade genug mit sich selbst zu tun. So muss sie oft auch noch ihre Mutter mit auffangen.“

„Sie hat ihren Sohn verloren.“

„Ja, ich weiß.“

Aber sie hat auch noch eine Tochter, dachte Merelie.

Helmut begann, an Elias‘ Ohr zu knabbern, und Elias steckte ihn zurück in die Holzkiste.

„Kein sehr schöner Platz für ein Tier. Sind da überhaupt Luftlöcher drin?“

„Klar doch.“

Elias zeigte ihr die kleinen Löcher an allen Seiten der Kiste. „Ist ja nur zum Transport. Daheim kann Helmut in meinem ganzen Zimmer herumtoben.“

„Und was sagt deine Mutter dazu?“

„Sie traut sich nicht mehr hinein, seit ich Helmut habe.“ Er grinste. „Jetzt habe ich endlich meine Privatsphäre!“

„Warum hast du ihn überhaupt dabei? Trägst du ihn denn ständig mit dir herum?“

„Nein, nur heute. Um ihn dir zu zeigen“, verkündete er stolz.

Merelie bezweifelte, dass andere Jungen bei anderen Mädchen auf solch eine Idee gekommen wären. Vermutlich wären die meisten schimpfend und schreiend davongelaufen.

„Du findest ihn ja auch süß, hast du gesagt.“

Elias wollte ihr imponieren. So war es immer schon gewesen. Einerseits nahm sie es als Kompliment, andererseits hatte sie noch nie gewusst, wie sie damit umgehen wollte. Sie versuchte abzulenken: „Was Minni wohl von ihm halten wird?“

Elias bedachte sie mit einem entrüsteten Blick.

„Das ist nicht lustig!“

„‘Tschuldige. War nur Spaß. Sie darf einfach nicht mehr in mein Zimmer, wenn du zu Besuch kommst.“

„Ich war schon lange nicht mehr bei dir.“

Und sofort hatte Merelie ein schlechtes Gewissen.

„Alina hat mich echt gebraucht“, brachte sie zu ihrer Verteidigung vor.

„Habt ihr euch immer nur bei ihr zu Hause getroffen?“

„Nein, ich war auch ein paar Mal mit ihr spazieren – und auch bei unserer Hütte.“

Elias bekam große Augen.

„Bei unserer Indianerhütte im Wald?“

„Ja.“

„Echt? Die steht noch?“, fragte er ungläubig.

„Klar doch“, bestätigte Merelie.

Plötzlich wirkte Elias ganz aufgeregt.

„Vielleicht ist sie dort.“

Warum war sie selbst noch nicht auf diesen Gedanken gekommen? So schnell wie möglich wollte sie ihn in die Tat umsetzen.

„Wir radeln hin.“

Verwundert stellte Merelie fest, dass Elias‘ Augen zu leuchten begannen.

„So wie früher als Kinder.“

„Ja, so wie früher.“

Gemeinsam verließen sie den Friedhof. Elias‘ Fahrrad stand direkt neben ihrem.

„Weißt du noch, wie wir als Kinder zusammen zur Schule gefahren sind, Merelie?“

„Natürlich.“

„Du hast unseren Rädern Namen gegeben. Meins hast du Hatatitla genannt.“

Sie lächelte bei der Erinnerung, während sie das Schloss öffnete und anschließend aufstieg.

„Ja, wie das von Old Shatterhand. Und meins hieß Iltschi. Wie das von Winnetou.“

„Du hattest die Karl-May-Bücher bei deinem Opa im Bücherregal entdeckt. Mir waren sie ja immer zu dick. Hab mir lieber die Filme angesehen.“

„Ich weiß.“

Sie übernahm die Führung und fuhr los. Nach kurzer Zeit holte Elias auf und radelte neben ihr.

„Na, hast du Iltschi die Sporen gegeben?“, neckte er sie.

„Nein“, widersprach sie schelmisch, „ich habe ihm seinen Kosenamen ins Ohr geflüstert.“

Auf dem Weg stadtauswärts durchquerten sie das an den Waldfriedhof angrenzende Wohngebiet und passierten das örtliche Tierheim und einen Hundedressurplatz. Nun mussten sie nur noch durch eine Eisenbahnunterführung und vor ihnen lagen Ackerflächen und daran anschließend der städtische Wald. Die geteerte Straße wurde zu einem steinigen Weg und schließlich – als sie zwei Mal abgebogen waren - zu einem Pfad, der kaum noch als solcher erkennbar war. Die beiden stiegen ab und lehnten ihre Räder an eine Fichte.

„War es wirklich hier, Merelie?“

Elias blickte sich hilflos um, doch Merelie hatte keine Zweifel.

„Ja, das ist exakt der Baum, an dem wir früher schon unsere Räder abgestellt haben.“

„Ich hätte mich nicht mehr an die Stelle erinnert. Für mich sieht ein Baum aus wie der andere.“

„Kann ich nachvollziehen, mir ging es zunächst auch nicht anders. Aber ich war ja erst mit Alina hier und nach und nach kam die Erinnerung zurück. Und schließlich haben wir auch die Hütte gefunden.“

„Ich kann mir Alina überhaupt nicht im Wald vorstellen. Zwischen Moos und Farn. In einem ihrer bunten Kleidchen. Grell geschminkt.“

„Sie hat sich in den letzten Wochen kaum noch geschminkt, nur noch ganz dezent. Und wir dürften genauso deplatziert wirken in unseren schwarzen Klamotten.“

„Aber schwarz passt doch zu allem“, behauptete Elias und grinste.

Hinter seinem Rücken machte sich wieder seine Ratte durch lautes Kratzen bemerkbar.

„Jetzt nicht, Helmut“, wies Elias sie zurecht und als hätte sie ihn gehört, unterließ sie ihre Befreiungsversuche.

„Hier entlang“, ergriff Merelie erneut die Initiative und marschierte los, geradewegs in den Wald.

Am Knacken des Unterholzes erkannte sie, dass Elias ihr dicht folgte.

„Ich fühle mich echt in der Zeit zurückversetzt. Wann waren wir das letzte Mal hier, Merelie?“

„Das müsste in der vierten oder fünften Klasse gewesen sein.“

„Also um die sieben Jahre.“

Merelie hörte ein Klatschen.

„Sag mal, gab es früher hier auch schon so viele Mücken?“

„Ja, das liegt an dem verborgenen Teich.“

„Oh, stimmt. Den hatte ich ganz vergessen.“

„Wir haben dort Indianer gespielt und zu angeln versucht. Aber nix gefangen.“

„Wie denn auch? Ohne Köder?“

„Mir haben aber immer die Würmer leidgetan“, verteidigte sich Merelie. Sie bog einen Ast zur Seite, der ihr den Weg versperrte. Dann hielt sie ihn fest, bis Elias heran war, damit er ihm nicht entgegenschlug. Erst als Elias danach griff, ging sie weiter.

„Und die Fische hätten dir auch leidgetan.“

„Deswegen war es besser, dass wir nix gefangen haben.“

„Diese blöden Mücken“, schimpfte Elias. „Ich glaube, jetzt habe ich schon zwei Stiche.“

„Ich habe noch keinen. Die mögen kein Indianerblut, nur das von Bleichgesichtern.“

Beinahe hätte sie gelacht. Doch dann dachte sie wieder an den Grund, weswegen sie an diesem Ort waren. Auch Alina hatte wegen der Mücken gejammert. Sie selbst schienen die Biester nicht zu mögen. Es passierte selten, dass sie gestochen wurde.

Mehrere Minuten lang stapften sie durch den Wald, begleitet vom Knacken alter Äste und Zweige, die auf dem Boden lagen, und einem Specht, der in der Ferne seine Arbeit verrichtete. Von Zeit zu Zeit hörte Merelie hinter sich ein Klatschen, wenn Elias eine der Mücken erlegte.

Schließlich kam die Hütte in Sichtweite. Wie zuvor an Davids Grab, hoffte Merelie erneut, die Sorgen um Alina könnten sich einfach in Luft auflösen. Sie umrundeten das alte Bauwerk, doch von Alina war nichts zu entdecken.

Wann die Holzhütte errichtet worden war, wusste Merelie nicht. Schon als die beiden sie in Kindertagen besucht hatten, hatte sie sich leicht zur Seite geneigt. Heute stützte die Birke, die damals noch kleiner gewesen war, die linke Wand ab. Ohne den Baum, vermutete Merelie, wäre die Hütte bereits in sich zusammengefallen.

„Da habt ihr euch noch reingetraut?“, staunte Elias.

„Nein, wir sind nicht rein. Möchte ich jetzt auch nicht, wenn‘s nicht sein muss. Guck doch mal durch das Fenster.“

Elias näherte sich vorsichtig und spähte durch die Aussparung, in der früher mal Glasscheiben gewesen waren.

„Oh, die Decke ist schon durchgekracht.“

„Ja, muss irgendwann in den letzten Jahren passiert sein. Schade. War früher so gemütlich für uns beide.“

„Du bist mit Alina trotzdem hierhergekommen?“

Merelie deutete auf einen am Boden liegenden Baum.

„Wir haben uns meistens auf diesen Stamm gesetzt – oder sind weiter zum Teich.“

„Vielleicht ist sie dort“, überlegte Elias und sah ihr in die Augen.

Ja, Elias und sie waren tatsächlich Seelenverwandte, denn es schien ihr, als könnte er die Gedanken lesen, die sie plagten.

„Sitzt am Ufer und wirft Steine ins Wasser, so wie wir früher“, sagte er. „Und denkt über Gott und die Welt nach.“

Es gelang ihm mit seinen zuversichtlichen Worten nicht, das Bild zu vertreiben, das sich ihr gerade aufdrängte: Alina im Teich treibend …

Merelie wurde klar, dass kein Weg daran vorbeiführte, sich Gewissheit zu verschaffen.

„Wir sehen nach“, beschloss Elias und marschierte tiefer in den Wald hinein. Er bewegte sich schneller als gerade eben und sie hatte Mühe, mit ihm Schritt zu halten. Unter ihren Füßen knackte das Unterholz. Mit der flachen Hand schlug Elias sich auf die Stirn und verkündete stolz: „Nummer sieben“. Danach wischte er sich die Handfläche an seiner Hose ab.

„Das ist doch die korrekte Richtung, ja?“

Merelie bestätigte.

Seit ihrer Teenagerzeit beschäftigte sie das Thema ‚Sterben‘. Sie liebte das Leben und hatte sich doch oft gefragt, was sie nach dem Tod erwarten würde und welche Todesart sie wählen würde, wenn sie diese selbst bestimmen könnte. Sich in einem Teich im Wald zu ertränken, war keine der Alternativen gewesen. Hoffentlich tickte Alina genauso.

„Wir sind da“, stellte Elias fest und klatschte in die Hände, als würde er applaudieren. Dabei blieb er so abrupt stehen, dass Merelie beinahe in ihn hineingelaufen wäre.

„Acht“, zählte er, dann begutachtete er das Gewässer.

„Er kommt mir viel kleiner vor als in meiner Erinnerung. Die Wasserfläche ist ja gerade mal so groß wie ein Fußballfeld.“

Für Merelie sah der Teich auf den ersten Blick ganz normal aus, nichts Auffälliges. Sie atmete auf.

„Der ist auch kleiner als früher“, meinte sie. „Guck mal das ganze Schilf am Rand. Das gab es damals nicht. Hier, wo wir stehen, ist die einzige Stelle, an der man noch ans Wasser kann. Ich vermute, er verlandet. In zehn, zwanzig Jahren ist er wahrscheinlich ganz verschwunden.“

Erneut hörte Merelie ein Klatschgeräusch.

„Neun“, kommentierte Elias. „Dann wäre auch das Mückenproblem gelöst. Hast du immer noch keinen Stich?“

„Nein.“

„Liegt wohl an diesem vermaledeiten Klimawandel, dass er verlandet.“

„Da ist unser Teich hier vermutlich das kleinste Problem. Wir tun alle immer noch viel zu wenig.“

Sie wandte sich nach rechts.

„Wir müssen das Ufer untersuchen“, entschied sie.

„Soll ich in die andere Richtung gehen?“

Doch Merelie hatte Angst, alleine zu entdecken, wovor sie sich am meisten fürchtete.

„Nein, bleib lieber bei mir.“

„Das Schilf steht ganz schön dicht.“

Elias bückte sich und hob einen Stock auf. Er benutzte ihn, um die mannshohen Halme ein wenig zur Seite zu schieben, damit sie einen besseren Blick hatten.

„Hier ist nichts“, sagte er.

Sie gingen ein Stück weiter und Elias drückte mit dem Stock erneut gegen die Schilfrohre.

So umrundeten sie nach und nach den Teich, kämpften sich durch das Uferdickicht und untersuchten es. Doch abgesehen von einem Frosch, der vor ihnen erschrak und laut quakend ins Wasser hüpfte, entdeckten sie nichts.

„Das ist erstmal eine gute Nachricht“, schloss Elias den Rundgang ab und setzte sich auf eine Stelle, die dick mit saftigem Moos bewachsen war.

„Ja“, bestätigte Merelie und nahm neben ihm Platz. „Genau hier habe ich mit ihr auch mehrfach gesessen. Manchmal haben wir uns unterhalten, manchmal haben wir einfach geschwiegen.“

„Wir waren früher auch oft hier und haben miteinander geredet.“

„Ja, zum Beispiel über das, was uns in der Schule beschäftigte.“

„Erinnerst du dich, dass uns Kai in der Grundschule immer nachgebrüllt hat, wir wären ineinander verknallt?“

„Ja, und wir haben gar nicht kapiert, was er daran so komisch fand.“

Elias lachte.

„Wir waren viel zu jung, um verliebt zu sein“, sagte er.

„Meinst du?“

„Du warst doch nicht etwa …?“

„Nein“, widersprach sie schnell und spürte, wie ihr die Röte in die Wangen schoss.

Ein lautes Klatschen half ihr aus der peinlichen Situation.

„Zehn!“

„Was wohl aus Kai geworden ist?“, versuchte sie rasch, das Thema zu wechseln.

Sie griff nach einem Stock, der auf dem Boden lag, und furchte damit einen Kreis in die Walderde.

Elias beantwortete ihre Frage: „Der ist doch anschließend auf die Realschule gegangen.“

Vermutlich kam es ihm selbst gelegen, dass er über etwas anderes sprechen konnte.

„Ja, und dann?“

„Ich habe gehört, dass er seine Ausbildung geschmissen hat. War irgendetwas Handwerkliches.“

Elias hielt kurz inne, ehe er fortfuhr: „Wir haben damals auch oft gerätselt, wer deine Eltern sind und warum sie dich weggegeben haben.“

Sie schwieg und Elias schien dies als Zustimmung zu werten, um weiter nachzubohren.

---ENDE DER LESEPROBE---