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Jemand ist hinter dir her. Er will dich leiden sehen. Observierungen untreuer Ehemänner und Kaufhausüberwachungen sind die Hauptgeschäftsfelder der Privatdetektivin Sabrina Lampe. Auch der Auftrag einer schrulligen, alten Nachbarin sieht zunächst sehr nach Routine aus. Doch im Zuge ihrer Recherchen wird Sabrina Teil eines grausamen Spiels, dessen Ursachen weit in der Vergangenheit liegen. Ihr teuflischer Kontrahent zwingt Sabrina an ihre Grenzen - und darüber hinaus! Ein packender Thriller für Freunde liebenswert-skurriler Figuren und abgründiger Handlungen.
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Über den Inhalt:
Jemand ist hinter dir her.
Er will dich leiden sehen.
Lediglich ein Zentimeter Körpergröße fehlte Sabrina Lampe, um Polizistin zu werden. Mehr schlecht als recht hält sie sich und ihre Tochter Lara heute als Privatdetektivin über Wasser; Hauptgeschäftsfelder: Kaufhausüberwachungen und Observierungen untreuer Ehemänner.
Auch der Auftrag einer schrulligen, alten Nachbarin sieht zunächst sehr nach Routine aus.
Doch im Zuge ihrer Recherchen wird Sabrina Teil eines grausamen Spiels, dessen Ursachen weit in der Vergangenheit liegen.
Ihr teuflischer Kontrahent zwingt Sabrina an ihre Grenzen – und darüber hinaus!
Ein packender Thriller für Freunde abgründiger Handlungen und liebenswert-skurriler Figuren.
Über den Autor:Siegfried Langer wurde 1966 in Memmingen geboren und ist 2014 – nach 18 Jahren in Berlin – wieder in seine Heimatstadt zurückgekehrt.
Reihe um Sabrina Lampe und Niklas Steg:
Leide! (Self Publishing / MVG, 2014)
Vergelte! (Edition M, 2015)
Berlin Ripper (Self Publishing, 2016)
Jeder Roman ist in sich abgeschlossen und kann unabhängig von den anderen gelesen werden.
Weitere Thriller:
Zwanzig Sekunden Ewigkeit (Self Publishing, 2016)
Sterbenswort (Ullstein Verlag, 2012; Neuauflage Edition M, 2016)
Nachschlag – Ich bin dein Herr und Mörder (Self Publishing / U-line Verlag, 2013)
Vater, Mutter, Tod (Ullstein Verlag, 2011)
Alles bleibt anders (Atlantis Verlag, 2008)
Nähere Infos zum Autor und seinen Romanen finden Sie auf www.siegfriedlanger.de
Leide!
Siegfried Langer
Thriller
© 2014/2024 by Siegfried Langer, Spinnereiweg 18, 87700 [email protected]
Umschlaggestaltung: Mike Beuke
www.coolcad.de
Umschlagmotiv:
Unbekannter Fotograf
Layout:
Corinna Rindlisbacher
www.ebokks.de
Der Stubenfliege waren drei Beine und ein Flügel verblieben. Immer wieder stolperte sie im Kreis herum.
Sven gluckste vor Freude. Mit großer Faszination beobachtete er ihr Martyrium. Ihr Flügel vibrierte und das verzweifelte Brummen stimmte ihn glücklich.
Die bunten Legosteine, in deren Mitte er saß, interessierten ihn nicht mehr. Ebenso wenig sein Lieblingsteddy; Zotty thronte auf einem Hocker, so drapiert, dass er Sven beim Spielen zusehen konnte. Zotty fehlte ein Ohr, an mehreren Stellen hatte ihn Svens Mutter bereits geflickt.
Für Sven existierte nur noch die Fliege.
Vorsichtig stupste er sie mit der Fingerspitze an. Die Fliege veränderte ihre Laufrichtung, vollendete dann aber wieder ihre Kreise.
Sven wusste, dass sie verloren war. Dass es in seiner Macht lag, ob sie lebte oder starb und ob der Tod schnell kam oder langsam.
Er selbst hatte keine Eile. Er genoss ihre Qual.
Mit dem Zeigefinger schob er sie ein, zwei Millimeter nach links, dann wieder nach rechts. Jetzt drückte er leicht auf ihren Körper, damit er das Vibrieren spüren konnte. Seine Zungenspitze glitt in seinen Mundwinkel und verharrte dort. Er presste stärker. Das Brummen hörte auf, die Fliege verhielt sich ruhig, abwartend.
Er verringerte den Druck, die Fliege befreite sich. Bald wackelte sie wieder ihre kreisförmigen Bahnen.
Eine Herausforderung für Sven, mit zwei Fingern während ihres Laufs ihren Flügel zu greifen. Schließlich gelang es ihm. Er hob sie an und hielt sie direkt vor sein Gesicht. Sie versuchte weiterhin zu fliegen. Wie dumm von ihr! Es hatte lediglich zur Folge, dass sich nun ihr kleiner Körper hin und her bewegte.
Sven hielt sich die Fliege ans Ohr. Es klang panisch, verzweifelt. Nie zuvor hatte er ein so wunderbares Geräusch gehört.
Danach setzte er sie zurück auf den Boden, folgte mit seinen Blicken erneut ihren Kreisbewegungen.
Wieder und wieder.
So oft, bis ihm langweilig wurde.
Er beschloss, sie weiter einzuschränken. Er wollte herausfinden, wie sie darauf reagierte.
Zwischen Zeigefinger und Daumen der einen Hand hielt er nun ihren Körper, zwischen Zeigefinger und Daumen der anderen den verbliebenen Flügel.
Keine große Kraftanstrengung. Dennoch ließ er sich Zeit.
Ganz langsam zog er. Zuerst dehnte sich der kleine Insektenkörper, dann riss der Flügel ab.
Sven ließ die Fliege zu Boden fallen.
In Schlangenlinien krabbelte sie in Richtung des kleinen, bunten Hauses, das Sven aus Legosteinen gebaut hatte.
Bislang in seiner eigenen Welt gefangen, hörte Sven nun ein weiteres Geräusch.
Etwas näherte sich.
Nur leicht drehte er seinen Kopf, um die Fliege nicht aus den Augen zu verlieren.
Mimi. Die Katze.
In geduckter Haltung schlich sie heran. Ihre Augen fixierten die Fliege, deren Brummen sie angelockt hatte. Ohne Sven auch nur eines Blickes zu würdigen, näherte sie sich.
Sven erkannte eine Schwester im Geiste – doch auch eine Konkurrentin.
Mimi machte sich sprungbereit, wackelte bereits mit dem Hintern, zielte.
Doch die Fliege gehörte ihm, sie war sein Opfer!
Ehe die Katze losspringen und ihr Werk verrichten konnte, schnellte seine Hand nach vorn; mit einer raschen Bewegung zerquetschte er die Fliege unter seinem Daumen.
Triumphierend sah er zur Katze. Er glaubte, ihre Enttäuschung spüren zu können. Auch dies befriedigte ihn.
Verlegen begann die Katze, sich zu putzen.
Da fiel Svens Blick auf ihre Ohren, ihren Schwanz, ihre Beine …
Und in seiner Fantasie überschlugen sich die Ereignisse.
Er streckte seine Hand nach der Katze aus.
Anfang Juni
„Maaargot!“, rief Willi Meisner.
Er sah den Teltowkanal entlang, zunächst flussaufwärts, danach flussabwärts. Keine Spur von Margot. Weder auf dem schlecht befestigten Spazierweg noch auf dem Abhang, der am Kanal entlang nach oben zu dem verlassenen Industriegebäude führte.
Ein weiteres Mal, etwas lauter nun: „Maaaargot.“
Dann blickte der Rentner nach unten.
Froufrou sah ihn verständnislos an. Jetzt schien die Dackeldame es für ein Spiel zu halten; sie wedelte erwartungsfroh mit dem Schwanz.
„Na, wo mag die Margot wohl sein? Eben war sie doch noch da.“
Als hätte sie ihn verstanden, drehte sich Froufrou um sich selbst und spähte suchend umher.
„Kann ja nicht vom Erdboden verschluckt worden sein.“
Froufrou wandte sich dem Kanal zu.
„Nein, dann würden wir sie doch sehen. Oder meinst du, ich soll ein Stöckchen für dich hineinwerfen? – Erst müssen wir Margot finden.“
Enttäuscht ließ Froufrou ihren Schwanz hängen.
„Sie kann ja nur nach oben sein. Dass ihr Frauen immer so neugierig sein müsst.“
Eigentlich war der Abhang viel zu steil für ihn. Die Jahre ohne Rheuma lagen inzwischen weit zurück, doch es blieb ihm nichts anderes übrig, als selbst in dem verfallenen Gemäuer nach dem Rechten zu sehen.
Ein letzter Versuch, in klarem Befehlston: „Margot!“
Froufrou zuckte zusammen, dann rannte sie los.
„Froufrou. Bleib hier.“
Die Dackeldame ignorierte ihr Herrchen. Mit ihren kurzen, krummen Beinen wackelte sie in erstaunlichem Tempo hinauf, genau auf das verlassene Gebäude zu.
Meisner konnte sich erinnern, dass hier früher Verpackungsmaterialien hergestellt wurden. Dass das Werk die Produktion eingestellt hatte, musste mehr als zwanzig Jahre her sein. Seitdem gammelte alles vor sich hin. Wo früher Fenster gewesen waren, klafften nun Löcher, die ins dunkle Innere führten. Das Dach fehlte größtenteils. Um die Ruine herum hatten sich Buschwerk und Unkraut längst das Gelände zurückerobert.
Nicht ein einziger Landstreicher war Meisner hier in den letzten Jahren aufgefallen. Selbst denen schien es wohl zu heruntergekommen zu sein. Bei dem vielen Leerstand in Berlin hatten die Obdachlosen freie Auswahl.
Ohne sich nach ihrem Herrchen umzusehen, verschwand Froufrou schnaubend hinter einem Meer von Brennnesseln.
Inzwischen hielt er es für sicher, dass auch Margot hier irgendwo steckte.
Zwei Mal täglich passierte er diese Stelle mit Margot und Froufrou.
Das Gebäude hatten beide bislang stets links liegen gelassen: uninteressant.
Anders heute. Zuerst hatte Margot ihre Nase in den Wind gehalten, danach Froufrou.
Nur ein, zwei Sekunden hatte Meisner auf den Kanal geschaut und sich über die leere PET-Flasche geärgert, die das Wasser entlang trieb; als er den Blick wieder senkte, war Margot verschwunden.
Er quälte sich weiter durchs Dickicht. Seine Knie schmerzten, sein Rücken noch mehr. Für einen Augenblick dachte er daran, wie mühelos er als junger Bursche solch eine Anhöhe hinaufgerannt wäre. Sein rasselnder Atem holte ihn in die grausame Gegenwart zurück.
Meisner hörte ein Knurren.
Bösartig. Aggressiv.
Was war das denn?
Margot und Froufrou waren Schwestern und die allerbesten Freundinnen.
Sie teilten sich sogar die Schlafplätze.
Inzwischen stand er an einer Stelle, die in besseren Tagen ein Nebeneingang gewesen sein musste. Verrostete Scharniere baumelten im Mauerwerk, von der Tür hatten Zeit oder Diebe nichts übrig gelassen.
Ein lautes Bellen.
Dann ein Zuschnappen.
Ein Winseln.
Galopp-Geräusche.
Eine der Dackeldamen schoss an ihm vorbei ins Freie. Erst nach ein paar Metern stoppte sie, versteckte sich hinter einem Baumstamm.
„Froufrou?“
Ganz sicher war er sich nicht, um welche der beiden Hündinnen es sich handelte.
Seine Neugier erwies sich als stärker als sein Bedürfnis, dem Dackel Trost zu spenden.
Vorsichtig trat er ins Gebäude.
Der Wind pfiff durchs Gemäuer und trug den Geruch von Schimmel mit sich.
Meisner hustete.
Ein weiterer Durchlass im Mauerwerk führte tiefer ins Gebäudeinnere. In einem fensterlosen Raum kniff der Rentner die Augen zusammen, um zu erkennen, wo er sich befand.
Verrostete Regale, voll von Staub und Dreck.
Ob sie früher mit Materialien oder Ordnern bestückt gewesen waren, ließ sich nicht mehr feststellen.
„Margot?“, flüsterte er.
Keine Reaktion.
Ohne das hintere Ende des Raumes zu sehen, ging er weiter hinein.
Plötzlich hörte er das Knurren erneut.
Er blickte um das Regal zu seiner Rechten herum und schließlich zu Boden.
Zwei Augen funkelten ihn böse an.
Jetzt identifizierte er auch den Rest der Hündin.
Ihre Nüstern blähten sich auf, Speichel triefte ihr die Lefzen hinab, ein dunkles, bedrohliches Grollen entsprang ihrem tiefsten Inneren.
„Margot?“
Er erkannte sie kaum wieder.
Was war geschehen?
Und was trug sie in ihrem Maul?
„Ganz ruhig, Margot, alles wird gut.“
Er näherte sich seiner Hündin, was diese deutlich lauter werden ließ.
Jetzt sah er es.
Nein, er musste sich täuschen. Die Dunkelheit spielte ihm einen Streich.
Er konzentrierte sich, immer mehr passten sich seine Augen den schlechten Lichtverhältnissen an: Margot trug einen vollständigen menschlichen Fuß im Maul, über und über voller Blut.
Aber dieser Anblick sollte nicht der schlimmste bleiben. Als er an der Hündin entlang sah, schälte sich ein Bild aus der Finsternis, das Willi Meisner sein Lebtag nicht mehr vergessen sollte.
Anfang Juni
„Ich habe dir dein Pausenbrot gemacht, Nicky.“
Niklas hörte die Stimme seiner Mutter aus Richtung der Küche. Er wandte den Kopf und rief: „Ja, Mutter, ich komme gleich, ich verabschiede mich nur noch von Vater.“
Dann drehte er sich wieder um und beugte sich zu dem Mann, der vor ihm in einem bequemen Sessel saß. Den Blick richtete der Mann starr geradeaus, durch ein mannshohes Fenster in den Garten. Dort zankte sich eine wilde Schar Spatzen um eine gut gefüllte Schale Futter in einem Vogelhäuschen. Es gab genug für alle, dennoch veranstalteten die Vögel ein Heidenspektakel.
Niklas’ Vater konnte stundenlang in den Garten sehen und die Natur beobachten. Früher war der Garten sein Ein und Alles gewesen. Nach seiner Pensionierung hatte er sämtliche frei gewordene Zeit und Energie darin investiert. Jetzt nicht mehr.
Seit dem Schlaganfall war alles anders.
Es musste ihn schmerzen, dass der Garten immer weniger seinen Vorstellungen entsprach, dass er untätig zusehen musste, wie sein kleines Paradies – seiner Ansicht nach – zunehmend verwilderte. Denn heute wie früher konnte es ihm niemand recht machen.
„Du kommst zu spät zur Schule.“
„Ja, Mutter.“
Sogar während Niklas’ Mutter auf dem Sofa Platz nahm und stundenlang fernsah, saß sein Vater lieber hier vor der Fensterscheibe und betrachtete das spärliche Geschehen auf Terrasse und Garten. Zuweilen nickte er dabei ein.
Erst vor Kurzem hatte Niklas beim Betreten des Wohnzimmers seine Eltern schlafend vorgefunden. Er hatte sie beide in ihrem Zustand gelassen, lediglich zugedeckt.
Neben dem Sessel stand Karl Stegs Gehhilfe. Ohne diese konnte er sich keinen Zentimeter in der Wohnung fortbewegen. Doch Niklas war schon froh, dass es ihm inzwischen wenigstens mit der Gehhilfe wieder gelang.
„Nicky!“
Elisabeth Stegs Stimme wurde lauter und fordernder.
„Ich muss los, Papa“, flüsterte Niklas.
Sein Vater nickte.
„Hast du dein Handy?“
Langsam und leicht zitternd griff Karl Steg an die Brusttasche seines Hemds und umklammerte das darin befindliche Mobiltelefon.
Niklas beobachtete das angestrengte Muskelspiel im Gesicht seines Vaters; vier, fünf Sekunden vergingen.
„Ja“, sagte Karl Steg schließlich.
Es erforderte eine große Kraftanstrengung, selbst die einfachsten Worte auszusprechen. Dennoch erschien Niklas das Mobiltelefon als einzige Möglichkeit, seinen Vater nicht völlig in der Abhängigkeit seiner Mutter zu belassen.
Vorgestern hatte sie seine Gehhilfe verräumt und Niklas hatte eine geschlagene Stunde benötigt, um sie schließlich im Heizungskeller wiederzufinden.
Ja, seit dem Schlaganfall war alles anders.
Niklas drückte die Hand seines Vaters, die auf der Lehne des Sessels ruhte, danach richtete er sich auf und verließ das Wohnzimmer.
Die Spatzen begleiteten seinen Abgang mit so lautem Gezetere und Gezwitscher, dass selbst die Doppelglasscheibe es nicht ausreichend dämpfen konnte.
Im Rahmen der Küchentür wartete bereits seine Mutter, ihr Blick vorwurfsvoll, in den Händen hielt sie eine Plastikschatulle.
„Du trödelst schon wieder, Nicky. Ich habe dir ein Leberwurstbrot gemacht. Mit Gurke.“
Ein Leberwurstbrot!
Niklas hatte längst aufgegeben, sich zu ärgern und zu widersprechen.
Bereits im Kindesalter hatte er keine Leberwurstbrote gemocht.
Unzählige Male hatte er damals seine Mutter darauf hingewiesen. Erfolglos.
Im Alter von 40 Jahren mochte er sie immer noch nicht.
Wenigstens die Plastikbox unterschied sich von der von früher. Sie war neutral orangefarben, die aus Kindertagen hellblau, darauf Micky Maus in einem roten Sportflitzer. Anscheinend war sie im Laufe der Jahre verloren gegangen. Zu Niklas’ Glück. Im Büro hätte es sicherlich für Heiterkeit gesorgt, wenn sie jemandem aufgefallen wäre.
Schweigend griff er danach und seine Mutter lächelte ihn glücklich an.
Sie nahm seinen Kopf in ihre Hände, drückte ihn an sich und gab ihm einen Kuss auf die Stirn. Niklas ging etwas in die Knie und ließ es geschehen, dann packte er die Plastikbox in seine Aktenmappe.
Elisabeth Steg sah sich ihren Sohn von oben bis unten an: „Groß bist du geworden.“
Niklas wusste, dass im Laufe des Tages zwei Mal ein Mitarbeiter der Diakonie nach seinen Eltern sehen würde. Das erleichterte es ihm, die beiden alleine zu lassen.
Mit einem Blick in den Spiegel überprüfte er den Sitz seiner Krawatte. Seine Linke wischte eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
Alles wirkte ordentlich.
Im Hintergrund sah er seine Mutter, die ihn versonnen und stolz betrachtete.
„Ich geh jetzt, Mutter. Bis heute Abend.“
Seine Mutter antwortete nicht.
Er gab sich einen Ruck und verließ das Reihenhaus in der Fliegersiedlung im nördlichen Tempelhof.
Heute war Kriminalhauptkommissar Niklas Stegs erster Tag beim Landeskriminalamt Berlin.
Dienstantritt.
Anfang Juni
Wie in Trance hatte Willi Meisner einem Jogger von seinem Fund berichtet. Der rief mit seinem Mobiltelefon die Polizei.
Was ab diesem Zeitpunkt in seiner Nähe geschah, erlebte Meisner nur noch unbewusst.
Astronauten in weißen Raumanzügen stapften um ihn herum, während er – einer Statue gleich – auf einem Stein saß. Zwischen den Astronauten Polizisten. Sie sprachen ihn an und er hörte sie, doch was sie sagten, verstand er nicht.
Jemand reichte ihm einen Becher mit Kaffee. Er wusste nicht, was er damit anfangen sollte, denn seine rechte Hand wollte partout nicht danach greifen; sie hing einfach am Körper hinab und wurde immer nasser.
Er fragte sich, warum dies passierte. Und da erkannte er, dass es eine Zunge war, die unermüdlich seine Finger ableckte.
Froufrou. Gute Froufrou.
Aber wo war Margot?
Er blickte sich um: Ein kräftiger Mann in einem dunkelgrünen Sweatshirt trug den leblosen Körper der Hündin in einem Käfig aus dem Gebäude. Quer übers Werksgelände ging er zu einem weißen Kombi, auf dem der Schriftzug ‚Tierheim Berlin‘ und das Stadtwappen mit dem Bären prangte.
Astronauten?
Nein, das waren die Leute von der Spurensicherung. Meisner kannte die Vorgehensweise aus den Vorabendkrimis und den Tatort-Folgen.
Eine weitere Person schälte sich aus seiner diffusen Wahrnehmung heraus. Eine weibliche Stimme gehörte zu ihr: „Ja, das ist der Mann, der die Leiche gefunden hat.“
Meisner wollte das Bild zurückhalten, doch es gelang ihm nicht: Wie unter Zwang hatte er hinter die knurrende Margot gespäht und den Toten entdeckt; zu ihm hatte früher einmal der Fuß gehört, den die Hündin so tapfer verteidigte.
Der nackte Körper übersät mit Wunden. Überall Blut. Verstümmelungen.
Aber das Schrecklichste war der Kopf des Toten: Er glich einem V; eine Axt musste ihn gespalten haben, auf halber Strecke war der Widerstand der Schädelknochen zu groß geworden.
Eine männliche Stimme gesellte sich zu der ersten: „Ist er ansprechbar?“
„Bisher hat er nicht reagiert. Ich kann hier kaum etwas für ihn tun. Ich habe bereits einen Krankenwagen gerufen und werde mit ihm in die Klinik fahren.“
Meisner hörte, wie jemand in einem Notizbuch blätterte.
„Herr Meisner?“
Unbewusst tätschelte er mit der Rechten Froufrous Kopf.
„Mein Name ist Niklas Steg. Ich komme vom LKA Berlin.“
Meisner sah auf: „Was ist mit Margot?“
Der Mann vor ihm drehte den Kopf zur Seite und fragte eine Polizistin: „Gibt es eine weitere Zeugin?“
Die Uniformierte verneinte.
„Ist Margot Ihre Frau, Herr Meisner?“
„Sie hat doch nur den Fuß gefunden. Sie hat doch nichts Böses gewollt. So habe ich sie noch nie erlebt.“
„Margot ist Ihr Hund!“
Meisner nickte.
„Margot und Froufrou“, sagte er.
Aus den Augenwinkeln nahm er wahr, dass Froufrou mit dem Schwanz wedelte, als sie ihren Namen hörte. Mit der Schnauze stupste sie Meisners Hand an.
„Ist sie …?“
„Nein, der Tierschutzinspektor hat sie nur betäubt. Die Kollegen wären sonst nicht an die Leiche herangekommen. Jetzt schläft sie.“
Meisner atmete auf.
Zuerst der verunstaltete Tote, dann die leblose Margot.
Welch ein Alptraum.
„Können Sie uns Näheres erzählen, wie Sie die Leiche gefunden haben?“
„Herr Meisner?“
Er schwieg.
„Es ist noch zu früh.“
„Er steht unter Schock.“
„Da kommt der Krankenwagen.“
„Was er jetzt braucht, ist Ruhe.“
In schneller Folge prasselten die Sätze aus diversen Mündern auf ihn ein.
„Wir werden ihn später vernehmen.“
„Armer Kerl.“
„Warten Sie erst mal, bis Sie die Leiche gesehen haben, Herr Steg. Sie werden verstehen, warum es ihn so mitgenommen hat.“
„So schlimm?“
„Schlimmer.“
Meisner spürte, dass ihn kräftige Arme behutsam anhoben. Sie hievten ihn auf eine Trage.
„Froufrou“, sagte er.
„Der Hund kann nicht mit.“
„Froufrou“, wiederholte er.
„Keine Sorge, wir kümmern uns um Ihren Hund, Herr Meisner.“
Die Stimme hörte sich so an, als ob er ihr vertrauen könnte.
„Margot und Froufrou. Was für Namen!“
Das war die Polizistin von vorhin, die da sprach.
Meisner erinnerte sich, er erinnerte sich an die Dackeldamen, die vor Margot und Froufrou waren und längst im Hundehimmel herumtollten.
Und während die Trage in den Krankenwagen gehoben wurde, begann er leise, kaum hörbar, zu singen:
„Da geh ich zu Maxim, dort bin ich sehr intim,
ich duze alle Damen, ruf’ sie beim Kosenamen:
Lolo, Dodo, Joujou, Clocio, Margot, Froufrou.
Sie lassen mich vergessen, das teure Vaterland!“
Dann schlossen sich die Wagentüren und Willi Meisner war dankbar dafür.
Anfang Juni
Dass Niklas Steg bereits an seinem ersten Arbeitstag zu einer grausam entstellten Leiche gerufen wurde, konnte er beim Eintreffen an seiner neuen Dienststelle nicht ahnen.
Die knapp anderthalb Kilometer weite Strecke von seinem Elternhaus zum Landeskriminalamt am Tempelhofer Damm ging er zu Fuß. Den Audi A6 hatte er nach der Trennung seiner Frau überlassen, zusammen mit der kompletten Wohnungseinrichtung und den geplatzten Hoffnungen.
Wenn schon Neustart, dann richtig.
Aber war es tatsächlich ein Neubeginn, wenn man mit 40 zurück in sein früheres Kinderzimmer zog, unter die Fittiche seiner Eltern?
Seine Gedanken drehten sich im Kreis. Seit zwei Monaten. Seit dem Schlaganfall seines Vaters – und seit dem Geständnis seiner Frau.
Was Niklas benötigte, waren Abstand, Ablenkung und Zeit.
Eine Entfernung von 600 Kilometern sollte genügen, um die notwendige Distanz zu Hanna in München zu schaffen.
Und das, was er im Vorfeld über seinen neuen Arbeitsplatz in Berlin erfahren hatte, sprach dafür, dass er kaum Gelegenheit finden würde, über sein gebrochenes Herz nachzudenken.
Blieb der Faktor Zeit; den konnte er nicht beeinflussen.
Es würde dauern, bis die Wunden heilten. Falls sie heilten.
Zurück unter die Fittiche seiner Eltern?
Nein, diese Frage konnte er klar beantworten: Die Rollen hatten gewechselt. Heute waren es seine Eltern, die ihn brauchten, nicht umgekehrt.
Er passierte die gläsernen Eingangstüren des LKAs und fand sich an einem Empfang wieder, den er bereits von seinem Vorstellungsgespräch vor 14 Tagen kannte. Dem diensthabenden Beamten nannte er seinen Namen; mit einem Blick auf seine Armbanduhr stellte er fest, dass er drei Minuten zu früh war.
Niklas’ Gegenüber telefonierte kurz und vergewisserte sich, dass alles in Ordnung war.
„Herr Zimmermann erwartet Sie“, bestätigte er, nachdem er aufgelegt hatte. „Sie finden den Weg?“
„Ja, danke, ich erinnere mich.“
Das Büro des Ersten Kriminalhauptkommissars lag im obersten Stockwerk, im linken Flur, ganz hinten. Nicht zu verfehlen. Mit dem Aufzug fuhr Niklas nach oben.
Als die Lifttüren sich öffneten, empfing ihn der Duft von frischem Kaffee. Er hörte die Stimmen zweier Frauen, die sich irgendwo unterhielten. Ein Drucker summte. Ein Telefon, das zwei Mal klingelte, ehe jemand abhob.
Typische Büroatmosphäre.
Geräusche, die einen Alltag suggerierten, den es weder für Niklas noch für seine Kollegen geben würde, denn es dürfte nicht leicht für ihn werden, in die Fußstapfen eines Toten zu treten.
Abgetretene dunkelblaue Auslegware dämpfte seine Schritte.
Er ballte die Hand und klopfte an die Tür seines Vorgesetzten.
Von drinnen waren Geräusche zu hören und es dauerte einige Sekunden. Niklas wollte gerade erneut auf sich aufmerksam machen, als Zimmermanns raue, tiefe Stimme ertönte.
„Ja, bitte.“
Beim Eintreten gesellte sich sofort Zigarrengeruch zu Niklas’ Eindrücken – und Straßenlärm.
Das Fenster hinter Zimmermann stand weit geöffnet; keine Spur von Zigarren, Feuerzeug oder Aschenbecher.
Zimmermann musste alles schnell beseitigt haben.
Rauchverbot am Arbeitsplatz: Als Dienststellenleiter sollte man mit gutem Beispiel vorangehen, auch wenn man ein Büro für sich alleine hatte.
Niklas erinnerte sich an seine eigenen Rauchversuche im Alter von 13 Jahren. Natürlich hatten es seine Eltern sofort gerochen, dass er heimlich geraucht hatte, trotz der geöffneten Fenster.
Auch Zimmermann musste bewusst sein, dass er es nicht geheim halten konnte. Dennoch schien er es zumindest versuchen zu wollen.
Niklas kümmerte es nicht.
„Kommen Sie, setzen Sie sich“, sagte Zimmermann viel lauter als notwendig.
Zimmermann deutete auf den Besucherstuhl auf der gegenüberliegenden Seite seines Schreibtischs.
Sein massiger Körper wurde von einem Hustenanfall geschüttelt.
Bereits bei seinem ersten Besuch war Niklas der etwa sechzig Zentimeter große Stoffgorilla aufgefallen, der auf dem obersten Brett eines Bücherregals thronte. Daneben eine Efeupflanze, die sich an den Kriminalistikfachbüchern und Gesetzestexten entlang nach unten rankte.
Der Gorilla trug ein rotes T-Shirt, auf dem in Schwarz das Wort ‚Boss‘ prangte und – er rauchte eine Zigarre. Sein zerknautschtes Gesicht sah dem seines Eigentümers zum Verwechseln ähnlich.
Ob Zimmermann der Gorilla ursprünglich geschenkt worden war, um ihn damit zu ärgern?
Jedenfalls schien er das Geschenk mit Würde und den Vergleich mit Stolz angenommen zu haben; Zimmermann hatte Hohn und Spott in ein Kompliment umgemünzt. Auch ansonsten eilte ihm der Ruf voraus, sich nicht aus der Reserve locken zu lassen.
Ohne aufzustehen, reichte er Niklas die Hand und nickte ihm zu.
Niklas erwiderte den stummen Gruß.
Bereits im Sitzen erschien ihm Zimmermann wie ein Hüne. Fettpolster arbeiteten gegen die Muskelmasse und schienen den Kampf allmählich für sich zu entscheiden. Der Schreibtischjob forderte seinen Tribut.
Niklas nahm Platz.
„Und? Hat mit dem Umzug alles geklappt?“
Niklas dachte an den einzelnen Reisekoffer, mit dem er vor wenigen Tagen aus München gekommen war.
„Ja, alles bestens.“
„Und mit Ihren Eltern?“
„Naja, den Umständen entsprechend, wie man so schön sagt. Die Reha-Maßnahmen haben meinem Vater sichtlich geholfen. Ich habe das Gefühl, dass es täglich aufwärtsgeht.“
Zimmermann räkelte sich, sein Bürostuhl ächzte.
„Ich bin sehr froh, dass Sie hier sind, Herr Steg.“
Seiner Mimik war dies nicht anzumerken, sie blieb unverändert.
„Ich auch. Froh, dass alles so rasch und unkompliziert organisiert werden konnte.“
Sich daran erinnernd, was die Ursache dafür war, suchte er nach Worten und ergänzte: „Trotz der Tragik des Ganzen.“
„Ja, wir alle haben das längst nicht verkraftet. Marten war ein guter Mann – und sehr beliebt.“
Von Bräumeier, seinem früheren Vorgesetzten in München, hatte Niklas erfahren, dass Marten als Nachfolger von Zimmermann im Gespräch gewesen war, wenn dieser in wenigen Jahren in den wohlverdienten Ruhestand gehen würde. Und dass Zimmermann große Stücke auf ihn gehalten hatte.
Jetzt lag Marten mit durchlöchertem Bauch auf dem Friedhof in der Heerstraße und Niklas selbst würde in wenigen Minuten an Martens Schreibtisch sitzen.
Falls Zimmermann Trauer empfand, wovon Niklas ausging, so spiegelte sich auch dies nicht in dessen Gesicht wider.
Zimmermann richtete seinen Blick auf die Unterlagen, die vor ihm lagen.
„Aber für Ihre Beurteilungen müssen Sie sich auch nicht schämen.“
Niklas war nie der Primus gewesen, weder in der Schule noch später an der Universität, aber immer im oberen Viertel. Das war ihm nicht zugefallen. Er hatte sich dafür anstrengen müssen, sehr anstrengen, sein Privatleben war deswegen oft auf der Strecke geblieben.
„Der Kollege Bräumeier hat sie wärmstens empfohlen.“
Zusammen hatten Bräumeier und Zimmermann nach einem Ausweg aus den beiden Krisen gesucht. Die eine betraf die vakante Stelle in Berlin, die andere das Privatleben von Niklas, das seinen Dienst bei der Münchner Kriminalpolizei zuletzt viel zu sehr in Mitleidenschaft gezogen hatte. Über ihre vielfältigen Kontakte hatten Bräumeier und Zimmermann die Versetzung via ‚kleinem Dienstweg‘ erheblich beschleunigt.
„Ich muss zugeben, dass ich mich sehr wenig für die persönlichen Angelegenheiten meiner Mitarbeiter interessiere. Das gilt auch in Ihrem Fall, – außer, sie gefährden Ihre Arbeit.“
Dazu schwieg Niklas.
„Ich wünsche Ihnen und uns, dass Sie alles wieder in den Griff bekommen.“
Niklas dachte, dass Zimmermann noch irgendetwas sagen sollte, etwas Wichtiges oder eventuell etwas Persönliches, doch Zimmermann sah ihn nur ausdruckslos an.
Der Erste Kriminalhauptkommissar schien einfach darauf zu warten, dass Niklas wieder ging, vermutlich um das Büro schnellstmöglich in sein Raucherzimmer zurückzuverwandeln.
Niklas verstand, drehte sich um und verließ seinen neuen Vorgesetzten.
Herzlich willkommen am neuen Arbeitsplatz!
Was für eine Begrüßung!
Zurück im Flur suchte er nach seinem neuen Büro.
Bereits neben der zweiten Tür standen auf Augenhöhe auf einem Schild die Namen ‚Marten‘ und ‚Ibscher‘.
Niklas vermutete Pietätsgründe dafür, dass niemand in der Zwischenzeit den Namen seines Vorgängers entfernt hatte.
Er trat ein und wusste sofort, welcher der beiden Schreibtische der seine war.
Der eine wirkte unaufgeräumt, Kugelschreiber und Notizzettel neben der Computertastatur, so, als sei der Arbeitsplatz gerade eben erst verlassen worden. Auf einer vollgekritzelten papierenen Schreibunterlage stand leicht angeschrägt ein Telefon, seitlich davon eine schmale gläserne Vase, in der eine einzelne schwarze Rose in voller Blüte stand. Das Kontrolllicht am Computermonitor blinkte, sein Besitzer hatte ihn über Nacht nicht ausgeschaltet.
Auf dem anderen Schreibtisch, der ordentlich und sauber aussah, lagen mehrere Briefumschläge. Niklas las seinen Namen, setzte sich und öffnete die Kuverts.
Beim ersten Brief handelte es sich um die offizielle Begrüßung am neuen Arbeitsplatz, ein Formschreiben, keine Unterschrift; beim zweiten um eine Bestätigung seiner bisherigen Tarifgruppe; beim nächsten um seinen neuen Dienstausweis.
Die anderen enthielten Anweisungen und Passwörter für die verschiedenen Programme, mit denen das LKA Berlin arbeitete. Einige davon kannte er aus München, andere waren ihm neu und fremd. Er würde sich einarbeiten müssen.
„Guten Morgen.“
Niklas erschrak. Er hatte niemanden eintreten gehört.
Im Vorfeld hatte er bereits ein Bild von Jasmin Ibscher gesehen. Auf diesem lächelte sie, ihre blauen Augen strahlten und spiegelten Aufgewecktheit und Humor wider, ihr fröhliches Gesicht umrahmt von langem, leicht gelocktem dunkelbraunem Haar.
Die Jasmin Ibscher, die vor ihm stand, wirkte müde, ihre Augen traurig, das Haar glanzlos.
Sie reichte ihm ihre Hand. Niklas stand auf, nahm sie und spürte dabei kaum Gegendruck.
„Niklas Steg“, stellte er sich vor.
Jasmin nickte zunächst nur, dann schien sie sich zu besinnen und die gebräuchlichste Standardantwort hervorzukramen: „Freut mich.“
Niklas merkte ihr an, dass sie in dieser Sekunde ihren Ex-Kollegen vor sich sah. Lars Martens Tod würde sie noch lange beschäftigen. Dass nun ein ‚Neuer‘ an seinem Schreibtisch saß, musste ihrem Herzen weitere Stiche versetzen.
Schweigend nahmen sie einander gegenüber Platz.
Niklas wartete, ehe er sich erneut den Dokumenten widmete. Wartete, ob sie noch etwas sagen wollte.
Ihr Blick fiel auf die schwarze Rose. Sie stand wieder auf, verließ das Büro und kehrte kurz darauf mit einer Glaskanne zurück. Ansonsten für Kaffee gedacht, benutzte Jasmin sie nun als Gießkanne.
Viel Wasser hatte nicht gefehlt. Niklas schätzte, dass die Rose erst gestern gegossen worden war.
Jasmin brachte die Kanne zurück in die Küche und setzte sich wieder.
Mit einem Druck auf die Einschalttaste am Computergehäuse unterhalb seines Schreibtischs brachte Niklas seinen Rechner zum Laufen. Während dieser hochfuhr, kontrollierte er in den Schubladen, was an Büromaterial und Lagerfläche vorhanden war.
Alles schien neu zu sein: Stifte, Lineal, Locher, Büroklammern, alles.
Was einem Toten gehört hatte, nutzte man nicht weiter. Ein ungeschriebenes Gesetz.
Niklas rümpfte die Nase. Irgendetwas roch unangenehm.
„Desinfektionsmittel“, sagte Jasmin leise. Sie schien ihn beobachtet zu haben.
„Gestern Nachmittag wurde alles gründlich für Sie gereinigt.“
Aus ihrer Handtasche zog sie ein iPhone hervor, tippte mit dem Zeigefinger und scrollte mit dem Daumen. Dann zeigte sie Niklas ein Bild.
Er erkannte seinen neuen Arbeitsplatz kaum wieder.
Blumengebinde und Trauerkarten zeugten stumm vom Entsetzen und von der Anteilnahme der Kollegen. Auf dem Monitor lagen kleine Kieselsteine. Niklas entdeckte auch die schwarze Rose, die als Einziges die Säuberungsaktion überlebt hatte.
„Ich habe gestern Abend alles zu seiner Witwe gebracht.“
„Meine Frau hängt Rosen immer mit dem Kopf nach unten auf, ehe sie verblühen“, während er es aussprach, fragte er sich, ob er von Hanna nun nicht besser in der Vergangenheit sprechen sollte. „Dadurch bleibt die Blüte sehr lange in diesem Zustand.“
Ob seine Kollegin überhaupt hörte, was er sagte?
Wortlos nahm sie ihr iPhone zurück und verstaute es an seinem Platz.
Jasmins Magen knurrte und unterbrach die peinliche Stille. Niklas fragte sich, wann sie wohl zuletzt gegessen hatte. Wenn er selbst angespannt war, vergaß er es zuweilen auch.
Er öffnete seine Aktenmappe, holte die orangefarbene Plastikbox hervor, die ihm seine Mutter mitgegeben hatte, und schob sie kommentarlos zu Jasmin hinüber.
Für einen Moment verharrte Jasmin, dann öffnete sie die Schatulle.
In einer Mischung aus Lustlosigkeit und Notwendigkeit biss sie einmal in das Leberwurstbrot und legte es sogleich wieder zurück.
Niklas kümmerte sich um seinen Computer und die Softwarezugänge. Die Zeit würde kommen für ein Gespräch.
Auch Jasmin schaltete nun ihren Rechner ein.
Abgesehen vom Summen der Festplatten kein Geräusch im Büro, endlose Minuten lang.
Ein Telefonklingeln unterbrach schließlich die Stille. Niklas hob ab, aber hörte lediglich ein Freizeichen.
Jetzt meldete sich Jasmins Apparat.
„Rufumleitung“, sagte sie, zuckte kurz entschuldigend mit den Schultern und meldete sich mit Dienstgrad und Nachnamen.
Nachdem sie kurz zugehört hatte, fragte sie „Wo?“ und „Wann?“ und machte sich in mikroskopisch kleinen Buchstaben Notizen auf ihrer Schreibunterlage.
„Wir kommen sofort.“
Sie legte auf.
„Sieht nicht so aus, als hätten Sie Zeit für eine geruhsame Einarbeitung.“
„Was ist passiert?“
„Ein Rentner hat bei einem Morgenspaziergang eine Leiche gefunden. Am Teltowkanal. Ein Streifenwagen ist bereits dort. Zimmermann möchte, dass wir uns darum kümmern.“
Niklas ertappte sich dabei, dass er erleichtert darüber war, seine Gedanken nun mit etwas anderem beschäftigen zu können.
„Die Leiche ist verstümmelt“, sagte sie, während sie mit einer raschen Bewegung die Plastikbox mit dem Leberwurstbrot in ihrer Handtasche verschwinden ließ.
Dann machten sich die beiden auf den Weg.
Ende Mai
Ein muskulöser Oberkörper, eine markante Nase und fesselnde Augen.
So stellte sich Sabrina Lampe einen Spartaner vor. Dazu der Name ‚Alexandros‘. Natürlich hatte sie sofort an Alexander den Großen gedacht, den kraftvollen und selbstbewussten Makedonier, der im Handstreich die antike Welt bezwungen hatte.
Der Alexandros, der nun vor ihr saß, entpuppte sich als das glatte Gegenteil ihrer Assoziationen.
Sein Gesicht kreisrund; das Haar sehnte sich nach Schuppen-Shampoo. Öffnete er den Mund zum Sprechen, entblößte er krumme und leicht gebräunte Zähne. Sein Atem roch penetrant nach Tabak und Teer.
Und klein war er. Zumindest das hätte für Sabrina kein Problem dargestellt: Selbst nur knapp über anderthalb Meter, hatte es sich in der Vergangenheit als äußerst unpraktisch erwiesen, sich für einen deutlich größeren Partner zu entscheiden.
Alexandros’ Körperfülle ließ Sabrina schaudern.
„Ich möchte nicht die Welt erobern, sondern lediglich dein Herz“, so hatte er es in seinem Profil formuliert, der Mann mit dem Nickname ‚Spartaner‘. Sabrina schloss gerade die Tore und zog die Mauern hoch: Ihr Herz wurde zur Festung. Undurchdringlich, unbezwingbar. Sie würde stärker sein als Dareios III, der König der Perser.
„Ich habe eine Einbauküche", sagte Alexandros. „Alles selbst gemacht. Ich bin sehr geschickt mit meinen Händen.“
Was hatte sich ihre Tochter Lara nur dabei gedacht, sie bei diesem Dating-Portal anzumelden?
Dies war der dritte Reinfall binnen 14 Tagen.
Ihre Höflichkeit erzwang ein Lächeln, das Alexandros’ pausbäckiges Gesicht erstrahlen ließ.
Sabrina erschrak.
„Kochst du gerne?“
Warum, Lara, vereinbarst du ein Date für mich, mit jemandem, der nicht einmal ein Bild veröffentlicht?
„Äh, ja?“
Der Spartaner plapperte: „Wunderbar! Ich habe sogar Bilder von meiner Einbauküche dabei. Ich hatte mich nicht getraut, sie bei Traumpartner24.