Die Geschichte, die dich einholt
Prolog
Malus Magen spielte verrückt, urplötzlich. Als säße sie in einem dieser halsbrecherischen Fahrgeschäfte auf dem Jahrmarkt und wäre soeben mehrere Meter im freien Fall nach unten gerauscht und nun - nur einen Fingerbreit über dem Boden – gestoppt worden.
Jetzt verlor sie das Gleichgewicht, fiel auf die Knie und drohte der Länge nach aufzuschlagen. Im letzten Moment gelang es ihr, sich mit den Händen abzustützen.
Zu ihrer Überraschung spürte sie Gras an ihren Fingern.
Erstaunt blickte sie auf und ihr Verstand weigerte sich zu akzeptieren, was die Augen sahen. Rings um sie herum erstreckten sich Felder und Wiesen. In etwa 200 Metern Entfernung beherrschte ein einzelnes, ihr unbekanntes mehrstöckiges Gebäude die Umgebung. Das Haus wurde von einem großen Rad dominiert, das vom Wasser eines Bachs unermüdlich angetrieben wurde.
Dabei hatte sie eben noch inmitten von Büchern auf ihrem Bett gelegen und durchs offene Fenster leisen, gleichmäßigen Straßenlärm gehört. Stattdessen ertönten nun laute Stampfgeräusche; sie kamen aus Richtung der Mühle.
Sie fror. Zwar zeigten sich nur wenige Wolken am Himmel, doch für ihr dünnes Sommerkleid war es eindeutig zu frisch.
Plötzlich schmeckte sie wieder ihre letzte Mahlzeit auf der Zunge, Spaghetti mit Tomatensoße und Parmesan, diesmal leider in unangenehmer Weise kombiniert mit Magensäften.
Nein, sie würde sich nicht übergeben!
Sie kämpfte dagegen an, doch der Würgereflex siegte.
Es war ihr peinlich; ganz instinktiv schaute sie sich um, ob jemand sie beobachtet hatte. Zum Glück konnte sie weit und breit keine Menschenseele entdecken.
Allmählich ließ die Übelkeit nach und sie konnte wieder halbwegs klar denken.
Wo befand sie sich?
Wie war sie hierher gekommen?
Sie konzentrierte sich. Das Letzte, an das sie sich erinnerte, war ein Buch mit historischen Abbildungen, in dem sie geblättert hatte.
Immer noch konnte sie kaum fassen, welche Schätze sie im Stadtarchiv entdeckt hatte; solche, die normale Besucher nur selten zu Gesicht bekamen: religiöse Schriften, politische Traktate, private Briefe, Lagerlisten und Bildbände aus längst vergangenen Zeiten. Welch große Ehre, dass ihr der Archivar sogar gestattet hatte, einige der Dokumente mit nach Hause zu nehmen. Dafür hatte es sich auf jeden Fall gelohnt, ihren Charme spielen zu lassen. Allerdings hätten ihn ohne die Erwähnung ihres Geschichtsstudiums vermutlich all ihre Überredungskünste nicht überzeugen können, ihr die wertvollen Objekte anzuvertrauen.
Doch nun saß sie mit einem Mal auf einer Wiese und starrte auf eine Mühle!
Ein erneuter Würgereiz riss Malu aus ihren Gedanken. Sie versuchte, ihn zu unterdrücken, doch er entlud sich in einem Hustenanfall. Als sie endlich wieder normal atmen konnte, kehrten die Fragen zurück.
Wie, um alles in der Welt, war sie an diesem Ort gelandet? Sie konnte sich nicht einmal erinnern, dass sie ihr Zimmer verlassen hatte.
War sie über ihren Büchern eingeschlafen und schlafgewandelt? Mitten am Tag?
Da hätte sie wohl ziemlich weit wandeln müssen, um aus ihrer zentral in München gelegenen WG in eine so einsame Gegend zu gelangen. Diese Möglichkeit konnte sie getrost abhaken.
Aber was dann? Ein Blackout? Weswegen?
Spielte ihr Kurzzeitgedächtnis verrückt?
Ein Schock könnte so etwas verursachen, hatte sie vor längerer Zeit einmal gelesen.
Aber was sollte ihn ausgelöst haben?
War irgendetwas passiert, das eine Lücke in ihre Erinnerung gerissen hatte? Was könnte das gewesen sein?
Oder träumte sie dies alles nur? Sah nicht das Gebäude vor ihr ganz ähnlich aus wie das auf der Zeichnung, die sie zuletzt angeschaut hatte? Bestimmt war sie darüber eingeschlafen und würde sich in ihrem Bett wiederfinden, sobald sie aufwachte.
Sie atmete tief durch und stutzte. Die Luft roch nicht so frisch, wie sie aufgrund der nahezu unberührten Landschaft um sich herum vermutet hätte. Etwas Unangenehmes kroch in ihre Nase, das sie nicht identifizieren konnte.
Konnte man im Traum riechen?
Endlich tauchte ein Mensch in ihrem Blickfeld auf. Ein Mann näherte sich von rechts und steuerte auf die Mühle zu. Sein Gesicht konnte sie nicht sehen, denn durch seine stark gebeugte Körperhaltung hielt er den Blick starr auf den Boden gerichtet. Zuerst dachte Malu deswegen, er müsse uralt sein; doch dann entdeckte sie eine vollbeladene Trage auf seinem Rücken, deren Gewicht seinen Oberkörper nach unten drückte.
Während Malu ihn so beobachtete, schaute er plötzlich auf und geradewegs in ihre Augen: Sein Blick stach ihr direkt ins Herz.
Und der Unbekannte war keineswegs ein älterer Herr, nein, er schien - wie sie - so um die Zwanzig zu sein. Auch sein Haar war weder grau noch schütter, sondern dunkelbraun und schulterlang. Er blieb stehen und lächelte sie an. Sie hatte keine Ahnung, wer er war, und doch kamen ihr seine Gesichtszüge auf eine eigenartige Art und Weise vertraut vor; es fühlte sich an wie ein Déjà-vu. Auch der junge Mann wirkte, als würde er überlegen.
Dann hob er die Hand und winkte ihr zu.
Malu fühlte sich unfähig, auf die Geste des Fremden zu reagieren, sie war wie erstarrt. Als wäre sie nicht Teil des Geschehens, sondern betrachte es von außen. Gerade so, als sähe sie einen Film an oder als nähme sie die Welt plötzlich durch einen fremden Körper wahr.
Schließlich wandte der Mann den Blick ab und setzte seinen Weg in Richtung der Mühle fort. Als er hinter dem Gebäude verschwunden war, bereute Malu auf einmal schmerzlich, dass sie dem jungen Mann nicht wenigstens zurückgewinkt hatte.
Malu erhob sich - zu ihrer Erleichterung rebellierte ihr Magen nicht mehr – und schaute umher. In der Ferne entdeckte sie auf einer Anhöhe eine Burg, umschlossen von einem ausgedehnten Waldgebiet.
In aller Ruhe betrachtete sie die Umgebung: Nein, dies alles wirkte keineswegs wie ein Traum, es sah echt aus!
Viel realistischer als mit dieser Virtual-Reality-Brille, die sie einmal auf einer Computermesse ausprobiert hatte. Sie war durch das antike Rom geschlendert, über die Via Appia gegangen und hatte den Circus Maximus und das Kolosseum besucht. Es war fantastisch gewesen.
Aber doch nicht gut genug, um vortäuschen zu können, es wäre real.
Im Gegensatz zu dem, was sie soeben hier erlebte. Alles passte zusammen: Was sie sah, was sie hörte, was sie roch – sogar eine Gänsehaut von der Kälte bildete sich.
Trotzdem neigte sie unwillkürlich den Kopf und griff sich an die Schläfe, als könne sie sich eine etwaige VR-Brille abstreifen. Eine Brille ertastete sie nicht, dafür etwas Langes, Dünnes.
Natürlich, mein Bleistift, dachte sie, mit dem ich mir während des Lesens Notizen gemacht habe. Unbewusst hatte sie ihn wohl - wie so oft - hinter ihr Ohr geklemmt. Sie nahm ihn und drehte ihn in ihren Fingern hin und her.
„Gott zum Gruße“, vernahm sie plötzlich eine Stimme hinter sich.
Malu drehte sich erschrocken um. Direkt vor ihr stand der junge Mann von gerade eben. Ihre Blicke kreuzten sich und im selben Moment fühlte Malu, wie es in ihrem Bauch flatterte.
I. Teil
Merelies Recherche
1. Kapitel
„Ich mach auf!“, rief Merelie, kaum dass sie das Klingeln gehört hatte.
Ihr Stuhl machte ein schabendes, in den Ohren schmerzendes Geräusch, als sie ruckartig aufsprang und ihn dabei nach hinten schob; beinahe wäre er umgefallen.
Dann rannte sie zur Wohnungstür und riss sie auf.
„Du kommst spät“, begrüßte sie Elias, der völlig außer Puste vor ihr stand.
„Ich bin geradelt, so schnell ich konnte“, brachte er keuchend zwischen zwei schweren Atemzügen hervor. „Es ist Montag. Wir haben jede Menge Aktionsware bekommen. Das hat einfach länger gedauert als normal.“
Während der Ferien jobbte Elias morgens bei Aldi. Normalerweise endete seine Arbeitszeit, wenn die Filiale öffnete.
„Wir sind schon fertig mit dem Frühstück“, behauptete Merelie, fast beiläufig.
Elias zuckte zusammen.
„Wie bitte?“, fragte er fassungslos.
Merelie hatte sofort Mitleid mit ihm. „Quatsch“, sagte sie. „Ich hab dich nur auf den Arm genommen. Wir haben natürlich auf dich gewartet.“
Elias atmete sichtlich auf.
„Auch wenn ich kurz vor dem Verhungern bin: Sollen wir vorher noch die Sachen vom Dachboden holen?“
„Schon erledigt.“
„Aber dein Opa … Sein Rücken …“
„Oma und ich haben die Kiste zu zweit getragen. Das ging schon.“
„Und? Habt ihr sie schon geöffnet?“
„Noch nicht, Elias, keine Sorge. Wir machen das gemeinsam, wie abgesprochen.“
Den Karton hatten sie schon in aller Frühe heruntergeholt; seitdem schlich sie darum herum, denn sie war hin und her gerissen von ihren Gefühlen. Einerseits platzte sie vor Neugierde und Aufregung, andererseits hatte sie Angst vor dem, was sie darin vorfinden würde. Angst vor Enttäuschung, vor … sie wusste nicht genau, wovor.
Ihr ganzes Leben lang hatte sie sich danach gesehnt, Informationen über ihre Mutter zu bekommen. Ihre Großeltern, bei denen sie aufgewachsen war, hatten all die Jahre dazu geschwiegen und sie immer wieder vertröstet.
Endlich war es soweit: Die Hinterlassenschaften ihrer Mutter in greifbarer Nähe.
Merelie trat zur Seite, um Elias Platz zu machen. Als er an ihr vorbeihuschte, kitzelte sie ein ungewohnter Duft in der Nase.
Benutzte er neuerdings Rasierwasser?
Elias bückte sich und zog seine Schuhe aus.
„Du hast noch die Wäscheklammer am Hosenaufschlag“, meinte sie und war froh, sich damit von ihrer eigenen Aufregung ablenken zu können.
Mit einer raschen Bewegung knipste er sie ab und steckte sie ein. Dann eilte er weiter in die Küche.
„Guten Morgen, Frau Ferner“, hörte sie ihn sagen, während sie ihm etwas langsamer folgte. „Das duftet aber wieder köstlich bei Ihnen.“
Die Großmutter lachte. „Ja, sobald es was zu essen gibt, ist Elias zur Stelle. So war es schon, als du noch ein kleiner Bub warst.“
Als Merelie hinter ihm die Küche betrat, stand er bereits neben der Großmutter am Herd und beugte sich über die Pfanne. Die Großmutter sah winzig neben ihm aus. Lange Zeit war Merelie etwas größer gewesen als er, doch in letzter Zeit schien er immer weiter in die Höhe zu schießen, während Merelie seit einem halben Jahr keinen Millimeter mehr gewachsen war.
Erst jetzt schien Elias einzufallen, dass er noch jemanden im Raum vergessen hatte. Er drehte sich zum Küchentisch und begrüßte die Person, die sich hinter einer aufgeschlagenen Zeitung versteckte: „Guten Morgen, Herr Ferner.“ Als Antwort erhielt er lediglich ein tiefes, unverständliches Brummen.
Merelie folgte Elias’ Blick, der weiterwanderte zu dem Umzugskarton, der unterhalb des Küchenfensters stand. Darauf prangte das Firmenlogo eines Speditionsunternehmens mit einer Memminger Anschrift. Merelie sagte der Name nichts. Vermutlich war die Firma irgendwann insolvent gegangen oder von der Konkurrenz aufgekauft worden.
„Das ist also die Kiste vom Dachboden“, stellte Elias fest.
„Ja“, bestätigte Merelie.
„Sieht so unscheinbar aus.“
„Hast du etwa eine Schatzkiste erwartet?“, fragte die Großmutter, drehte sich zu ihnen um und balancierte vor sich die Pfanne. „Übrigens ist das Rührei fertig.“
Wie auf Kommando ertönte hinter der Zeitung ein Geräusch, das sich nur als Magenknurren deuten ließ, und auch Elias brauchte keine Aufforderung, sich an den Küchentisch vor einen freien Teller zu setzen.
Die Großmutter versorgte zuerst ihren Mann, der nun endlich die Zeitung zur Seite gelegt hatte, dann Elias und Merelie und abschließend sich selbst mit Rührei.
Merelie entdeckte Paprika-, Tomaten- und Zwiebelstücke darin. So mochte sie Rührei am liebsten. Normalerweise lief ihr bei dem Anblick sofort das Wasser im Mund zusammen, doch heute spürte sie kaum Appetit.
Der Großvater nuschelte irgendetwas, das so ähnlich wie „Guten Hunger“ klang, und aß bereits, ehe die anderen etwas erwidern konnten.
„Schmeckt hervorragend“, lobte Elias mit vollem Mund. „Wie immer.“
„Ab hundert Gramm wird es undeutlich“, frotzelte Merelie und lachte.
„Den Kakao schenkst du dir selbst ein, ja?“, fragte die Großmutter.
„Mmhmm.“
Den anderen beim Essen zuzusehen, weckte nun auch bei Merelie den Appetit. Nirgends hatte sie bisher so leckeres Rührei gegessen wie bei ihrer Großmutter und vermutete, dass sie mit irgendeiner geheimen Zutat arbeitete. Doch die Großmutter hielt stets dicht, wenn Merelie danach fragte.
Unwillkürlich blickte sie während des Frühstücks immer wieder zu dem Umzugskarton. Zwar hatten sie auf dem Dachboden notdürftig den Staub heruntergewischt, doch einige Reste klebten immer noch darauf, als hätten sie sich im Laufe der Jahre mit dem Material verbunden.
„Ich bewundere deine Selbstdisziplin“, kommentierte Elias und sie wusste genau, was er meinte. „An deiner Stelle hätte ich den Karton gleich im Dachboden aufgerissen.“
„Ich hatte dir versprochen, dass ich auf dich warte.“
Es fiel ihr leichter, ihr Zögern mit Rücksichtnahme ihm gegenüber zu begründen als mit ihrer eigenen Unsicherheit.
„Sag ich ja, ich bewundere deine Selbstdisziplin.“
„Mir ist es wichtig, in angemessener Weise mit dem …“, das Wort ‚Nachlass‘ lag ihr auf der Zunge, doch sie weigerte sich, es auszusprechen, „… mit den Sachen meiner Mutter umzugehen.“
„Wir frühstücken in aller Ruhe zu Ende“, meinte die Großmutter, „dann sehen wir uns alles gemeinsam an.“
Merelie hatte ihre Eltern nie kennengelernt, aufgewachsen war sie bei ihren Großeltern. Siebzehn Jahre lang hatten die beiden sich geweigert, Merelie etwas über sie zu erzählen. Immer wenn sie danach gefragt hatte, waren sie ausgewichen oder hatten jegliche Diskussion darüber abgewürgt. Bis zum Vortag hatte Merelie nicht viel mehr als den Namen ihrer Mutter gewusst. Sie hieß Marie-Luise, doch alle hatten sie nur ‚Malu‘ genannt.
Gestern hatte Merelie zumindest erfahren, wie sie zu den Großeltern gekommen war. Sie hatten erzählt, wie ihre Tochter, von der sie dachten, sie wäre in München, plötzlich mit einem Baby aufgetaucht war, das sie ihnen in den Arm drückte. Sofort danach sei sie wieder verschwunden.
Die Großmutter hatte weiter berichtet, dass etwas Geheimnisvolles in Merelies Abstammung lag. Eine Art Gabe würde in ihrer Familie seit Jahrhunderten von Mutter zu Tochter weitergegeben, die sich allerdings bei jeder Nachfahrin anders manifestierte. Manchmal übersprang sie auch eine Generation oder zwei und die Großmutter hatte gehofft, dass dies bei Merelie der Fall sein würde. Um sie nicht unnötig zu beunruhigen, hatte sie es hinausgezögert, dieses Wissen an sie weiterzugeben. Die dramatischen Ereignisse der letzten Tage mit diesem seltsamen ‚Buch, das dich findet‘, das aus dem Nichts in Merelies Leben aufgetaucht war, hatten sie jedoch eines Besseren belehrt. Merelie hatte sich im wahrsten Sinne des Wortes darin verloren und nur mit Elias’ Hilfe wieder zurück in die Realität gefunden. Noch immer rätselte sie über die genauen Zusammenhänge.
Nach ihrer Rückkehr aus dem Buch hatte die Großmutter Merelie nicht nur von ihrer Mutter und der geheimnisvollen Gabe erzählt, sondern auch versprochen, endgültig reinen Tisch zu machen.
Alles, was die Großeltern von Merelies Mutter Malu noch besaßen, hatten sie in diesem Umzugskarton auf dem Dachboden vor ihr geheim gehalten.
Jetzt stand er hier, direkt in ihrer Reichweite.
Für Merelie glich er der Büchse der Pandora. Sie wollte unbedingt wissen, was er enthielt. Doch wenn sie ihn erst geöffnet hatte, gab es kein Zurück mehr.
Was, wenn sie herausfand, dass ihre Mutter sie nicht gewollt und nicht geliebt und deswegen weggegeben hatte?
Bereits nach der ersten Portion Rührei fühlte sich Merelie satt und rutschte nervös auf dem Stuhl hin und her. Langsam konnte sie nicht mehr verbergen, wie sehr sie darauf brannte, endlich den Inhalt der Pappkiste zu kennen. Auch wenn Elias inzwischen wohl glaubte, sie wäre die Erfinderin des Wortes ‚Gelassenheit‘.
„Wollen wir den Karton jetzt aufmachen?“, drängte er ungeduldig.
„Also, ich brauche erst noch etwas Süßes“, bremste ihn der Großvater aus, fischte sich eine Semmel aus dem Brotkorb, teilte sie und bestrich die eine Hälfte in aller Seelenruhe mit Honig.
„Benno, die Kinder warten!“
„Ist ja gut, Emma. Ihr könnt ja schon den Tisch abräumen, während ich zu Ende esse.“
„Eine gute Gelegenheit, sich vor der Küchenarbeit zu drücken“, schimpfte die Großmutter.
„Immer diese Unterstellungen!“ Der Großvater gab sich entrüstet und Merelie musste lachen. In Windeseile hatten die drei den Tisch abgeräumt und zogen dem Großvater bereits Teller und Messer weg, noch ehe er sich den letzten Rest seiner Honigsemmel in den Mund stecken konnte.
„So“, verkündete er schließlich. „Das wäre erledigt. Können wir uns jetzt um die Kiste kümmern?“
„Nichts lieber als das“, sagte Elias und eilte zum Fenster. Er versuchte, den Karton anzuheben, entschied aber schnell, ihn lieber zum Tisch hinüberzuziehen. Er zerrte ihn zwischen die Stühle von Merelie und der Großmutter. Dann setzte er sich an Merelies andere Seite und rückte seinen eigenen Stuhl ganz nahe an ihren heran.
Merelie war froh, dass Elias in ihrer Nähe war. Seit sie sich in dem Buch verloren und er sie befreit hatte, war ihr noch viel stärker bewusst geworden, wie sehr sie sich auf ihn verlassen konnte. Mit ihm konnte sie über alles reden und er war immer für sie da, wenn sie ihn brauchte. Es war einfach ein unheimlich gutes Gefühl, ihn bei sich zu wissen. Er reckte den Kopf, um an ihr vorbei zum Karton zu sehen.
„Mach ihn endlich auf, Emma“, drängte nun auch der Großvater.
Und die Großmutter öffnete ihn.
2. Kapitel
Obenauf in der Umzugskiste lag, als wolle es den Inhalt schützen, ein Tuch. Es hatte nicht das strahlende Weiß heutiger Tischdecken oder Bettbezüge, sondern einen Farbton, der leicht ins Bräunliche ging.
Die Großmutter nahm es heraus und reichte es Merelie, die es prüfend zwischen Daumen und Zeigefinger rieb.
„Was ist das für ein Material?“, fragte sie.
Elias griff nun ebenfalls danach und meinte: „Ungewöhnlich grob.“
„Das ist Leinen, Merelie, und darin warst du eingewickelt, als deine Mutter dich zu uns gebracht hat.“
Merelies Herz klopfte schneller. Für sie bedeutete dies mehr als nur ein Stück Stoff. Mit ihren Fingern versuchte sie, einer Verbindung zu ihrer Mutter nachzuspüren. Dann führte sie das Tuch neugierig zur Nase und schnupperte daran. Zu ihrer Enttäuschung hatten die muffigen Gerüche des Dachbodens längst die ursprünglichen überdeckt.
„Malus Studentenausweis“, meinte die Großmutter und präsentierte Merelie ein kleines Kärtchen.
Das Foto darauf ließ Merelies Atem stocken.
„Sie sieht ja genauso aus wie du“, sprach Elias ihre Gedanken aus.
Tatsächlich, man brauchte keinen DNA-Test, um die Verwandtschaft zu erkennen. Die gleichen Lachfältchen in den Augenwinkeln; die gleiche, leicht krumm stehende Nase – nur zu erkennen, wenn man genau hinblickte. Sogar die schwarzen, glatten Haare trug Malu etwas über Schulterlänge, so wie Merelie im Moment auch.
Die Ähnlichkeit überwältigte sie. Elias legte ihr sanft und beruhigend seine Hand auf den Oberschenkel und sie war froh darum.
„Ludwig-Maximilians-Universität“, hörte sie ihn laut lesen.
Als Kind hatte sie viel und oft fantasiert, wer ihre Mutter sein könnte. Eine Geheimagentin, die inkognito bleiben musste. Eine Schauspielerin, die immer auf Achse war. Die Kronzeugin eines wichtigen Kriminalfalls in einem Schutzprogramm. Über ihr Aussehen hatte sich Merelie am wenigsten Gedanken gemacht.
Bei genauerer Betrachtung entdeckte sie nun doch einen Unterschied: Während sie selbst dunkelgrüne Augen besaß, hatte ihre Mutter braune Augen.
Ansonsten hätte man sie leicht miteinander verwechseln können.
„Ich habe sie immer vor mir, wenn ich dich ansehe, Merelie.“
Die Großmutter wirkte sichtlich ergriffen und Merelie wurde klar, dass es wohl auch Selbstschutz gewesen war, warum sich die Großmutter so lange vor diesem Gespräch gedrückt hatte. All die Erinnerungen an Malu drängten sich wieder in ihr Bewusstsein – und mit ihnen der Kummer und der Schmerz.
Etwas Rosafarbenes zog Merelies Aufmerksamkeit auf sich. Als sie ihren Blick dorthin wandte, entpuppte es sich als ein Fotoalbum. Die Großmutter schnäuzte sich, dann zog sie es aus dem Karton und legte es direkt vor Merelie auf den Tisch. Das lebensbejahende Bild darauf gefiel Merelie: Daisy Duck, die mit einem geblümten Schirm durch strömenden Regen spazierte und dabei fröhlich lachte.
Merelie konnte es kaum glauben: Gleich würde sie noch mehr Bilder von ihrer Mutter sehen!
Während sie sich noch freute, legte die Großmutter bereits ein weiteres Album daneben.
Mit seinem schwarzweißen Karomuster war es deutlich unauffälliger.
„In dem einen sind die Kinder- und Jugendfotos, in dem anderen die späteren Bilder.“
Irgendwo mitten drin schlug die Großmutter das rosafarbene Album auf. Ein Mädchen, etwa zehn Jahre alt, blickte Merelie entgegen, in einem blütenweißen Kleid; in der rechten Hand hielt sie voller Stolz eine weiße, unterarmlange, dicke Kerze, auf der ein schwarzes Kreuz zu sehen war, darüber ein Alpha und darunter ein Omega, beides in sattem Rot.
Merelie hatte ein fast identisches Bild von sich selbst, nur dass auf ihrer eigenen Kommunionskerze eine Taube abgebildet war.
„Wow! Unglaublich, diese Ähnlichkeit!“ Elias wirkte mindestens ebenso aufgeregt wie sie selbst. „Blättern Sie weiter, Frau Ferner.“
Es folgten Bilder von Malu auf einem Spielplatz. Das Mädchen saß auf einer Wippe, auf einem anderen Foto auf einer Schaukel. Malu kletterte die Leiter an einem hölzernen Turm nach oben, auf einer weiteren Aufnahme sah man sie die Arme hochstreckend eine Rutsche hinabgleiten, sichtlich erfreut, für den mühsamen Aufstieg auf den Turm belohnt zu werden.
Malu hockte im Schneidersitz auf einer Decke auf einer Wiese, spielte mit Freundinnen mal mit Puppen, mal Mensch-ärgere-dich-nicht und mal ein Kartenspiel, das Merelie nicht kannte.
Kein einziges Bild, auf dem ihre Mutter nicht fröhlich wirkte. Und nur aus wenigen Perspektiven konnte man erkennen, dass es sich um ein anderes Mädchen handelte; ansonsten hätten es sich auch um Aufnahmen aus Merelies eigener Kindheit handeln können.
Merelie konnte sich an den vielen Fotos kaum sattsehen. Sie spürte, wie sich nun auch bei ihr die Tränen in den Augenwinkeln sammelten. Elias schob ihr, ohne es weiter zu kommentieren, ein Taschentuch zu. Genauso wortlos nahm sie es entgegen und tupfte sich die Feuchtigkeit ab.
Auf dem letzten Bild des pinkfarbenen Albums tanzte Malu in einem himmelblauen Kleid auf der Abiturfeier mit einem gutaussehenden jungen Mann.
Bei seinem Anblick fühlte sie sich sofort wie elektrisiert.
Ob das vielleicht – ihr Vater …?
Vorsichtig berührte sie mit ihren Fingern das Bild und bemerkte dabei, dass sie zitterten.
„Wer ist das, Oma?“
„Das ist Jan.“ Und als könnte sie lesen, was in Merelies Kopf vorging, ergänzte die Großmutter: „Mit ihm war bereits Schluss, als sie nach München zum Studieren ging.“
Bislang hatte sich Merelie gar keine Gedanken darüber gemacht, ob ihre Mutter in einer festen Beziehung gewesen war, als sie verschwand. Würde sie jemals erfahren, wer ihr Vater war? War sie ein Kind der Liebe oder nur das zufällige Ergebnis eines One-Night-Stands? Auch diese Ungewissheit zehrte an ihr.
„Als sie so alt war wie du jetzt, war sie bereits mit Jan zusammen.“
Täuschte sich Merelie oder warf die Großmutter gerade Elias einen neugierigen Blick zu?
„Der war ein Großmaul.“
„So schlimm war er auch wieder nicht, Benno.“
„Ich habe nie verstanden, was Malu an ihm fand.“
Also was das Aussehen betraf, konnte Merelie ihre Mutter gut verstehen. Jan wirkte freundlich und sympathisch und seine Augen strahlten, während sich die beiden im Kreise drehten.
„Väter tun sich immer schwer mit den ersten Freunden ihrer Töchter. Das war bei meinem genauso.“
„Aber irgendwann mochte dein Vater Opa“, stellte Merelie fest und zwinkerte ihm zu.
„Opa? Wieso Opa?“, fragte die Großmutter. „Ach so, nein. Ich hatte davor einen anderen.“
„Andere“, korrigierte der Großvater und seine Frau errötete.
„Ist doch egal“, meinte Elias. „Das ist lange her. War im letzten Jahrtausend.“
„Na, hör mal, junger Mann.“ Man sah dem Großvater an, dass er die Empörung nur spielte.
„‘tschuldigung.“
„Warum hat sie sich von Jan getrennt?“, wollte Merelie wissen. „Oder hat er sich von ihr …“
Die Großeltern antworteten gleichzeitig: „Sie hatten sich auseinandergelebt.“ - „Das Großmaul hat sie betrogen.“
„Er war eben nicht der Richtige“, schob die Großmutter hinterher und schlug dabei das zweite Fotoalbum auf. Darin Bilder von Partys mit vielen jungen Menschen, ausgelassen feiernd, tanzend, Rotwein und Cocktails trinkend. Es folgten Fotos aus München, vor der Marienkirche, vor dem Isartor, auf dem Oktoberfest. Auf keinem von ihnen Jan, auch kein anderer Mann, immer nur Mädchen, im gleichen Alter wie damals Malu.
„Alles Kommilitoninnen.“
„Nach Jan hatte sie keinen Freund mehr?“
„Nicht, dass ich wüsste. Und ich bin mir sehr sicher, dass sie es mir berichtet hätte.“
„Wer ist sie?“ Merelie deutete auf eine rothaarige, sommersprossige Frau. „Sie ist auf allen späteren Fotos zu sehen.“
„Das ist Bärbel. Malu hat sie erst in München kennengelernt und brachte sie auch hierher zu Besuch mit. Sie war mindestens drei oder vier Mal hier, nicht wahr, Benno?“
„Ja, ein nettes Mädchen. Sie hat unheimlich viel gelacht. Über alles und jeden. Würde mich interessieren, was aus ihr geworden ist.“
„Nachdem Malu … verschwand, ist der Kontakt leider abgebrochen.“
„Was ist das?“, fragte Merelie, als sie erneut in die Umzugskiste blickte. Obenauf lag nun eine großformatige Mappe aus hellgelber Pappe, verschlossen mit einem schwarzen Stoffbändchen, das zu einer Schleife gebunden war. Darauf abgebildet erkannte Merelie die berühmte Zeichnung Leonardo da Vincis, die einen Mann mit idealisierten Proportionen in einem Kreis und einem Quadrat zeigte.
„Oh“, sagte der Großvater, „Malus Zeichenmappe. An die habe ich gar nicht mehr gedacht.“
Merelie griff danach und legte sie auf den Tisch, nachdem die Großmutter die Fotoalben zur Seite geschoben hatte. Dann löste sie die Schleife.
„Meine Mutter hat gemalt?“
„Oh ja,“, antwortete die Großmutter. „Malu war äußerst talentiert.“
Ehrfurchtsvoll öffnete Merelie die Mappe und blickte geradewegs auf eine Bleistiftzeichnung des Memminger Rathauses.
„Wow“, kommentierte Elias. „Das sieht ja toll aus.“
„Dafür hatte sie im Sommer drei Tage lang auf dem Marktplatz gesessen.“
„Hat sich gelohnt! Blätter weiter, Merelie.“
Vorsichtig nahm Merelie das Abbild des Rathauses und legte es zur Seite. Darunter kam eines der Wahrzeichen der Stadt zum Vorschein: das Siebendächerhaus. In ihm und auf seinen Dächern hatten die Gerber in früheren Jahrhunderten ihre Felle getrocknet. Als drittes folgte der Turm von St. Martin, der ältesten Kirche Memmingens, auf dem geografisch höchsten Punkt der Stadt errichtet.
Mehr als zwei Dutzend Bilder der Altstadt schlossen sich an. Manche der Motive kannte Merelie, andere glaubte sie, das erste Mal zu sehen. Doch vermutlich war sie bislang nur unaufmerksam daran vorüber gegangen. Sie nahm sich vor, sich alle im Original anzusehen und zu überprüfen, ob sich die Orte im Laufe der Jahre verändert hatten.
Zeichnen war ein Talent, das Merelie definitiv nicht von ihrer Mutter geerbt hatte. Wenn sie etwas zu Papier brachte, sah es stets wie die Kritzelei eines Grundschülers aus. Im Kunstunterricht hatte ihre Lehrerin immer nur mitleidig gelächelt, wenn sie Merelies Bilder in Augenschein genommen hatte.
„Wenigstens hast du dir Mühe gegeben“, war der immer gleich lautende Satz von Frau Hann gewesen.
„Malu hatte kurzzeitig überlegt, ‚Kunst‘ zu studieren. Das war doch so, Emma, gell?“
„Ja, aber letztendlich hat sie sich dann doch für ‚Geschichte‘ entschieden.“
Als Merelie zum letzten Blatt kam, einem Aquarell, blieb ihr für einen Moment der Mund offen stehen. Nicht nur, weil das Selbstporträt so grandios gemalt war, sondern weil es erneut eine unglaubliche Ähnlichkeit mit ihr selbst aufwies. Im ersten Moment glaubte Merelie, sie würde in einen Spiegel blicken.
„Sogar die kleinen Sprenkel in deinen Augen hast du von ihr.“
Sie wunderte sich darüber, dass Elias dieses Detail so schnell aufgefallen war, denn sie selbst musste sehr genau hinsehen, um die kleinen Farbtupfer in den braunen Augen zu erkennen.
Und sie war überrascht über Elias’ Beobachtungsgabe.
„Gefällt mir gut“, meinte er ein wenig verträumt und wurde prompt rot, als er bemerkte, dass Merelie ihn anschaute.
„Was ist denn noch so alles in der Kiste?“, lenkte er schnell ab und wich ihrem Blick aus. „Oh, Bücher.“
Merelie griff sich ein paar davon und breitete sie auf dem Tisch aus. Es handelte sich sowohl um historische Romane als auch um Sachbücher, die meisten davon hatten die Französische Revolution zum Thema. Die Großmutter packte behutsam die Zeichnungen zurück in die Mappe und legte diese zur Seite. Schon bald stapelten sich weitere Bücher auf dem Tisch. Taschenbücher mit rundgelesenen Rücken und welche, die wie neu aussahen; dazwischen Hardcover, ebenfalls in unterschiedlichen Zuständen.
Merelie überflog die Titel. Sie wollte wissen, welche Epochen ihre Mutter besonders interessiert hatten und erkannte tatsächlich eine Häufung von Themengebieten. Die Badische Revolution. Der Dreißigjährige Krieg. Der Deutsche Bauernkrieg. Das Aufkommen und das Erstarken des Protestantismus.
„Durch das alles musste sie sich im Studium quälen?“, wollte Elias wissen und Merelie amüsierte sich über seinen entsetzten Gesichtsausdruck.
Sie hatte sich immer noch nicht entschieden, was sie nach der Schule machen wollte. Noch hatte sie Zeit, denn das Abitur stand erst in knapp zwei Jahren an. In Memmingen gab es weder eine Universität noch eine Hochschule. Merelie würde nichts anderes übrig bleiben, als in eine andere Stadt zu gehen, wenn sie noch studieren wollte. Im günstigsten Falle würde dies mit Pendeln funktionieren; wenn nicht, musste sie sich am Studienort ein Zimmer nehmen.
Elias nahm eines der Bücher in die Hand. Auf dem Cover war ein Bauer abgebildet, bewaffnet mit einem Dreschflegel; ihm gegenüber ein Uniformierter, der mit einem antiquiert wirkenden Gewehr auf ihn zielte, den Zeigefinger am Abzug. ‚Die Revolution des gemeinen Mannes‘ stand über dem historischen Bild und Elias kommentierte: „Seltsamer Titel.“
„Hier bedeutet ‚gemein‘ so viel wie ‚allgemein‘ oder ‚einfach‘“, erläuterte der Großvater.
„Ach so, jetzt verstehe ich.“
„Da ist übrigens noch etwas in dem Umzugskarton“, fügte der Großvater mit einem schwer zu deutenden Unterton hinzu, was Merelie dazu brachte, rasch noch einmal hineinzuschauen.
Hatte sie etwas übersehen?
Nein. Minnie, die rote Katze der Ferners, hatte die Gelegenheit genutzt und war in die Kiste gehüpft. Als wäre es ihre seit Jahren angestammte Ruhestätte, rollte sie sich jetzt darin zusammen und schnurrte dabei.
Der Großvater lachte lauthals und steckte alle damit an. Erst jetzt spürte Merelie, wie angespannt sie die ganze Zeit über gewesen war.
„Ich glaube nicht, dass wir die Sachen so schnell wieder einräumen können“, gluckste sie.
Minnie ließ sich davon überhaupt nicht beeindrucken, sondern begann völlig ungerührt, ihr vorderes Bein der Länge nach abzulecken und sich damit anschließend immer wieder sorgfältig von hinten nach vorne über den Kopf zu streichen.
„Halt!“, sagte Merelie plötzlich. „Da ist wirklich noch was im Karton.“
Unter Minnies Körper ragte ein Stück Plastikfolie hervor. Merelie hob die Katze vorsichtig an, was diese mit einem mürrischen Blick quittierte. Jetzt legte Minnie die Ohren an und Merelie fürchtete bereits, sie könnte sich einen Hieb ihrer Krallen einfangen. Mit einem kräftigen Ruck zog sie am Plastik und brachte rasch ihre Finger in Sicherheit.
Minnie blickte sie kurz verwirrt an, dann setzte sie ihre Fellpflege fort, als sei nichts geschehen.
Zu ihrer Überraschung hielt Merelie eine Klarsichthülle in der Hand, darin klar erkennbar eine zusammengefaltete Seite aus einer Zeitung.
Merelie entnahm das Blatt und klappte es auseinander. Irritiert erkannte sie eine Seite mit Kleinanzeigen: Er sucht Sie, Sie sucht Ihn, Er sucht Ihn, Sie sucht Sie; darunter diverse Angebote von gebrauchten Autos.
„Warum habt ihr das aufgehoben?“
„Guck mal auf das Datum!“
Als Merelie den Blick nach rechts oben wandte, erkannte sie selbst die Antwort auf ihre Frage.
Elias sprach aus, was sie dachte: „Das ist ja dein Geburtsdatum!“
Daneben prangte handschriftlich in Großbuchstaben: MERELIE.
„Dein Name stand bereits drauf. Wir haben deswegen vermutet, dass Malu ihn sich gewünscht hat und dich entsprechend getauft. Die Zeitungsseite war zusammen mit dir in das Leinentuch gewickelt.“
„Aber was hat das zu bedeuten, Oma?“
Die Großmutter zuckte lediglich mit den Schultern.
„Vielleicht finden wir die Lösung des Rätsels auf der Rückseite“, meinte Elias. Doch als Merelie das Blatt umdrehte, entdeckte sie lediglich Immobilieninserate: Kauf- und Verkaufsannoncen, Mietgesuche und Vermietungsangebote.
„Kleinanzeigen vom Tag meiner Geburt? Wozu soll das gut sein?“
„Bestimmt ist darin eine versteckte Botschaft“, spekulierte Elias, beugte sich über die Seite und begann, sie aufmerksam zu studieren.
„Du wirst nichts finden“, brummte der Großvater.
„Wir haben sie damals wieder und wieder gelesen, Merelie, doch uns ist trotz aller Bemühungen nichts aufgefallen. Und dein Großvater inspizierte sie genauso sorgfältig wie jetzt Elias.“
„Ich habe sie damals sogar mit meiner eigenen Ausgabe der Memminger Zeitung von dem Tag verglichen, weil ich wissen wollte, ob es sich um einen echten Ausschnitt handelte.“
„Und? Konntest du eine Abweichung entdecken, Opa?“
„Nicht die geringste.“
Merelie fiel etwas Anderes ein: „Wissen wir eigentlich sicher, ob dies tatsächlich das korrekte Datum meiner Geburt ist?“
„Es ist der Tag, an dem dich deine Mutter zu uns gebracht hat, Merelie. Natürlich sind wir sofort zu einer Ärztin und haben dich untersuchen lassen. Sie bestätigte, dass du erst wenige Stunden alt warst.“
„Vielleicht finden wir im Rest der Zeitung etwas“, überlegte Elias laut und sein Gesicht erhellte sich. „Genau! Gewiss steckt dort die Lösung! Vielleicht müssen wir einen Code entschlüsseln und bestimmte Stellen von den anderen Seiten zusammenfügen.“
„Du wolltest die komplette Ausgabe seinerzeit aufbewahren, Benno, hast du das eigentlich getan?“
Der Großvater kratzte sich am Kopf. „Also, irgendwo habe ich sie bestimmt noch.“
„Benno!“, die Großmutter klang vorwurfsvoll. „Du hast damals gesagt, dass das doch toll wäre, wenn Merelie später eine Zeitung vom Tag ihrer Geburt hätte. Und nun hast du sie verschlampt?“
Trotzig verschränkte der Großvater die Arme vor der Brust.
„Ich habe gar nichts verschlampt!“
„Dann hol sie doch!“
„Ich muss sie erst suchen.“
Mit großen Bedenken dachte Merelie an die Unordnung, die der Großvater zumeist hinterließ. In der kleinen Wohnung der Ferners gab es ein halbes Zimmer, vermutlich ursprünglich als Abstellkammer gedacht, das er immer ‚sein Büro‘ nannte. Nur selten ließ er jemanden hinein; mehr als eine Person hatte darin auch kaum Platz. Ringsherum an den Wänden stapelten sich Bücher, Zeitschriften und Ordner in Regalen, die bis zur Decke reichten. Eine kleine Nische ließ gerade mal Platz für einen mannsbreiten Schreibtisch und einen Stuhl. Es gab nur ein kleines Fenster, das kaum Licht hereinließ. Der Großvater knipste auch bei Tag die Glühbirne an, die ohne Lampenschirm von der Decke hing.
Wenn man die Tür öffnete, roch es nach altem Papier und nach Staub. Die Großmutter hatte bereits vor Jahren aufgegeben, sich um Ordnung und Sauberkeit in dem Raum zu kümmern. Solange der Großvater die Tür des Zimmers geschlossen hielt, konnte sie damit leben, dass der Bereich außerhalb ihres Einflusses lag.
„Die ist doch längst in den Untiefen der Kammer verloren gegangen, Benno. Was für ein Chaos!“
„Das ist kein Chaos“ verteidigte sich der Großvater. „Das hat alles System.“
„System? Nachdem der Vesuv ausgebrochen war, sah es selbst in Pompeji noch ordentlicher aus als in deinem ‚Büro‘.“ Sie drehte den Kopf zu Merelie. „Ich glaube nicht, dass er die Zeitung wiederfindet.“
„Wollen wir wetten?“, hielt der Großvater dagegen. Entschlossen stand er auf und rauschte aus der Küche.
Merelie ließ den Blick über all das schweifen, was nun auf dem Tisch lag: die vielen Bücher, die beiden Fotoalben, die Seite aus der Zeitung, den Studentenausweis, das Leinentuch.
„Es ist mehr, als ich erhofft hatte“, zog sie ein erstes Resümee.
„Und doch wünschte ich, ich könnte dir noch mehr geben, Merelie.“
Die Großmutter nahm Merelies Hand und drückte sie.
„Ich werde dir all deine Fragen beantworten. Und bitte verzeih mir, dass ich dich so lange im Ungewissen über deine Mutter gelassen habe.“
Merelie konnte ihren Großeltern noch nie für lange Zeit böse sein. Auch diesmal nicht.
Sie griff nach dem schwarzweiß gemusterten Fotoalbum und öffnete es an einer zufälligen Stelle.
Ihre Mutter stand dort, Arm in Arm mit ihrer rothaarigen Freundin Bärbel, direkt vor der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Sie lachten beide in die Kamera und schienen sehr vertraut miteinander zu sein. Ein glücklicher Tag.
Was – in aller Welt – war ihrer Mutter widerfahren?
Wo steckte sie?
Ob sie überhaupt noch am Leben war?
Merelie war fest entschlossen, es herauszufinden.
3. Kapitel
Am späten Nachmittag saßen Merelie und Elias mit dem Rücken zur Wand auf Merelies Bett und blätterten immer noch in den Fotoalben. Auch Minnie war zwischenzeitlich umgezogen und schlief nun zusammengerollt bei den Füßen der beiden, leise vor sich hin schnarchend.
Merelie hatte in kurzer Zeit Vieles über ihre Mutter gelernt. Wie sie ausgesehen und wie sie sich gekleidet hatte; wie ihr Leben verlaufen war. Zwar glaubte sie, ihre Mutter nun zumindest etwas besser zu kennen, doch wünschte sie sich, sie könnte sie leibhaftig vor sich sehen und mit ihr reden.
Hatte Malu sie damals freiwillig bei den Großeltern abgeliefert?
Irgendetwas musste geschehen sein, das sie zu diesem schweren Schritt gedrängt hatte. Nur was?
Sämtliche Bilder hatten sich die beiden inzwischen mehrfach angesehen, immer Ausschau haltend nach verborgenen Hinweisen. Doch nichts von dem, was sie unter die Lupe nahmen, lieferte ihnen einen weiteren Anhaltspunkt, was Merelies Mutter widerfahren war.
Es klopfte an der Tür.
Normalerweise streckte die Großmutter oder der Großvater innerhalb einer Sekunde danach den Kopf zur Tür herein. Heute nicht.
Merelie vermutete, dass es wegen Elias war.
Sie saßen eng beieinander, berührten sich ein wenig an den Seiten, mehr nicht.
„Jaha“, rief sie laut und grinste die Großmutter an, als sie eintrat.
Minnie schlug die Augen auf und gähnte herzhaft.
„Ich habe das Abendbrot in der Küche hergerichtet. Du isst doch hier bei uns, Elias, oder?“
Als hätte Minnie die Großmutter verstanden, streckte sie sich, sprang vom Bett und ging voran in Richtung Küche.
„Klar, muss nur noch meiner Mutter eine WhatsApp-Nachricht schicken, dass ich zum Essen nicht zu Hause bin.“
„Und wenn sie extra für dich gekocht hat?“
Draußen im Gang miaute es. Das dauerte Minnie alles viel zu lange …
„Dann esse ich später eben nochmal, wenn ich zu Hause bin.“
Merelie lachte und die Großmutter meinte wohlwollend: „Mit vereinten Kräften bekommen wir dich schon noch rausgefüttert.“
Elias war eher hager und Merelie wunderte sich immer wieder, wie viel er zu sich nehmen konnte, ohne dicker zu werden.
„Ihr müsst euch die Nasen zuhalten, wenn ihr durch den Gang geht. Und die Küchentür müssen wir geschlossen halten.“
„Wieso das denn?“
„Der Gang ist inzwischen zum Außenlager von Opas ‚Büro‘ mutiert! Er sucht immer noch die Zeitung vom Tag deiner Geburt.“
Merelie nahm das aufgeschlagene Album von ihrem Schoß, schloss es und legte es auf ihren Nachttisch. Dann folgten sie und Elias der Großmutter.
Als sie Merelies Zimmer verließen, begannen sie alle drei fast gleichzeitig zu husten.
Überall lagen Bücher, Zeitschriften, Zeitungen und Dokumente, alles kreuz und quer. Dazwischen windschiefe Stapel und andere, die mittlerweile umgekippt waren. Ein einziges, großes Durcheinander. Sie hatten große Mühe, freie Stellen auf dem Teppichboden zu finden, auf die sie treten konnten.
„Na, Herr Ferner, schon fündig geworden?“
„Ich hab’s gleich. Bei mir geht nix verloren!“
„Wir essen dann schon mal, Benno.“
„Jaja.“
Als sie in der Küche waren, schloss die Großmutter kopfschüttelnd hinter ihnen die Tür, öffnete das Fenster und sog scharf die Luft ein.
Der Küchentisch war für vier Personen gedeckt, die Großmutter hatte Brot, Käse und Wurst hergerichtet.
„Ist das vegetarische Wurst?“, fragte Merelie.
„Diese ja“, deutete die Großmutter auf einen Teller. Danach zeigte sie auf einen anderen: „Diese nein.“
Während Merelie und Elias Platz nahmen, versorgte die Großmutter die quengelnde Minnie. Mit einem Löffel schob sie Nassfutter aus einer Dose in einen Napf. Minnie aß zwei Bissen, dann sah sie die Großmutter vorwurfsvoll an.
Die Großmutter ignorierte den Blick und setzte sich nun ebenfalls.
„Geht es dir jetzt besser, Merelie, nachdem du alles weißt?“
„‘Alles‘ ist wohl etwas übertrieben, Oma, aber ja, es geht mir besser.“
Trotz der noch offenen Fragen: Sie fühlte sich glücklich, ihre Mutter nun zumindest ein wenig zu kennen. Ihre Großmutter dagegen wirkte blass.
„Und dir, Oma?“
„Es ist, als wäre das alles erst gestern geschehen, Merelie, und es tut weh. Ich hätte es dir nicht so lange verheimlichen dürfen.“
Merelie bemerkte, dass ihre Großmutter kurz davor stand, erneut in Tränen auszubrechen. Sie rutschte zu ihr und nahm sie in die Arme.
„Aber ich wusste schon, dass es alles wieder aufwühlen würde. Und ich hatte solche Angst, dass dir etwas Ähnliches passieren könnte.“
Natürlich hätte Merelie gerne schon eher mehr über ihre Mutter erfahren. Sie musste daran denken, wie oft sie in all den Jahren die Großeltern mit ihren Fragen gelöchert hatte.
„Und ich hatte so sehr gehofft, dass der Kelch an dir vorübergeht; dass dich die Gabe überspringt.“
Die Großmutter sah ihre Enkeltochter ängstlich an.
„Kannst du mir das verzeihen, Merelie?“
„Alles ist gut, Oma. Du hast getan, was du für das Richtige gehalten hast“, sagte Merelie und meinte dies auch so.
Dann ergänzte sie: „Ich mag es nicht, wenn du weinst, Oma.“
Die Großmutter versuchte daraufhin ein Lächeln und Merelie freute sich darüber.
„Vielleicht erinnern Sie sich ja an ein paar lustige Geschichten von früher, Frau Ferner. Als Merelies Mutter noch ein Kind war?“
Elias’ Einwurf kam genau zur rechten Zeit, um die angespannte Situation zu lösen. In den Augen der Großmutter blitzte etwas auf.
„Mir sind im Laufe des Nachmittags tatsächlich ein paar Sachen eingefallen.“
Während des Abendessens erzählte sie.
Wie Malu als kleines Kind bei Karstadt verloren gegangen war und ausgerufen werden musste, welch schreckliche Angst sie immer vor dem Zahnarzt gehabt hatte und wie sie einmal hatte nachsitzen müssen, weil sie einem anderen Kind Nutella in die Schultasche geschmiert hatte.
„Das war bei Jennifer, einem wirklich bösen Mädchen. Sie hatte Malu wieder und wieder gepiesackt.“
„Dann hatte diese Jennifer das sicher verdient“, meinte Elias.
„Das war auch das einzige Mal, dass Malu nachsitzen musste. Alles in allem war sie ein ruhiges und braves Kind. Genauso wie Merelie. Wenn du jetzt noch weniger oft diese schwarze Kleidung tragen würdest …“
„Ach, Oma. Ist dir das so wichtig?“
„Ist es dir denn so wichtig?“
Seit ihren jüngsten Erlebnissen war Merelie sich ohnehin unschlüssig, ob die Gothic-Szene noch das Richtige für sie war. Geschminkt hatte sie sich heute Morgen nicht mehr, Elias auch nicht. Doch das Thema hatte im Moment keinen Platz in ihren Gedanken. Dort schwirrten viel zu viele andere Fragen umher.
„Weißt du, woran meine Mutter zuletzt gearbeitet hat? Was sie beschäftigte?“
Die Großmutter überlegte.
„So ganz genau ist mir ihr letztes Thema nicht bekannt. Sie arbeitete gerade an ihrer Semesterarbeit, machte aber ein kleines Geheimnis daraus, worum es dabei ging. Es sollte eine Überraschung werden, hatte sie angekündigt. Immerhin kann ich dir sagen, dass sie bei ihrem letzten Besuch noch im Stadtarchiv war und schwer beladen nach Hause kam.“
Merelie runzelte die Stirn. Diese Information brachte sie noch nicht so richtig weiter.
„Was ist mit ihren früheren Freundinnen? Vielleicht hat sie sich bei einer von ihnen irgendwann gemeldet.“
„Die, mit denen sie Abitur gemacht hat, haben sich danach zum Studium in alle Winde verstreut. Sie hatte kaum noch Kontakt zu ihnen.“
„Aber du kannst dich doch bestimmt an ein paar Namen erinnern, Oma. Vielleicht könnte ich versuchen, Kontakt aufzunehmen?“
Die Großmutter dachte nach.
„Das ist so lange her. Und mein Gedächtnis war auch schon mal besser. Aber die Namen von meinen Freundinnen aus meiner eigenen Kindheit, die weiß ich noch alle!“
„Die nutzen uns jetzt aber nix, Frau Ferner!“, sagte Elias frech und grinste.
„Ja, ja, ich weiß.“ Sie lächelte nun ebenfalls.
Dann fiel ihr etwas ein: „Aber die Polizei hat damals alle Kontaktpersonen befragt.“
„Die Polizei?“
„Wir haben natürlich eine Vermisstenanzeige aufgegeben, Merelie. Aber Benno und ich wussten insgeheim, dass das nichts bringen würde. Die Ursache für ihr Verschwinden hatte mit etwas Anderem zu tun.“
„Mit ihrer Gabe“, sagte Merelie und es war mehr Bestätigung als Frage. Die Großmutter hatte ihr gestern ein wenig von den unerklärlichen Fähigkeiten ihrer weiblichen Vorfahren erzählt. Zum Beispiel hatte die Mutter ihrer Großmutter über heilende Kräfte verfügt, mit denen sie im Ersten Weltkrieg in einem Lazarett so manchen Soldaten auf wundersame Weise gerettet hatte.
„Was hatte Merelies Mutter für eine Gabe, Frau Ferner?“
„Ich weiß es leider nicht. Jahrelang habe ich mir darüber schon den Kopf zermartert, weil ich dachte, das könnte dabei helfen, sie zu finden.“
„Ich würde dennoch gerne mit ihren alten Freundinnen sprechen“, meinte Merelie.
„Vielleicht kann man eine alte Abi-Zeitung ausfindig machen.“
„Gute Idee“, lobte Merelie Elias und er freute sich sichtlich. „Auf welcher Schule war meine Mutter denn?“
„Am Vöhlin.“
Das enttäuschte Merelie, da sie selbst auf das andere der beiden Memminger Gymnasien ging, das Bernhard-Strigel. Elias dagegen freute sich.
„Wie ich“, meinte er. „Ich hak da mal nach.“
„Jetzt? Während der Ferien?“
„Sofort am ersten Schultag!“
„Was ist mit dieser Bärbel?“, fiel Merelie jetzt noch ein. „Den Fotos nach zu urteilen, schien sie mit ihr besonders dicke gewesen zu sein.“
„Ja, mit Bärbel war Malu tatsächlich eng vertraut. Wir haben nach Malus Verschwinden auch noch öfter mit ihr telefoniert ...“ Die Großmutter zögerte ein wenig. „Irgendwann ist das dann eingeschlafen.“
„Ich würde sie zu gerne kennenlernen. Vielleicht bringt uns das eine neue Spur.“
„Wissen Sie wenigstens noch bei ihr, wie sie mit Nachnamen hieß, Frau Ferner?“
Die Großmutter biss auf ihrer Unterlippe herum, während sie überlegte. Dann erhellte sich ihr Gesicht.
„Ja, sie hieß so wie unser früherer Ministerpräsident. Deswegen ist es mir jetzt auch wieder eingefallen.“
„Seehofer?“
„Stoiber! Aber sie war nicht mit ihm verwandt. Das hat sie immer wieder betont.“
„Stoiber, Bärbel“, sagte Elias und zückte sein Handy. „Ich gebe es gleich mal in die Suchmaschine ein.“
„Oder besser ‚Barbara‘“, korrigierte Merelie.
„Stoiber, Barbara“, wiederholte Elias, während er tippte, und kurz darauf triumphierte er bereits: „Treffer!“
„Du hast sie schon gefunden?“
„Co-Autorin bei einem Buch über die Französische Revolution, Geschichtslehrerin an einem Stuttgarter Gymnasium.“
„Das ist sie!“, war Merelie überzeugt, als Elias ihr das Foto der gefundenen Frau vor die Nase hielt. „Deutlich älter, aber eindeutig die Frau auf den ganzen Fotos.“
„Unglaublich, was ihr heutzutage alles mit euren Handys recherchieren könnt. Und welch ein Glück, dass sie immer noch ihren Mädchennamen hat.“
„Findest du auch eine Anschrift?“, fragte Merelie hoffnungsvoll.
„Nein, aber ich gucke mal, ob sie einen Facebook-Account hat.“
Bereits nach wenigen weiteren Sekunden vermeldete er: „Und wieder ein Treffer!“
Jetzt nahm Merelie ihr eigenes Mobiltelefon zur Hand, loggte sich bei Facebook ein und schrieb ihr eine Nachricht.
„Versprich dir nicht zu viel, Merelie, nicht dass du hinterher enttäuscht bist.“
„Wow! Sie scheint online zu sein. Sie schreibt mir bereits zurück.“
4. Kapitel
Merelie wartete bei den Fahrradständern vor dem Bahnhofsgebäude auf Elias. Auf ihrem Handy kontrollierte sie die Uhrzeit.
Hoffentlich lassen sie ihn bei Aldi rechtzeitig gehen und er erscheint halbwegs pünktlich, dachte sie.
Und schon bog er, aufrecht in den Pedalen stehend und breit grinsend, um die Ecke des benachbarten roten Backsteingebäudes, das in früheren Zeiten ein Postamt war und heute eine Kunsthalle.
Er klingelte und rief ihr fröhlich zu: „Bin da! Wer noch?“
Mit quietschenden Bremsen kam er neben ihr zum Stehen.
Sie freute sich sehr, ihn zu sehen. Wie immer merkte sie, dass sich ihre Laune verbesserte, sobald er sich in ihrer Nähe aufhielt. Auch spürte sie das Bedürfnis, ihn zu umarmen, doch sie war zu langsam; er drehte sich bereits von ihr weg, um sein Fahrrad abzuschließen.
„Haben wir noch genügend Zeit, dass ich mir etwas aus der Bahnhofsbäckerei holen kann? Ich habe einen Bärenhunger.“
„Den Zug um 09:04 Uhr bekommen wir locker.“
Elias kaufte zwei Butterbrezen, den Kassenzettel knüllte er achtlos zusammen und steckte ihn in seine Hosentasche. Danach verließen sie das Bahnhofsgebäude wieder. An der Unterführung, über die man die Gleise 2 – 5 erreichen konnte, verharrte Elias. Er drehte sich einmal um seine eigene Achse.
„Sah alles exakt genauso aus?“
„Was meinst du?“
„Als du in dem Buch gefangen warst und es dir vorgegaukelt hat, dass du am Bahnhof bist.“
„Ja.“ Merelie strich mit dem Finger über das Treppengeländer. „Und besonders unheimlich finde ich, dass es sich auch genauso real anfühlte.“
„Wahnsinn!“
„Manchmal denke ich, ich bin immer noch da drin.“
„Bist du nicht!“, widersprach Elias resolut, griff ihre Hand und zog sie mit sich die Stufen hinab.
Merelie wunderte sich über seinen Übermut, doch sie ließ es geschehen. Es fühlte sich gut an.
An Gleis 3 warteten sie keine zehn Minuten. Der Zug erreichte den Bahnhof pünktlich und sie stiegen ein. Da er fast leer war, hatten sie keine Probleme, Sitzplätze zu finden.
„Hast du noch mal mit Frau Stoiber geschrieben?“
„Nur, dass ich nicht alleine komme und wann wir bei ihr eintreffen werden. Sie freut sich auf uns.“
„Gut.“
Draußen ertönte ein Pfiff, dann fuhr der Zug los.
„Sie war etwas kurz angebunden.
---ENDE DER LESEPROBE---