Zwanzig Sekunden Ewigkeit - Siegfried Langer - E-Book

Zwanzig Sekunden Ewigkeit E-Book

Siegfried Langer

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Beschreibung

Alex erwacht.
Es ist bitterkalt.
Ein Kühlraum für Leichen, stellt sie entsetzt fest.
Verzweifelt hämmert sie an die Tür und schreit um Hilfe.
Aber niemand hört sie.
Was ist passiert? Sie kann sich an nichts erinnern.
Hat man sie für tot gehalten?
Oder entführt und hier eingesperrt?
Als sich die Tür schließlich öffnet, wird ihre Verwirrung noch größer, denn in diesem mysteriösen Haus ist nichts, wie es scheint.
Nach und nach tauchen rätselhafte Bruchstücke aus ihrer Vergangenheit auf und Alex versucht, die Puzzleteile an die richtigen Stellen zu legen. Doch je vollständiger das Bild wird, desto mehr zweifelt sie an ihrem Verstand.
Und sie wünscht sich immer mehr, dass alles vergessen bliebe ...

Stimmen zum Roman:

"Ein Buch wünscht man sich so spannend, dass man es nicht aus der Hand legen möchte. Gelungen ist das Siegfried Langer, der mit „Zwanzig Sekunden Ewigkeit“ einen Thriller der besonderen Art schuf. Die Nerven der Protagonistin Alex – wie auch die des Lesers – liegen blank!" (BILD)

"Den Spannungslevel setzt Langer bereits auf den ersten Seiten sehr hoch an, hält diesen lange Zeit auf diesem Level, um ihn dann am Ende nochmals steil ansteigen zu lassen." (Andrea Hübner, Literaturzeitschrift.de)

" ... eine innovative Story, die mir in dieser Form, vor allem mit den Entwicklungen zum Finale hin, bislang noch nicht untergekommen ist. Getragen von kurzen und knappen Sätzen schickt Langer seine Hauptfigur durch sehr rätselhafte Geschehnisse, die ungemein atmosphärisch präsentiert werden." (Sebastian Hallmann, Stuffed-Shelves.de)

"Zwanzig Sekunden Ewigkeit ist ein Thriller der besonderen Art, ich habe bisher nichts Vergleichbares gelesen, die Art, wie die Story aufgebaut ist, ist für mich vollkommen neu gewesen und ich war sehr überrascht, aber auf sehr angenehme Weise." (Manuela Hahn, Lesenswertes aus dem Buecherhaus)

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Seitenzahl: 157

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Inhalt

I. Teil

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

II. Teil

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

III. Teil

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

IV. Teil

49. Kapitel

50. Kapitel

51. Kapitel

52. Kapitel

Epilog

Nachwort

'Leide!'

'Tödliche Tabus'

'Sterbenswort'

Bibliographie

Impressum

Zwanzig Sekunden Ewigkeit

Thriller

von

Siegfried Langer

„Ich denke, also bin ich.“

(René Descartes)

I. Teil

Dementia?

1. Kapitel

Alex erwachte.

Sie spürte, dass sie auf etwas Kaltem ruhte. Auch die Raumtemperatur lag deutlich unterhalb ihres Wohlfühlbereichs. Sie fröstelte.

Verunsichert öffnete sie die Augen, doch um sie herum herrschte Dunkelheit.

Wo, um alles in der Welt, befand sie sich?

Mit ihrer Hand tastete sie nach ihrer Kleidung und stellte fest, dass sie lediglich ein dünnes, ärmelloses Kleidchen trug. Viel zu wenig für diese Kälte. Eine Decke hätte ihr geholfen, doch sie lag einfach so, nur mit dieser knappen Bekleidung, auf einer glatten Oberfläche.

Als sie den Kopf drehte, entdeckte sie einen kleinen, roten Kreis, der schwach leuchtete.

Ob es sich dabei um einen Lichtschalter handelte?

Sie war ungeübt darin, Entfernungen abzuschätzen, und streckte versuchshalber den Arm aus.

Es schmerzte. So, als ob sie ihn lange Zeit nicht bewegt hätte. Und er war zu kurz. Es blieb ihr nichts Anderes übrig, als zu versuchen, hinüber zu gehen.

Ihr gesamter Körper fühlte sich starr an; als habe sie überall Muskelkater. Leise stöhnend gelang es ihr, sich aufzusetzen. Ihre Beine baumelten, erreichten aber keinen Boden.

Sie wagte den Sprung und landete nach wenigen Zentimetern auf etwas ebenfalls Kaltem. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie barfuß war. Sie schüttelte sich. Mit den Zehen erfühlte sie Fugen und vermutete quadratische Fliesen unter sich.

Auf unsicheren Beinen schwankte sie vorwärts, bis sie den roten Punkt erreichte.

Tatsächlich: ein Knopf. Sie drückte darauf. Ein paar Sekunden lang flackerte das Licht, dann blieb es konstant und erhellte die Örtlichkeit.

Alex sah, dass sie in einem etwa zwanzig Quadratmeter großen Raum stand, die Wände im gleichen Grauton gestrichen, den die Bodenfliesen hatten. Kein einziges Fenster. In der Mitte stand ein zwei Meter langer Tisch aus Edelstahl. Auf der ihr gegenüberliegenden Seite sechs überdimensionierte Schubladen, ebenfalls aus Metall und ins Mauerwerk eingelassen: drei nebeneinander, darunter eine weitere Reihe mit der gleichen Anzahl. Sie standen alle leicht geöffnet. An der rechten Wand ein Spind, an der linken ein Waschbecken.

Sie bemerkte, dass sich neben dem Lichtschalter eine Tür befand. Vorsichtig drückte sie die Klinke nach unten. Zu Alex' Leidwesen war sie verschlossen. Sie bückte sich und spähte durchs Schlüsselloch: alles dunkel.

Erneut musterte sie die Schubladen.

Leichen, fuhr es ihr durch den Kopf, hier werden Leichen aufbewahrt!

Sie ängstigte sich sehr vor dem, was sie in den Schubladen vorfinden würde, und doch übten diese einen Sog aus, dem sie sich nicht widersetzen konnte. Immer noch quälte sie jede Bewegung und so ging sie in kleinen Schritten um den Tisch herum.

Ihr Herz schlug schneller, aber sie nahm allen Mut zusammen und zog eine der sechs auf. Es quietschte leise, als das Metall der Schublade an dem der Führungsschiene rieb.

Leer.

Aber sie schien Alex tatsächlich groß genug, um einen menschlichen Körper darin zu lagern.

Sie widmete ihre Aufmerksamkeit den fünf anderen und stellte aufatmend fest, dass sich auch dort niemand befand.

Als sie sich umsah, entdeckte sie, dass unterhalb des Tisches etwas auf dem Boden lag, ebenfalls grau, wie die Fliesen. Ihre Muskeln taten weh und der Schmerz ließ sie aufstöhnen, während sie sich neugierig nach dem Gegenstand bückte und ihn aufhob. Er entpuppte sich als ein handtellergroßes Pappkärtchen, an dessen einer Ecke ein Draht befestigt war.

Blutstropfen klebten darauf, die einen Teil des Textes unleserlich machten:

----------------------

Alex***** Wilke

Geb. 24.11.1982

Gest. **********

----------------------

Ja, sie war Alexandra Wilke.

Aber sie war doch noch am Leben!

Hatte man sie für tot gehalten und hier unten aufgebahrt?

Das Kärtchen musste sie verloren haben, als sie vom Tisch gesprungen war. Vermutlich war es um ihren großen Zeh gebunden gewesen.

Immer wieder gab es Fälle von Scheintoten.

Nun war ihr so etwas passiert?

Oh, nein!

Sie musste unbedingt auf sich aufmerksam machen!

Ihr Körper verweigerte immer noch den Gehorsam. Ihr Kampf ums Gleichgewicht zwang sie, sich langsam zu bewegen. Sie wollte zurück zur Tür und schließlich erreichte sie ihr Ziel, ohne zu stolpern.

Mit ihren Fäusten schlug sie dagegen. Und sie schrie.

“Hallo?”

“Hört mich jemand?”

“Ich lebe!”

Abgesehen davon, dass ihre Stimme im Raum widerhallte, blieb ihre Aktion ergebnislos.

Sie hämmerte weiter. Bis ihre Fäuste schmerzten.

Sie rief weiter. Bis sie außer Atem war.

Dann sackte sie kraftlos vor der Tür zusammen.

2. Kapitel

Mit dem Rücken lehnte Alex an der Tür.

Sie holte tief Luft und überlegte.

Falls sie dich für tot gehalten haben, dachte sie, würden sie dich sicher nicht sehr lange hier herumliegen lassen.

Und: Falls sie in den Schubladen tatsächlich Leichen aufbewahrten, so müssten sie diese dort auch kühlen können.

Sie streckte den Kopf, um über den Tisch hinwegzusehen.

Tatsächlich, jetzt entdeckte sie ein Control-Panel neben den Schubladen. Damit, vermutete sie, konnte man die Temperatur einstellen.

Sicherlich würde also bald jemand auftauchen, um ihren vermeintlich toten Körper hinüberzutragen und hineinzulegen.

Nur eine Frage der Zeit.

Bis jemand kam, so entschloss sie sich, könnte sie sich den Spind näher ansehen.

Sie stand auf und bemerkte zufrieden, dass sie sich inzwischen schon etwas besser auf den Beinen halten konnte.

Mist!

Ein Zahlenschloss hing an der Spindtür.

Vier Stellen hatte es, das hieß 10.000 Möglichkeiten für die richtige Kombination, 0-0-0-0 bis 9-9-9-9.

Zufrieden registrierte sie, dass das logische Denken funktionierte.

Wie sie wusste, neigten die meisten Menschen dazu, einfache Zahlenmuster zu wählen: 1-2-3-4, 0-0-0-0, 1-1-1-1, 2-2-2-2.

Kein Erfolg.

Sie probierte die jeweils vier gleichen Ziffern bis 9-9-9-9.

Auch nichts.

Dann 0-8-1-5, 4-7-1-1.

Wieder kein Klicken.

Mist. Mist. Mist.

Was gab es noch für häufige Ziffernkonstellationen?

Ihr fielen keine mehr ein und sie versuchte, den Bügel so herauszuziehen.

Ein sinnloses Unterfangen.

Manchmal benutzten die Leute auch ihr Geburtsdatum, um ein Zahlenschloss zu sichern. Wusste man, wann der Inhaber des Schlosses Geburtstag hatte, war es ein Leichtes, es zu öffnen.

Spaßeshalber drehte sie die Zahlen, bis ihr eigenes Geburtsdatum zum Vorschein kam: 2-4-1-1.

Was war das denn?

Sie glaubte, das erlösende Geräusch gehört zu haben.

Hatte das Datum für den Inhaber des Spinds etwa ebenfalls eine spezielle Bedeutung? War er gar am selben Tag geboren worden wie sie selbst?

Was für ein Zufall!

Auf den Inhalt des Spinds war sie sehr neugierig, doch jetzt fühlte sie sich plötzlich wie eine Diebin. Vorsichtig blickte sie sich um.

Aber wer hätte sie schon beobachten sollen?

Die Zimmertür war nach wie vor geschlossen.

Und hineinsehen könnte sie ja mal ...

Mit einem lauten Quietschen öffnete sie die Spindtür, das unangenehme Geräusch schmerzte in ihren Ohren.

Vielleicht hörte das jemand von draußen und kam nun, um nach dem Rechten zu sehen?

Sie blickte hinein.

Zwei Kleiderbügel hingen darin, an jedem ein Kleidungsstück.

Ein fliederfarbenes Sweatshirt und eine blaue Jeans.

Alex wunderte sich; sie hatte eher mit einem Arztkittel oder etwas Ähnlichem gerechnet.

Als sie sich das Sweatshirt genauer ansah, konnte sie sehr schnell ein Motiv auf der Vorderseite identifizieren: Dornröschen im innigen Tanz mit ihrem Prinzen. Als kleines Mädchen hatte sie diesen Märchenfilm von Walt Disney geliebt. Wie oft sie ihn gesehen hatte, wusste sie nicht. Sicher einige Dutzend Male.

Alex spürte, dass es ihr kalt den Rücken hinablief, denn sie hatte damals exakt das gleiche Sweatshirt besessen.

Guckten die Kinder von heute noch klassische Märchen wie Dornröschen?

Und vor allem: Welcher Erwachsene trug so ein Kleidungsstück?

Denn das Sweatshirt war zweifellos nicht für ein Kind. Alex vermutete, dass es sich um ihre eigene Konfektionsgröße handeln könnte.

Ihr Erstaunen hielt an: Auch die Jeans kam ihr bekannt vor. So eine war damals, im Alter von zwölf Jahren, ihre erste Markenjeans gewesen. Sie konnte sich noch genau daran erinnern, wie sehr sie seinerzeit ihre Mutter gegängelt hatte, genau so eine zu bekommen, und wie lange es gedauert hatte, bis ihre Mutter endlich eingeknickt war.

Sie besah sich die Zahlen im Bund: exakt ihre heutige Größe.

Ob sie mal hineinschlüpfen sollte?

Schließlich fror sie. Und sie lieh sie sich ja nur aus. Sie konnte ja nichts dafür, dass man sie hier versehentlich eingeschlossen hatte.

Sie zog die Jeans an und sie passte perfekt.

Das Sweatshirt würde sie sicher auch wunderbar wärmen.

Sie tauschte ihr graues Kleidchen dagegen ein und entdeckte nun weitere Kleidungsstücke am Boden des Spinds: rote Hausschuhe und rot-blaue Ringelsocken.

Sie nahm sie ebenfalls heraus und zog sie an: Viel besser als die kalten Fliesen unter ihren Füßen.

Irgendwie kam sie sich albern vor, nach all den Jahren wieder Dornröschen auf ihrer Brust zu tragen.

Aber egal, es sah sie im Moment ja niemand.

Ein Spiegel wäre nicht schlecht.

War nicht über dem Waschbecken einer gehangen?

Sie drehte sich und entdeckte zu ihrer großen Überraschung, dass die Zimmertür offenstand.

3. Kapitel

Alex lauschte.

Kein Laut. Nichts.

Die Tür war vorhin definitiv geschlossen gewesen – und abgesperrt.

Sie hätte es hören müssen, wenn sie jemand entriegelt hätte.

Allerdings war sie mit dem Anziehen beschäftigt gewesen. Hatte der oder die Unbekannte exakt in dem Augenblick den Schlüssel herumgedreht, als die Spindtür beim Öffnen gequietscht hatte?

Er oder sie müsste noch in der Nähe sein.

“Hallo?”, fragte sie leise. “Ist da jemand?”

Doch niemand antwortete ihr.

Sie wiederholte die Fragen etwas lauter, mit dem gleichen Ergebnis.

Spielte da jemand Verstecken mit ihr?

Bisher war sie von einem Missverständnis ausgegangen. Man hatte sie für tot gehalten und hier in diesem Kühlraum aufgebahrt.

Aber was, wenn sie jemand absichtlich hierher gebracht hatte? In bestem Wissen, dass sie noch lebte.

Ein Entführer!

Aber warum hatte er sie ausgezogen und ihr das Namenskärtchen um den Zeh gebunden?

Was für ein kranker Mensch musste das sein!

Ob er sie auch …?

Als sie nackt vor ihm lag?

Nein, das glaubte sie nicht. Sie war sich sicher, dass sie dies noch spüren würde.

Sein Interesse musste ein anderes sein: Spielte er ein seltsames Spiel mit ihr?

“Geben Sie nur acht!”, rief sie nun, mit mehr Selbstbewusstsein, als sie sich zugetraut hätte. “Ich habe den schwarzen Gürtel in Karate.”

Kamae, Shizentai, Kokutsu-dachi.

Die Begrifflichkeiten fielen ihr ein, mitsamt der dazugehörigen Stellungen. Auch das Gedächtnis funktionierte also.

Sie knickte die Finger ein und streckte sie, wieder und wieder. Dann ein paar Kniebeugen. Allmählich verringerten sich die Verspannungen.

Beherzt ging sie auf die Tür zu und brachte sich in Kampfstellung. Falls dort draußen jemand war, so stand er in der Dunkelheit, jenseits des Lichtkegels, den die Deckenlampe warf.

Die Tür führte in einen Gang hinaus, Alex konnte gegenüber eine weitere Tür erkennen, links eine Wand, die andere Richtung verlor sich im Dunkeln.

Da musste er stehen, rechts. Und da würde er auf sie lauern.

Sie sprang in den Gang und boxte noch im Sprung auf die Stelle, an der jemand seinen Kopf haben müsste, wenn er sich neben der Tür versteckt hielt.

Aber sie schlug ins Leere.

Langsam gewöhnte sie sich an das Dämmerlicht und konnte etwas mehr erkennen: niemand zu sehen.

Entweder der Unbekannte war längst verschwunden oder er versteckte sich weiter hinten in der Finsternis.

Aus den Augenwinkeln heraus sah sie etwas Rotes.

Da: ein weiterer Lichtschalter.

Sie drückte drauf. Wieder flackerte es ein paar Sekunden, ehe es endgültig hell wurde.

Der Gang endete an einer Treppe, die nach oben führte. Die Stufen kamen ihr bekannt vor, doch sie konnte sich nicht erinnern, wo sie sie schon einmal gesehen hatte.

Etwas knisterte.

Das Geräusch kam von der anderen Seite der Tür.

Natürlich! Da hinein musste der Unbekannte verschwunden sein! Er hatte ihre Tür geöffnet und war dann schnell gegenüber durch die andere gehuscht und hatte sie leise hinter sich geschlossen.

Sie zwang sich dazu, ruhig und besonnen zu bleiben.

Auch an dieser Tür befand sich ein Schlüsselloch.

Sie beugte sich hinab und blickte hindurch.

Der Raum war hell beleuchtet.

Eine Badewanne stand darin, bis zum Rand mit dampfendem Wasser gefüllt.

Daneben eine dicke, grauhaarige Frau. Sie trug ein weißes Oberteil mit einem roten Symbol darauf, das Alex nicht so richtig erkennen konnte. Außerdem hielt sie einen Gegenstand in der Hand, den sie just in diesem Moment über die Wanne führte. Er machte ein surrendes Geräusch.

Worum handelte es sich dabei?

Endlich konnte Alex das Objekt identifizieren: ein Fön.

Die Frau wollte doch nicht etwa den eingeschalteten Fön in die volle Badewanne …?

Doch die Frau drehte sich nun um und ihr Blick traf den von Alex.

Gerade so, als wüsste sie, dass sie jemand durchs Schlüsselloch beobachtete.

Die Hand mit dem Fön immer noch über dem Wasser, streckte sie Alex nun die andere entgegen. Mit dem Zeigefinger machte sie eine Bewegung, als wolle sie Alex heranlocken, genau wie es die Hexe im Märchen mit Hänsel vor dem Knusperhäuschen getan hatte.

Alex schwanden die Sinne.

4. Kapitel

Wieder lag sie und fühlte die Kälte von Metall unter sich.

Und wieder war alles dunkel um sie herum.

Sofort erinnerte sie sich an die dicke Frau aus dem gegenüberliegenden Raum.

War sie ihre Entführerin?

Hatte sie sie wieder zurück hierher getragen und auf den Tisch gelegt?

Kräftig genug schien sie Alex zu sein, doch warum hätte sie dies tun sollen?

Alex war kalt und sie bemerkte nun, dass sie wieder das dünne Kleidchen trug.

Wie? Man hatte sie umgezogen?

An der großen Zehe ihres rechten Fußes spürte sie etwas.

Die Frau hatte ihr auch das Kärtchen wieder um die Zehe gebunden?

Was sollte das?

Welches perfide Spiel trieb sie hier mit ihr?

Sie streckte sich und setzte sich auf.

Lange konnte sie nicht gelegen haben, denn dieses Mal quälten sie keine Verspannungen.

Wenn nur diese elende Kälte nicht wäre!

Ob Sweatshirt und Jeans wieder im Spind hingen?

Vorsichtig setzte sie einen Fuß vor den anderen, schritt zum Lichtschalter und drückte darauf.

Es flackerte, wie vorhin.

Der Raum sah genauso aus, wie sie ihn von ihrem ersten Erwachen kannte, die Zimmertür und der Spind waren wieder geschlossen.

Sie ging zum Zahlenschloss und drehte die Ziffern, bis erneut ihr Geburtsdatum erschien.

Es klickte.

Warum?, fragte sich Alex. Warum hatte die Frau die Kombination nicht verändert?

Fahrlässigkeit oder Absicht?

Rasch schlüpfte sie in die Kleidung und kehrte zurück zur Tür.

Sie drückte die Klinke und stellte fest, dass die Tür unverschlossen war.

Das roch geradezu nach einer Falle!

Alex besann sich darauf, dass sie Karate beherrschte. Mit der dicken Frau würde sie schon fertig werden.

Sofern diese keine Waffe hatte.

Oder einen Komplizen.

Vorsichtig öffnete sie die Tür und spähte in den Flur hinaus: alles schien unverändert.

Sie schaltete das Ganglicht ein.

Erneut hörte sie das Geräusch des Föns aus dem gegenüberliegenden Zimmer.

Das Schlüsselloch zog sie magisch an.

Sie konnte nicht anders, sie musste einfach ein weiteres Mal hindurchsehen: Die dicke Frau saß nun in der Wanne, bis zum Hals im dampfenden Wasser. In der Rechten hielt sie wieder den Fön. Jetzt blickte sie genau zu Alex und lächelte sie freundlich an. Dann ließ sie den Fön los. Er platschte aufs Wasser, das Licht flackerte und die dicke Frau zuckte mehrere Sekunden lang, ehe sie in sich zusammensackte. Ihr Kopf ragte immer noch aus dem Wasser, das Kinn lag auf dem Wannenrand auf.

Alex konnte den Blick nicht lösen. Sie spürte, wie sich die Härchen auf ihren Armen aufstellten. Als wäre etwas von dem Strom auch durch ihren eigenen Körper geflossen.

Plötzlich öffnete die Frau die Augen und sah wieder zu ihr.

Ihre Lippen formten ein Wort: “Komm!”

Doch Alex wollte nicht.

Nein, sie wollte nicht in diesen Raum! Es graute ihr davor.

Endlich gelang es ihr, sich vom Schlüsselloch zu entfernen.

Sie erhob sich aus der Hocke und hörte, dass eine Tür geöffnet wurde. Das Geräusch kam aus Richtung der Treppe.

“Alexandra?”

Ein Mann rief sie und sie erkannte die Stimme.

“Alexandra?”

Das konnte nicht sein!

“Bist du da unten?”

Sie hörte ihren Vater.

Ihren Vater, der vor wenigen Wochen verstorben war.

5. Kapitel

Alex' Vater stand am oberen Ende der Treppe und sah streng zu ihr hinab.

“Komm mal schön herauf, Fräulein.”

Sie zögerte. Sie wusste, wenn ihr Vater das Wort 'Fräulein' gebrauchte, dann war er sauer.

Schließlich setzte sie – das Haupt gesenkt – ihren Fuß auf die unterste Treppenstufe.

Aber halt!

Was passierte hier?

Sie war eine erwachsene Frau, eben in einem Kühlraum für Leichen erwacht.

Jetzt stand ihr totgeglaubter Vater über ihr und sprach mit ihr wie mit dem kleinen Mädchen, das sie früher gewesen war.

Während sie sich langsam nach oben bewegte, erkannte sie endlich, woran die Treppe sie beim ersten Anblick erinnert hatte: Sie sah exakt so aus wie die in ihrem Elternhaus.

Und die dritte Stufe knarzte. Genau wie damals.

“Deine Mutter hat mir alles erzählt, was vorgefallen ist. Was ist nun? Wird's bald?”

“Ja, Papa”, hörte sie sich leise und reumütig sagen. Mit der Stimme eines Kindes.

Sie ließ sich viel Zeit dabei, nach oben zu gelangen.

Als sie auf dem obersten Treppenabsatz ankam, bemerkte sie, dass sie ihrem Vater nicht einmal bis zur Brust reichte, und sie wagte es nicht, nach oben in seine Augen zu sehen.

“In die Küche!”, befahl er.

Sie blickte sich um und erkannte, dass sie sich tatsächlich in dem Haus befand, in dem sie aufgewachsen war.

Rechts ging es ins Wohnzimmer, geradeaus zur Treppe in den ersten Stock, links in die Küche. Dorthin wandte sie sich und setzte sich auf einen Stuhl am Esstisch. Ihre Beine baumelten nach unten, wie vorhin von dem Edelstahltisch.

War dieser Esstisch nicht entsorgt worden, nachdem Papa verstorben und der Haushalt aufgelöst worden war?

Aber es wirkte alles so wie früher.

“Jetzt erzähl mir mal schön, was heute auf dem Nachhauseweg von der Schule passiert ist.”

Alex stierte auf die Kiefernholzmaserung der Tischplatte und biss sich auf die Unterlippe.

“Ich möchte, dass du mir antwortest, Fräulein. Mit Mama wolltest du ja nicht reden.”

Sie schmeckte Blut.

“Du machst es damit nur schlimmer!”

Was sollte sie sagen?

Sie wusste nicht, was er meinte.

“Und sei gewarnt: Frau Boose hat uns alles erzählt. Es nutzt dir überhaupt nichts, wenn du mir Lügen auftischst.”

Frau Boose …