Alles bleibt anders - Siegfried Langer - E-Book

Alles bleibt anders E-Book

Siegfried Langer

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Beschreibung

Nominiert für den Deutschen Phantastik Preis. Nominiert für den Kurd Laßwitz Preis. Schlimm genug für Frank Miller, dass er sein Gedächtnis verloren hat. Doch nicht nur das - er wurde offiziell für tot erklärt! Als ihn nicht einmal seine Verlobte Claire wiedererkennt, verwandelt sich sein rätselhaftes Schicksal endgültig in eine Tragödie. Es ist das Jahr 2008 und Franks langsam zurückkehrende Erinnerungen konfrontieren ihn mit einer unglaublichen Realität: mit einem Dritten Reich, das das Jahr 1945 überlebt hat, mit einer NSDAP, die mächtiger und grausamer ist als jemals zuvor. Über ganz Europa weht die Flagge mit dem Hakenkreuz. Franks Suche nach seiner Identität führt ihn in die deutsche Hauptstadt Germania, erbaut nach den tollkühnen Entwürfen Hitlers und Speers. Dort erfährt er, dass er kämpfen muss - um sein Leben, um seine Liebe zu Claire und um das Schicksal vieler anderer. ___ Pressestimmen: Tageszeitung Der Standard, Wien (Online-Ausgabe): "Der aus dem Allgäu stammende und mittlerweile in Berlin lebende Autor legt einen spannenden Debütroman vor, der mehrfach mit Schauplatz- und Handlungswechseln überrascht." Magazin phantastisch!: "Atmosphärisch dicht, stilistisch flüssig ... zeigt Siegfried Langer, dass man nicht immer lauten Kanonendonner braucht, um warnend seine Leser zu mahnen, ob der Gefahr die unauffällig schlummert und sich immer einmal wieder regt - die Gefahr der Intoleranz, der Indoktrination und des Radikalismus, die unabhängig welche Ideologie sich dahinter versteckt die Menschen in den Untergang reißt." Fantasyguide.de: "Alles in allem bietet "Alles bleibt anders" eine interessante und ungewöhnliche Science Fiction-Geschichte, die Unterhaltung und Anspruch gelungen miteinander zu verbinden weiß ..." SF-Notizen: "Schön, dass hier mal wieder ein kleiner Verlag so ein starkes Werk in die phantastische Szene einbringt, preiswürdig ..." Brigitte Grothum im Magazin treffpunkt: "Spannend und lesenswert"

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Alles bleibt anders
von
Siegfried Langer
Gewidmet meiner lieben Mutter.
»Was ist unschuldig, heilig, menschlich gut,wenn es der Kampf nicht ist ums Vaterland!«
(Friedrich Schiller, 'Die Jungfrau von Orleans', 1801)
»Ich kann gar nicht so viel fressen,wie ich kotzen möchte.«
(Max Liebermann, zur Machtergreifung Adolf Hitlers, 1933)
I.
Es wird in hundert Jahren wieder so ein Frühling sein,genauso schön, mein Schatz, wie heut'.Vielleicht steht dann noch unsere alte Bank im Sonnenschein,doch die dort sitzen, das sind leider andre Leut'.
Drum lass uns nicht nach fernen Tagen fragen,noch bleiben wir ein gutes Weilchen hier.Und wird in hundert Jahren wieder so ein Frühling sein,es kann nicht schöner sein, als heut mit dir.
'Es wird in hundert Jahren wieder so ein Frühling sein'Claire Waldoff, 1931
1
Für einen Augenblick nahm er seine Umgebung als Park wahr.Für einen Augenblick sah er Frauen mit Kopftüchern, Männer mit Schnurrbärten und dazwischen spielende Kinder. All diese Menschen bevölkerten die Wiesen ringsum und drängten sich um qualmende Grille. Er roch sogar die Fleischstücke und die Würste, die auf den Rosten lagen, doch auch dieser Sinneseindruck blieb nur für den Bruchteil einer Sekunde präsent, um dann für lange Zeit wieder aus seinem Bewusstsein zu verschwinden.Der Geruch verflüchtigte sich genauso schnell, wie sich das Gebäude vor seinen Augen verwandelte. Die Architektur blieb die gleiche, aber an der Stelle, an der gerade noch 'Deutsch-Türkischer Sportverein' neben einem schwarz-rot-goldenen Halbmond auf weiß getünchter Mauer prangte, stand nun plötzlich 'Görlitzer Bahnhof' in gotischen Lettern auf dem unverputzten Backsteingebäude. Als hätten sein linkes und sein rechtes Auge unterschiedliche Informationen an sein Gehirn weiter gemeldet und dieses hätte binnen kürzester Zeit entschieden, welches die korrekte Umgebung zu sein hatte, die er da beobachtete.Nur dieser Augenblick der Unsicherheit und des Schwindels. Dann stand er wieder mit beiden Beinen fest auf der Erde und hatte das, was er eben gesehen hatte, auch schon wieder vergessen.»He, Sie da!«Irgendjemand bellte ihn an und als er am Bahnhofsgebäude entlang sah, erkannte er Menschen, die zu ihm starrten: Zwei Männer mit Zylindern auf den Köpfen, in Anzug und Fliege, einer trug eine Zeitung unter den Arm geklemmt; eine junge Frau mit schulterlangem, blondem Haar, in einem fliederfarbenen, knöchellangen Kleid; ein ganzes Rudel Kinder im Alter von etwa acht Jahren in dunkelblauen Schuluniformen mit goldenem Emblem auf der Brust. Mehrere der Kinder glotzten mit offenem Mund zu ihm herüber, mitten unter ihnen eine ältere Dame in der gleichen Uniform, die ergrauten Haare zu einem Dutt nach oben gesteckt.»Ja, Sie meine ich!«Jetzt sah er auch den Mann, der da brüllte und ganz offensichtlich ihn meinte: ein stämmiger, vollbärtiger Mann, eine graue Uniform inklusive Schirmmütze tragend. Hätte er näher bei ihm gestanden, hätte er das Wort »REICHSBAHN« in schwarzen Buchstaben am Ärmel lesen können.»Kommen Sie sofort da herunter!«Was der Mann in der grauen Schaffnerkleidung mit 'da' meinte, bemerkte er, als er an sich herab sah und feststellte, dass er auf einer Schwelle stand, die zu einer Gleisanlage gehörte.»Sind Sie lebensmüde?«Jeder andere an seiner Stelle hätte schleunigst die Schienen verlassen. Er jedoch ging langsam und gemächlich auf den Bahnsteig zu, war sich der Gefahr gar nicht bewusst. Die dort Versammelten beobachteten jeden seiner Schritte.»Mann, haben Sie ein Glück, dass der Elf-fünfundvierziger zehn Minuten Verspätung hat!«, sagte der Mann in grau und streckte ihm eine Hand entgegen; auch der Anzugträger mit der Zeitung unter dem Arm, nahm diese nun in die eine Hand und reichte ihm die andere. Er ergriff sie beide und ließ sich auf den etwa achtzig Zentimeter erhöhten Bahnsteig hieven.Der Schaffner vergewisserte sich mit einem Blick nach links, dass der erwartete Zug immer noch nicht in Sichtweite war, und zeigte Erleichterung, die sogleich von einem strafenden Ausdruck verdrängt wurde.»Es ist Unbefugten verboten, den Gleiskörper zu betreten. Ich bin verpflichtet, darüber Meldung zu erstatten«, zitierte er und zog Notizblock und Stift aus seiner Brusttasche. »Wie heißen Sie?«»Frank«, sagte der Angesprochene ohne zu zögern. 'Frank' war der Name, der ihm spontan eingefallen war und er wusste auch, dass es der Richtige war: der Seine. Er wusste nicht, wie er hier auf diesen Bahnhof kam, geschweige denn, warum er hier war; aber an seinen Namen, an den erinnerte er sich plötzlich wieder. Ähnlich einem alten Menschen, bei dem große Lücken im Gedächtnis klaffen und der dennoch stets das Datum seiner Geburt nennen kann, wenn man ihn danach fragt.So bestätigte Frank mit der Aussprache seines Vornamens mehr sich selbst als dem Schaffner, wer er war.Der Schaffner notierte. »Und Ihr Nachname?«Frank wurde sich der Situation, in der er sich befand, immer noch nicht bewusst. Er fragte sich nicht, warum und wofür der Schaffner diese Informationen von ihm wollte. Nein, er war ihm dankbar, denn er wollte selbst wissen, wie sein Nachname war; in Gedanken suchte er ihn, konnte ihn aber nicht finden.»Ihr Nachname?«, beharrte der Bärtige.Dass die ältere Dame in der blauen Schuluniform mittlerweile dafür sorgte, dass ihre Schützlinge sich benahmen, nicht länger mit offenem Mund zu ihm herüberstarrten und mit ihr ein Stück zur Seite gingen, bemerkte er nur am Rande.»Können Sie mich verstehen? Sprechen Sie deutsch?«Auch der Mann mit der Zeitung wandte sich nun, zusammen mit dem anderen Anzugträger, von dem Gespräch ab, genau wie die junge Frau es auch schon getan hatte. Anstand war der Grund dafür, nicht etwa fehlende Neugierde.Der Schaffner wusste sich schließlich nur noch damit zu helfen, den Fremden am Oberarm zu packen und mitzuzerren.»Sie kommen erstmal mit zur Stationsaufsicht!«Der endlich eintreffende Zug lenkte für einen Moment seine Aufmerksamkeit ab, und Frank gelang es, die Hand des Schaffners abzuschütteln und loszurennen.Beim Schaffner, hin und her gerissen, ob er dem Flüchtenden nacheilen oder sich um die Abfertigung der eingefahrenen Bahn kümmern sollte, siegte das Pflichtgefühl.Sollte dieser Lebensmüde doch machen, was er wollte, die Sicherheit am Bahnsteig ging vor. Den Mann ohne Nachnamen erwähnte er nur noch in seinem Dienstbericht, den er bei Schichtende seinem Vorgesetzten in dessen Fach legte. Darüber hinaus interessierte er ihn nicht mehr.Und Frank rannte. Er rannte durch das große Portal hindurch, das den Bahnsteig mit der Bahnhofshalle verband, dann geradeaus, an einer breiten, nach unten führenden Treppe vorbei, die Zugang zu anderen Gleisen verschaffte, und schließlich durch die kuppelförmige Halle selbst. Unbewusst nahm er die Menschen wahr, die da standen, warteten, an einem Imbiss etwas aßen, sich gerade an den Auskunfts- und Fahrkartenschaltern eine Reiseverbindung ermitteln ließen oder ein Billet lösten. Dienstmänner, die schwere Koffer und Reisetaschen schleppten; Reisende, die schnellen Schritts die Halle durchquerten. Der eine oder andere drehte sich irritiert zu dem Rennenden um. Dann war Frank auch schon durch die Vorhalle hindurch und kam auf einem gepflasterten Bürgersteig zum Stehen. Nur für einen kurzen Moment hielt er inne, um zu erfassen, wo er war. Geradeaus standen mehrere Pferdedroschken, aber auch einige motorgetriebene Fahrzeuge, auf dem Trottoir selbst herrschte eine ähnlich geschäftige Betriebsamkeit wie in der Halle. Er lief weiter nach rechts den Bürgersteig entlang, immer weiter, bis er an den Bahnhofsgebäuden und den sich anschließenden Mietblöcken vorbei war. Dann bog er nach links ein, in eine Gasse, und weiter in die nächste. Dass er gar nicht verfolgt wurde, bemerkte er nicht. Erst als seine Kräfte nachließen, verlangsamte er seine Geschwindigkeit, nach Atem ringend und mit erhöhtem Puls. Mit dem Handrücken fuhr er sich über die nasse Stirn.Im Schritttempo weiter, rastlos, ziellos, unter einer Hochbahn hindurch, passierte er stinkende Gassen und verschmutzte Straßen. Spielende Kinder, Männer und Frauen auf Fahrrädern und Hochrädern, ein von Pferden gezogener Bus. Bis er irgendwann, Stunden später, an eine Parkbank gelangte, sich niedersetzte und zu Boden starrte. Er erinnerte sich an die Szene am Bahnhof, ansonsten erinnerte er sich an nichts. Er fühlte sich absolut leer und ausgebrannt.Wie war er dort nur hingekommen?Sein Blick fiel auf seine schwarzen Lederhalbschuhe. Nein, er wusste nicht mehr, wann er sie gekauft, geschweige denn, wann er sie angezogen und zugeschnürt hatte. Die dunkelgrauen Wollsocken und die schwarze Stoffhose, erkannte er ebenso wenig wie die Schuhe oder sein Hemd aus weißer Baumwolle. Die beiden Anzugträger fielen ihm ein und er fasste sich auf den Kopf. Müßig: hätte er, wie die beiden einen Zylinder getragen, hätte er ihn längst beim Rennen verloren. Auch Krawatte oder Fliege trug er nicht.Ein Griff an seine Gesäßtasche: keine Geldbörse mit Geld oder etwa einem Ausweis.Dann entdeckte er etwas auf seiner Brust; er spürte Metall. Er öffnete die obersten beiden Hemdknöpfe und zog ein silbernes Medaillon hervor, an einem dünnen, aber stabilen Kettchen hängend. Neugierig, welches Bildnis wohl darin zum Vorschein kommen mochte, suchte er den Öffnungsmechanismus. Er fand ihn und drückte darauf. Der Deckel klappte nach oben. Doch nicht das erhoffte Antlitz aus einer ihm noch unbekannten Vergangenheit lächelte ihm entgegen, kein jüngeres Ebenbild seiner selbst oder das Gesicht einer früheren Liebe. Es sah aus wie ein Knopf, der sich eindrücken ließ. Vorsichtig fühlte er mit dem Zeigefinger über die schwarze Oberfläche: weich, aber stabil. Den Knopf zu betätigen, getraute er sich nicht. Jetzt fiel sein Blick auf die Innenseite des Deckels; in schnörkellosen Buchstaben stand dort: 'SG'. Initialen? Seine Initialen? Dann konnte er selbst nicht Frank heißen. Und wenn er Frank war, wer war dann dieser oder diese 'SG'?In Gedanken versunken lehnte er sich zurück, blickte auf und entdeckte seine Umgebung. Vor ihm ein schmaler Fluss, der langsam und träge durch sein begradigtes Bett glitt, links und rechts des Flusses das gemauerte Ufer, zur Absicherung ein Geländer. Jenseits des Flusses ein großer wuchtiger Bau, dahinter ein rotes, leicht deplatziert wirkendes Gebäude. Eine Kirche? Dazwischen Wiesen, noch nicht so grün und saftig wie im Sommer, aber auf dem besten Wege dorthin. Vor dem wuchtigen Bau eine breite Straße – Linden in der Mitte – die geradewegs auf eine Brücke zulief, die über den schmalen Fluss führte. Auf der Brücke acht Skulpturen aus weißem Marmor, jede aus einer Frau und aus einem Mann bestehend: Krieger und Kriegsgöttin.Plötzlich ahnte er, was sich hinter ihm, in seinem Rücken befand. Er stand auf, drehte sich um und sah geradewegs auf ein großes imposantes Schloss, altes Gestein, reich verziert, in bestem Zustand. Links daneben der Dom und davor der Lustgarten. All das erkannte er wieder, glaubte er zumindest.
2
Ein Alptraum aus Franks Kindheit: Er kommt mittags mit seinem Schulranzen nach Hause. Es ist der Wohnblock, den er kennt; er ist hier in der Siedlung aufgewachsen; auf dem Straßenschild in schwarz auf weiß: Großbeerenstraße. Doch die Namen auf den Klingelschildern kennt er nicht. Er liest sie alle zum ersten Mal, auch sein eigener Nachname ist nicht darunter. Niemand kennt ihn oder seine Eltern: Wo ist er? Wer ist er?
Für Frank war es gleich einem Déjà-vu, als er nun hier in Kreuzberg vor der Haustür stand. Den weiteren Nachmittag war er durch die Stadt gelaufen, die er meinte zu kennen. Als dieser Fetzen Erinnerung in der Leere seines Gedächtnisses aufgetaucht war, waren seine Schritte zielstrebiger geworden. Er hatte Passanten nach dem Weg gefragt und dabei Antworten geerntet wie: 'Das ist aber noch ein ganz schönes Stück!' oder 'Da wollen Sie zu Fuß hin?'. Der eine oder andere hatte abschätzig seine Kleidung gemustert.Und so bemühte er sich nun, im nachlassenden Tageslicht, die Namen auf den Schildern zu lesen und wieder zu erkennen. Ersteres gelang ihm.War er hier zu Hause?Gehörte einer dieser Namen zu ihm?Frank Vogt?Frank Mertens?»Frank Miller?«Frank sah nach links oben: Ein dicklicher, älterer Mann blickte von dort durchs geöffnete Fenster aus dem Hochparterre zu ihm hinab. Franks erstaunten, fragenden Gesichtsausdruck nahm der Mann nicht wahr. Er trug ein ärmelloses, weißes Unterhemd und sein glasiger Blick musterte den draußen Stehenden, bis ein erkennendes Grinsen auf seinem pausbäckigen Gesicht erschien.»Herr Miller! Ja, ist das die Möglichkeit?«Geistesgegenwärtig blickte Frank rasch zu den Klingelschildern und entdeckte den Namen, der – wenn die Namen logisch angeordnet waren – zu dem Mann gehören musste: »Guten Tag, Herr Nansen!«»Was treibt Sie denn hierher?« Und ohne eine Antwort abzuwarten, ergänzte er: »Das muss ja mindestens fünf oder sechs Jahre her sein!«Frank, der nicht wusste, wie ihm geschah, deutete ein Nicken an.»Wen suchen Sie denn da? Viele gibt's hier nicht mehr, die Sie noch kennen. Die Ernsts und die Globowskis, die müssten damals schon hier gewohnt haben. Die alte Frau Freisler ist letzten Herbst gestorben, da war kaum einer auf der Beerdigung, nur ich, der Pfarrer und zwei alte Damen.«Die Haustür ging auf und eine Frau, etwa Mitte zwanzig, kam heraus.»Tach, Frau Mertens! Erinnern Sie sich noch an die Millers? Haben vor Jahren hier im zweiten Stock gewohnt? Nee, die können Sie nicht mehr kennen. Da sind Sie viel zu jung für!«Ohne ein Wort des Grußes oder der Entgegnung blickte die Frau zuerst zu Frank und dann kurz zu Nansen. Dann eilte sie davon und versuchte, den Mann im Fenster zu ignorieren.»Die waren in der Wohnung, in der jetzt die Leinewebers sind. Sehr ruhige Mieter waren das, die Millers, das hat auch meine Elisabeth immer gesagt!«Da war Frau Mertens auch schon um die Hausecke verschwunden und Nansens Blick, der ihr gefolgt war, kehrte zu Frank zurück.»Na ja, die Leinewebers sind auch ganz umgänglich; sie ist ein bisschen schnippisch, aber er lässt schon mal gerne fünfe gerade sein, wenn Sie wissen, was ich meine!«Jetzt roch Frank auch den Alkohol, der ihm entgegenwehte, sobald Nansen das Wort an ihn richtete. Der Geruch vermischte sich mit dem von Bohnen, die wohl gerade irgendwo in Nansens Wohnung erhitzt wurden.»Oh, ich muss ja den Herd runterdrehen«, sagte Nansen und verschwand im Wohnungsinneren.Ehe sich Frank versah, war Nansen auch schon zurück und redete weiter.»Habe mir einen Eintopf gemacht, ich mache mir meistens Eintopf, ist schmackhaft und nahrhaft.«Die Gaslampen auf den Laternenmasten entlang des Straßenzugs flackerten kurz auf und beleuchteten die Umgebung.»Oh, schon so spät! Haben Sie Appetit auf Eintopf, Herr Miller? Kommen Sie doch rein. Ich mache Ihnen die Tür auf!«Da merkte Frank erst, dass er nicht wusste, wann er überhaupt das letzte Mal gegessen hatte. Wie auf Kommando begann sein Magen zu knurren, er fühlte seinen trockenen Mund und seinen leeren Bauch. Sein Hunger war stärker als der Widerwille, sich in die Wohnung Nansens zu begeben und sich dessen Redeschwall auszusetzen, der ihn jetzt schon anstrengte.Doch ehe er sich versah, ging auch schon die Haustür auf und eine fleischige Pranke packte ihn, zog ihn nach innen und ließ ihn dann wieder los.»Die Tür war nur eingeschnappt, Sie hätten nur drücken brauchen. Kommen Sie!«Nansen drehte sich um und hastete durchs Treppenhaus die sieben Stufen zum Hochparterre hinauf, drehte sich an seiner Wohnungstür noch einmal um, um sicher zu gehen, dass ihm sein Gast auch folgte, und verschwand dann in der Wohnung.»Kommen Sie!«Frank stieg nun ebenfalls die Treppe hoch, trat in die Wohnung, die Tür hinter sich zuziehend.»Ich bin hier in der Küche, die linke Tür. Ich decke schon mal den Tisch.«Der Flur machte einen eher verwahrlosten Eindruck auf Frank. Das wenige Mobiliar, ein Schuhschrank, eine Hängegarderobe und eine Kommode, waren alt und abgenutzt, nur noch bloße Funktionsgegenstände. Nass durchwischen oder zumindest mal zu fegen, wäre dringend nötig gewesen. In der Küche sah es nicht wesentlich besser aus. Nansen, ein Geschirrtuch um die rechte Hand gewickelt, nahm gerade den Topf vom Herd, mit der linken drehte er das Gas herunter.»Ich mache mir immer ein wenig mehr. Kann man ja mühelos wieder aufwärmen.«Und dann: »Erschrecken Sie sich nicht über das bisschen Unordnung. Ich schaffe es einfach nicht, so regelmäßig aufzuräumen, wie Elisabeth das früher getan hat.«Er platzierte den Topf, aus dem es stark qualmte und intensiv nach Bohnen und Kartoffeln roch, auf einem Bastuntersatz in der Mitte eines kleinen rechteckigen Holztischs, der mit einer rot-karierten Tischdecke belegt war, die schon bessere Zeiten erlebt hatte. Ein zweiter Stuhl stand daneben, für eine zweite Person war aber nicht gedeckt. Das bemerkte nun auch Nansen.»Bekomme ja selten Besuch!« Aus einer Tischschublade fingerte er einen Esslöffel hervor, aus einem Hängeschrank einen zweiten Teller.»Setzen Sie sich!«Frank nahm Platz, untersuchte mit einem kurzen Blick den Teller, ob er halbwegs sauber war, da landete auch schon eine Kelle voll dampfenden Eintopfs darin.Was sich, abgesehen von Bohnen und Kartoffeln, da im Teller noch so alles tummelte, erkannte Frank nicht. Sein Hunger siegte.Seinem Instinkt folgend, wollte Frank gerade ein 'Danke!' murmeln, doch Nansen war schneller.»Ist mein Leibgericht! Mache ich mir fast jeden Tag! Elisabeth hat ja wirklich hervorragend gekocht, aber Eintopf hätte sie wirklich öfter machen können. Ist schmackhaft und nahrhaft!«Letztere Aussage hörte Frank noch öfter während des Essens. Schmackhaft, das musste Frank zugeben, das war das Essen in der Tat. Vielleicht waren aber auch seine Geschmacksnerven so gierig nach Reizen, dass sie ihm das nur ausreichend vorgaukelten. Dennoch, Nansens Teller war leer, als Frank noch nicht einmal halb leer gegessen hatte, trotz Nansens unaufhörlichen Weiterredens und trotz Franks Hunger.Drei Teller für Nansen und zwei für Frank später, entgegen Franks ausdrücklicher Nachschlag-Verweigerung, lehnte sich Nansen zurück und seufzte laut auf, als hätte er säckeweise Kohlen in die Wohnung getragen.»Ist angenehm, mit Ihnen zu plaudern! Oh, ich habe Ihnen ja noch gar nichts zu trinken angeboten. Ein Sangsusi?«»Bitte?«Und Nansen, etwas ungeduldiger: »Ein Sangsusi?«Frank sah ihn nur fragend an, da war Nansen auch schon aus der Küche verschwunden, kehrte aber nur wenige Sekunden später zurück, in jeder Hand eine braune Flasche am Flaschenhals haltend. Eine stellte er neben Franks leeren Teller, den Bügelverschluss der anderen öffnete er allein mit der Kraft des rechten Daumens. Frank machte es ihm nach, nicht ohne vorher das Etikett zu lesen: 'Schlossbrauerei Sanssouci, gebraut nach dem deutschen Reinheitsgebot'.Der erste Schluck war hervorragend und ließ ihn für einen kurzen Moment all die Sorgen und Ungereimtheiten des heutigen Tages vergessen. Er trank weiter und als er die Flasche absetzte, war sie zur Hälfte geleert.»Respekt!«, meinte Nansen, »Sie haben ja einen Zug drauf, als hätten Sie Jahre kein Bier mehr getrunken!«»Vielleicht habe ich das auch …« murmelte Frank.Nansen hörte gar nicht zu.»Kommen Sie, gehen wir rüber in die Stube, da ist's gemütlicher, wenn Sie wissen, was ich meine!«Bevor Frank etwas sagen konnte, hatte Nansen auch schon Franks Flasche gepackt und verschwand damit aus der Küche. Frank folgte ihm.Im Zimmer nebenan befand sich eine dreisitzige, hellbraune Couch, ein dazugehöriger gemütlich wirkender Ohrensessel, dazwischen ein niedriges Tischchen. Darauf und daneben am Boden standen und lagen mehrere der Frank inzwischen bekannten Bierflaschen, alle leer. Ein Wohnzimmerbuffet aus Kiefer an der einen Wand, zwei Holzregale an der anderen, ein vierflügeliges Fenster blickte auf die Großbeerenstraße hinaus. Über dem Türrahmen hing ein unterarmgroßes Holzkreuz mit Inschrift: J.N.R.I. Nansen drehte das Gaslicht an. Danach räumte er die Flaschen vom Tisch, stellte sie der Einfachheit halber einfach darunter, platzierte dann Franks Flasche auf der dem Sofa zugewandten Seite des Tischs und setzte sich selbst in den Ohrensessel.Frank setzte sich zu seinem Bier.»Wissen Sie, dass ich erst kürzlich Ihre Mutter getroffen habe?«Frank, die ersten Auswirkungen des Alkohols spürend, schreckte auf.»Auf dem Friedhof. Na ja, 'erst kürzlich' ist etwas untertrieben. Das muss an Allerheiligen gewesen sein, also etwa ein halbes Jahr her. Ich gehe ja nur einmal im Jahr auf den Friedhof, ist ja so was von deprimierend am Grab der eigenen Tochter zu stehen! Aber an Allerheiligen, da gehört es sich ja schließlich so. Zum Glück bin ich Elisabeth dort nicht begegnet. Da habe ich dann Ihre Mutter getroffen.«Er stutzte. »Vielleicht ist es auch schon anderthalb Jahre her. Egal! Wissen Sie, was Ihre Mutter zu mir sagte, Herr Miller? Und das ist das Komische an der Sache, jetzt, wo wir hier doch so gemütlich beisammensitzen. Sie sagte mir, sie wäre am Grab Ihres Vaters gewesen – und an dem Ihren!«Die nächsten Worte Nansens hinterließen keinen Nachhall bei Frank. Viel zu sehr beschäftigte ihn das eben Gehörte. Auch dass Nansen zwischenzeitlich die leeren Flaschen gegen volle austauschte, bemerkte er nur am Rande.War dieser Nansen tatsächlich jemand, den er von früher kannte?Zumindest hatte Nansen ihn mit dem Vornamen angesprochen, der ihm vormittags am Bahnhof intuitiv in den Sinn gekommen war. Nansen wohnte unter derselben Adresse, unter der er selbst gewohnt zu haben glaubte. Und doch, wieso tauchte seine Erinnerung nur bruchstückhaft und wie isolierte Teile eines Puzzles auf? Und jetzt auch noch die Erzählung von seinem Grab!Nansen musste sich einfach getäuscht haben.Sein Gastgeber schwadronierte mittlerweile über die Errungenschaften der Moderne im Allgemeinen und die des kürzlich eingeführten Rentensystems im Besonderen.»Habe ja mein Leben lang gearbeitet«, sagte der Endfünfziger, der wesentlich älter aussah.»Da ist es ja nur recht und billig, dafür auch im Alter entlohnt zu werden. Grandiose Sache, dass die Reichsregierung das vor fünf Jahren eingeführt hat. Ich gehe einfach jeden Montag zum Rentenamt und lasse mir mein Geld auszahlen. So einfach ist das, wenn Sie wissen, was ich meine.«Frank wollte etwas sagen, Nansen war schneller und fuhr fort.»Kann ja nichts dafür, dass die von der Hafenverwaltung mich nicht mehr haben wollten. Fast vierzig Jahre habe ich dort gearbeitet. Und dann haben die gesagt, ich wäre wiederholt betrunken zur Arbeit gekommen und könnte meine Arbeit nicht mehr richtig machen. Was für ein Blödsinn. Im Schlaf hätte ich meine Arbeit machen können, im Schlaf.« Nansens Augen wurden feucht. »Das alles nur, weil Elisabeth weggelaufen ist. Will gar keinen Kontakt mehr zu mir. Ach, wäre nur unsere Tochter noch am Leben.« Hörbar sog Nansen Luft durch die Nase ein.Dann ein kurzer Moment der Stille.Nansen, der erkannte, dass er die bierselige Atmosphäre empfindlich gestört hatte, stand auf. »Erst mal auf den Lokus.«Nachdem Nansen den Raum verlassen hatte, hörte Frank Schlüsselgeklimper im Flur, danach fiel die Wohnungstür ins Schloss.Die zweite Flasche Bier leerte er bis zur Hälfte und stierte dabei auf ein etwa fünfzig Zentimeter breites und dreißig Zentimeter hohes, quaderförmiges Gerät, das ihm gegenüber ins Buffet integriert stand: ein Radio.Er stand auf, ging hinüber und drehte am linken der beiden fast faustgroßen Einstellknöpfe. Ein kurzes knackendes Geräusch, dann flackerte die längliche Skala zwischen diesem und dem weiter rechts befindlichen Einstellknopf. Aus einem Lautsprecher oberhalb der Skala kam nun ein rauschendes Geräusch, das anschwoll, je weiter er drehte. Er griff an den rechten Knopf und erkannte einen kleinen roten Strich, der die Skala entlang glitt, sobald er den Knopf in die eine oder die andere Richtung bewegte. Das Rauschen wurde weniger und es kristallisierten sich harmonischere Töne aus dem Chaos heraus: ein Klavier, begleitet von einer Geige, ab und an leisteten eine Querflöte und ein Kontrabass ihren Beitrag zur Komposition. Frank wusste genau, was er da tat und welche Instrumente er hörte. Warum und woher er dies wusste, konnte er sich nicht beantworten.Unbemerkt war Nansen wieder in den Raum getreten.»Unser Empfänger. Den haben wir uns mal zu Weihnachten geleistet. War unser ganzer Stolz.«Er stellte die vorsorglich aus dem Flur mitgebrachten neuen Bierflaschen auf den Tisch und ließ sich wieder in seinen Ohrensessel sinken.»Ach ja, der Schlüssel zum Lokus hängt am Schlüsselbrett gleich neben der Wohnungstür. Der Lokus zu meiner Wohnung ist die halbe Stiege nach oben. Ach«, verbesserte er sich, »das wissen Sie ja noch von früher.«Keine Rücksicht darauf nehmend, dass sein Gast noch gar nicht ausgetrunken hatte, öffnete er, außer für sich, auch für Frank eine weitere Flasche.Die sanften Klänge aus dem Radio wurden leiser und ein Paukenschlag eröffnete eine etwas rhythmischere Komposition.»Meine Mutter haben Sie getroffen, ja?«, kam Frank auf das Thema zurück, das ihn im Moment weitaus mehr interessierte, als das Rentensystem oder die verflossene Frau Nansen.»Ja, wie gesagt, drüben am Dreifaltigkeitsfriedhof. Ich war vormittags bei Evelyn; da Elisabeth meistens abends geht, die beste Möglichkeit ihr nicht am Grab unserer Tochter zu begegnen. Gibt nur wieder Streit. Davon hatte ich wirklich genug die letzten Jahre. Muss so gegen neun Uhr gewesen sein, ich stehe ja meistens früh auf, und Ihre Mutter sagte, sie wäre jeden Morgen da.«Nansen gähnte. Es war spät geworden.Das dritte Bier machte nun auch Frank schwer zu schaffen, es schränkte sein Konzentrationsvermögen ein. Zum einen war er froh und genoss es, dass das Bier seine ohnehin miteinander um Vorrang kämpfenden Gedanken vernebelte und ihm ein Gefühl von trügerischer Geborgenheit gab; zum anderen war da doch die Neugierde: Da saß einer ihm gegenüber, der wusste mehr über sein Leben als er selbst. Wie sollte er nachhaken, ohne sich verdächtig zu machen?Die Entscheidung war ihm abgenommen, als er bemerkte, dass Nansen, die halbleere Flasche in der einen Hand, selig eingeschlummert war.Alles Weitere verschob Frank nun auf morgen, wenn er wieder Herr seiner Sinne war. Langsam spürte auch er die Last des vergangenen Tages, die vielen Schritte durch eine ihm weitgehend fremde Stadt, das stakkatoartige Hin und Her in seinem Kopf, den die Sinne benebelnden Umtrunk bei Nansen. Er machte sich lang auf der Couch und steckte ein leicht muffig riechendes Kissen unter seinen Kopf.Ein Gongschlag aus dem Radio riss ihn noch einmal kurz aus seinen Gedanken. Was die dem lauten Ton folgende Stimme erzählte, nahm er nur noch unterbewusst wahr, dann schlief auch er.'Guten Abend, liebe Zuhörer. Es ist Sonntag, der 25. Mai 2008, zweiundzwanzig Uhr, wir fahren fort mit den Nachrichten!'
3
Als Frank mitten in der Nacht aus seinem unruhigen Schlaf erwachte, war der Sessel ihm gegenüber leer, das Radio ausgeschaltet. Er wälzte sich hin und her, fror, schloss das Fenster. Später suchte er im Zimmer erfolglos eine Decke und versuchte wieder einzuschlafen.Draußen begrüßten Vögel zwitschernd den neuen Tag, dessen erste Sonnenstrahlen Nansens Wohnzimmer erreichten. Frank rieb sich die Augen und setzte sich auf. Trotz leichter Kopfschmerzen waren all die Erlebnisse des vergangenen Tages präsent. Durch eine geschlossene Tür hörte er lautes Schnarchen. Frank schlich zur Küche, drehte das Wasser am Spülbecken auf, hielt den Kopf unter den Wasserhahn und schluckte mehrere Mund voll Wasser.Zum ersten Mal bemerkte er den Spiegel, der im Gang hing. Der Mann, der ihm arglos entgegenblickte, hatte Ringe unter den braunen Augen. Er wirkte blass und kränklich. In besseren Tagen hatte sein kurz geschnittenes, braunes und in der Mitte gescheiteltes Haar sein Gesicht sicherlich akkurat umrahmt und dessen auch jetzt noch erkennbare Attraktivität unterstützt. Heute stand es eher wirr durcheinander und er brachte es notdürftig in Ordnung. Mit der Handfläche fühlte er über seine Bartstoppeln am Kinn.Dann drehte er sich um, nahm den Schlüsselbund vom Brett, ging kurz die halbe Etage nach oben, kehrte zurück und hängte die Schlüssel wieder an ihren Platz. Danach verließ er Nansens Wohnung.Anders als mit den Bruchstücken zur 'Großbeerenstraße' kroch mit dem Namen 'Dreifaltigkeitsfriedhof' nichts lange Vergessenes in Franks Gedächtnis zurück. Ihn zu finden, stellte dennoch kein großes Problem dar. Bereits der zweite Passant, den er fragte, kannte den Friedhof und wies ihm den Weg. Der mit einer blauen Arbeitsmontur Bekleidete meinte allerdings, es wäre zu Fuß viel zu weit dort hin und er solle sich lieber eine Droschke nehmen. Frank jedoch winkte ab. Nach all den langen Wegen des gestrigen Tags schien ihm der Wegbeschreibung nach, die Strecke zum Friedhof nur ein Katzensprung zu sein. Außerdem hatte er ja kein Geld, mit dem er sich eine Fahrt mit Straßenbahn oder gar Droschke hätte leisten können. Die Wohnung Nansens danach zu durchsuchen, war ihm kurz in den Sinn gekommen. Das ihm von Nansen entgegen gebrachte Vertrauen hatte er aber nicht enttäuschen wollen – trotz seiner vertrackten Situation.So blieb nur der Fußmarsch, für einen Spaziergang relativ lange, aber nichts im Vergleich zu gestern. Ihn fröstelte in seinem weißen Baumwollhemd. Für die Temperatur eines Frühlingsmorgens war es doch relativ dünn. Als die Sonne höher stieg und die Straßen und Gassen etwas aufheizte, fühlte er sich wohler. Zumeist führte ihn sein Weg durch Wohngebiete mit überwiegend fünfstöckigen Gebäuden. War die Eingangstür geöffnet, konnte er einen Blick in die Innenhöfe erhaschen, meist schmutzig und verwahrlost, umrahmt von Seitenflügeln und einem Hinterhaus, das im gleichen Baustil wie das Vorderhaus erbaut worden war, doch weitaus weniger repräsentativ wirkte, keine Erker, keine baulichen Spielereien, keine kunstvollen Verzierungen wie nach vorne zur Straße. In den ebenerdigen Stockwerken der Vorderhäuser entdeckte er zahlreiche Läden und Werkstätten, deren Besitzer gerade für die ersten Kunden öffneten: Schuhmacher und Schneider, Tischler und Kohlenhändler. Frauen, die Schaufenster putzten; Männer, die den Bürgersteig kehrten; Geschäfte, über denen die Worte 'Colonialwaren', 'Butter und Delikatessen' oder 'Besohl-Anstalt' prangten. Auch entdeckte er ein zweistöckiges Bekleidungsgeschäft und einen Laden, über dessen Schaufenster 'Elektrisches aller Art' zu lesen war, hinter der Scheibe präsentierten sich Lampen, Radios und Elektrik-Kleinteile. Bei den Auslagen der Bäcker und Fleischer beklagte sich sein Magen leise über das fehlende Frühstück.Franks Begleiter war der ständig in der Luft liegende Geruch von Pferdeäpfeln. Wie bereits während der gestrigen Flucht sah er Droschken und vereinzelt auch von Pferden gezogene, gelbe Wagen, die in Schienen fuhren und auf denen in großen Buchstaben 'Pferde-Straßenbahn' stand; auf anderen Strecken waren sie bereits durch solche ersetzt worden, die ohne Muskelkraft auskamen und auf denen 'Elektrische Straßenbahn' zu lesen war. Drei Mal beobachtete er auch einen Wachtmeister seines Weges ziehen oder an einer Straßenecke stehen: mit einer Pickelhaube auf dem Kopf, einem Schlagstock am Gürtel und einem Lederband mit Trillerpfeife um den Hals. Ganz instinktiv ging er einen Bogen um jeden der Männer, die am Oberarm ein schwarzweißrotes Wappen trugen, darunter einen stilisierten schwarzen Bären.Später, noch deutlich vor der Mittagsstunde, traf er am Friedhof neben der Dreifaltigkeitskirche ein. Seine Kopfschmerzen waren vergangen.Es war kein sehr großer Friedhof, der dort hinter den weit geöffneten schmiedeeisernen Toren vor ihm lag. Doch die Gräber reihten sich dicht an dicht und Frank schätzte, dass es wohl mehrere Stunden dauern würde, um ein Grab zu finden, von dem er nur den Namen wusste, der auf dem Grabstein stand.Vorausgesetzt, der vermeintliche Name war überhaupt der richtige.Vorausgesetzt, dieser Name war überhaupt auf einem Grabstein eingraviert worden.Wie Frank nämlich sah, stand auf vielen der Gräber nur ein schlichtes, neutrales Holzkreuz.Wenn die Frau, von der Nansen als Franks Mutter gesprochen hatte, tatsächlich im Moment auf dem Friedhof war, war es durchaus möglich, sie zu verpassen. Sie brauchte sich nur in einem anderen Abschnitt aufzuhalten, während Frank in diesem hier die Reihen abklapperte. Langes Überlegen nutzte nichts. Frank musste irgendwo anfangen, einen weiteren Hinweis hatte er nicht. Das Eisentor passierend, wandte er sich nach links:'Viel zu früh von uns gegangen – mein lieber Mann, unser lieber Vater, mein lieber Bruder – August Nolte * 13.12.1970 – + 16.8.2003','Unsere liebe, kleine Susanne – nur kurze Zeit auf Erden – nun zurückgekehrt in den Schoß der lieben Jungfrau Maria – * 12.2.2002 – + 14.2.2002','Im Leben wie im Tod – mit Christus vereint – Albert Eduard Karl, Beamter a. D., * 1924 – + 2004 – Gertrude Karl, geb. Fürbringer, * 1921 – + 2004'.In ähnlicher Art ging es weiter, Grab für Grab, Inschrift für Inschrift. Fast alle Grabsteine waren mit christlicher Symbolik verziert: Kreuze, Marienbildnisse, eingravierte Zitate aus Altem und Neuem Testament. Dazwischen, immer mal wieder, Gräber jüdischer Verstorbener, kleinere und etwas größere Steine ruhten auf dem oberen Rand der Grabsteine. Andere Konfessionen sah oder erkannte Frank nicht.Da, 'Miller': 'Edwina Maria Miller – Schwester des Ordens der Unbefleckten Empfängnis -* 1932 – + 1992'Nein, Frank entschied, dass das wohl nicht das gesuchte Grab war und suchte weiter. Als er um die Ecke der nächsten Gräberreihe bog, sah er, etwa dreißig Meter entfernt, eine Frau mit Kopftuch an einem Grab knien, die Erde vor ihr mit einem Handrechen bearbeitend. Sie trug ein sommerliches Kleid mit blassblauen Blumen gemustert, darüber hatte sie eine Schürze gebunden. Hinter ihr stand ein schwarzes Fahrrad, auf dessen Gepäckträger ein ovaler Korb eingeklemmt war.Frank spürte sofort das unsichtbare Band zwischen dieser Frau und sich. Er war fündig geworden. Bevor Frank auf die Frau zugehen konnte – es verstrichen nur wenige Augenblicke – fühlte auch die Frau die Anwesenheit ihres Beobachters. Sie drehte ihren Kopf zur Seite und sah Frank geradewegs in die Augen. Der Rechen glitt aus ihren Fingern, ihre Lippen öffneten sich zitternd, sie schien leicht zu schwanken. Für einen Moment dachte Frank, sie würde umkippen, direkt auf das frisch geharkte Grab fallen. Er wollte loslaufen, da hatte sich die Frau auch schon wieder unter Kontrolle. Beherrscht und ruhig stand sie auf, immer noch zu dem Mann starrend, der da soeben um die Ecke und in ihr Leben getreten war. Sie flüsterte etwas, ihre rechte Hand machte die Kreuzzeichen über Stirn, Mund und Brust.Frank verharrte. Da war er hierher gekommen, an einen Ort, von dem er gehofft hatte, dort seine Mutter und mit ihr seine Erinnerung wieder zu finden und wusste nun nicht, wie er dieser Frau begegnen sollte. Sie ergriff die Initiative und kam auf ihn zu.Als die Frau, bei Frank angekommen, seinen Namen aussprach, klang das alles andere als fragend.»Mutter?«Franks ungläubige Entgegnung hörte die Frau nicht. Sie hatte ihn bereits mit beiden Armen umschlungen und drückte ihn fest an sich. Jede andere Möglichkeit, als sie ebenfalls in die Arme zu nehmen, war Frank augenblicklich genommen.»Ich wusste es. Ich habe es immer gewusst«, murmelte die Frau, hin und her gerissen zwischen erlittenem Schmerz und wieder gewonnener Freude. Minutenlang erstarrten die beiden in Nähe und Enge.
Frank fährt auf seinem Kinderfahrrad. Er hat es zu Ostern bekommen. Es ist sein ganzer Stolz. Im Hinterhof dreht er seine kleinen Kreise. Seine Eltern stehen unweit entfernt, ihres Sprösslings erste Fahrt ohne Stützräder freudig beobachtend. Doch so ganz klappt das noch nicht mit der Aufrechterhaltung des Gleichgewichts. Frank knickt mitsamt seinem Rad nach links weg, reißt die Hände von der Lenkstange, um beim Sturz aufs Kopfsteinpflaster das Schlimmste zu verhindern. Auf den Boden gefallen, begutachtet er die aufgeschürften Handflächen, an den Knien nässt Blut seine Hose. Er weint. Seine Mutter rennt zu ihm. Hinter einem Schleier von Tränen sieht er sie Hilfe suchend an.Seine Mutter blickte ihn immer noch an, die Gesichtszüge seiner Mutter älter und faltiger als eben noch vor Franks geistigem Auge, verbrauchter, aber auch erfahrener. Ihr Haar, früher dunkelblond und lockig, war nun komplett ergraut, die Locken waren ihr geblieben. Sie kämpften links und rechts des Kopftuchs um ihre Freiheit.»Frank!«Sie holte ihn zurück aus seinem kurzen Augenblick der Versunkenheit.»Ich kann mich nicht erinnern.«Franks Mutter Luise sah den verzweifelten Ausdruck in seinen Augen, spürte die Leere, tief in ihm.Das unsichtbare Band zwischen der Mutter und ihrem Kind, war zu einer dünnen, feinen Faser verkümmert.Er war es, daran bestand nicht der geringste Zweifel für sie. Weiter in ihn zu dringen, hieße für sie, ihn zu quälen, diesen magischen Moment zu zerstören.Er benötigte Zeit, sie wollte sie ihm geben.So nahm sie ihn bei der Hand und führte ihn die paar Meter zurück zum Grab, an dem sie bis gerade eben gearbeitet hatte.Frank sah die Stiefmütterchen, die noch jungen Pflanzen waren so gesetzt, dass sie erblüht ein Kreuz ergeben würden; in den vier Ecken des Grabs: Efeu. Ein Schaudern überkam Frank, als er die geschwärzte Gravur auf dem weißen Marmor des Grabsteins las:'Frank Miller – * 24.10.1978 – + 23.5.2005Ernst Marian Miller – *12.3.1942 – + 1.6.2005'Danach etwas Platz für einen weiteren Namen und dann:'Die Wege unseres Herrn sind unergründlich'.Luise kniete wieder. Sie fingerte die Triebe des Efeus links vorne so zurecht, dass sie, wie von ihr gewünscht an der Einfassung des Grabs weiterrankten und nicht etwa nach innen zu den Stiefmütterchen oder nach außen auf den Weg oder ins Nachbargrab. Ausgewachsen sollte der Efeu den Blumen einen würdigen Rahmen bieten. Vorne, zum Weg hin, war der Sockel einer Weihwasserschale in die Erde eingelassen. Den Deckel der Schale zierten zwei betende Hände.Frank las die Namen, wieder und wieder.Er suchte ein Echo tief in sich drin. Irgendeine Emotion sollten die Buchstaben doch hervorrufen, dachte er. Sie taten es aber nicht.»Nachtfrost sollte ja jetzt keiner mehr kommen, ist ja schon Mai …«, meinte Luise.Dann, als ob sie sich noch einmal vergewissern wollte, dass da kein Geist neben ihr stand oder sie sich die Wiederkehr ihres Sohnes nur einbildete, sah sie zu ihm auf und folgte seinem Blick.»Herzinfarkt!«, sagte sie. »Das war zumindest die offizielle Erklärung.«Sie stand auf, griff in den Korb auf dem Fahrrad und kümmerte sich dann, mehrere kurze Drähte in der linken Faust haltend, wieder um den Efeu.»In Wahrheit ist er bereits eine Woche vorher gestorben, an dem Tag, als die beiden Männer von der Gendarmerie bei uns vor der Tür standen.«Sie bog einen der Drähte zu einer Schlaufe und fixierte einen besonders widerspenstigen Efeutrieb.»Ich musste ihn stützen, als die beiden uns ihre schreckliche Vermutung mitteilten. Ab diesem Zeitpunkt hat er kaum noch ein Wort geredet.«Mutter und Sohn hatten so viele Fragen und schwiegen sich doch erst einmal an. Der Absurdität der Situation nicht bewusst, arrangierte Luise weiter die Pflanzen, gerade so, als wäre nur der Besitzer des Nachbargrabs neben ihr stehend und hätte ihr etwas über die neueste Wettervorhersage erzählt, und nicht etwa ihr seit fast drei Jahren tot geglaubter Sohn.»Er ist hier. Ich kann ihn spüren«, sagte Luise, und dann ergänzend: »Dein Vater!«Einen der Triebe, der sich partout nicht zähmen lassen wollte, knickte sie mit ihren Fingernägeln ab.»Dich konnte ich nie spüren. Deshalb wusste ich, dass du nicht tot sein konntest.«Und dann – endlich – realisierte sie, dass der so lange Vermisste leibhaftig neben ihr stand und dass sie nicht, wie an jedem Tag der vergangenen Jahre zu jemandem sprach, der vor ihr in der Erde tot und vergraben lag.Bisher ruhig und gelassen geblieben, zitterten nun ihre Hände, die Drähte fielen zu Boden.Sie blickte auf und sah ihn an.»Wo warst du?« Ihre Stimme bebte. »Wo warst du, Frank?«Genauso hilflos und fragend wie die ihren, waren auch seine Augen.»Ich weiß es nicht! Ich weiß es nicht … Mutter.«Luise sammelte die Drähte und den Rechen ein, stand auf und packte die Sachen in ihren Korb. Dann wischte sie sich die Hände an ihrer Schürze ab. Schließlich öffnete sie die Weihwasserschale, nahm den Wedel heraus und spritzte einige Tropfen der kostbaren Flüssigkeit auf die Ruhestätte. Frank tat es ihr gleich. »Kommst du mit nach Hause?« Frank hatte keine Ahnung, wo 'nach Hause' war. Dennoch ging er zum Fahrrad, griff nach der Lenkstange, klappte mit einem kurzen Druck seines Fußes den zweibeinigen Fahrradständer nach hinten weg, so dass es nun auf beiden Reifen stand, und gab Luise eine Antwort.»Ja. Ich komme nach Hause.«
4
Das Fahrrad neben sich her schiebend, wies ihm Luise den Weg zwischen den Grabreihen. Die zwei gingen zu einem Portal hinaus, das auf der anderen Seite des Friedhofs lag, sie passierten die Dreifaltigkeitskirche, einen grauen, eher nüchtern wirkenden Bau. »Ich gehe jeden Morgen um neun Uhr zur Frühmesse«, erzählte sie, »danach auf den Friedhof.« Und dann: »Es ist nicht weit. Wir sind gleich da.« Es dauerte auch keine zehn Minuten, bis Luise stoppte und den eingeklemmten Korb vom Gepäckständer nahm. Frank hatte die Hoffnung gehabt, dass das Ziel dieses kurzen Wegs irgendeine Assoziation bei ihm wecken könnte. Doch der Wohnblock, vor dem sie anhielten, löste genauso wenige Erinnerungen bei ihm aus, wie jeder andere, den er heute Morgen passiert hatte.»Hier habe ich gewohnt?«, fragte er ungläubig.»Nein, Frank. Weißt du das nicht mehr?«Luise erkannte die Antwort selbst in Franks Gesicht.»Dein Vater und ich haben hier gewohnt. Du hast doch da schon alleine gelebt, in der Jüterboger, gleich um die Ecke. In deiner 'Bude', wie du es immer genannt hast. War eine nette, kleine Ein-Raum-Wohnung. Zum Abendessen bist du dennoch immer zu uns rüber gekommen.«Sie lächelte.»Und in der Großbeerenstraße?«»Da haben wir davor zusammen gelebt: Dein Vater, du und ich. Wir sind dann dort ausgezogen und du wolltest dein eigenes Leben führen. Warst ja schließlich alt genug.« »Wann war das?« »Lass mich überlegen, das muss etwa zwei Jahre gewesen sein, bevor du …« Sie hielt inne und lenkte ab: »Aber wollen wir nicht reingehen?« »Können wir nicht kurz noch rüber in die Jüterboger Straße?« »Wenn du das möchtest.« Sie kettete das Fahrrad an einen Fahrradständer vor dem Haus und führte ihn zum gewünschten Ort. »Hier!«, sagte sie, nur ein paar Häuser weiter. Frank blickte auf einen Kinderspielplatz. »Hier?« »Ja. Hier stand es. Leider abgebrannt. Vorletztes Jahr. Gasexplosion.« Franks Hoffnung, an einem Ort, an dem er bis zum Zeitpunkt seines 'Verschwindens' gelebt hatte, etwas aus der Unergründlichkeit seines Verstandes zu fischen, zerplatzte. »Ich mach' uns zu Hause erstmal einen schönen, heißen Tee. Komm!«
Frank stand vor der Kommode in der Wohnung seiner Mutter. Er begutachtete die Fotos in schwarz-weiß, die darauf aufgestellt waren. In zumeist hölzernen Rahmen erkannte er seinen Vater bei der Armee; seinen Vater, eine Pfeife schmauchend, auf einem Stuhl sitzend; seinen Vater, die Ärmel hoch gekrempelt, beim Holz hacken; seinen Vater im Frack, Hand in Hand mit seiner Luise im weißen Brautkleid. Auf weiteren Bildern ein etwa achtjähriger Junge, eine Kerze in der Hand haltend und derselbe Junge dieselbe Kerze in der Hand haltend, mit den stolzen Eltern dahinter. 'Heilige Erstkommunion' las er darunter in verschnörkelter Schrift. Ein weiteres Foto zeigte den Jungen, nun zum Mann gereift, lachend, eine junge, fröhlich dreinblickende Frau an seinem Arm untergehakt. Auf ihrer anderen Seite befand sich wiederum ein kleiner Schirm, dessen gebogener Griff in ihrer Armbeuge ruhte. Dahinter Wasser, ob es ein See war oder ein Fluss, das erkannte Frank nicht.Er hörte seine Mutter auf dem Gang etwas vor sich hin murmeln, dann kam sie auch schon zur Tür herein, ein Tablett in den Händen haltend. Sie setzte das Tablett auf dem niedrigen Wohnzimmertisch ab und nickte Frank freundlich zu; eine stille Aufforderung, er solle Platz nehmen.Da saßen sie nun, Luise auf einem abgenutzt, aber nicht schäbig wirkenden Sessel mit weinrotem Stoffüberzug, Frank auf dem dazu gehörenden Sofa. Und als Frank sah, dass seine Mutter nicht nur das Teeservice hereingebracht hatte, sondern auch etwas zu Essen, da meldete sich auch sein Magen. Nicht so laut wie gestern Abend vor der Haustür in der Großbeerenstraße, doch laut genug, dass seine Mutter es hören konnte.»Du hast noch nichts gefrühstückt heute?«Frank nickte.»Greif zu, mein Junge. Das Brot habe ich erst gestern selbst gebacken, die Erdbeermarmelade ist von Tante Ursel aus Schönow.«Der Name sagte ihm nichts.Sie nippte selbst nur wenige Male an ihrer Teetasse, während Frank drei Scheiben Brot, zwei mit Käse, eins mit Marmelade, verzehrte und sie ihm zwei Mal schwarzen Tee nachschenkte.Sie beobachtete ihn, ununterbrochen.Frank war sich dessen bewusst. Jede Geste, jede Gesichtsbewegung sog sie in sich auf. Fast genau auf den Tag drei Jahre hatte sie ihren Sohn nicht gesehen. Wie schmerzlich hatte sie ihn all die Zeit vermisst und wie oft hatte sie sich gewünscht, er möge bei ihr sein.Und jetzt saß er leibhaftig vor ihr.Frank empfand ihre Blicke als Freude und wunderte sich nur, dass seine Mutter seine eigene Skepsis ob der ungewöhnlichen Situation in der sie sich befanden, nicht teilte. Für sie schien es keinen Zweifel an seiner Identität zu geben.»Ich erinnere mich nicht an dieses Zimmer, und ich erinnere mich nicht an den Mann auf den Fotos.«»Dein Vater«, bestätigte Luise. »Das wird bestimmt wieder werden. Wir müssen einen Arzt aufsuchen!«Frank lehnte sich satt zurück.Luise entdeckte einen Marmeladenfleck auf Franks Hemd, befeuchtete ein Taschentuch, das sie aus der Schürze gezogen hatte, beugte sich vor und begann zu rubbeln.»Ist besser, du ziehst es aus. Ich gebe dir eins von deinem Vater.«Frank vermutete, sie habe auch gerochen, dass er die Nacht darin geschlafen hatte, und wäre nur zu höflich, ihm das als den Grund zu nennen, denn von dem Fleck war kaum noch was zu sehen, als Luise, das Taschentuch wieder einsteckte.»Müsste dir eigentlich passen, ihr hattet ja immer eine ähnliche Statur. Gut, dass ich nichts weggeworfen habe.«Sie führte ihn in ihr Schlafzimmer, in dem immer noch das Ehebett stand, eine Tagesdecke lag über beide Seiten ausgebreitet. Über dem Kopfende hing ein großes Marienbildnis in achteckigem, goldenem Rahmen: die Jungfrau mit dem Heiligenschein, ihr Neugeborenes glücklich in Händen haltend. Aus einem Kleiderschrank fischte Luise ein Hemd, kleine schwarze und rote Karos darauf. Hätte Frank seine Nase sehr nahe drangehalten, hätte sie den leichten Geruch von Mottenkugeln aufgenommen. Frank befühlte den Stoff: Baumwolle, wie bei seinem eigenen Hemd, vielleicht etwas gröber. Sicherheitshalber drückte Luise ihm auch Unterhose, Hose, Hosenträger und frische Socken in die Hand. Dann zeigte sie ihm das Bad und ließ ihn alleine.Nach ein paar Minuten kehrte er ins Wohnzimmer zurück. Er hatte sogar noch ein eindeutig für Männer gedachtes Duftwasser im Bad entdeckt und fühlte sich sichtlich wohler. Rasierzeug war keines da gewesen.Luise saß wieder im Sessel, ihr Blick war auf das Hochzeitsbild auf der Kommode gerichtet. Sie sprach zu sich selbst und Frank meinte, den Namen 'Ernst' gehört zu haben. Dann sah sie Frank in der Tür stehen und musterte ihn.»Passt dir ausgezeichnet«, lobte sie.Frank lächelte und setzte sich.»Sagen dir die Initialen 'SG' etwas?«, fragte er.»'SG'? 'SG'? Lass mich überlegen! – Simon Ganser, das war ein Freund aus meiner Jugendzeit, lange bevor ich deinen Vater kennen lernte.«Frank glaubte nicht, dass das der richtige 'SG' war.Luise überlegte weiter.»Mein Vater, dein Großvater, hatte auch diese Initialen. Sein Vorname war Stephan, und mein Mädchenname war ja Gohlke. Warum willst du das wissen?«Frank zog das Medaillon hervor. Er führte die dünne goldene Kette über sein Haupt und reichte das Medaillon seiner Mutter. Mit leisem Klicken sprang der Deckel in Luises Hand auf.»Nein, das kenne ich nicht. Von meinem Vater ist es sicher nicht. Was ist denn das? Ist das ein Knopf?«Sanft entwand Frank das Kettchen mitsamt dem Medaillon den Händen seiner Mutter und legte es sich wieder um.Frank seufzte.»Ich kann mich an das Medaillon nicht erinnern. Ich kann mich auch nicht erinnern, wo und wann ich meine Kleidung gekauft habe, geschweige denn, wo und wann ich sie angezogen habe.«»Aber du erinnerst dich doch an mich, oder?«»Vage.«Man sah Luise an, dass ihr eine eindeutigere Antwort willkommener gewesen wäre.»Woran erinnerst du dich noch – vage?«»So gut wie nichts, keine Menschen, ein paar Gebäude hier, das Stadtschloss, die Schlossbrücke, der Dom, das Haus in der Großbeerenstraße.«Und dann nach einer Pause: »Ich war dort.«»In der Großbeerenstraße?«»Ja, das war das erste, was mir wieder einfiel. Da habe ich auch Nansen gesprochen.«»Nansen? Hätte gar nicht gedacht, dass der noch lebt. Seine Leber scheint ja einiges vertragen zu können. Ich habe ihn zuletzt vor anderthalb Jahren getroffen, da war er am Friedhof gewesen – sturzbetrunken.«»Ja, er hat mir davon erzählt. Deswegen war ich heute dort.«»Ich hätte nicht gedacht, dass ihm das im Gedächtnis geblieben ist. Wären wir nicht am Friedhof gewesen, ich hätte ihm ordentlich die Leviten gelesen.«Dann wurde sie etwas versöhnlicher.»War natürlich ein schwerer Schlag damals, für ihn und seine Frau, als sich ihre Tochter mit siebzehn das Leben nahm. Kein Abschiedsbrief. Nichts. Danach fing er zu Trinken an, ist über Tage gar nicht aus seinem Rauschzustand rausgekommen. Seine Frau hat das wohl irgendwann nicht mehr ertragen und ist ausgezogen. Aber das ist alles passiert, nachdem wir schon aus der Großbeerenstraße weg waren. Ich weiß es nur vom Hörensagen.«Sie überlegte.»Du warst am Friedhof, davor warst du in der Großbeerenstraße. An was kannst du dich davor erinnern?«»Ich bin in der Stadt umher geirrt.«»Und davor?«»Ich war an einem Bahnhof!«Luise erbleichte und Frank bestätigte: »Ich war am Görlitzer Bahnhof!«Für einen Augenblick erschien seine Mutter wie erstarrt, dann ging ein Zittern durch ihren Körper. Schnell setzte sie die Teetasse in ihrer Hand auf die Untertasse, bevor ihre Finger nicht mehr die Kraft hatten, sie festzuhalten.»Was ist los, Mutter? Was sagt dir das?«Er griff nach ihrer Hand, um sie zu halten.Als ob er ihr die Last einer Antwort abnehmen könnte, sah sie Hilfe suchend zu dem Mann auf dem Hochzeitsfoto, dann zurück zu Frank.»Sie haben dich damals dort gefunden, deinen Leichnam; das, was davon übrig geblieben war.«Nachdem etwas Zeit und der Nachhall der Worte vergangen waren, brach Frank das Schweigen. »Erzähl es mir, Mutter, bitte!«»Es war spät abends, etwa gegen zehn Uhr, dein Vater saß hier im Sessel, in dem ich jetzt sitze. Ich sehe ihn noch deutlich vor mir. Er hatte sich zurückgelehnt und las in einem Buch, einem Buch über Marco Polo. Auf deinem Platz hatte ich gesessen, ich strickte. Eigentlich nur aus Langeweile. Ich hätte mich viel lieber mit deinem Vater unterhalten. Aber man hat ihn ja nur schwer von seinen Büchern wegbekommen.Es klopfte an der Wohnungstür. So spät bekamen wir äußerst selten Besuch. Auch war es nicht deine Art, um diese Uhrzeit noch bei uns vorbeizuschauen. Außerdem warst du an diesem Abend, wie meist, zum Essen da gewesen. Ernst stand auf und ging zur Tür. Neugierig bin ich hinterher, blieb aber in einem Abstand stehen, sodass man mich von der Tür aus nicht sehen konnte. Dein Vater öffnete und gleich darauf hörte ich eine Stimme, die ihn fragte, ob er Herr Miller sei. Nachdem Ernst bestätigt hatte, fragte die gleiche Stimme: 'Der Vater von Herrn Frank Miller?' Dazu nannte die Stimme noch deine Adresse in der Jüterboger Straße, um eine Verwechslung auszuschließen. Dein Vater bestätigte wieder. Die Worte, die dann folgten, haben sich mir ins Gedächtnis eingegraben. Sie tauchen immer wieder auf, wenn ich am Grab stehe, wenn ich in der Küche arbeite, wenn ich bete, selbst nachts in meinen Träumen. Sie waren das Todesurteil für deinen Vater.'Wir haben leider die traurige Pflicht, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Ihr Sohn einen Unfall hatte.'Wir spürten wohl beide, dass die Stimme noch 'Er ist tot!' ergänzen wollte. Da ging Ernst auch schon in die Knie. Ich sprang auf ihn zu, um ihn zu stützen. Von vorne kam der Sprecher – den ich nun als einen Gendarmen erkannte – um es mir gleich zu tun. Gemeinsam mit einem weiteren Uniformierten führten wir deinen Vater hierher in die Stube und halfen ihm zurück in seinen Sessel. Ich bot den beiden Gendarmen Platz an und sie setzten sich.Ernst stierte nur geradeaus, der Beamte wandte sich nun an mich, stellte sich und seinen Kollegen vor und fuhr fort: 'Wir können einem von Ihnen beiden leider nicht ersparen, sich den Toten noch einmal anzusehen. Es ist nur eine Formsache. An seiner Identität gibt es so gut wie keinen Zweifel. Dennoch, wenn Sie bestätigen könnten, dass es sich um Ihren Sohn handelt, wäre das für uns äußerst hilfreich.'Ich nickte.'Eigentlich hatten wir gehofft, Sie gleich mitnehmen zu können.' Dann blickte er auf deinen Vater. 'Aber ich denke, dass das auch bis morgen Zeit hat. Wir schicken Ihnen gegen neun Uhr jemanden vorbei, der Sie abholt. Ist das in Ordnung für Sie?'Mehr als ein 'Ja' brachte ich nicht heraus. Die Gendarmen verschwanden und ich kümmerte mich um deinen Vater. Es war sehr mühevoll für mich, ihn auszukleiden und zu Bette zu bringen. Er war völlig teilnahmslos.«Luise nahm einen Schluck Tee.»Ich hatte ein schlechtes Gewissen, als ich Ernst am nächsten Tag alleine in der Wohnung ließ. Doch ich hatte die Hoffnung, diesem Spuk vielleicht ein Ende bereiten zu können und so stieg ich in die Kutsche, die pünktlich um neun vor dem Haus stand. Geradewegs zum Leichenschauhaus, bei dem mich der Uniformierte von gestern Abend bereits erwartete.'Machen Sie sich auf das Schlimmste gefasst!' sagte er, als er das Tuch von dem dort aufgebahrten Körper wegzog.'Nein, das ist nicht mein Sohn!' sagte ich sofort.Vor mir lag ein Mensch, nur mit großer Mühe konnte ich erkennen, ob es eine Frau oder ein Mann war. Mehrere Wunden, der Brustkorb war eingedrückt, man konnte teilweise die Rippen sehen. Der linke Arm lag da, in einem unnatürlichen Winkel abgeknickt, der rechte Arm und das rechte Bein fehlten gänzlich.'Sie haben ihm noch gar nicht ins Gesicht gesehen.'Ich blickte an ihm hoch und sah in das völlig entstellte Gesicht. Blutunterlaufene Augen, aufgedunsene Wangen, aufgesprungene Lippen, an der Stelle, an der das rechte Ohr gewesen war, war eine formlose Fleischmasse.'Das ist nicht mein Sohn!' wiederholte ich.Der Gendarm verdeckte den Körper wieder und führte mich in ein angrenzendes kleines Büro.'Wir haben den Ausweis Ihres Sohnes bei der Leiche gefunden.'Er glaubte mir nicht.'Wann haben Sie Ihren Sohn zum letzten Mal gesehen?''Gestern war er bei meinem Mann und mir beim Abendessen.''Welche Kleidung trug er da?'Ich kam nicht umhin, ihm exakt die Kleidungsstücke aufzulisten, die ich an der Leiche wieder erkannt hatte.'Wie ist es passiert?''Der Tote wurde gestern Abend auf den Gleisen am Görlitzer Bahnhof von einem Schaffner entdeckt. Ein Zug muss ihn kurz davor erfasst und etliche Meter mitgerissen haben. Die entsprechenden Spuren konnten wir an der Lokomotive finden. Hatte Ihr Sohn Selbstmordabsichten?'Ich sah zur Tür, in Richtung der Leichenhalle.'Das ist nicht mein Sohn.'Dann stand ich auf und ließ mich zurück zu deinem Vater fahren. Er saß genauso im Sessel, vor sich hin starrend, wie ich ihn etwa zwei Stunden vorher verlassen hatte. Das Buch über Marco Polo lag aufgeschlagen auf dem Beistelltisch, so wie er es am Abend davor hingelegt hatte, als es an der Tür klopfte. Er hat nie wieder darin gelesen.«»Wie ging es weiter?«, wollte Frank wissen.»Ich habe jeglichen Kontakt mit den Behörden gemieden. Alles unternommen, damit dein Vater nicht mehr mit dem Thema konfrontiert wird. Sein Zustand wurde nicht besser. Ich habe gebetet, du mögest endlich vor unserer Tür stehen, so als wäre nichts gewesen, und deinen Vater aus seiner Lethargie befreien. Ich hörte es in meiner Fantasie mehrmals an der Tür klopfen, öffnete sie und stierte doch nur ins leere Treppenhaus. In Gedanken malte ich mir aus, du wärest überfallen worden. Irgendein Dieb hätte dir deinen Ausweis und deine Kleidung geraubt und wäre auf der Flucht vor den Zug gerannt. Wo du selbst abgeblieben warst, konnte ich mir nicht erklären.«»Wie ist Vater gestorben?«»Einfach nicht mehr aufgewacht, eine Woche später. Er lag morgens kalt und steif neben mir. Er muss bei meinem Erwachen bereits mehrere Stunden tot gewesen sein. Dr. Anklamer meinte, er habe wohl unter keinen körperlichen Schmerzen gelitten. Danach war mir erst mal alles egal. Widerstandslos habe ich zugestimmt, dass der immer noch nicht bestattete Tote aus dem Leichenschauhaus zusammen mit meinem Mann begraben wurde. Du bliebst verschwunden, schweren Herzens, und unter Druck aus der Gemeinde, ließ ich neben Ernsts auch deinen Namen auf den Grabstein gravieren. An deinen Tod wollte ich niemals glauben.«
5
Mittlerweile war es früher Nachmittag geworden und Franks erschöpfter Zustand war Luise nicht unbemerkt geblieben. Sie bot ihm an, sich ein wenig hinzulegen und Frank nahm den Vorschlag dankend an.
»Eine Fotografie?«Der Mann, der sie freundlich anlächelte, hatte sein Stativ mitten auf der viel belebten Uferpromenade aufgebaut. Gute Geschäfte hatte er sich vom sonnigen Wetter versprochen und seine Rechnung war aufgegangen.Mehrfach war seine Ansprache heute schon erfolgreich gewesen. Immer wieder postierte er die hier Flanierenden so, dass er sie, den See im Hintergrund, gut im Licht hatte. Dann verschwand er unter der Abdeckung seiner Apparatur, drückte auf einen Knopf und löste damit die notwendige chemische Reaktion aus: Es blendete für einen Moment die Augen der Fotografierten, es knallte und qualmte.Auch Frank war wie der Großteil der heute Angesprochenen guter Laune und willigte ein.»Am besten ist es – wegen der Lichtverhältnisse – wenn Ihr Fräulein Braut den Sonnenschirm schließt. Ansonsten sehen Sie einfach zu mir. 'Bitte lächeln' muss ich bei Ihnen ja nicht erst sagen, bei dem Glück, das sie ausstrahlen.«Ob der Fotograf dies aus einem Kalkül heraus sagte, oder, weil er wirklich dieses Gefühl hatte, war für das Pärchen unerheblich.Hinter dem Fotografen stand ein älterer Mann, der in stoischer Gleichmäßigkeit an seinem Leierkasten kurbelte.Nach getaner Arbeit drückte der Fotograf Frank ein Kärtchen mit einer Adresse in die Hand, bevor er sich neuen Spaziergängern zuwandte.»Morgen können Sie es dann bei mir abholen. Ab fünf Uhr nachmittags wird es fertig sein. Eine wunderschöne Erinnerung an einen wunderschönen Tag.«
Franks erster Eindruck nach seinem Auftauchen aus einem tiefen und geruhsamen Mittagsschlaf war der Geruch von Eierkuchen. Er stieg aus dem elterlichen Ehebett, zog sich wieder an und folgte dem verführerischen Duft. Luise stand am Herd und bemerkte ihn sofort.»Die hast du früher immer geliebt!«Sie blickte auf die Pfanne vor ihr, die sie vorsichtig hin und her schwenkte, um die Teigmasse gleichmäßig zu verteilen.»Das glaube ich dir gerne«, grinste er, »mir läuft das Wasser im Mund zusammen.«»Weißt du, dass du gerade zum ersten Mal wieder gelächelt hast? Heute Vormittag warst du so ernst. Ist ja kein Wunder. Aber früher warst du ein sehr fröhlicher Mensch.«Gesagt und gleich wieder um die Pfanne gekümmert, damit der Eierkuchen nicht einbrannte.Frank setzte sich an den Küchentisch.»Ich kann auch in der Stube decken!«»Ist schon gut so!«Den frischen Eierkuchen auf den Teller vor ihrem Sohn bugsierend, sagte Luise: »Ich hatte eigentlich gedacht, dass es das Beste wäre, wenn du baldmöglichst einen Arzt aufsuchst.«Frank nickte.»Dr. Anklamer! Bei dem bist du früher auch gewesen. Jetzt ist es zu spät für die Sprechstunde. Iss, sonst wird er kalt!«Während sie sich wieder zum Herd umdrehte, um die Pfanne erneut mit Teig zu füllen, redete sie weiter.»Zuerst wollte ich dich ja wecken, aber du hast so selig geschlafen. Und du brauchst ja deinen Schlaf. Siehst schon viel besser aus. Du gehst am besten gleich morgen früh hin. Vielleicht hat er auch noch Akten über dich, von damals.«»Eine gute Idee, Mutter. Und die Eierkuchen schmecken hervorragend, auch die Marmelade von Tante …«»Ursel!«Über der Küchentür entdeckte Frank eine Uhr: Es war bereits nach fünf, er hatte mehr als vier Stunden geschlafen. Sein Körper hatte sich geholt, was er gebraucht hatte.»Eine wunderschöne Erinnerung an einen wunderschönen Tag!«»Wie bitte?«Luise streckte ihm die Pfanne erneut entgegen, sah, dass er den ersten Eierkuchen erst zur Hälfte gegessen hatte und legte sich den gerade fertig gewordenen auf den eigenen Teller. Dann drehte sie das Gas ab und setzte sich.»Die junge Frau auf dem Foto auf der Kommode. Wer ist sie?«Es fiel ihr sichtlich schwer, die Frage zu beantworten.»Claire.«Kein Echo in Franks Geist bei der Nennung des Namens. Obwohl Luise ihr Gegenüber abwartend beobachtete und eine Reaktion erhoffte: Franks Mimik zeigte keine.»Ihr wolltet euch verloben. Du hattest es mir erzählt, 'ganz im Vertrauen'. Ich war sehr glücklich darüber, ich hatte sie immer gemocht, dein Vater auch.«Hatte sie all das heute Geschehene gefasst ertragen – zu gefasst nach Franks Einschätzung – wuchs nun eine erste Träne in ihrem linken Auge. Sie wischte sie beiseite und machte damit doch nur einer neuen Platz. Verlegen starrte sie auf ihren Teller.»'Am Wochenende', hattest du mir zugeflüstert, abends, in einer stillen Minute, 'am Wochenende werde ich um ihre Hand anhalten. Wir machen einen Ausflug und ich wünsche mir so sehr, dass sie 'ja' sagt. Aber sag Vater nichts davon. Es soll eine Überraschung sein. Eigentlich wollten wir es niemandem erzählen. Aber du weißt ja, dass ich kein Geheimnis vor dir haben kann.' Und dann hast du mir zugezwinkert und gegrinst. Ernst hatte unser Tuscheln bemerkt und es war ihm überhaupt nicht Recht, dass er nicht eingeweiht wurde. Das hat er mich den Rest des Abends spüren lassen. Er war äußerst wortkarg und gereizt, ich habe ihm dennoch nichts verraten. Das war mir die Überraschung wert. Aber nach dem Wochenende war alles ganz anders, als du und ich gedacht hatten.«Über den Tisch greifend, nahm Frank ihre Hände in die seinen.»Ich wollte deinem Vater dann mehrmals von deinen Verlobungsplänen erzählen. Ich war aber immer unschlüssig, ob es gut für ihn wäre. Irgendwann war mir die Entscheidung abgenommen …«Frank sagte nichts.Nach einer Weile stand er auf, kippte neuen Teig aus der Schüssel in die Pfanne und drehte das Gas wieder an. Schweigend aßen beide einen weiteren Eierkuchen.Frank sprach danach als erster wieder.