Mein Sommer mit Oma und Finn - Christa Zeuch - E-Book

Mein Sommer mit Oma und Finn E-Book

Christa Zeuch

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Beschreibung

Die 11jährige Lisann macht mit Mama Lena und Bruder Jona wieder Ferien auf dem Land. Auch Oma, von Lisann liebevoll Omschi genannt, verbringt den Sommer dort. Doch diesmal ist vieles verändert. Warum sagt Oma neuerdings komische Wörter und versteht vieles nicht richtig? Und warum interessiert sich Finn, mit dem sich Lisann immer toll verstanden hat, plötzlich mehr für die Nachbarstochter Sonja? Trotz vieler fröhlicher Erlebnisse häufen sich die Konflikte, denn mehr und mehr zeigt sich, dass mit Omas Kopf etwas nicht in Ordnung ist. Mit dieser traurigen Erkenntnis steht allen schwierige Zeiten bevor. Doch sie sind überzeugt, dass sie gemeinsam für sie da sein wollen. Denn trotz allem hat Oma ihr Lachen nicht ganz verloren. Und Finn erweist in einer gefährlichen Situation als Lisanns verlässlicher Freund. Die schaut jetzt nachts öfter nach Sternschnuppen für ihre vielen Wünsche aus ...

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Christa Zeuch

wohnt mit ihrem Mann in Kochendorf bei Eckernförde an der Ostsee. Sie hat zwei Kinder, drei Enkelkinder und zwei Urenkel. Seit 1984 sind von ihr rund 60 Buchtitel für Kinder und Jugendliche in bekannten Verlagen erschienen.

Und was denkt sie sich alles aus? Lange Geschichten und noch mehr kurze, Fantastisches und Wahres, Nachdenkliches, Lustiges, Spannendes, Wortwitziges, Lieder und Gedichte. Vieles davon hat seinen festen Platz in Schul- und Musikbüchern gefunden.

Seit drei Jahren veröffentlicht sie ihre Werke in der 2010 gegründeten Edition Gegenwind, einer Gemeinschaft namhafter Autorinnen und Autoren. Manchmal arbeitet sie auch mit ihrem Sohn, dem Jazzpianisten Fabian Zeuch, zusammen. Begleitet von ihrer Gitarre 'Franziska' besucht sie mit abwechslungsreichen Leseveranstaltungen seit vielen Jahren erfolgreich Schulen und Büchereien.

Inhalt

Die Autoseele pfeift

Hallo Omschi!

Das Mollberggefühl

Sonjas Zeltzimmer

Eine Ferse zu viel

Wimpernklimpern für Finn

Begegnung mit Wasserschlange

Alle haben sich verändert

Oma zählt Schwalben

Mensch ärgere dich nicht

Küchenplünderung

E-Bass und C-Flöte

Oma macht Sachen

Alter Bärbock

Geldgeschichten

Gartenchor

Große Suchaktion

Omschi hält uns auf Trab

Ich bin überflüssig

Opa auf der Wolke

Dunkelgrau und hellblau

Sonjas Auftrag

Finn und ich

Armin, schwarzer Mann

Omas Beißerchen

Miau sagt das Schwein

Burgruine Flackenstein

Vom Erdboden verschluckt

Abendliche Mofatour

Lauter Sternschnuppen

Liebe, liebe Omschi

1

Die Autoseele pfeift

Aus meinem Rucksack fische ich einen halben Müsliriegel. Habe ich schon alles andere aufgegessen?

Ich beiße rein. „Wam simpfa da?“

„Lisann! Mit vollem Mund versteht man dich prächtig“, ruft Lena nach hinten.

Ich kaue und schlucke. „Wann - sind - wir - da?“

„Ohne Stau etwa in einer Dreiviertelstunde.“

Das geht ja noch. Unsere Reise kommt mir schon endlos vor.

„Jona?“ Ich tippe meinen Bruder an, der mit einer Hand rhythmisch auf sein Knie klopft.

Er zieht einen Stöpsel aus dem Ohr.

„Hast du noch irgendwas Süßes?“

Sofort ermahnt mich Lena, dass es für heute reicht, denn wir haben eine Mutter, die streng über unsere Gesundheit wacht.

„Vergiss es, sonst lässt sie sich wieder über Zahnfraß aus“, sage ich leise zu Jona.

Gelangweilt döse ich aus dem Autofenster. Lesen während der Fahrt kann ich nicht, davon wird mir schlecht. Und dauernd Musik hören nervt mich. Vor der Fahrt hat uns Lena ermahnt: „Statt aufs Display schaut lieber in die wirkliche Welt. Lasst eure Smartphones während des Urlaubs ausgeschaltet. Und bitte keinen Protest!“

Die wirkliche Welt besteht zurzeit aus Maisfeldern. Noch mehr Maisfelder. Maisfelder. Industriepark. Maisfelder. Parkplatz. Und alles wieder von vorn.

Ich schlage meinem Bruder unser ABC-Wörter-Spiel vor.

Er schaltet die Ohrmusik ab und fängt an: „Du albernes Affenbaby.“

„Du brüllende Bratwurst.“

„Du charmante Chinesin.“

„Du dusselige Dampfwalze.“

„Du ekliger Eiterpickel.“

Wir versuchen, uns mit Schnelligkeit zu übertreffen, und gackern immer lauter.

„Geht es auch ruhiger?“, beschwert sich Lena. „Ich muss auf den Verkehr achten.“

Sie drosselt die Geschwindigkeit, weil sie nicht wagt, zwei LKW zu überholen.

Eine Kolonne Autos rast so schnell an uns vorbei, dass es mir vorkommt, als seien wir stehen geblieben. Lena fährt ja auch so lahm, als würde sie rohe Eier transportieren.

Aber ich muss meine Mama in Schutz nehmen. Unser hellgrünes Automobilchen ist fast doppelt so alt wie ich und muss geschont werden. Ab Tempo 100 pfeift es immer leise vor sich hin.

Lena möchte es bis zu seinem letzten Schnaufer fahren, und das finden Jona und ich auch gut. Es gehört einfach zu uns. Ich glaube, es ist seine Seele, die so schön pfeift. Denn eine Seele besitzt es, da bin ich sicher.

Wenn es nach mir ginge, würde unser Auto später auf keinem Schrottplatz platt gequetscht. Es bekäme ein richtiges Grab. Eins mit blauen Vergissmeinnicht. Leider gibt es so schöne Autofriedhöfe nicht.

Nach ein paar Kilometern fährt Lena von der Autobahn und biegt in eine lange, grüne Pappelallee. Von nun an geht die Fahrt über Landstraßen weiter.

„Da vorn zwischen den Bäumen glitzert es. Ich glaube, der Stausee!“, ruft Jona.

„Dann sind wir bald da.“ Lena reckt den steifen Hals nach links und rechts, als wolle sie ihn loswerden. „Ihr wisst ja, Oma ist schon in Mollberg. Denkt bitte daran, dass sie keinen Lärm verträgt.“

„Logisch“, nuschelt Jona.

„Es ist wichtig“, betont Lena. „Wegen der Gehirnerschütterung nach ihrem Sturz. Sie braucht noch Ruhe, also streitet und kabbelt euch ausnahmsweise nicht.“

„Hast du uns schon zehnmal gesagt.“

„Und ich werde es zum elften Mal sagen“, weist Lena ihn zurecht.

Wir machen das Spiel weiter.

Pupsender Pinguin… quakender Quirl ...

Weil mir bei R nichts einfällt, kräht Jona sofort: „Ich zähle bis drei, dann habe ich gewonnen. Eins ... zwei ...“

„Du roter Rotzzinken“, sage ich schnell mit Blick auf seine gerötete Nase.

„Ey, das ist jetzt echt fies!“ Boff, landet seine Faust auf meinem Oberschenkel.

Es tut gemein weh, und ich knuffe ihn genauso. „Mann, verstehst du keinen Spaß?“

„Jonas Allergie ist wirklich kein Spaß!“, nimmt Lena ihn in Schutz. Er knufft mich weiter.

„Aua, du sadistischer Schlägertyp!“

„Schluss damit!“, faucht Lena. „Oder wollt ihr, dass ich gegen einen Baum fahre!“

„Aber Jona boxt mich ganz gemein“, heule ich los.

Mit einem scharfen Schlenker steuert Lena auf den Randstreifen zu und bremst so ruckartig, dass ich gegen meinen Bruder kippe.

„Wenn ihr euch wie Idioten prügeln wollt, steigt aus.“ Sie verschränkt die Arme und wartet.

Ich verkneife mir ein weiteres Schimpfwort für Jona, denn Lenas Miene zeigt, dass sie kurz vor einem Aussetzer ist. Die sind schlimmer als die schlimmste Rangelei mit Jona. Dann erstarrt meine Mama zu Stein und ist zwei Tage so ansprechbar wie der Mond.

Acht, neun Autos rauschen an uns vorbei. Ein Reisebus. Ein Motorrad.

Endlich holt Lena tief Luft, schnaubt wie ein Pferd und gibt vorsichtig Gas.

Mir fällt gerade für das T „trübe Tasse“ ein. Das würde ich Jona am liebsten ins Ohr zischen.

Aber es ist klüger, den Mund zu halten.

2

Hallo Omschi!

Ohne die Fahrbahn aus dem Blick zu verlieren, greift Lena nach ihrer Tasche auf dem Beifahrersitz und schwingt sie zu uns nach hinten.

Jona fängt sie mit einer Hand auf. „Nimm mal mein Handy raus und ruf Barbara an, dass wir gleich am Stausee sind.“

Er klickt die Telefonnummer ihrer Schwester an, der das Bauernhaus gehört, wo wir jetzt hinfahren.

Seit Tagen betont Lena, wir würden dort wunderschön Urlaub machen. Das sagt sie aber nur, um Jona und mich zu beschwichtigen, denn eigentlich wollte sie dieses Jahr mit uns nach Gran Canaria fliegen. Wir hatten uns ein tolles Hotel ausgesucht, direkt am Meer.

Daraus ist nichts geworden. Wir sollen Oma drei Wochen lang hüten, weil sie sich nach ihrem Unfall noch nicht allein versorgen kann. Barbara und ihr Mann, unser Onkel Pablo, sind Psychologen und fliegen nach Portugal, wo sie ein Fortbildungsseminar leiten.

In Wahrheit passt es Lena nicht, dass sie Oma hüten soll. Und zwar wegen ihrer neuen Liebe. Meine Eltern sind ja schon lange geschieden, und jetzt ist meine Mama mit Armin zusammen.

Er wollte mit uns nach Gran Canaria reisen. Lena gibt es zwar nicht zu, aber ich wette, sie flippt neuerdings so leicht aus, weil es wegen Oma nicht klappt.

Ich bin jedenfalls froh, dass Armin zu Hause geblieben ist. Auf seine Anwesenheit kann ich locker verzichten. Ich mag ihn nicht. Aber auf keinen Fall darf ich das Lena zeigen. Wenn man was gegen Armin sagt, wird sie zickig.

Während Jona telefoniert, fällt mir die Postkarte von der Burgruine Flackenstein ein.

Ich drehe meinem Bruder den Rücken zu. Er braucht nicht mitzukriegen, was ich aus dem Rucksack fische und zum hundertsten Mal lese:

Hallo Lisann!

Happy birthday to you.

Schönes Fest!

Die Flattergeister von Flackenstein

lassen auch schön grüßen.

Dann bis nächstes Jahr.

Dein Finn

Zum Geburtstag hat er mir wirklich die versprochene Karte geschrieben. Ob er auch schon in Mollberg ist? Jedes Mal, wenn ich es mir vorstelle, rieselt durch meine Adern eine schöne Prickelwelle.

Ich drücke die Postkarte an mein Herz und bilde mir ein, er kann hören, wie es vor lauter Vorfreude klopft.

Ganz unten im Rucksack fühle ich den Stein mit den roten Punkten.

Ich habe ihn mit Finn gefunden und hüte ihn. Er ist mein Glücksbringer.

Und da ist auch Koko, meine Stoffmaus. Die habe ich für alle Fälle eingepackt. Seit meiner Kindergartenzeit nehme ich sie mit ins Bett.

Ja, ja, weiß ich schon von Jonas Lästerei, dass man mit elf zu alt ist für Stoffmäuse ... Ist mir aber egal.

„Cool, wir sind schon halb verhungert!“, höre ich ihn jetzt sagen.

„Dann bis gleich.“ Lena und mich lässt Jona wissen: „Roger lobt unser perfektes Timing, er hätte gerade den Grill mit Holzkohle gefüttert.“

Eins klappt gut zwischen meinem Bruder und mir: Auch wenn wir uns öfter streiten, sind wir nie lange sauer aufeinander. Das ist bei Lena anders, die kann Sauersein so eisern durchhalten, bis man platzt.

Wir überqueren die lange Brücke, zu deren linker Seite der Stausee liegt. Sein Wasser schimmert tiefblau mit silbrigen Flecken. Der Himmel spiegelt sich mit hellen Wattewolken darin, und ich bin sicher, dass es mir auf Gran Canaria gar nicht besser gefallen hätte.

Vor uns tauchen blassgrüne Hügel auf, an denen kleine Häuser kleben. Das ist Mollberg. Nach dem Ortsschild fahren wir um die rosafarbene Kirche und biegen in die Dorfstraße ein.

Am oberen Ende tauchen nebeneinander drei weiße Häuser auf, die früher zu einem richtigen Bauernhof gehörten. Nachdem sein Besitzer gestorben war, hatte Barbara das Anwesen mit den drei Gebäuden gekauft. Schweine, Kühe und Hühner gibt es nicht mehr. Dafür Mäuse, Katzen, Schwalben, Mücken und jede Menge Spinnen.

Vor dem letzten weißen Haus hält Lena an und drückt zweimal auf die Hupe.

Sie springt aus dem Wagen, reckt ächzend die Arme und dreht sich wie ein Derwisch. Ihre schlechte Laune scheint augenblicklich verflogen.

Jona und ich hopsen uns sechseinhalb Stunden Fahrt aus den Beinen und schnappen uns unsere Reisetaschen.

Und da fliegen Roger und Barbara mit ausgebreiteten Armen auf uns zu. Es folgt wildes Geknuddel, denn wir haben uns seit letztem Sommer nicht gesehen.

In der offenen Haustür wartet Oma. Sie hat ein helles Sommerkleid an. Auf einen Gehstock gestützt, lächelt sie uns entgegen. Ihre Zähne leuchten so weiß wie das Kräuselhaar, das ihr kleines Gesicht umrahmt.

„Hallo Omschi.“ Ich freue mich wie verrückt, sie wiederzusehen, und verpasse ihr einen Schmatz auf die Wange. „Wie geht es dir denn?“

Oma verzieht den Mund und wackelt mit dem Stock. „Es muss.“

Ist sie geschrumpft? Nein, ich bin gewachsen!

Ihre Hand streicht über mein kurzes Haar. „Schön, dass du da bist, mein Kleiner.“

Barbara verbessert: „Mutti, das ist doch Lisann, deine Enkeltochter.“

„Ist es denn die Möglichkeit“, staunt Oma. „Wo sind denn deine langen Haare geblieben?“

„Abgesäbelt. Ist praktischer.“

„Da hast du recht. Sag bloß, der andere Stoppel ist ...?“

„Ja klar, Jona. Inzwischen kann er dir auf den Kopf spucken.“

Mein Bruder ist inzwischen einen Kopf größer als Oma, er muss sich bücken, um sie zu umarmen. „Hallo Oma. Geht’s dir schon wieder besser?“

Sie fasst an ihre Stirn und zeigt uns eine lange Narbe über dem rechten Auge. Ziemlich schlimm muss sie gestürzt sein.

Jona und ich legen jeder einen Arm um Omas Schultern und führen sie zum Tisch, auf dem schon das Essen wartet.

Barbara hat den Gartentisch unter dem alten Nussbaum gedeckt und mit Girlanden aus Efeu dekoriert. Sich selbst hat sie auch dekoriert.

Sie trägt ein rotes Flatterkleid und hinterm Ohr eine Ringelblume, die toll zu ihrem schwarzen Haar passt.

Als Begrüßungsessen hat Roger Gemüsestücke und Hähnchenkeulen gegrillt, die von der kleinen Geflügelfarm unten im Dorf stammen.

Und eine Riesenschüssel bunter Salat mit vielen Gartenkräutern steht auf dem Tisch. Alles duftet so lecker, dass meine Speicheldrüsen anfangen zu zwicken.

Ich finde, der Platz unter dem Nussbaum ist der schönste vom ganzen Grundstück. Von hier aus hat man einen ganz weiten Blick in die Hügellandschaft. Darüber wölbt sich der große Himmel, an dem sich immer wieder neue Wolkenbilder formen, als seien das Kulissen.

Fehlen bloß kleine Figuren als Schauspieler.

Etwas Weiches streicht an meinen Beinen entlang.

„Brunhilde!“

Ich hebe die große rotbraune Katze hoch. Letztes Jahr war sie noch ein Kätzchen. Sie macht sich lang und schwer und lässt die Hinterpfoten fast bis auf den Boden hängen.

Als ich sie unterm Kinn kraule, verpasst mir Oma einen leichten Stups. „Hier ist kein Katzentisch.“

„Ja, lass sie runter, Lisann. Und sofort Hände waschen“, mahnt auch Lena. „Katzen übertragen Bakterien.“

Meine Mama predigt gern, dass jederzeit irgendeine Grippe umgehen kann, Sommergrippe, Schweinegrippe, Vogelgrippe. Vielleicht gibt es ja neuerdings Katzengrippe.

Ich spüle meine Hände in der vollen Regentonne ab.

Alle nehmen an der Gartentafel Platz. Mir gegenüber setzt sich Oma auf einen Stuhl mit Armlehnen. Ihren Stock lehnt sie gegen die Tischplatte.

Sie droht ihm vergnügt mit der Faust. „Bleib ja stehen, feiger Kerl.“

Roger füllt als ersten Omas Teller mit Hähnchenstücken und Salat.

„Oh, ich danke Ihnen.“ Sie schnuppert voller Appetit daran und erklärt mir: „Hmm, hat der Chef famost.“

Ja, meine Oma macht gern Quatsch, das mag ich an ihr.

Auf einmal klappt sie mit dem Daumen ihr Obergebiss runter und rauf, so schnell, dass nur ich es bemerke.

„Alle da“, murmelt sie, als meine sie ihre Zähne.

Ulkig. War das eben auch Quatsch?

Ich schaue meiner alten Omschi ins Gesicht. Es hat sich verändert, sieht schmaler, faltiger und müder aus. Ist ja auch schon ein ganzes Jahr her, dass ich sie gesehen habe. Irgendwie hat es nicht eher geklappt mit dem Besuchen. Aber geschrieben habe ich ihr öfter, und Lena hat viel mit ihr telefoniert.

Omschi ... Dieses Wort habe ich erfunden. Es bedeutet: Du gehörst zu den Menschen, die mir am wichtigsten sind.

3

Das Mollberggefühl

„Ruht euch erst ein bisschen aus, ich sorge gleich für Kaffee“, ruft Roger nach dem Essen aus dem Küchenfenster.

Das ist mir sehr recht, denn ich bin noch nicht wirklich angekommen.

Zum Ankommen reichen mir nicht Umarmungen und leckeres Begrüßungsessen. Zuerst muss ich es ganz und gar in mir spüren. Vielleicht hört es sich ja komisch an, aber für manche Orte habe ich ein ganz besonderes Gefühl.

Hier bei Roger und Barbara ist es immer das Mollberggefühl. Das brauche ich, bevor ich mich gleich überzeuge, ob noch alles am selben Platz steht wie im letzten Jahr.

Dass es die Hängematte zwischen Apfel- und Kirschbaum noch gibt, sehe ich schon. In die hätte ich mich jetzt gern gelegt und auf das Mollberggefühl gewartet, aber da schaukelt Jona schon drin. Und auf der Hollywoodschaukel neben dem Geräteschuppen sitzen bereits Lena und Barbara.

Aber ich weiß einen anderen Ort, an dem ich auf das Mollberggefühl warten kann.

Ich stakse wie ein Storch in die Wiese hinter den weißen Häusern. Sie ist noch nicht gemäht. Die höchsten Gräser und Blumen reichen mir bis zum Po. Mittendrin strecke ich mich auf dem Rücken aus. Der Boden unter mir ist angenehm kühl. Auf meinen Bauch scheint warm die Sonne.

Ich blinzle nach oben. Mücken tanzen in der Luft. Der Himmel hat sein schönstes Sommerkleid angezogen: hellblau mit weißen Wolkentupfern. Um mich herum wippen Pflanzen und Blüten, deren Namen ich nicht kenne. Eine Hummel brummelt und lässt sich auf einer gelben Blüte nieder. Der Stil neigt sich unter ihrem Gewicht, und sie fliegt erschrocken auf.

Ich atme tief ein und atme langsam aus. Den Rhythmus dafür geben mir die wankenden Wiesenblumen.

Der Wind lässt alles um mich herum leise rascheln, und der Pflanzenduft steigt in meine Nase. Ein Aroma aus Blüten und Erde. Zum Glück habe ich keinen Heuschnupfen wie Jona.

Und jetzt muss ich die Augen schließen und auf die Wiesengeräusche lauschen.

Eine Grille zirpt ganz nah. Neben mir huschelt und wuschelt etwas, vielleicht eine Feldmaus. Eine Lerche zwitschert über mir. In der Ferne brummt ein Rasenmäher. Auf der Dorfstraße tuckert ein Trecker.

Und irgendwo kräht ein Hahn.

Da kommt es angeschwebt. Ganz allmählich rieselt es in meinen Körper, das vertraute Mollberggefühl. Davon muss ich ein bisschen lachen.

Ob Lena für das Ankommen auch dieses besondere Gefühl braucht?

Oder Jona?

Ich recke den Kopf über die Gräser.

Mein Bruder geht inzwischen kreuz und quer auf dem Hof spazieren und schaut in verschiedene Ecken. Er dreht den Wasserhahn für den Gartenschlauch auf, lässt ihn plätschern, dreht ihn wieder zu.

Vielleicht ist das seine Art, mit den Dingen vom Hof Wiedersehen zu feiern.

In Mollberg bin ich so gern. Hauptsächlich wegen Oma, die jeden Sommer hier verbringt. Und natürlich wegen Finn, der hoffentlich da ist.

Aber etwas stimmt nicht so ganz mit meiner Omschi. Diesmal ist sie mir fast ein wenig fremd. Sie lächelt, doch es wirkt wie von weit entfernt. So, als würde sie manchmal durch mich durchgucken.

Liegt das an ihrer Gehirnerschütterung, von der sie sich noch nicht ganz erholt hat?

„Lisann, bist du das da im Gras?“, höre ich meine Mama.

Ich winke mit einem Bein, und Lena hockt sich zu mir.

Eine ganze Weile sagen wir nichts. Auf unserer Sommerwiese brauchen wir keine Worte zu wechseln. Die hat ihre eigene Sprache.

„Was ist mit Omschi?“, frage ich schließlich. „Sie ist anders als sonst.

Zum Beispiel sagt sie ulkige Wörter.“

Lena schnappt seufzend nach Luft und betrachtet nachdenklich ihre Fingernägel. „Ihre Kopfverletzung hat ihr mehr zugesetzt als wir dachten. Der Schock hat sie anscheinend ziemlich durcheinander gebracht.“

„Was sagen denn die Ärzte? Wann wird sich das bessern?“

„Man weiß nichts Genaues, aber ich hoffe doch, bald.“

Ich setze mich aufrecht und versuche, im Gesicht meiner Mutter zu lesen, was sie denkt. „Glaubst du, sie wird überhaupt wieder ganz gesund?“

„Aber ja.“ Lena schiebt ihre Finger durch meine kurzen Haare. „Oma ist zäh wie eine alte Indianer-Squaw. Wir päppeln sie schon wieder auf. Und du hilfst mit. In Ordnung?“

„Das sowieso. Ich kann ja jeden Tag mit ihr spazieren gehen.“

Auf meinem Arm entdecke ich eine Mücke. Klatsch! Zu spät, das Biest hat schon gestochen.

„Oma kann im Moment nur langsam gehen“, fährt Lena fort. „Sie hat noch Gleichgewichtsstörungen. Da ist es gut, wenn jemand sie begleitet. Barbara hat Oma ja schon ein paar Tage hier, und die meint - - - ah, da kommt Roger mit dem Kaffeetablett!“

Ich muss lachen. „Barbara meint: Ah, da kommt Roger mit dem Kaffeetablett?“

„Ach Lisann, wir reden später darüber. Jetzt brauche ich erst mal Kaffee.“

Wir stehen beide auf.

„Wo schlafen wir überhaupt?“

„Ihr Kinder? Ich nehme an, da drüben.“

Lenas Arm deutet über die Wiese zu unseren Nachbarn. Bei denen steht ein großes weißes Rundzelt.

4

Sonjas Zeltzimmer