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Seitenzahl: 277
The Project Gutenberg eBook, Memoiren einer Grossmutter, Band I, by Pauline Wengeroff
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Title: Memoiren einer Grossmutter, Band I
Bilder aus der Kulturgeschichte der Juden Russlands im 19. Jahrhundert
Author: Pauline Wengeroff
Release Date: April 25, 2014 [eBook #45488]
Language: German
Character set encoding: ISO-8859-1
***START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK MEMOIREN EINER GROSSMUTTER, BAND I***
Note:
Images of the original pages are available through Judaica-Sammlung der Universitätsbibliothek Frankfurt am Main. See
http://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/freimann/content/titleinfo/932435
Pauline Wengeroff
Memoiren einer Grossmutter
Bilder aus der Kulturgeschichte der Juden Russlands im 19. Jahrhundert
Band I
Mit einem Geleitwort von Dr. Gustav Karpeles
BERLIN
Verlag von M. Poppelauer
1908
Alle Rechte, besonders das der Uebersetzung in fremde Sprachen vorbehalten.
Die jüdische Literatur besitzt leider nur sehr wenige Memoirenwerke.
Aus dem jüdischen Leben in Russland kenne ich nur ein einzige, die »Zapiski Jewreja« von Gregor Isaakowitsch Bogrow. Diesem Werke, das uns einen tiefen und charakteristischen Einblick in das Leben und Treiben der Juden in Russland zu Anfang des vorigen Jahrhunderts eröffnet hat, schliessen sich die Memoiren der Pauline Wengeroff ebenbürtig an. Mit inniger Liebe und großer Pietät, mit seltener Treue und aufrichtiger Wahrhaftigkeit, mit einem milden verklärenden Humor und mit feinem psychologischem Takt erzählt sie uns wichtige Episoden aus einer grossen Übergangszeit, aus der Zeit, in welcher die Aufklärung unter den Juden in Russland die Nebel, die bis dahin über dem russischen Judentum lagerten, zu durchbrechen begann, aus einer vielbewegten, interessanten, merkwürdigen Periode, deren Geschichte noch nicht geschrieben ist, sondern erst dann geschrieben werden kann, wenn wir noch eine ganze Reihe solcher Memoiren besitzen werden.
Die russischen Juden haben in den letzten Jahren im Vordergrund des öffentlichen Interesses gestanden. Ihre Schicksale und Leiden haben die Teilnahme der ganzen Kulturwelt gefunden. Natürlich hat man sich auch viel mit ihren Charaktereigenschaften, mit ihrer Geschichte und mit ihrer Literatur beschäftigt. Erst dadurch kam weiteren Kreisen die Erkenntnis, welch ein reicher Schatz von Phantasie und Bildung, von Poesie und Begabung in diesen Judenstädten und Judengassen des weiten Zarenreiches aufgespeichert liegt und dort der grossen Schilderer und Dichter harrt, die diesen Schatz zu heben verstehen.
Unwillkürlich wird man bei Betrachtung der Kulturarbeit, die uns die Memoiren von Frau Pauline Wengeroff so anschaulich schildern, an ein Wort von Nikolaj Gogol in seinem klassischen Roman »Tote Seelen« erinnert. Die Kibitka des Helden jagt mir rasender Eile über die weite unübersehbare Ebene dahin und verliert sich schliesslich in die graue Ferne. »Und jagst nicht auch Du, mein Russland, vorwärts wie eine nicht einzuholende Troika? Der Weg hinter dir dampft, die Brücken krachen, alles lässt du hinter dir. Die Zuschauer bleiben überrascht stehen und fragen: War es ein Blitz? Was bedeutet die schauererweckende Eile, welche geheimnisvolle Kraft beseelt diese Pferde? Was für Pferde sind das? Habt ihr Wirbelwind in euren Mähnen?.... Habt ihr von oben bekannte Töne gehört und strengt ihr nun eure Eisenkörper an, ohne die Erde mit euren Hufen zu berühren, durch die Lüfte zu fliegen, als wäret ihr von einem Gotte begeistert? Russland, wohin jagst du? Antworte! Da kommt keine Antwort. Man hört die Glöckchen der Pferde wundersam klingen; es stöhnt in der Luft und wächst, wie zum Sturme an und Russland setzt seine kühne Jagd fort.«
Feine Ohren werden vielleicht aus den Blättern dieser Memoiren einen Teil der Antwort heraus hören, und aufmerksame Beobachter werden die rapide Entwickelung der Juden Russlands von finsterem Aberglauben und der Erstarrung zum hellen Lichte der Aufklärung und innerer Freiheit verstehen lernen.
Dann ist aber auch der Zweck dieses liebenswürdigen Buches erfüllt, das meine besten Wünsche auf seinem Wege in die Öffentlichkeit geleiten mögen.
Gustav Karpeles.
Seite
1.
Geleitwort von Dr. Karpeles.
v
2.
Vorbemerkung
1
3.
Ein Jahr im Elternhaus
I.
Teil
5
II.
Teil
85
4.
Der Beginn der Aufklärungsperiode
I.
Lilienthal
118
II.
Jeschiwa Bochurim
137
5.
In der Neustadt
I.
Es war ein schönes Bild
147
II.
Ein Sabbath
161
III.
Evas Hochzeit
171
6.
Die Veränderung der Tracht
185
Ich war ein stilles Kind, auf das jedes freudige und traurige Ereignis in meiner Umgebung tief einwirkte. Viele Vorgänge prägten sich meinem Gedächtnis gleich einem Abdruck in Wachs ein, so daß ich mich ihrer noch jetzt ganz deutlich erinnere. Die Begebenheiten stehen frisch und lebendig vor mir, als wären sie von gestern. Mit jedem Jahr wuchs das Bedürfnis, meine Erlebnisse und Beobachtungen niederzuschreiben und nun gibt mir das reiche Material, das ich gesammelt habe, die schönsten und trostreichsten Stunden meines im Alter so einsam gewordenen Lebens. Es sind Feierstunden für mich, wenn ich die Aufzeichnungen zur Hand nehme und oft mit einer stillen Träne oder einem verhaltenen Lächeln darin blättere. Dann bin ich nicht mehr allein, sondern in guter und lieber Gesellschaft. Vor meinem geistigen Auge ziehen sieben Dezennien voll Sturm und Drang vorbei, wie in einem Kaleidoskop, und die Vergangenheit wird lebendige Gegenwart: die heitere, sorglose Kindheit im Elternhause, in späteren Jahren ernstere Bilder, Trübsal und Freude aus dem Leben der Juden von damals und so manche Szene aus meinem eigenen Hause. Diese Erinnerungen helfen mir über einsame, schwere Stunden, über die Bitterkeit der Enttäuschungen des Lebens hinweg, die wohl keinem Menschen erspart bleiben.
In solchen Stunden schleicht sich auch die Hoffnung in das alte Herz, daß es vielleicht auch für andere keine vergebene Arbeit ist, wenn ich vergilbte Blätter über die wichtigeren Ereignisse, die gewaltigen Veränderungen im kulturellen Leben der jüdischen Gesellschaft in Litauen der 40-50er Jahre des vorigen Jahrhunderts, von denen auch ich betroffen wurde, sorgfältig gesammelt habe. Vielleicht interessiert es die Jugend von heute, zu erfahren, wie es einmal war. Und wenn ich auch nur einem meiner Leser etwas gegeben habe, bin ich reichlich belohnt.
Ich bin im Anfang der 30er Jahre des vorigen Jahrhunderts in der litauischen Stadt Bobruisk geboren. Von streng religiösen Eltern, klugen, geistig vornehmen Menschen erzogen, könnte ich die Wandlung verfolgen, die das jüdische Familienleben durch die europäische Bildung erfahren hat, und mich überzeugen, wie leicht unsern Eltern die Erziehung der Kinder wurde, und wie schwer diese Aufgabe uns, der zweiten Generation, war. Wir machten uns mit der deutschen und polnischen Literatur bekannt, studierten mit großem Eifer die Bibel und Propheten, die uns mit Stolz auf unsere Religion und Tradition erfüllten und mit unserem Volk innig verbanden. Ihre Poesie prägte sich dem unberührten Kindergemüt tief ein und gab der Seele für die kommenden Tage Keuschheit und Reinheit, Schwung und Begeisterung.
Aber wie schwer erging es uns nun in der großen Übergangszeit der 60er und 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts! Wir hatten uns wohl einen gewissen Grad der europäischen Bildung angeeignet; aber wir fühlten überall die klaffenden Lücken. Wir ahnten, daß noch höhere Stufen zu ersteigen wären, und suchten mit Anspannung unserer Kräfte, das Fehlende und an uns Versäumte bei unsern Kindern nachzuholen. Aber wir verloren leider in dem übergroßen Eifer das letzte Ziel und vergaßen die Weisheit des Maßhaltens. So tragen wir selbst Schuld an der Kluft, die zwischen uns und unsren Kindern entstand, an ihrer Entfremdung vom Elternhause, die folgen mußte.
Während uns der Gehorsam, den wir nach den Geboten unseren Eltern schuldig sind, heilig und unverletzbar war, mußten wir jetzt unseren Kindern gehorchen, uns vollständig ihrem Willen unterordnen. Wie einst unseren Eltern gegenüber, hieß jetzt die Parole unsern Kindern gegenüber: schweigen, still sein, fein den Mund halten, und wenn es noch so schwer, vielleicht noch schwerer wurde, als einst! Wenn wir andächtig und voll Ehrfurcht zuhörten, da unsere Eltern von ihren Erlebnissen und Erfahrungen erzählten, schweigen und lauschen wir jetzt voll Freude und Stolz, wenn unsere Kinder von ihrem Leben und ihrem Ideale sprechen. Diese Unterwürfigkeit, die Bewunderung, die wir für unsere Kinder haben, macht sie zu Egoisten, zu unseren Tyrannen — das ist die Kehrseite der Medaille der europäischen Kultur bei uns Juden in Rußland, wo sonst kein anderer Stamm so rasch und unwiderruflich mit der Annahme der westeuropäischen Zivilisation alles aufgab und alle Erinnerungen an die Vergangenheit, seine Religion verließ, und alle Tradition von sich abschüttelte.
Unsere Kinder hatten es leichter als wir, eine hohe Bildungsstufe zu erreichen, und wir sahen das mit Freude und Genugtuung, denn wir haben ihnen oft mit schweren Opfern die Wege geebnet und Hindernisse beseitigt. Sie fanden alles bereit: Erzieherinnen, Kindergarten, Jugendbibliotheken, Kindertheater, Feste und angemessene Spiele, indes uns der Hof des Elternhauses alles ersetzen mußte, wo wir uns wahllos mit den armen Nachbarskindern herumtummelten und, die Röckchen über die Köpfe gezogen, hüpften und sangen:
Welcher Unterschied!
Alle diese Wandlungen habe ich hier zu schildern versucht.
Ich bitte die Leser um Nachsicht. Ich bin keine Schriftstellerin und mag auch nicht als solche erscheinen. Ich bitte nur, diese Aufzeichnungen als das Werk einer alten Frau anzusehen, die einsam in der Dämmerung ihres stillen Lebensabends schlicht erzählt, was sie in einer ereignisvollen Zeit erlebt und erfahren.
Ich weiß, daß meine Familienchronik ohne Zweifel der Jugend in unseren Tagen wie mit dichtem Schimmel oder mit einer dicken Staubschicht bedeckt erscheinen wird. Und doch hoffe ich, daß die Kenntnis des damaligen Lebens der Juden, das von dem der heutigen so himmelweit verschieden ist, für so manchen von einigem Interesse sein wird, der sich gern in vergangene Zeiten versenkt, um zu prüfen und zu vergleichen.
So fand ich den Mut zu meiner Publikation!
Ich kann dieses Werkchen — das geistige Kind einer Greisin, Bensekunim, wie die Hebräer sagen, — nicht in die Welt schicken, ohne meiner Freundin Louise Flachs-Fockschaneanu für ihre gütige Förderung zu danken. —
Mein Vater pflegte Sommer und Winter um 4 Uhr morgens aufzustehen. Er achtete streng darauf, daß er sich nicht vier Ellen von seinem Bette entfernte, ohne sich die Hände zu waschen. Ehe er den ersten Bissen zum Munde führte, verrichtete er in behaglicher Stimmung die Früh-Morgengebete, und begab sich dann in sein Arbeitszimmer. Es hatte an den Wänden viele Fächer, in denen zahlreiche Talmudfolianten aller Arten und Zeiten aneinander gereiht standen, in guter Gemeinschaft mit sonstigen talmudischen und hebräischen Werken der jüdischen Literatur. Darunter gab es alte, seltene Drucke, auf die mein Vater stolz war. Außer einem Schreibtisch stand in diesem Raum noch ein hoher, schmaler Tisch, »Ständer« genannt, davor ein bequemer Lehnstuhl und eine Fußbank.
Mein Vater begab sich also in sein Zimmer, ließ sich gemächlich im Stuhl nieder, schob die von dem Diener bereits angezündeten Kerzen näher und schlug den großen Folianten auf, der noch von gestern abend wie wartend dalag und begann in dem bekannten Singsang zu »lernen«. So gingen die Stunden bis sieben Uhr morgens hin. Dann trank er seinen Tee und ging in die Synagoge zum Morgengebet.
In meinem Elternhause wurde die Tageszeit nach den drei täglichen Gottesdiensten eingeteilt und benannt: so sagte man »vor« oder »nach dem Dawenen«, (Beten), für die vorgerücktere Zeit »vor« oder »nach Minche« (Vorabendgebet); die Zeit der Abenddämmerung wurde mit »zwischen Minche und Maariw« bezeichnet. In ähnlicher Weise wurden die Jahreszeiten nach den Feiertagen benannt; so hieß es »vor« oder »nach Chanuka«, »vor« oder »nach Purim« usw.
Mein Vater kam um zehn Uhr vom Bethause zurück. Erst dann begannen die geschäftlichen Arbeiten. Es kamen und gingen viele Menschen, Juden und Christen, die Geschäftsführer, die Kommis, Geschäftsfreunde usw., die er bis zur Mittagszeit — es wurde um ein Uhr gegessen — abfertigte. Nach Tisch ein kurzes Schläfchen, hierauf nahm er seinen Tee. Dann fanden sich auch schon Freunde ein, mit denen er über den Talmud, literarische Fragen und über Tagesereignisse sprach.
So schrieb mein Vater im Anfang der vierziger Jahre des vorigen Jahrhunderts einen Beitrag zu den »Eyen Jankow«, den er »Kuntres« (Kunom Beissim) benannte, und im Anfang der fünfziger Jahre hat er eine umfangreiche Sammlung seiner Kommentare zu dem ganzen Talmud herausgegeben unter dem Namen »Minchas Jehuda«. Beide Werke hat er keinem Verleger zum Verkauf überlassen, und nur an seine Freunde, Bekannte, seine Kinder und hauptsächlich an viele »Bote midraschim«, (Lehrhäuser) in Rußland verteilt. Das jüdische Schrifttum und die meisten seiner Verfasser von damals und noch viele Jahrhunderte zuvor, auch der Talmud, haben den großen Fehler begangen, daß sie die Daten oft außer acht ließen und sie nicht genau angaben. So hat beispielsweise mein Vater in seinem letzten Werke seinen Stammbaum gegeben, der sehr viel Rabbiner und Gaonim, angefangen von seinem Großvater bis zehn Generationen weiter hinauf zählte, aber bei keinem das Jahr seines Lebens und Todes verzeichnet. Was galt das Leben des Einzelnen, wenn nur das Talmudstudium eine Pflanzstätte hatte!
So empfand mein Vater, der getreu wie seine Ahnen der Lehre und dem Gottesdienst sich weihte ...
Das Minche gdole (Vorabendgebet) verrichtete er gewöhnlich zu Hause und sehr früh. Zu Maariw ging er wieder in die Synagoge, von der er gegen neun Uhr nach Hause kam zum Abendbrot. Er blieb gleich beim Tisch sitzen, unterhielt sich mit uns über dies und jenes. Er interessierte sich für alles, was im Hause vorging, was uns Kinder betraf, manchmal für den Fortgang unseres Unterrichts. (Den jüdischen Lehrer, Melamed und Schreiber, wie auch den Lehrer der polnischen und russischen Sprache pflegte meine Mutter zu besorgen.) Meinem Vater wurden da alle Haus- und Stadtereignisse mitgeteilt, während er seinerseits uns alles erzählte, was er in der Synagoge gehört hatte und was dort erörtert worden war. Dies war für uns die beste Unterhaltung und was er erzählte, die interessanteste Zeitung. Man nannte diese mündlichen Ueberlieferungen »pantoflowe gazeta«. Zeitungen, wie wir sie heute besitzen, gab es damals nur wenige, und sie waren nicht für jedermann erreichbar.
Meines Vaters impulsive Natur nahm alle Ereignisse mit starker Ergriffenheit auf, die sich auch seiner Umgebung mitteilte. Wir Kinder lauschten bei Tisch gespannt seinen klugen Reden. Er erzählte uns von berühmten Männern, von ihren Taten, von ihrer religiösen Lebensweise, den jüdischen Gesetzen, und wir liebten und schätzten ihn und stellten ihn höher als alle Menschen, die wir damals kannten. An zwei Namen, die er uns genannt, erinnere ich mich noch. Der eine hieß Reb Selmele, der andere Reb Heschele. Reb Selmele beschäftigte sich so eifrig mit dem Talmudstudium, daß er oft zu essen, zu trinken und zu schlafen vergaß. Er wurde schwach, mager und bleich, und seine besorgte Mutter flehte ihn an, seine Mahlzeiten einzunehmen. Aber es half nichts. Da gebrauchte die Mutter ihre Autorität: sie erschien eines Tages in seinem Studierzimmerchen mit einem Stück Kuchen in der Hand und befahl ihm, zu essen; zugleich sagte sie ihm, daß er jeden Tag um diese Stunde von ihr ein Stück Kuchen bekommen würde, das er essen müßte. Der junge Mann fügte sich in den Willen der Mutter; ehe er aber zu essen begann, rezitierte er den Talmudabschnitt: »Kabed ow weem«, die Gebote von der Verehrung von Vater und Mutter.
Der zweite, Reb Heschele, war schon als Kind sehr klug und witzig, Eigenschaften, die ihm auch bei all seiner großen Gelehrsamkeit bis in die späteren Lebensjahre verblieben. Ihm war das Cheder ein Greuel mitsamt dem Rebben und dem Behelfer, der ihn täglich gewaltsam fortführte, obwohl er sich mit Händen und Füßen sträubte; denn er war ein sehr lebhaftes Kind und liebte die Freiheit. Eines Tages fragte ihn sein Vater ohne jede Strenge, warum er denn so ungern ins Cheder ginge. »Ich fühle mich beleidigt«, erwiderte er, »daß der Behelfer mich so ohne jede Achtung mitschleppt. Warum schickt man dir, wenn man dich haben will, einen Boten, der dich höflich bittet, der Einladung zu folgen?« Und du antwortest manchmal: »Gut, ich komme!« oder manchmal auch: »Ich danke, gleich wie gewesen (d. h. wenn du willst, gehst du, sonst eben nicht).« Der Vater versprach ihm, ihn auch einladen zu lassen und teilte das dem Behelfer mit. Als dieser nun anderen Tages den Kleinen freundlich einlud, antwortete er: »Gleich wie gewesen!« — Ein andermal zog er beide Strümpfe auf denselben Fuß, um den Behelfer recht lange nach dem zweiten suchen zu lassen.
Meine Eltern waren biedere, gottesfürchtige, tief religiöse, menschenfreundliche Leute von vornehmem Charakter. So war überhaupt der vorherrschende Typus unter den damaligen Juden, deren Lebensaufgabe vor allem die Gottes- und die Nächstenliebe war. Der größere Teil des Tages verging mit dem Talmudstudium. Den Geschäften widmete man nur bestimmte Stunden, obgleich die Geschäfte meines Vaters oft hundert tausende Rubel betrafen. Er gehörte, wie auch mein Großvater, der Klasse der Podraziki (Unternehmer) an, die in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts in Rußland eine große Rolle spielten, da sie große Geschäfte mit der russischen Regierung machten, wie die Übernahme von Festungs-, Chaussee- und Kanalbauten und die Lieferungen für die Armee. Mein Vater und mein Großvater gehörten zu den angesehensten dieser Unternehmer, da sie sich durch absolute Ehrlichkeit auszeichneten.[A]
Wir bewohnten in der Stadt Brest ein großes Haus mit vielen, reich ausgestatteten Räumen; wir hatten Equipage und teure Pferde. Meine Mutter und die älteren Schwestern besaßen auch viel Schmuck und schöne, kostbare Kleider. Unser Haus lag abseits von der Stadt. Man mußte erst eine lange Brücke, die die Flüsse Bug und Muchawiez überspannte, passieren und kam dann an vielen kleinen Häusern vorbei. Dann mußte man sich nach rechts wenden, eine Strecke von etwa 100 Faden geradeaus gehen — und man stand vor unserem Haus. Das Haus war gelb angestrichen und hatte grüne Fensterladen. In der Fassade besaß es ein großes, venetianisches Fenster, neben dem zu jeder Seite noch zwei Fenster waren. Davor lag ein schmaler, von einem Holzstacket umgebener Blumengarten. Das Haus trug ein hohes Schindeldach.
Das ganze Anwesen samt Gemüsegarten war von einer Reihe hoher Silberpappeln eingeschlossen, was dem Hause das Aussehen eines litauischen Herrensitzes gab.
Das jüdische Familienleben in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts war in meinem Elternhaus, wie bei anderen, sehr friedlich, angenehm, ernst und klug. Es prägte sich mir und meinen Zeitgenossen tief und unvergeßlich ein. Es war kein Chaos von Sitten, Gebräuchen und Systemen, wie jetzt in den jüdischen Häusern. Das jüdische Leben von damals hatte einen ausgeglichenen Stil, trug einen ernsten, den einzig würdigen jüdischen Stempel. Darum sind uns die Traditionen des elterlichen Hauses so heilig und teuer bis auf den heutigen Tag geblieben! Wir aber mußten viel Leid erdulden, bis wir notgedrungen uns in unserem eigenen Hause einer ganz anderen Lebensweise unterwarfen, die unseren Kindern wohl wenig erbauliche und noch weniger angenehme Erinnerungen aus ihrem elterlichen Hause hinterlassen wird!
Liebe, Milde und doch Bestimmtheit waren die Erziehungsmittel der Eltern. Und ein gut Wörtchen half über manche Schwierigkeit hinweg.
Eine Episode:
Eines Morgens fand mich mein Vater, der von der Stadt zurückkehrte, allein und weinend auf der Straße. Ich glaube, eine Gespielin hatte mir die Puppe fortgenommen. Er wurde böse, daß ich ohne Begleitung umherlief und fragte ärgerlich, warum ich weinte. Ich war aber von meinem großen Schmerz so erfüllt, daß ich keine Antwort zu geben vermochte und noch heftiger zu schluchzen begann. Da wurde mein Vater erst recht zornig und rief: »Warte nur, die Rute wird dich antworten lehren!« Er ergriff meine Hand und zog mich rasch ins Haus. Der Vater ließ sich eine Rute geben und machte Anstalten, mich zu prügeln. Ich war ganz still geworden und sah verblüfft zum Vater hinauf — ich wurde nie mit der Rute bestraft — und sagte überrascht: »Ich bin ja Pessele!« Ich war der festen Überzeugung, daß mein Vater mich nicht erkannt und sich geirrt hatte.
Und diesem selbstbewußten Verhalten hatte ich es zu verdanken, daß ich von der Rute verschont blieb. Alle Umstehenden lachten und baten für mich um Nachsicht.
Ich beschäftigte mich mit Vorliebe im Gemüsegarten beim Ausgraben der Kartoffeln und anderer Gemüse; ich bat mir von den halberfrorenen Weibern bald den Spaten, bald die Harke aus und hantierte damit flink, bis die scharfe, kalte Herbstluft mich mahnte, geschwind ins Haus zu laufen. Nachdem alles Gemüse aus unserem Garten eingekellert war, wurde noch viel auf dem Markt eingekauft. Dann ging's an die sehr wichtige Arbeit — an das Einlegen von Sauerkohl, womit in jedem Herbst viele arme Frauen volle acht Tage beschäftigt waren. Nach den jüdischen Vorschriften ist es streng geboten, die Würmchen, die im Gemüse und in den Früchten, besonders aber im Kohl nisten, sorgsam zu entfernen; und so wurde von jedem Kohlkopf Blatt um Blatt abgenommen, gegen das Licht gehalten und genau untersucht. Meine fromme Mutter war in der Erfüllung der Vorschriften sehr peinlich und pflegte, wenn der Kohl besonders geraten und von der besten Sorte war und wenig Würmer hatte, den Frauen eine besondere Belohnung für jeden gefundenen Wurm zu geben, denn sie war immer in Sorge, daß die Frauen bei der Arbeit nicht genügend aufmerksam waren. Ich sah auch hier gern zu wie bei der Arbeit im Gemüsegarten, weil die Frauen dabei allerlei Volkslieder sangen, die mich tief ergriffen und mich schmerzlich weinen, aber auch häufig herzlich lachen machten. Viele dieser Lieder sind mir bis jetzt im Gedächtnis geblieben und sind mir teuer!
Es war ein geruhiges Leben!
Wir leben jetzt in dem Zeitalter von Dampf und Elektrizität viel schneller, so will es mir scheinen. Das hastige Treiben der Maschinen hat auch auf den menschlichen Geist eingewirkt. Wir erfassen manches viel rascher und begreifen ohne Mühe so viele komplizierte Dinge, indes man früher die einfachste Tatsache nicht begreifen konnte. Ich entsinne mich eines Beispiels, das mir im Gedächtnis geblieben ist und das ich hier anführen will. In den vierziger Jahren baute mein Großvater für die Regierung die Chaussee von Brest nach Bobruisk. Auf der Strecke befanden sich Berge, Täler und Sümpfe, so daß eine Wagenreise volle zwei Tage dauerte, während man dieselbe Tour auf der Chaussee bequem in einem Tage sollte zurücklegen können. Alles sprach natürlich von dem für jene Zeit großen Unternehmen, aber es fanden sich selbst in den höheren Gesellschaftskreisen Skeptiker, die ihre Zweifel äußerten und sagten: »Solange sich die Menschen erinnern, waren zwei Tage nötig, um den Weg, von Brest in Lithauen nach Bobruisk zurückzulegen, und da kommt Reb Zimel Epstein und erzählt uns, er wird ihn auf eine Tagereise verkürzen. Wer ist er? Gott? Wird er die übrige Strecke Wegs in seine Tasche stecken?«
In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts waren die Wege in Litauen und in manchen Teilen Rußlands überhaupt noch wüst. Endlose Steppen, Sümpfe, teilweise noch Urwald dehnten sich meilenweit, bis die große Kaiserin Catharina II. auf beiden Seiten mit Birkenbäumen bepflanzte Landstraßen anlegen ließ. Die Seitenwege waren aber sowohl für die Fußgänger, die man als Boten von Ort zu Ort sandte, sowie für die in Schlitten und Wagen Reisenden noch sehr gefährlich, besonders im Winter durch den tiefen Schnee. Zur Überwindung dieser Gefahren wurde die Pferdepost eingeführt. Dazu gehörte die Troika, das Dreigespann, der Postkutscher, Jamschezik genannt, ein halbwilder, schwerfälliger, immer betrunkener Bauer, der bei seinem Pferde lebte und starb. Viel gebraucht wurde auch die Kibitka, ein plumpes Wägelchen, dessen vier schwere Räder zwei breite Holzstangen verbanden, auf denen ein aus Brettern zusammengesetzter, halb überdeckter Korb ruhte, oder die Telega, ein ebenso plumpes Wägelchen ohne Verdeck. Das Geschirr der Pferde bestand aus grobem Leder, das mit Messingblech reich verziert war. Das mittlere Pferd hatte über dem Kopfe ein Krummholz, in dessen Mitte eine mächtige Glocke hing. Einen ebenso schwerfälligen, echt russischen Charakter wie das Gefährt hatten die etwa 20-25 Werst von, einander entfernt liegenden Poststationen. Eine große Stube mit weißgetünchten Wänden, ein großmächtiger, mit schwarzem Wachstuch bezogener Divan, der lange, hölzerne, auch mit Wachstuch benagelte Tisch, darauf der hohe, schmale, schmutzige, mit grünem Schimmel überzogene Samowar und ein schwarzes, verräuchertes Teebrett mit blinden, unsauberen Gläsern. Der hohe magere, immer, selbst am Mittag, schlaftrunkene, ungewaschene und ungekämmte Stationschef in seiner unsauberen Vizeuniform mit den blinden Messingknöpfen vervollkommnete das typische Bild, das mir heute nach 65 Jahren noch lebhaft vor Augen steht. — Von dieser Einrichtung konnten indes nur die reicheren Leute Gebrauch frischen, namentlich die höheren Militärs und Kouriere, die zu Pferde Botschaften von den Hauptstädten nach einer Gouvernementsstadt übermittelten, wozu man sich jetzt des Telephons und Telegraphen bedient.
Das gewöhnliche Publikum bediente sich eines einfachen, mit Leinwand bespannten Wagens, der von zwei oder drei Pferden gezogen wurde. Das bessere Publikum benutzte den. Tarantass, eine halbbedeckte Kutsche, die auf zwei dicken Holzstangen ruhte, oder den Fürgon, eine ganz mit Leder überdeckte Kutsche mit einer Tür in der Mitte. Nicht selten wurden diese Fuhrwerke samt den Passagieren auf freiem Felde vom Schneesturm verschüttet. — Erst zu Beginn des 18. Jahrhunderts wurde durch den Bau der Chausseen diesen Übelständen abgeholfen. Nun hemmte kein Berg, kein Sumpf, kein Wald das schnelle Vorwärtskommen, und auf gradlinigem, ebenen Wege gingen die Fuhrwerke dahin. Die Sicherheit wurde dadurch erhöht, daß außer den Poststationen in regelmäßigen Abständen Wachhäuschen mit Wächtern eingerichtet wurden. Das nun schon bequemere Reisen machte das Volk beweglicher. Handel und Verkehr entwickelten sich erstaunlich rasch und schon am Anfang der vierziger Jahre zeigte sich das Bedürfnis nach einem schnelleren Verkehrsmittel. Da wurde dann die Einrichtung der sogenannten Diligence getroffen, ein bequemer Wagen mit zwei Abteilungen, der zwölf bis fünfzehn Personen zu einem mäßigen Preis täglich von Ort zu Ort führte. Er war mit drei Pferden bespannt und wurde von dem Postillon gelenkt, der eine eigenartige Uniform trug und auf seiner Trompete eine traditionelle Weise blies. In Russisch-Polen nannte man dieses Verkehrsmittel nach dem Unternehmer »Stenkelerke«, in Ostpreußen »Journalière«. Man war im allgemeinen sehr mit dieser Einrichtung zufrieden und glaubte, nie etwas Besseres finden zu können. Gleichwohl wusste man schon um die Mitte der fünfziger Jahre auch in Rußland von der Erfindung der Eisenbahn, und anfangs der 60er Jahre konnte man auch schon im Zarenreich weite Strecken per Dampf zurücklegen. In den vierziger Jahren brauchte man mit Postpferden sieben Tage, um eine Entfernung von 800 Werst zu überwinden, wofür in den sechziger Jahren mit der Eisenbahn dreißig Stunden ausreichten.
Nicht minder bedeutsam war die Entwicklung des Verkehrswesens innerhalb der Städte: im Anfang ein elendes Korbwägelchen auf hölzernen Rädern, von einem mit Stricken angeschirrten Pferde langsam gezogen, für das »Volk«, und zwar nur für zwei Personen; für das bessere Publikum die sogenannte Droschke oder »Lineika«, die heute noch existiert: ein Lederkorb auf hängenden Ressorts, zwei Deichselstangen, zwischen die ein Pferd mit einem Krummholz über dem Kopfe eingespannt war. In der Lineika war für acht Personen Platz, auf einem langen Sitze saßen auf jeder Seite vier Personen, Rücken an Rücken. Diese Gefährte schüttelten und rüttelten auf dem holprigen Pflaster die Passagiere lange Zeit, und wurden erst allmählich so weit verbessert, daß die Droschke auf liegenden, niederen Ressorts angebracht und der Sitz mit Federkissen versehen wurde, bis schließlich die Gummireifen um die Räder dem Schütteln ein Ende machten und anstelle der Kissen bequeme, breite Sofasitze traten.
Ende der siebziger Jahre wurde die Straßen-Pferdebahn eingeführt und die ersten Velocipede tauchten auf, bis in den neunziger Jahren die elektrische Tramway eine weitere Vervollkommnung brachte, die dann nur wieder durch das Automobil übertrumpft wurde.
Der Wegebau — der ja erst die Vervollkommnung der Verkehrsmittel ermöglichte, wurde in Form von Submissionen vergeben. Jeden Spätherbst, veranstaltete die russische Regierung in Brest die Torgy, d. h. die Vergebung der Bauarbeiten und Lieferungen. Aus diesem Anlaß kam gewöhnlich mein Großvater aus Warschau zu uns. Auch aus anderen: Städten trafen viele »Padradziki« ein. Zu des Großvaters Empfang wurden große Anstalten getroffen; mein Vater wurde, durch Estafette, reitende Eilboten, die auf jeder Poststation das Pferd wechselten, von dem Tag seines Eintreffens vorher genau benachrichtigt. Schon am Morgen des betreffenden Tages waren alle im Hause und besonders wir Kinder voller Ungeduld und Erwartung. Zur bestimmten Stunde begaben wir uns auf den Paradebalkon oder auch auf den Korridor, um da zwischen den Säulen eine geeignete Stelle zu finden, damit uns der Großvater zu allererst bemerke. Aller Augen waren auf die nahe Brücke gerichtet. Die Erwartung hatte den höchsten Grad der Spannung erreicht. Endlich rasselte es auf der Brücke, und wir sahen die große, viersitzige Equipage des Großvaters, von vier Postpferden gezogen. (Aber auch von unseren Blicken mächtig angezogen.) Jeder von uns streckte sich kerzengrade und strich sich das Haar von der Stirn und die Herzen pochten ...
Der Wagen hielt nun endlich vor dem Balkon. Ein hoher, hagerer, blonder Diener, in einem Lakaienmantel, mit einigen aufeinander folgenden Kragen, sprang vom Bock, öffnete den Wagenschlag und half dem Großvater heraus. Er war ein ehrwürdiger, stattlicher Greis, dem Aussehen nach noch ziemlich rüstig, mit langem, grauen Bart, hoher breiter Stirn, großen ausdrucksvollen Augen von strengem Blick. Doch sein väterliches Auge ruhte mit Stolz und Zärtlichkeit auf seinem Sohne. Es erfreute das Herz des alten Mannes vollends, daß unser Vater trotz seiner vielfachen Geschäfte noch immer Zeit genug fand, fleißig den Talmud zu studieren. Wie oft pflegte der Greis zu sagen, er beneide meinen Vater um sein großes, talmudisches Wissen und um die Muße, die er für das Studium finde.
Meine Mutter wurde vom Großvater zuerst begrüßt, aber ohne Händedruck. Meinen Vater, meinen älteren Bruder und meine Schwäger umarmte er; zu meinen älteren Schwestern und zu uns Kindern wandte er sich mit den Worten: »Was macht Ihr, Kinderchen?« Aber diese wenigen Worte waren hinreichend, uns vor Freude hüpfen zu machen. Von dem ganzen Schwarm, der sich auf dem Balkon befand, begleitet, begab sich dann der Großvater ins Haus.
Wir kleinen Kinder durften nicht gleich in die festlich geschmückten Räume eintreten. Wir nahmen daher unseren Rückweg durch die Tür links und gelangten durch den Hauptkorridor in unser Zimmer. Meine älteren Schwestern hatten schon das Recht, die ersten Stunden mit dem Großvater und den Eltern zusammen zu bleiben und sich an der Besprechung der Geschäftsangelegenheiten zu beteiligen. Wir Kleinen wurden erst am darauffolgenden Morgen von der Mutter zum Großvater geführt, der uns zärtlich Haar und Wange streichelte. Doch kam es selten zu einem Kuß. Er ließ uns durch seinen Diener die guten Warschauer Bonbons und Apfelsinen, die er uns mitgebracht hatte, geben. Unsere »Audienz« währte jedoch nur wenige Minuten. Wir küßten die weiße, kräftige Hand, die er uns reichte, wünschten dem von uns so geliebten und hochgeschätzten Manne einen »guten Morgen«, verbeugten uns und entfernten uns, ohne ein überflüssiges Wort an ihn zu richten.
So lange der Großvater bei uns weilte, war im Hause ein Hin- und Herlaufen, ein Lärmen, ein Kommen und Gehen von Gästen und Geschäftsfreunden, im Hofe ein Ein- und Ausfahren von Equipagen und Droschken. Das Mittagbrot wurde später als sonst genommen. Man deckte im gelben Salon den großen Tisch aus dem Eßzimmer; das ganze Silber-, Kristall- und Porzellangeschirr wurde verwendet, und die Gänge und die Länge der Tafel hatten eine ungewöhnliche Ausdehnung, da viele Gäste geladen waren. Von meiner älteren Schwester bis zur jüngsten fand niemand an dem langen Tische Platz. Es wurde für uns zu unserer größten Freude im Eßzimmer ein besonderer Tisch hergerichtet, wo unsere Njanja (Kinderwärterin) Marjascha bediente — ein dralles, rotwangiges Mädchen mit schwarzen, dicken Zöpfen und einem roten Tuch, das sie turbanartig um den Kopf gewickelt hatte. Meine ältere Schwester Chasche Feige brachte uns selbst schmackhafte Gerichte, Kuchen usw. von der großen Tafel herüber. Wir waren von der strengen Disziplin, die drüben herrschte, befreit und genossen, auf uns selbst angewiesen, die vollkommenste Freiheit.
Am Abend fanden sich noch andere Gäste ein, darunter viele Christen, hochgestellte Männer vom Militär, Ingenieure, Baukommissäre, mit denen der Großvater Preference spielte. Ein reiches Dessert wurde aufgetragen, wovon wir Kinder wieder unseren gerechten Anteil erhielten; und wenn wir von der Mutter noch die Erlaubnis bekamen, damit auf den Ofen im Eßzimmer zu klettern und dort Licht anzuzünden, verlangten wir vom Schicksal nichts mehr. Denn auf dem Ofen war es so traulich, so gemütlich, dort, wo selbst am Tage ein Halbdunkel herrschte, wo sich in einem Winkel unsere Puppen mit ihren Bettchen, Kleidern und allerlei Blechtöpfe, Schüsseln und dergleichen befanden. Marjascha leistete uns immer Gesellschaft, und sie wußte so interessante Märchen zu erzählen. Ach, das war der Ort, wo wir Kinder die Welt umher vergaßen, mochte es unten in den prächtigen Räumen noch so munter zugehen: wir waren hier wunschlos-glücklich. Meine Mutter gestattete aber nur ungern den Auszug auf den Ofen; denn der Weg hinauf war unsicher: man mußte den einen Fuß in eine eigens dazu gemachte Vertiefung setzen und sich mit dem zweiten in der Luft rasch hinaufschwingen, wobei man oft das Gleichgewicht verlor und kopfabwärts auf die Diele stürzte. Auch oben fehlte es nicht an Gefahren; neugierig auf das Treiben im Eßzimmer, streckten wir die Köpfe über den Ofenrand hinaus, der andere Teil des Körpers schwebte fast in der Luft. Erst wenn eine auf die Diele stürzte, wurden wir uns bewußt, in welcher Gefahr wir »schwebten«. Dennoch erwirkten wir oft die Erlaubnis, uns für einen ganzen Abend auf dem ersehnten Plätzchen niederzulassen. Der Ofen bildete dort oben ein geräumiges Viereck, in dem man nicht stehend, sondern bloß sitzend oder liegend Platz hatte. Denn die Decke war sehr niedrig.
In den Zimmern unten ging es ziemlich lebhaft zu. Nachdem man den Tee und das Dessert eingenommen hatte, wurde noch viel von Geschäften gesprochen.
Es war ein reges Treiben, und die Ruhe kehrte erst wieder bei uns ein, wenn der Großvater alle Geschäfte geordnet hatte. Der Großvater hatte die Ausführung der Festungsbauten in Brest übernommen, für die mein Vater viele, viele Millionen mit seinen Initialen J. E. gestempelter Ziegel liefern mußte. Wir bekamen zum Abschied schöne Gold- und Silbermünzen. Der Großvater reiste ab. Im Hause wurde es wieder still wie nach einer Hochzeit in den vierziger Jahren (nicht etwa wie nach einer in den achtziger Jahren!).