Milchzähne - Helene Bukowski - E-Book
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Helene Bukowski

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Beschreibung

Eines Tages steht das Kind plötzlich da, die Haare feuerrot leuchtend inmitten des Kiefernwaldes, und gehört niemandem. Skalde nimmt es mit zu sich, obwohl sie weiß, dass die anderen, die in der abgelegenen Gegend leben, das nicht dulden werden. Skalde und ihre Mutter Edith gehörten selbst nie richtig zur Gemeinschaft, seit Edith vor mehr als zwei Jahrzehnten plötzlich triefend am Ufer des Flusses stand, von dem die Anderen sich erhofft hatten, er würde sie vor der im Chaos versinkenden Welt beschützen. Mutter und Tochter lieben einander auch, weil ihnen nichts übrig bleibt: Gegen die Bedrohung müssen sie zusammenhalten. Vor allem jetzt, da immer klarer wird, dass das Leben des Kindes - und ihr eigenes – in Gefahr ist …

Helene Bukowski hat einen atemberaubenden Debütroman von so zeitloser Gültigkeit wie brisanter Aktualität geschrieben, einen Bericht aus einer verrohten Welt, die irgendwo auf uns zu warten droht.

»Helene Bukowski hat ein modernes Märchen geschrieben. Warmherzig, doch nicht sentimental. Vertraut und doch geheimnisvoll. Für ein paar Tage lebte ich dort, in diesem alten Haus am Waldrand, mit Skalde, Edith und Meisis und als es vorbei war, musste man mich mit Gewalt vom Türrahmen lösen. Selten sind mir Figuren so ans Herz gewachsen.« Philipp Winkler.

»Ein Roman wie ein Wachtraum aus der verbotenen Zone. Wer sich hinein begibt, verliert sich darin. Und wird mit einem Finale belohnt, das zu Tränen rührt.« Thomas Klupp.

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Über Helene Bukowski

Helene Bukowski, geboren 1993 in Berlin, studiert zurzeit Kreatives Schreiben in Hildesheim. Sie war Co-Autorin des Dokumentarfilms »Zehn Wochen Sommer«, der einen Grimme Sonderpreis Kultur erhalten hat, und Mitherausgeberin der BELLA triste. 2016 war sie zur Autorenwerkstatt Prosa des Literarischen Colloquiums Berlin eingeladen. Ihre Texte erschienen in verschiedenen Zeitschriften und Anthologien, »Milchzähne« ist ihr erster Roman.

Informationen zum Buch

Eines Tages steht das Kind plötzlich da, die Haare feuerrot leuchtend inmitten des Kiefernwaldes, und gehört niemandem. Skalde nimmt es mit zu sich, obwohl sie weiß, dass die anderen, die in der abgelegenen Gegend leben, das nicht dulden werden.

Skalde und ihre Mutter Edith gehörten selbst nie richtig zur Gemeinschaft, seit Edith vor mehr als zwei Jahrzehnten plötzlich triefend am Ufer des Flusses stand, von dem die Anderen sich erhofft hatten, er würde sie vor der im Chaos versinkenden Welt beschützen. Mutter und Tochter lieben einander auch, weil ihnen nichts übrig bleibt: Gegen die Bedrohung müssen sie zusammenhalten. Vor allem jetzt, da immer klarer wird, dass das Leben des Kindes – und ihr eigenes – in Gefahr ist …

Helene Bukowski hat einen atemberaubenden Debütroman von so zeitloser Gültigkeit wie brisanter Aktualität geschrieben, einen Bericht aus einer verrohten Welt, die irgendwo auf uns zu warten droht.

»Helene Bukowski hat ein modernes Märchen geschrieben. Warmherzig, doch nicht sentimental. Vertraut und doch geheimnisvoll. Für ein paar Tage lebte ich dort, in diesem alten Haus am Waldrand, mit Skalde, Edith und Meisis und als es vorbei war, musste man mich mit Gewalt vom Türrahmen lösen. Selten sind mir Figuren so ans Herz gewachsen.« Philipp Winkler

»Ein Roman wie ein Wachtraum aus der verbotenen Zone. Wer sich hinein begibt, verliert sich darin. Und wird mit einem Finale belohnt, das zu Tränen rührt.« Thomas Klupp

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Helene Bukowski

Milchzähne

Roman

Inhaltsübersicht

Über Helene Bukowski

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Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Kapitel 69

Kapitel 70

Kapitel 71

Kapitel 72

Kapitel 73

Kapitel 74

Kapitel 75

Kapitel 76

Kapitel 77

Dank

Impressum

FÜR TRESSOW

»Don’t you think people are formed by

the landscape they grow up in?«

Joan Didion

Der Nebel hat das Meer verschluckt. Wie eine Wand steht er dort, wo der Strand beginnt. An den Anblick des Wassers kann ich mich nicht gewöhnen. Immer suche ich nach einem gegenüberliegenden Ufer, das mir Halt geben könnte, aber bis auf Meer und Himmel ist da nichts. An diesigen Tagen verschwimmt selbst diese Grenze.

Die Sonne bekommen wir kaum zu Gesicht, doch das wird sich ändern. Einen ersten Vorboten gibt es bereits, die Tiere verlieren nun auch hier ihre Farbe. Einige von ihnen versuchen die Flucht über das Meer, aber die Wellen spülen sie schon nach wenigen Stunden zurück an den Strand. Wir finden sie zwischen Treibholzstücken und Plastikmüll. Niemand weiß, ob wir von ihnen krank werden, aber unser Hunger ist größer als unsere Furcht.

Umkehren können wir nicht. Einige sagen, es hat ein Feuer gegeben. Die Trockenheit der Wälder. Ein einzelner Funke. Ungünstiger Wind. Ich stelle mir eine schwarze Ebene vor. Die Asche fällt wie Schnee. Der Horizont unverstellt.

Andere behaupten, der Prozess sei schleichend gewesen. Nach und nach sei alles zu Staub zerfallen.

Uns bleibt nur die Flucht nach vorn.

Nachts finde ich keinen Schlaf. Ich habe mich deshalb entschlossen, mit meinem Bericht zu beginnen. Die Beschäftigung soll mir die dunklen Stunden füllen.

Den Tisch, an dem wir sonst essen, habe ich von der Mitte des Zimmers an das Fenster geschoben. Das Glas ist von innen beschlagen, aber ich will auch nicht weiter nach draußen starren. Die Stehlampe wirft ihr gelbes Licht in den Raum. Es gibt hier Strom. Vielleicht stehen mitten im Meer riesige Windräder. Was kümmert es sie, dass unsere Welt aus den Fugen geraten ist. Wenn es das Wetter hergibt, werden sie sich immer weiterdrehen.

Vor mir auf der groben Tischplatte liegen meine Notizen. Seit wir aus der Gegend geflohen sind, habe ich sie mir kein einziges Mal angesehen. Ich wollte mich nicht erinnern müssen. Jetzt gelingt es mir nicht mehr, die Bilder zu verdrängen. Ich beginne zu lesen, und alles taucht wieder auf. So klar und deutlich, als würde ich einen Film betrachten. Mithilfe der Notizen will ich das, was passiert ist, in die richtige Reihenfolge bringen. Ich werde erzählen, wie ich es erlebt habe, denn es soll meine Geschichte sein.

Wenn ich fertig bin mit diesem Bericht, werde ich ihn in der Schublade des Tisches zurücklassen, in der Hoffnung, dass wir auf der anderen Seite des Meeres ein neues Leben anfangen.

1

Lesen und Schreiben hat mir Edith beigebracht. Damals war ich für sie noch eine Verbündete. Nachmittag für Nachmittag saßen wir auf der fleckigen Matratze in ihrem Zimmer und stapelten Bücher um uns herum. Draußen vor dem Fenster verhing der Nebel die Landschaft. Neben dem Bett glühten die Drähte des Heizstrahlers, und trotzdem wurde es nie richtig warm. Damit ich nicht fror, wickelte Edith mich in eine Decke und saß eng bei mir, während sie ein Buch aufschlug und mir vorlas. Immer wieder hielt sie inne, fuhr mit dem Finger die Buchstaben nach und sprach sie laut und deutlich aus. Konzentriert wiederholte ich sie. Später schrieb sie mir einzelne Wörter auf und ließ sie mich mit Buntstiften nachzeichnen:

HAUS

HUND

WALD

Bald begann ich, mir die Wörter selbst zu suchen:

NEBEL

PERLMUTT

ROST

Jetzt rückblickend, erscheinen mir diese Nachmittage absurd in ihrer Friedlichkeit.

2

Lange Zeit existierte für mich die Welt außerhalb unseres Grundstücks nicht. Ich baute Höhlen aus Laken und versteckte mich tief im Haus.

»Was du brauchst, sind Bücher«, erklärte Edith mir.

Sie lagen überall herum, denn Edith sah keinen Sinn darin, sie nach dem Lesen zurück in das Regal zu stellen. Auch ihre Kleider waren wild verteilt. Wenn sie sich anzog, ging sie von Raum zu Raum und nahm sich, was sie gerade fand.

Ihren Schmuck dagegen bewahrte sie fein säuberlich in einer Schatulle auf dem Frisiertisch in ihrem Zimmer auf. In jedem Stück war Perlmutt verarbeitet. Dass Perlmutt vor Ediths Ankunft in der Gegend völlig unbekannt gewesen war, erzählte sie mir einmal, als ich nicht einschlafen konnte. »Hier tragen sie nur Goldringe, die mit den Zähnen von Wildschweinen besetzt sind oder mit Bernsteinen. Ich habe ihnen gesagt, dass auch Bernsteine aus dem Meer kommen, aber das haben sie mir nicht geglaubt.«

BERNSTEIN – HARZ VON KIEFERN, DAS DAS MEER IN EINER LÄNGST VERGANGENEN ZEIT ZU EINER AMORPHEN MASSE AUSGEHÄRTET HAT, las ich am nächsten Tag in dem Naturkundebuch, das Edith mir aufgeklappt auf den Küchentisch gelegt hatte.

3

Mit uns im Haus lebten zwei blaue Doggen. Sie hatten keine Namen und hörten nur auf Edith. Jeden Morgen gab sie ihnen Rinde zu fressen, die sie vom Feuerholz pulte.

Ich glaubte, alle Hunde würden auf diese Art ernährt, bis ich ein Buch über Haustiere durchblätterte. Ich las von DOSENFUTTER und SCHLACHTABFÄLLEN.

Als ich Edith die Seite zeigte, lachte sie. »Du kannst von der Welt nicht erwarten, dass sie immer genauso ist wie in den Büchern.«

Wenn Edith nach draußen ging, wichen die Doggen nicht von ihrer Seite. Selbst der Garten schien für die Hunde eine Bedrohung. Mir dagegen gefiel es dort. Überall stand das Unkraut. Edith brachte mir die Namen der Pflanzen bei. Besonders mochte ich die GOLDRAUTEN. Sie hatten leuchtend gelbe Blüten und wuchsen so hoch, dass sie mich überragten.

Den BEIFUSS pflückten wir und hängten ihn im Wohnzimmer zum Trocken auf. Das ganze Haus roch danach.

Sobald sich die BRENNNESSELN zu sehr ausbreiteten, riss Edith sie aus dem Boden. Dabei durfte ich ihr nie helfen. Wenn sie wieder ins Haus kam, waren ihre Arme rot und geschwollen, aber sie tat jedes Mal so, als hätte sie die Handschuhe nicht mit Absicht vergessen.

Aus den Brennnesseln machte Edith Jauche, die sie mit Wasser verlängerte und in Kanister füllte. Damit düngte sie den Boden.

Neben dem Holzschuppen legte Edith ein Kartoffelfeld an. Ich half ihr beim Umgraben und Unkraut Jäten.

Wegen des feucht-kalten Wetters gab es viele Schnecken. Nachts sammelte ich sie aus dem Beet und warf sie in einen Plastikeimer, den Edith mit kochendem Wasser füllte. Die toten Tiere schüttete ich auf den Kompost.

Im Zentrum des Gartens befand sich ein Pool. Die hellblauen Fliesen stumpf. Das Wasser brackig, trotzdem gingen wir darin baden. Edith brachte mir das Schwimmen bei. Ich lernte es schnell. Wenn wir wieder aus dem Wasser stiegen, waren unsere Lippen blau gefroren. Wir wärmten uns am Kamin auf, und Edith las mir Geschichten von Meerestieren vor, die dunkel und schwer im Ozean schwammen.

Immer wieder lag Edith für Stunden im nassen Gras und fing mit den bloßen Händen Kaninchen, die sich aus den umliegenden Wiesen zu uns verirrten. Aus einem Buch über Kleintiere wusste sie, wie man sie schlachtete. Im letzten Kapitel wurde das Züchten erklärt. Ich las es ihr vor, und am nächsten Tag bauten wir die Ställe. Achtzehn quadratische Holzboxen, jeweils sechs in einer Reihe. Edith übertrug mir die Aufgabe, mich um die Tiere zu kümmern.

Aus den schwarzen Fellen der geschlachteten Tiere nähte Edith Mäntel. Tagelang saß sie am Küchentisch und tat nichts anderes.

Nach der Fertigstellung eines Mantels nahm sie ihn und drapierte ihn irgendwo im Haus. Wie sie so dalagen, kamen sie mir vor wie schlafende Tiere. In meinen Träumen wachten sie über mich.

Nur einen der Mäntel trug Edith selbst. Er war so schwarz wie das Wasser in der Regentonne neben dem Haus.

Die Knöpfe hatte sie aus den Knochen geschnitzt, und er hatte eine riesige Kapuze, die sich Edith tief ins Gesicht zog, wenn sie in den Garten ging.

Über Wochen hatte sie jede Nacht an ihm genäht. Damals verstand ich nicht, dass sie es tat, weil sie keinen Schlaf fand.

Als sie ihn das erste Mal anzog, war ich dabei. Draußen dämmerte der Tag. Barfuß stand ich auf den kalten Steinfliesen und fröstelte.

»Gefällt er dir?«, fragte Edith und drehte sich im Kreis.

Ich schwieg.

Edith griff meine Hand. »Er ist so dick, er könnte Schüsse abhalten«, sagte sie.

Ich antwortete: »Fast hätte ich dich nicht erkannt.«

Edith ließ meine Hand los und schickte mich zurück ins Bett.

4

»Geh nicht weiter als bis zur Brombeerhecke«, schärfte Edith mir ein.

Für sie selbst galt diese Regel nicht. Sie ging, wenn sie glaubte, dass ich schlief. Durch das Fenster auf halber Treppe sah ich, wie sie mit unserem verrosteten weißen Pick-up davonfuhr. Auf der Ladefläche mehrere Kanister mit Jauche. Wenn sie wiederkam, waren es andere Kanister. Ich vermutete Benzin. Auch neues Feuerholz brachte sie mit. Beim Aussteigen hatte Edith es nie eilig, in der Hand trug sie immer einen schweren Leinenbeutel. Während sie zurück zum Haus lief, stieß er ihr bei jedem Schritt gegen die Beine und hinterließ blaue Flecken.

Ich wusste, dass es Konserven waren, die sie von ihren Streifzügen mitbrachte. Ich fand sie am nächsten Tag in der Speisekammer. Ihre Etiketten waren weniger verblichen als die der anderen.

Ich las sie so oft, dass ich sie auswendig lernte und in meinem Zimmer auf einen Zettel schrieb: ERBSENSUPPE, EINGELEGTE BOHNEN, SCHMALZFLEISCH, TOMATENSUPPE, EISBEINFLEISCH, KONDENSMILCH, ROTKOHL, SAUERKRAUT, SCHATTENMORELLEN, SÜLZE.

5

An manchen Tagen kam es vor, dass Möwen aus dem Himmel stürzten. Wir fanden sie verrenkt im Gras. Die Gefieder wie angekohlt, oft mit entzündeten Stellen am Bauch oder an den Gelenken der Flügel. Edith begrub die Kadaver in unserem Garten. Dabei rezitierte sie Verse, von denen ich mir jeden einzelnen einprägte. Noch immer könnte ich sie wiedergeben, aber wer macht sich hier noch etwas aus Gedichten?

Auf die Beerdigungen folgten immer Tage, an denen Edith nicht aufstand. Während sie bewegungslos auf ihrer Matratze lag, weder schlief noch wach war, versuchte ich in ihrer Rufweite zu bleiben. Ich brachte ihr Essen oder malte für sie etwas auf die Papierservietten, die ich in der Küche gefunden hatte. Wenn ich sie ansprach, reagierte sie nicht. An besseren Tagen durfte ich ihr ein nasses Tuch bringen und es auf ihr Gesicht legen.

6

Ich verlor meinen ersten Zahn, und alles begann, sich zu verändern. Ich lag in meinem Bett unter der Decke und las im Licht der Taschenlampe, als der Zahn durch den Druck meiner Zunge nachgab. Ich spuckte ihn aus. Kein Blut klebte an ihm. Wie eine Perle lag er in meiner Hand. Ich versuchte, ruhig zu atmen. Dass sich ein Stück aus meinem eigenen Körper so einfach gelöst hatte, war für mich eine Ungeheuerlichkeit. Ich konnte es mir nicht erklären. Angst schnürte mir den Brustkorb zu.

Draußen vor meiner Zimmertür begannen die Doggen zu winseln. Ich rief nach Edith, doch erhielt keine Antwort.

Mit dem Zahn in der Hand trat ich hinaus. Die Hunde wichen vor mir zurück. Ich fand Edith zusammengerollt auf der Matratze. Mit leerem Blick starrte sie an die Decke. Ich hielt ihr meinen Zahn hin, doch sie reagierte nicht. Erst als ich zu weinen begann, setzte sie sich auf und sah mich an.

»Bitte geh einfach«, sagte sie. Aus dem Flur kamen die Doggen und schoben mich knurrend aus dem Raum.

Ich verkroch mich in meinem Bett. Den Zahn hielt ich in meiner geschlossenen Hand und traute mich nicht, mich zu rühren.

Es wurde Morgen, und nichts war passiert. Bis auf meinen Zahn hatte ich nichts verloren. Ich stand auf, legte ihn auf das Fensterbrett und klopfte an Ediths Tür, aber sie ließ mich nicht hinein. Ich ging nach unten und suchte mir das medizinische Lexikon heraus. Zurück in meinem Zimmer stellte ich den Heizstrahler neben mein Bett und setzte mich mit dem Buch auf meine Matratze. Zum ersten Mal las ich von MILCHZÄHNEN.

Am nächsten Tag verließ ich das Grundstück. Ich wollte mich nicht mehr an Ediths Regel halten.

Ich zog meinen Regenmantel an und ging in den Garten. Durch den Nebel war das Licht milchig. Die Feuchtigkeit legte sich als dünner Film auf meine Haut. Ich bückte mich nach einem Stein, den wir beim Umgraben gefunden hatten. Er war nicht zu schwer und lag gut in der Hand. Mit weichen Knien ging ich zur Brombeerhecke. Der Wald dahinter kam mir vor wie eine Kulisse. Ich fixierte ihn und warf den Stein. Ohne ein Geräusch zu verursachen, kam er auf der anderen Seite auf. Ich musste erst zehn weitere Steine werfen, bevor ich mich traute, mir einen Weg durch die Hecke zu bahnen.

Der Wald stand, als hätte er all die Jahre auf mich gewartet. Ich untersuchte die Rinde der Kiefern, verschob die Nadeln auf dem Boden, steckte zwei Tannenzapfen in die Tasche meines Regenmantels und lag, bis es dunkel wurde, in einer Kuhle zwischen den Wurzeln, den Blick in den Zweigen über mir.

Ich verstand, dass ich auch hier hingehörte und dass die Landschaft jenseits des Hauses, des Gartens, auch für mich gemacht war.

Als Edith wieder aufstand, war ich sechs Mal in den Wald gegangen. Ich hatte einen weiteren Zahn verloren und ihn zusammen mit dem anderen in eine kleine Blechdose getan, die ich im Schuppen gefunden hatte.

Ich zeigte sie Edith, als sie zu mir in die Küche kam. Ihre Reaktion war nicht, wie ich erwartet hatte. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und sagte: »Dann bist du nun also eine von ihnen.«

Verständnislos sah ich sie an.

»Ich habe nie einen einzigen Zahn verloren. Du kommst wohl nach deinem Vater.«

Es war das erste Mal, dass Edith von ihm sprach.

»Mein Vater?«, fragte ich.

Edith winkte ab.

Sie ging wieder hinaus und ließ mich allein am Tisch zurück, wo ich die Dose in den Händen drehte und es noch immer nicht verstand.

Edith fand die zwei Tannenzapfen, die ich aus dem Wald mitgebracht hatte. Für drei Tage sperrte sie mich im Keller ein. Nachdem sie mich wieder nach oben gelassen hatte, kletterte ich durch ein offen stehendes Fenster und schlug mich erneut in den Wald.

Aus dem Haus zu verschwinden, fühlte sich an, als würde ein schwerer Stein von meinem Brustkorb genommen werden.

Am nächsten Morgen füllte eine gleißende Helligkeit mein Zimmer. Ich glaubte an einen Traum, doch das Licht blieb. Durch das Fenster blickte ich hinaus und erschrak. Blau war der Himmel über der Landschaft. Keine Wolke war zu sehen, nur die Sonne stand über dem Haus. Es war das erste Mal, dass nicht alles vom Nebel verhangen war. Ich musste die Augen schließen, rot glühte es hinter meinen Lidern.

Blinzelnd zog ich mich an und ging in den Garten. Ich trug nur ein T-Shirt, doch ich fror nicht. Der Himmel spannte sich weit über meinen Kopf. Noch nie hatte ich mich so gefürchtet.

Gegen Mittag zog der Nebel wieder auf. Und in der Nacht wurde es so kalt, dass die oberste Wasserschicht in der Regentonne gefror. Ich brach ein Stück heraus, trug es ins Haus und legte es auf den Küchentisch. Ich blieb dort sitzen, bis das Eis ganz geschmolzen war, und sah dabei zu, wie das Wasser von der Tischplatte lief.

Nicht lange danach begann sich das Wetter radikal zu verändern, und ich glaubte lange, es sei meine Schuld. Ich hatte mich nicht an Ediths Regel, das Grundstück nicht zu verlassen, gehalten und damit die Ordnung durcheinandergebracht.

Um gegen die Schuldgefühle anzukommen, begann ich, die Dinge aufzuschreiben. Aus den einzelnen Wörtern wurden ganze Sätze. Durch sie versuchte ich, festzuhalten, was im Begriff war, sich aufzulösen: die Welt, wie ich sie kannte.

ICH HABE DAS BLAU DES HIMMELS GESEHEN, ES SAH AUS, ALS WÄRE ER AUSGEHÖHLT, UND ICH DENKE, IRGENDWANN WERDEN AUCH DIE HÄUSER WIE SKELETTE STEHEN.

7

Monate, nachdem ich das erste Mal das Grundstück verlassen hatte, fand Edith die von mir aufgeschriebenen Sätze. Lange starrte sie auf das Papier, ohne zu merken, dass ich dicht hinter ihr stand. Ich wagte nicht, zu atmen.

Schließlich legte sie die Zettel zurück, als hätte sie sie nie gefunden, und bevor sie mich entdecken konnte, schlich ich in den Flur zurück.

Ich wusste, es galt, die Sätze in Zukunft besser zu verstecken.

Von da an schob ich sie unter eine lockere Diele im oberen Flur. Jeden Tag kamen weitere dazu. Als der Platz nicht mehr ausreichte, suchte ich mir neue Orte, immer darauf bedacht, dass Edith sie nicht entdeckte.

Nach einer Zeit hatte ich das Gefühl, das Haus bestünde nur noch aus meinen Sätzen. Es kam mir vor, als wären sie unter der Oberfläche der Dinge zu sehen, bereit, jeden Moment hervorzubrechen.

8

Zum ersten Mal nahm ich das Haus in all seiner Deutlichkeit wahr.

Bei der grünlackierten Eingangstür platzte die Farbe ab, und der Schmutz auf dem darüber liegenden Rundbogenfenster mit den sich auffächernden Holzverstrebungen war so dick, dass kein Licht hindurchfiel.

Die grauen Steinfliesen im Flur klebten. In der Küche war es immer dunkel, nicht zuletzt wegen der Schränke aus Eiche und des Küchenbuffets, das schwarz war, fast als wäre die Oberfläche verkohlt. Noch dunkler wurde es nur in der Speisekammer. Hier fand ich nun manchmal Edith, wie sie mit geschlossenen Augen ihre Haare abtastete oder ihre Hände zu Fäusten ballte und mich anschrie, sobald sie merkte, dass ich die Tür geöffnet hatte.

Die Unordnung begann, ein neues Ausmaß anzunehmen. Am schlimmsten war es im Wohnzimmer, dem größten Raum des Hauses. Edith hatte das Sofa in die Mitte geschoben. Quer stand es auf dem ausgetretenen Teppich. Der beigefarbene Bezug war an vielen Stellen abgewetzt, als hätte sich ein großes Tier an ihm gerieben.

Edith hatte sich angewöhnt, nur noch dort zu schlafen. Als Bettdecke benutzte sie ein Laken, dass sie nie wusch. Säuerlich roch es nach ihrem Nachtschweiß.

Der Boden war bedeckt mit einer Schicht aus Büchern. Dazwischen standen halbleere Wassergläser und benutztes Geschirr.

Die schmale Kommode aus Kirschholz neben der Tür ließ Edith immer offenstehen. Ihr Inhalt variierte. Schmutzwäsche, Weckgläser, zerknülltes Papier, Feuerholz.

Einmal räumte sie Edith ganz leer und legte nur eine Brosche oben auf die Ablagefläche. Als ich gegen Mittag den Raum betrat, fiel Sonnenlicht durch den schmalen Spalt zwischen den Vorhängen und wurde von der Brosche zurück in den Raum geworfen. Versprengte Lichtreflexe, die ich im ersten Moment für Einschusslöcher hielt.

Manchmal ging ich freiwillig in den Keller. Der Zugang befand sich im Flur. Eine Falltür, unter der eine nach Moder riechenden Holztreppe steil nach unten in die Dunkelheit führte. Die Regale waren gefüllt mit unserem Vorrat. Eingelegtes Obst und Gemüse. Getrocknete Früchte. Kondensmilch. Zwieback. Ein paar der von Edith mitgebrachten Konserven. Es beruhigte mich, die vorhandenen Lebensmittel zu zählen. Und selbst, dass manchmal das Licht der Glühbirne ausging, die an der niedrigen Decke hing, störte mich nicht. Es gefiel mir sogar, in dieser Dunkelheit zu stehen, in der es keinen Unterschied machte, ob ich die Augen offen hielt oder schloss.

Vom Flur führte eine breite Holztreppe in das obere Stockwerk. Das hölzerne Geländer glatt und anschmiegsam. Auf halber Höhe befand sich das schmale Fenster, von dem aus man die Straße sehen konnte, mit der das Haus über einen Sandweg verbunden war.

Einmal überraschte ich Edith dabei, wie sie auf der Treppe stand und aus dem Fenster starrte. Als sie mich bemerkte, fuhr sie herum und sagte: »Wenn sie kommen, stelle ich mich da rein und knall sie ab«, dann formte sie die linke Hand zur Pistole. »Peng, peng«, sagte sie und zielte auf mich.

In ihrem Zimmer hatte Edith alle Fenster mit Zeitungspapier abgeklebt. Das lichtdurchlässige Papier hatte sie mit schwarzer Schuhcreme übermalt. Seitdem sah es so aus, als hätte sie die Fenster mit Teer versiegelt.

Die nackte Matratze und Daunendecke zierten Schweiß- und Blutflecken. Mit der Taschenlampe inspizierte ich die Flecken.

»Die kriegt da niemand mehr raus«, sagte Edith im Türrahmen stehend. Ich wich zurück. Sie kam herein und fuhr mit den Fingern die Umrisse nach. »Da hat sich mein Körper eingeschrieben. Die Matratze wird für immer mein Denkmal sein.«

Sie lachte lautlos und ließ mich mit dem zitternden Licht der Taschenlampe allein zurück.

Ihren zerbeulten silbernen Rollkoffer hatte Edith neben das Bett geschoben. Platziert wie ein Relikt. Sie verrückte ihn nie. Ich wollte ihn unter keinen Umständen berühren.

Dem Bett gegenüber stand Ediths Frisiertisch. Je mehr Zeit verging, desto staubiger wurde er. Der Spiegel war mit einer matten Schicht überzogen. Mein Gesicht kam mir darin wie eine Maske vor.

Auf der Marmorplatte lagen Ediths Lippenstifte, eine Puderdose aus Perlmutt und eine Bürste aus Treibholz, mit der sie sich früher stundenlang ihr ausgeblichenes Haar gekämmt hatte.

Manchmal versteckte ich einen dieser Gegenstände, schob die Bürste unter den Teppich oder legte einen Lippenstift auf den Schrank. Erst wenn Edith die Suche aufgab, ließ ich sie wiederauftauchen.

Zudem begann ich, die Tapete von den Wänden zu lösen, doch Edith störte sich nicht daran.

»An manchen Tagen wäre ich auch gern nackter«, sagte sie bloß.

Ediths Schrank nahm eine ganze Wand ihres Zimmers ein. Die Spiegeltüren ließen den Raum doppelt so groß erscheinen. Kein einziges Kleidungsstück hing mehr auf den silbernen Bügeln.

Wenn ich die Schranktüren öffnete, bewegten sie sich klimpernd im Luftzug. Die Innenwände hatte Edith mit Bildern vom Meer tapeziert:

SANDSTRAND

HELLE DÜNEN

ANGESPÜLTE ALGEN

BEMOOSTE WELLENBRECHER

EIN PIER IM NEBEL

EINE AUSGEBOMBTE STRANDPROMENADE

Sie betrat das Zimmer nur noch, um sich in den Schrank zu setzen und die Bilder im Licht der Taschenlampe zu betrachten. Wenn sie mich vorbeigehen hörte, rief sie: »Nur der Kiefernwald ist mir hier vertraut. Er sieht aus wie der Kiefernwald nahe der Küste.«

Neben Ediths Zimmer befand sich das Bad. Dunkelblaue Fliesen. Viele von ihnen mit Bruchstellen. Auch durch die Decke zog sich ein Riss. In der Mitte die freistehende Wanne, in der Edith nun immerzu badete. Manchmal vergaß sie, das Wasser abzustellen. Jedes Mal musste ich kommen, um das Schlimmste zu verhindern. Dauernd war ich damit beschäftigt, hineinzustürzen, den Hahn wieder zuzudrehen und mit Handtüchern das bereits über den Wannenrand geflossene Wasser aufzuwischen.

Einmal war mir dabei eines von Ediths Büchern vom Waschbecken ins Wasser gefallen, vielleicht hatte ich es auch mit Absicht mit dem Ellenbogen gestreift. Sofort sog es sich voll, quoll auf. Edith zog es heraus, barg es an ihrer Brust und griff blitzschnell nach einem Stein vom Wannenrand, den ich aus dem Wald mitgebracht und dort platziert hatte. Gerade noch rechtzeitig konnte ich mich ducken. Der Stein krachte knapp über mir gegen den Spiegel, von dem ein großes Stück abbrach und auf dem Boden zersplitterte.

»Das bringt das meiste Unglück«, erklärte ich ihr, doch Edith hörte mich nicht. Sie war untergetaucht und hielt die Luft an, bis ich das Badezimmer verließ.