Superpreis für Literatur - Helene Bukowski - E-Book

Superpreis für Literatur E-Book

Helene Bukowski

0,0

Beschreibung

Die These: Literatur ist gut. Der schlagende Beleg: diese Auswahl aus unzähligen Einsendungen für den Superpreis für Literatur. Die hier versammelten zwanzig Texte sind nicht nur gute Literatur im handwerklichen Sinn. Sie bestätigen auch ein Argument, das immer wieder für die Literatur ins Feld geführt wird: Dass sie ein feiner Seismograph für gesellschaftliche Debatten und Entwicklungen sei. Demzufolge dominierten Bewegungen der Migration, Spielarten des Populismus und daraus folgende Visionen gesellschaftlicher Mikro- und Makrozusammenhänge die thematische Bandbreite der Einsendungen. Auch die Texte in dieser Anthologie kreisen teilweise um diese Themen. Sie tun das subtil und überraschend, roh und unversöhnlich.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 165

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Hrsg. von Moritz Müller-Schwefe und Elias Kreuzmair für die Zeitschriften metamorphosen und Das Prinzip der sparsamsten Erklärung

Superpreis für Literatur

Die Anthologie

Inhaltsverzeichnis
Cover
Über den Superpreis
Die Zeitschriften
Die Ausschreibung
Reichelsdorfer: Relikt
Sauer: Parabellum
Amende: Phantasie in Eile
Domainko: Killer Heroes
Rouget: Stella
Solaris: Gedichte
Moritz: Skarabäus
Voss: Das Mädchen am Pool
Piekar: AHAB
Bukowski: Wenn wir unsere Zähne verlieren
Fritz: Liebe schwarze Löcher...
Lichtenstein: wir schreiben geschichte, keine tragödien
Schmid: Die letzte Perle
Schiller: regionale konflikte
Fitz: Onkel Albert
Lienemann: Gedichte
Rump: Das Krokodil
Schönlau: [ ]© Das Mittel der Wahl
Grandjean: Schwarz-Weiß
Pohl: Teil der Bewegung (Indie-Cloud)
Die Jury
Impressum

Der Superpreis für Literatur

»Literatur ist gut.«Das war unsere Ausgangsthese, so hieß es in der Ausschreibung für den Superpreis für Literatur und diese These war zu beweisen. Denn nicht nur der Singer/Songwriter, Literatur- und Schriftsteller-Kritiker Maxim Biller, der sich auch selbst schon am Roman versucht hat, fordert in regelmäßig wiederkehrenden Abständen, Literatur solle besser, anders und vor allem nicht so nutzlos sein.

Schlagender Beleg für unsere These ist, so hoffen wir, die Auswahl, die wir aus den knapp 250 Einsendungen für diese Anthologie ausgewählt haben. Diese zwanzig Texte sind nicht nur gute Literatur im handwerklichen Sinn. Sie bestätigen auch ein Argument, das immer wieder für die Literatur ins Feld geführt wird: Dass sie ein feiner Seismograph für gesellschaftliche Debatten und Entwicklungen sei. Demzufolge dominierten Bewegungen der Migration, Spielarten des Populismus und daraus folgende Visionen gesellschaftlicher Mikro- und Makrozusammenhänge die thematische Bandbreite der Einsendungen. Auch die Texte in dieser Anthologie kreisen teilweise um diese Themen. Sie unterscheiden sich von den nicht aufgenommenen vor allem durch eines: Sie tun das subtil und überraschend, roh und unversöhnlich.

Unsere zweite These war: Was Literatur eigentlich nicht braucht, ist ein weiterer Literaturpreis. Und vor allem: ein weiterer Literaturpreis, mit dem sich der sogenannte Betrieb einmal mehr selber feiert. Ein Literaturpreis, der an die »üblichen Verdächtigen«, publizierten Autorinnen und Autoren geht. Deswegen versuchte sich der Superpreis stets ein wenig selbstironisch durch die Unwägbarkeiten einer solchen Ausschreibung zu manövrieren. Eine stille Hoffnung war jedoch immer, dass es da draußen tatsächlich ein paar Autorinnen und Autoren in der Frühphase ihrer schreiberischen Entwicklung gäbe, die nicht wissen wohin mit ihren Texten. Die sonst keinen Preis haben und folglich verloren wären, wenn nicht … Diese Hoffnung hat sich bestätigt.

Führung und Verführung – davon kann Politik sprechen, es sind aber auch zentrale Themen der Literatur. Schließlich ist die Verführung der Leserinnen und Leser zur Lektüre Bedingung eines gelingenden Textes, der diese Verführung durch verschiedene Techniken erreicht. In diesem Sinn haben alle unsere Siegertexte Führungsqualitäten. Das Thema von Führung und Verführung ist in ihnen aber über die literarischen Grundfunktionen hinaus von Bedeutung. Denn sie fragen genau nach den Schnittstellen von Literatur, Politik und sprachlichen Formeln.

So verwundert es kaum, dass mit Karl Roßmann, Protagonist von Kafkas unvollendetem Roman »Der Verschollene«, eine Figur Pate für den Superpreis für subversive Fabelführung steht, die selbst eine mehrfach Verführte ist. Zuerkannt wurde dieser Preis Andreas Reichelsdorfers Erzählung »Relikt«, die diese Anthologie eröffnet. Es ist eine Satire auf den politischen Betrieb, in dem sich in diesem Text die sogenannten »Regierungsführenden« betätigen und dessen Verführungskraft zuletzt die Leserin selbst Teil dieses Betriebs werden lässt.

In Martin Piekars Gedicht »AHAB«, ausgezeichnet mit dem Atta-Troll-Superpreis für radikale Ideologiekritik, dagegen wird jegliche Distanz aufgegeben. Ein rasendes, wütendes Subjekt, das sich selbst als »Bastard« bezeichnet, fragt nach der Gegenwart und findet vielfältige Formeln, Fetzen und Zitate, die es probeweise in Verszeilen passt, um schließlich einen Ruhepunkt in der Kunst zu finden.

Felix Schillers lyrisches Großprojekt »regionale konflikte« wurde mit dem Pelagea-Vlassova-Superpreis für lyrische Konfliktstudien ausgezeichnet. Kein Einzelner, keine Einzelne steht im Zentrum. Vielmehr fragen die Verse nach dem Kollektiv, der Solidarität und die Beziehung der Körper zueinander – eine leicht vergessene Dimension politischer Aktivität. »bruder, wie beginnen am körper konflikte?« lautet die Leitfrage, die an konkreten historischen Situationen dekliniert wird. 

Wir wollen uns ganz herzlich bei allen bedanken, die den Superpreis unterstützt haben. Bei Dana Buchzik, Marc Degens, Felix Fuchs, Kyra Mevert und Tobias Roth – unserer großartigen und sachverständigen Jury, die die Gewinner ausgewählt hat. Beim Verbrecher Verlag, der sich mit ungewöhnlicher Kurzentschlossenheit und Bereitschaft dazu entschlossen hat, ein E-Book aus dieser Anthologie zu machen sowie bei Lena Hegger und Luisa Preiss, die sich den gestalterischen Fragen des Superpreises angenommen haben und bei Fabian Bross, der die Homepage für den Preis eingerichtet hat. Besonderer Dank geht an Fabian Bross, Philipp Grünewald, Stefan Stark und Mathias Völzke, die die vergebenen Preise ermöglichten.

Was sonst noch zu sagen wäre: »da ist da bleibt / oh! Ich ha…« (Olav Amende: »Phantasie in Eile«)

Elias Kreuzmair (Das Prinzip der sparsamsten Erklärung)

Moritz Müller-Schwefe (metamorphosen)

Über die Zeitschriften

Das Prinzip der sparsamsten Erklärung, gegründet 2009, ist seitdem zuständig für Prosa und Essayistik in kurzer Form. Die Keimzelle der Zeitschrift befand sich in München, inzwischen blüht sie auch in anderen Städten. Verbirgt sich der Sparsamkeit halber im Internet unter www.parsimonie.de

Die metamorphosen, wiedergegründet 2013. Magazin für Literatur und Kultur aus Berlin. Erscheint vierteljährlich im Verbrecher Verlag. Lässt sich super lesen und abonnieren via www.magazin-metamorphosen.de

Superpreis für Literatur, die Ausschreibung

Literatur ist gut.Wir suchen welche mit mehr Inhalt, verbesserter Rezeptur und noch schnellerer Wirkung. Sprich, wir suchen Literatur, die auch Maxim Biller gefällt. Wir vergeben: einen Preis. Den Superpreis für Literatur. Zu gewinnen: Geld für Bier, Books und Brötchen. Außerdem Autorenfotos, Art Investment und Publikation.

Warum wir das machen? Preise sind gut. Doch mit ihnen zeichnet sich meistens der Betrieb selbst aus. Wir zeichnen die aus, die sonst keinen bekommen. We got the 1,99 € and you got the show. Ein Text hat maximal 15.000 Zeichen (mit Leerzeichen), sieht nach Lyrik, Prosa oder Essayistik aus und verwendet deutsche Worte.

Andreas Reichelsdorfer

Relikt

Karl-Roßmann-Superpreis für subversive Fabelführung

Gefunden wurde das Reliktbereits vor acht Jahren und es hatte sich sofort herausgestellt, dass ihm eine immense Strahlkraft innewohnte, wie sie noch niemals zuvor an einem von Menschenhand oder Menschengeist geschaffenen oder entdeckten Objekt festgestellt oder dokumentiert worden war. Die Wissenschaftler, die mit der Sicherung und ersten Ausforschung des Reliktes beauftragt worden waren, sowie die Regierungsführenden, die diesen Auftrag erteilt hatten, waren sich sogleich uneins über das weitere Vorgehen gewesen und ein langjähriger Streit war die Folge, dessen Konsequenzen Stillstand und einige Zivilprozesse bedeuteten, die meist von Archäologen angestrengt und verloren worden waren. Nach acht Jahren schließlich war das Relikt mittels Beschluss des Kabinetts sowie gestützt durch die Entscheidung eines Gerichts in den Besitz der Allgemeinheit übergegangen und sollte, so der Plan, in die Hauptstadt überführt werden. Dort würde man es dann, unter Aufsicht der angesehensten Wissenschaftler der ganzen Welt, im Detail prüfen, sprich: Proben sollten entnommen, Fotografien sollten angefertigt, experimentelle Tests sollten durchgeführt werden. Schlussendlich würde das Relikt gereinigt und strahlensicher verpackt (eine Formulierung, die einem Regierungsbeamten eingefallen war, was ihm gesondertes Lob seitens der Regierungsführenden beschert hatte), um dann, im repräsentativsten und prachtvollsten Gebäude der Hauptstadt, der Allgemeinheit zur Betrachtung zugänglich gemacht zu werden. Naturgemäß waren die Gegner dieses Vorhabens äußerst zahlreich: Annähernd die Hälfte der Wissenschaftler und sogar Teile der Regierung hatten sich vehement für einen Verbleib des Reliktes unter Ausschluss der Öffentlichkeit ausgesprochen. Es solle lieber in Ruhe und über einen ausgedehnten Zeitraum hin erforscht und anschließend an einem von diesem Land möglichst weit entfernten Ort, zum Beispiel am Nordpol, vergraben werden. Dadurch bestünde immerhin die Möglichkeit, einen Schaden an den Menschen zu vermeiden, oder, so er in noch nicht sichtbarer Weise bereits entstanden war, diesen wenigstens gering zu halten. Natürlich entgegneten die Befürwortenden, die von den Regierungsführenden und nach kurzem Zögern auch von der Kirche unterstützt wurden, ein derart außergewöhnlicher Fund dürfe der Menschheit auf keinen Fall vorenthalten werden, denn gerade dessen Strahlkraft mache es unerlässlich, der Allgemeinheit nicht nur Fotografien oder rohe Daten vorzulegen, sondern einen direkten Kontakt zu ermöglichen. Sie waren der Ansicht, dass es sich bei der von dem Relikt ausgehenden Strahlung, deren Intensität und Form noch nicht kategorisiert werden konnten, nicht um eine schädliche, sondern, im Gegenteil, eine dem Körper (und möglicherweise auch dem Geist) zuträgliche handelte. Selbstverständlich würde in eben jener Zeit der detaillierten Prüfung jeder Zweifel beseitigt werden, denn nichts lag der Regierung und den Befürwortenden ferner, als die Verantwortung für etwas zu tragen, das auch nur den kleinsten Schaden an der Allgemeinheit verursachte. Die Gegner warfen ein, man sei außer Stande, mit absoluter Sicherheit zu behaupten, ein solches Objekt wirke, wenn auch nur im Verborgenen, nicht negativ, selbst nach der intensivsten Prüfung blieben unausweichlich immer, wenn auch minimale, Restzweifel. Allerdings entgegneten hier die Befürwortenden, eine solche These wäre nun auf jedes Forschungsvorhaben in allen wissenschaftlichen Arbeiten anwendbar und lasse sich auf sämtliche Theorien, Tests und Experimente im akademischen Bereich und im Endeffekt auf jegliches Handeln und jede noch so kleine Entscheidungsfällung in allen Lebensbereichen der Menschen ausdehnen, was, das sehe man ja wohl ein, unweigerlich zu nichts als zu definitivem Stillstand führe. Das war, so mussten die Gegner kopfschüttelnd zur Kenntnis nehmen, ein sogenanntes totschlagendes Argument. Sie verstummten. So wurde das Relikt, nachdem die an der Fundstelle durchgeführte oberflächliche Untersuchung abgeschlossen war, unter der Leitung einiger Regierungsbeamter und im Beisein eines internationalen Teams von Experten aus allen erdenklichen anerkannten Naturwissenschaften sowie unter den Augen einer Handvoll von der Regierung auserwählter Journalisten (die sich dazu verpflichtet hatten, ihre Aufzeichnungen erst zum Zeitpunkt der Enthüllung des Reliktes zu veröffentlichen) in die Hauptstadt überführt. Dieser Transport, der als gewaltiges logistisches Projekt bezeichnet werden konnte, dauerte sieben volle Tage. In der Hauptstadt erwarteten bereits weitere Regierungsbeamte und Experten ungeduldig die Ankunft des Reliktes. Unter Abschottung der Öffentlichkeit – an einem bestimmten Punkt mussten die Journalisten, so war es vereinbart, den Transport wieder verlassen – gelangte die Gruppe schließlich an einem geheimen Ort an. Dort hielt ein Regierungsbeamter eine kurze Ansprache, in der er Erläuterungen vorbrachte, die allen Anwesenden längst bekannt und somit überflüssig waren, dann entließ er die Wissenschaftler in ihre Arbeit und die Untersuchungen konnten beginnen. Es würden Untersuchungen werden, die die Beteiligten an den Rand ihrer körperlichen und geistigen Fähigkeiten bewegten, denn alle waren angehalten worden, nicht unnötig Zeit zu verschwenden, wie es der Regierungsbeamte auf Anweisung der Regierungsführenden in seiner Ansprache mehrmals wiederholt hatte. So wurde von den Wissenschaftlern beispielsweise erwartet, ihre Ruhepausen, welche ohnehin Seltenheitswert hatten, auf ein gerade noch zu verkraftendes Minimum zu reduzieren, was dazu führte, dass einige von ihnen über Zeiträume von bis zu drei Tagen (und Nächten) kein Auge zu machten (eine Strapaze, die nur durch die großzügige Bereitstellung aufputschender Medikamente zu bewerkstelligen war). Da es als zu zeitaufwendig erachtet wurde, gewöhnliche Mahlzeiten einzunehmen, waren die Wissenschaftler angehalten, sich von sogenanntem space food oder in Stangen gepressten Prote- und Vitaminen zu ernähren, die sie lutschen konnten, ohne ihre geistigen (und, seltener: körperlichen) Arbeitsprozesse zu unterbrechen. Obwohl, gemeinhin, der Volksmund dem Menschenschlag des Naturwissenschaftlers, oder, allgemeiner gesagt, dem von Personen, die sich in einem bestimmten Bereich in einer manischen Art und Weise vertiefte, umfassende Fachkenntnisse angeeignet haben, Eigenschaften wie Verschrobenheit, Einzelgängertum oder gar soziale Inkompetenz nachsagt, hielten die Regierungsführenden es in diesem Fall dennoch für unerlässlich, die an diesem Projekt Arbeitenden explizit darauf hinzuweisen, dass die Herstellung eines Kontaktes zu Außenstehenden unweigerlich massive Strafen nach sich zöge. Als Vorsichtsmaßnahme wurden Mobiltelefone, Tablets und Rechner konfisziert und in einem gesicherten Raum aufbewahrt. Allerdings, und dies ebenfalls vom Volksmund geäußert, nun allerdings etwas respektvolleren Tonfalls, gelten Wissenschaftler gleichfalls als überdurchschnittlich vernunftbegabt beziehungsweise befähigt dazu, konsequent, vorbildhaft und ungeachtet der Schwere einer Problematik etwas, das als gesunder Menschenverstand zu bezeichnen ist, anzuwenden, sodass auch ohne derartige Beschlagnahmungen oder Drohungen keiner von ihnen auf den Gedanken verfallen wäre, sein Mitwirken an einem derart herausfordernden und möglicherweise bahnbrechendem Projekt zu gefährden, nur um beispielsweise die Stimme eines Partners zu hören oder einem achtjährigen Sohn Geburtstagswünsche zu übersenden oder das Foto einer gerade geborenen Tochter zu betrachten. Nichtsdestotrotz betrieben die Wissenschaftler (teilweise sogar rege) Konversation untereinander und stellten hierbei unter anderem fest, dass sich die Träume aller (so sie denn überhaupt schliefen) ausschließlich mit dem Relikt oder einer mit dem Relikt in Verbindung stehenden Materie beschäftigten, ein Symptom, das, so sagten es sich auch die Wissenschaftler, als absolut natürlich angesehen werden kann während der intensiven psychischen (und körperlichen) Auseinandersetzung mit einer Thematik, so auch mit der hiesigen. Zu Gunsten einer reibungslosen und maximal produktiven Zusammenarbeit wurde jedoch von allen Seiten unwillkürlich verschwiegen, dass sämtliche Träume, in denen das Relikt den unübersehbaren Mittelpunkt bildete, als Alpträume in Erscheinung traten. Und in der Tat war die Zusammenarbeit produktiv und das Projekt kam äußerst schnell voran. Die Regierungsbeamten bezeichneten die Arbeit der Wissenschaftler als in höchstem Maße effizient und konnten, von einigen Wissenschaftlern, denen es gelang, unter höchster Vorsicht über die Schulter einen unauffälligen Blick auf die Regierungsbeamten zu werfen, mitunter anerkennend kopfnickend entdeckt werden. Sie mussten den Regierungsführenden, die alle drei Tage einen Bericht über das Fortschritt zu erhalten hatten, somit nicht beschämt gegenübertreten (die Regierungsbeamten durften, im Gegensatz zu den Wissenschaftlern, alle drei Tage und jeweils nur für drei Stunden und ausschließlich zum Zwecke der Berichtserstattung, das Gebäude verlassen). Alle Wissenschaftler, so notierten es die Regierungsbeamten, wüchsen über sich hinaus und seien produktiv in höchstem Maße. Der Fortschritt der Erkenntnisgewinnung an dem Relikt sei rapide. Es werde konzentriert und absolut zielorientiert gearbeitet, die Disziplin und die Effizienz sei beispiellos und vorbildlich. So sahen sie sich im Stande, nach einem Zeitraum von fast auf den Tag genau zwei Monaten, den die Untersuchungen bis dato angedauert hatten, den Regierungsführenden zu übermitteln, das Projekt könne höchstwahrscheinlich mit einem Vorsprung von etwa zwei Wochen gegenüber dem des ursprünglich von der Regierung festgelegten Termins zu einem Abschluss kommen und das Relikt an den vorbereiteten (streng geheim gehaltenen) Ausstellungsraum überführt werden, eine Botschaft, über die die Regierungsführenden sich äußerst erfreut zeigten und mit dem Kopf nickten. Sie sagten sich hierbei, dass sie damit ein ganz besonderes Projekt zu einem gelungenen Ende führten und schickten die Regierungsbeamten, unter freudiger Verabschiedung und mit dem Zusatz, das nächste Aufeinandertreffen werde bereits am Tag der Überführung des Reliktes in den Ausstellungsraum stattfinden, worüber sich die Regierungsbeamten gegenüber den Wissenschaftlern aber, das verstehe sich hoffentlich von selbst, während der übrigen Zeit noch in Schweigen hüllen sollten, zurück. Die Regierungsbeamten nahmen diese Weisung wörtlich und in der Tat sprach keiner von ihnen während der anderthalb Wochen, die die Fertigstellung des Projektes tatsächlich noch andauerte, auch nur ein Wort, was einigen Wissenschaftlern gelegen kam, die meisten von ihnen jedoch nicht einmal bemerkten, denn sie waren gänzlich vertieft in das Relikt und gewissermaßen in einer Art fokussierter Trance oder hypnotischer Konzentration. Die kommunikative Abstimmung unter ihnen funktionierte mittlerweile reibungslos und kam beinahe ohne Worte aus. Keine Bewegung, kein Handgriff war unnötig. Ihre geistigen Fähigkeiten waren längst auf einem Höhepunkt angelangt und in eine Wechselwirkung mit dem Relikt getreten, die idealerweise zur finalen Woche des Projekts erreicht wurde. In dieser stand nun die heikelste Phase der Untersuchungen bevor, die Reinigung: ein Prozedere, das gänzlich unerforscht war und ein Höchstmaß an Konzentration erforderte. Schon der kleinste Fehler, dessen waren sich alle Wissenschaftler bewusst, konnte hierbei zu einer Gefährdung des gesamten Vorhabens und des menschlichen Lebens überhaupt führen, ein Fakt, der natürlich mit keinem Wort gegenüber den Regierungsbeamten erwähnt worden war. Stillschweigend waren sich die Wissenschaftler einig, in dieser Sache Diskretion zu wahren. Die Reinigung war Präzisionsarbeit und nur die Kühlsten und Besonnensten durften in diesem Falle Hand anlegen. Und natürlich unterlief ihnen kein Fehler, ein weiterer Beweis dafür, dass die Entscheidung der Regierungsführenden, bei der Planung des Projektes weder Kosten noch Mühen zu scheuen und eine internationale akademische Elite ins Boot zu holen in weiser Voraussicht gefällt worden war. Mit dieser Reinigung und der anschließenden strahlensicheren Verpackung, die allerdings, darüber waren sich die Wissenschaftler und auch die Regierung im Klaren, nichts weiter als eine Worthülse war, waren die Untersuchungen und damit die Phase des Projektes, an der die Wissenschaftler ihren Anteil hatten, beendet, und sie fuhren, flogen oder schifften sich nach Hause und fielen müde in ihre Betten. Für die Regierungsführenden aber begann jetzt erst der wichtigste Teil des Projektes: Unter der Anwesenheit von hundertundzweiundfünfzig Staatsoberhäuptern, darunter Präsidenten, Könige und Diktatoren, unzähligen prominenten Vertretern der Sparten Musik, Film und Kunst (von denen die bekanntesten und beliebtesten als Taufpaten fungierten), Gesandten der gesamtem Weltpresse und Liveberichterstattern aus Netz, Funk und Fernsehen, sowie mehreren hunderttausend Pilgernden, die sich bereits seit Wochen auf dem Hauptplatz und über die ganze Stadt verteilt eingefunden hatten, konnte das Relikt, orchestral begleitet und feierlich illuminiert, schließlich der Allgemeinheit enthüllt werden. Und erst, als das Regierungsoberhaupt mit einem Schwung das weiße Tuch von dem Relikt entfernte, fiel es allen wie Schuppen von den Augen.

ANDREAS REICHELSDORFER, geboren 1986 in Fürth, lebt in Wien. Arbeitet mit Klang und Sprache, schreibt Prosa, Lyrik, Songtexte, macht (Pop-)Musik. Veröffentlichungen in Zeitschriften und Anthologien.

Lea Sauer

Parabellum

Der Gepard ist ein Tier von Format, er weiß, was er sich schuldig ist. Nämlich nichts. Das bemerkt man auf den ersten Blick. Hier in Reiffenraths Garten. Dort streunt er herum hinterm Gitterzaun. Verstärkt. Er läuft auf und ab. Und ab und auf. Größe vielleicht Einmeterfünfzig. Beine zu lang für unseren Geschmack. Das verleiht seinem Gang einen stolzierenden Touch. Das mögen wir nicht. Er umkreist sein tägliches Stück Fleisch auf dem heißen Asphaltstein. Sieht elegant aus, das Tier. Geschmeidig. Schleichend. Sonne knallt. Wir kommen oft zu den Wiesen zum Gucken. Eigentlich jeden Tag. Wir fragen uns, woher der kommt mit seinen schwarzen Tupfen auf dem Fell, der Gepard. Was der genau ist. Wir wissen bereits: Das schnellste Tier der Welt ist das. Hat uns Tony erzählt. Tony guckt oft Das Waisenhaus der wilden Tiere. Tony weiß echt immer alles. Das macht ihn älter als uns. Und hier schleicht und schleicht der Gepard um das tote Fleisch.

Wir haben heute schon unsere Runde gedreht. Sind den Weg drüben beim Köppel mit dem Rad abgefahren, haben Sauerampfer gegessen, waren schon bei Balkow und seinen Hühnern. Im Garten eingezäunt haben sie ihr kleines Areal. Namenlos sitzen sie auf der Stange, picken, gurren dem Hahn nach, stochern herum, finden die Körner nicht, die auf dem ausgetretenen Boden liegen. Ihr Gang ist zackig. Wir haben unsere mütterlichen Aufträge ausgeführt. Holt Milch bei Stöckers. Jätet Unkraut am Zaun. Und eben: Bringt das Hühnerbrot zu Balkow.

In der Küche von Balkow riecht es immer identisch: nach schwitziger Plastikdecke. Kariert. Lichtverhältnisse wie gewöhnlich: ein bisschen düster in den Ecken. Wir stehen dort in Reih und Glied. Jede Woche. Immer, wenn wir das trockene Brot abliefern. Von Muttern. Wir sagen: Hier, Brot für die Hühner Dann warten wir auf unseren wöchentlichen Lohn. Der kann sein: Schokolade. Haribo. Ein Euro, wenn er nix anderes da hat. Wir warten auf unsere Entlohnung und schauen dabei mit gefalteten Händen auf die Platzdeckchen in der Durchreiche, auf die Plüschtiersammlung auf der Eckbank. Elefanten. Schauen auf Balkows Fingernägel. Die verraten einen Menschen, die Fingernägel. Durch Schmutz, durch zu kurz oder lang. Oder zu alt. Wie bei Balkow, bei dem sie schon ockern sind. Jeder Besuch bei ihm eine Reise ins Wiesmalwar. Wegen der Entfernung schielen wir Richtung Boden. Tür. Fenster. Draußen zu den Hühnern. Zum Hahn. Sein Kamm ein nassgewordenes Handtuch, hängt fahl herab. Wir wissen: Den hat einmal der Fuchs angegriffen. Das hat Balkow uns erzählt. Irgendwann. Tony hat damals gefragt, wie das sein kann, dass ein Fuchs einen stolzen Hahn angreift. Ein Fuchs ist klein, aber größer als ein Hahn. Er hat scharfe Zähne und Hunger nach Blut. Er schnappt sich alles, was kleiner ist, als er. Hühner, Mäuse, kleine Vogelbabys.