Miss Camerons Weihnachtsfest - Rosamunde Pilcher - E-Book

Miss Camerons Weihnachtsfest E-Book

Rosamunde Pilcher

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Beschreibung

Kaum jemand vermag die kleinen häuslichen Dramen, die die Welt bewegen, so geschickt zu inszenieren wie Rosamunde Pilcher. In den schönsten Geschichten aus «Blumen im Regen» und «Das blaue Zimmer» feiert sie die Magie der Weihnachtszeit. Freudige Erwartung, liebevolle Traditionen und das Fest der Liebe stehen dabei im Mittelpunkt. Die besinnliche Atmosphäre und die Herzlichkeit der Charaktere verzaubern jede Leserin und jeden Leser

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Seitenzahl: 155

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Rosamunde Pilcher

Miss Camerons Weihnachtsfest

Erzählungen

 

 

Aus dem Englischen von Dorothee Asendorf und Margarete Längsfeld

 

Über dieses Buch

Die Meisterin der großen Gefühle schreibt über die Weihnacht.

Die Magie der Winterzeit liegt in der Luft. Der Wind überzieht das Land mit eisigem Glanz. Kinderlachen klingt aus der Ferne und hallt über gefrorene Seen; Träume und Sehnsüchte füllen die Wunschzettel. Rosamunde Pilcher feiert die schönste Zeit des Jahres. Voller Herzlichkeit und mit stillem Mut, zwischen liebevollen Traditionen und aufregenden Neuanfängen blicken Pilchers bezaubernde Charaktere in ihren schönsten Weihnachtserzählungen dem freudigsten aller Spektakel entgegen.

«Alles Erzählungen voll atmosphärischem Reiz, voller englischem bzw. schottischem Charme.» NDR

Vita

Rosamunde Pilcher wurde 1924 in Lelant/Cornwall geboren, arbeitete zunächst beim Foreign Office und trat während des Zweiten Weltkrieges dem Women’s Royal Naval Service bei. 1946 heiratete sie Graham Pilcher und zog nach Dundee/Schottland. Rosamunde Pilcher schrieb seit ihrem fünfzehnten Lebensjahr. Ihre Romane haben sie zu einer der erfolgreichsten Autorinnen der Gegenwart gemacht. Rosamunde Pilcher starb im Februar 2019.

Impressum

Die Originalausgabe der Sammlung «Blumen im Regen» erschien 1991 unter dem Titel Flowers in the Rain bei New English Library, Hodder & Stoughton Ltd., London.

Die Originalausgabe der Sammlung «Das blaue Zimmer» erschien 1985 unter dem Titel The Blue Bedroom bei St. Martin’s Press, New York.

Die Erzählungen der Sammlung The Blue Bedroom («Das blaue Zimmer») wurden von Margarete Längsfeld übersetzt; die Erzählungen der Sammlung Flowers in the Rain («Blumen im Regen») wurden von Dorothee Asendorf übersetzt.

Die Erzählungen «Ein Schneespaziergang» und «Die Schlittschuhe» wurden der Sammlung «Blumen im Regen» entnommen (Rowohlt Taschenbuch Verlag, 1994, Nr. 13207); die Erzählungen «Die weißen Vögel», «Das Vorweihnachtsgeschenk», «Miss Camerons Weihnachtsfest» und «Toby» wurden der Sammlung «Das blaue Zimmer» entnommen (Rowohlt Taschenbuch Verlag, 1996, Nr. 13922).

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Oktober 2023

Copyright © 1998 by Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg Copyright © 1992, 1994 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg Einzelrechte siehe Quellenverzeichnis auf Seite 127

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung und -abbildung Hafen Werbeagentur, Hamburg

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-01855-6

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

Inhalt

Die weißen Vögel

 

Das Vorweihnachtsgeschenk

 

Miss Camerons Weihnachtsfest

 

Die Schlittschuhe

 

Ein Schneespaziergang

 

Toby

Die weißen Vögel

Als Eve Douglas im Garten die letzten Rosen schnitt, bevor der Frost einsetzte, hörte sie im Haus das Telefon klingeln. Sie eilte nicht sogleich hinein, denn es war Montag, und Mrs. Abney war da, die mit dem Staubsauger herumfuhrwerkte und im ganzen Haus den Geruch von Möbelpolitur verströmte. Mrs. Abney ging gern ans Telefon, und wie zu erwarten, wurde kurz darauf das Wohnzimmerfenster aufgerissen, und Mrs. Abney winkte mit einem gelben Staubtuch, um Eve auf sich aufmerksam zu machen.

«Mrs. Douglas! Telefon!»

«Ich komme.»

Den dornigen Strauß in der einen Hand und die Gartenschere in der anderen, überquerte Eve das laubbestreute Gras, zog ihre schmutzigen Stiefel aus und ging ins Haus.

«Ich glaub, es ist Ihr Schwiegersohn in Schottland.»

Eves Herz tat einen kleinen Ruck. Sie legte Blumen und Gartenschere auf die Dielenkommode und ging ins Wohnzimmer. Die Möbel waren verrückt, die Vorhänge über Stühle drapiert, um das Bohnern des Fußbodens zu erleichtern. Das Telefon stand auf dem Schreibtisch. Sie nahm den Hörer auf.

«David?»

«Eve.»

«Ja?»

«Eve …»

«Ja?»

«Eve … Jane ist …»

«Was ist passiert?»

«Nichts ist passiert. Bloß, heute Nacht dachten wir, das Baby käme … und dann hörten die Schmerzen wieder auf. Aber heute Morgen war der Arzt da, und ihr Blutdruck war ein bisschen hoch, da hat er sie ins Krankenhaus gebracht …»

Er brach ab. Nach einer kleinen Weile sagte Eve: «Aber das Baby ist erst in einem Monat fällig.»

«Ich weiß. Das ist es ja eben.»

«Soll ich kommen?»

«Kannst du?»

«Ja.» Ihre Gedanken flogen voraus, überprüften den Inhalt der Tiefkühltruhe, sagten Verabredungen ab, überlegten, wie sie Walter allein lassen könnte. «Ja, natürlich. Ich nehme den Zug um halb sechs. Dann müsste ich gegen Viertel vor acht bei euch sein.»

«Ich hole dich am Bahnhof ab. Du bist ein Engel.»

«Geht’s Jamie gut?»

«Ja. Nessie Cooper passt auf ihn auf. Sie kümmert sich, bis du hier bist.»

«Bis dann.»

«Tut mir leid, dass ich dich damit behellige.»

«Das ist schon in Ordnung. Grüße Jane von mir. Und, David …» Noch während sie es sagte, wusste sie, dass es lächerlich war, «… mach dir keine Sorgen.»

Langsam legte sie den Hörer auf. Sie sah Mrs. Abney an, die in der Tür stand. Mrs. Abneys heitere Miene war verschwunden, sie hatte einer Besorgnis Platz gemacht, die sich in Eves Gesichtsausdruck widerspiegelte. Sie bedurften keiner Erklärungen. Sie waren alte Freundinnen. Mrs. Abney arbeitete seit über zwanzig Jahren bei Eve. Mrs. Abney hatte Jane aufwachsen sehen, sie war in einem türkisfarbenen Kostüm mit passender Kappe zu Janes Hochzeit gekommen. Als Jamie geboren wurde, hatte Mrs. Abney ihm eine blaue Decke für seinen Kinderwagen gestrickt. Sie gehörte in jeder Hinsicht zur Familie.

Sie sagte: «Es ist doch nichts schiefgegangen?»

«Sie glauben, das Baby ist unterwegs. Es ist einen Monat zu früh.»

«Sie müssen hin.»

«Ja», sagte Eve matt.

Sie hatte ohnehin fahren wollen, hatte alles für nächsten Monat geplant. Walters Schwester sollte aus Südengland kommen, um ihm Gesellschaft zu leisten und für ihn zu kochen, aber es stand außer Frage, dass sie jetzt kam, so kurzfristig.

Mrs. Abney sagte: «Seien Sie unbesorgt wegen Mr. Douglas. Ich kümmere mich um ihn.»

«Aber Mrs. Abney, Sie haben schon genug zu tun – Ihre Familie …»

«Wenn ich’s morgens nicht schaffe, komm ich nachmittags auf ’nen Sprung vorbei.»

«Sein Frühstück kann er sich selber machen …» Aber irgendwie verschlimmerte das die Situation, als sei der arme Walter zu nichts anderem fähig, als sich ein Ei zu kochen. Doch darum ging es nicht, und das wusste Mrs. Abney. Walter musste den Hof bewirtschaften; er arbeitete von sechs Uhr früh bis Sonnenuntergang oder noch länger im Freien. Er brauchte, bekam und vertilgte Mahlzeiten in riesigen Portionen, denn er war ein großer Mann und ein schwer arbeitender noch dazu. Er benötigte tatsächlich viel Fürsorge.

«Ich – ich weiß nicht, wie lange ich weg sein werde.»

«Hauptsache», sagte Mrs. Abney, «Jane geht es gut und dem Baby auch. Da gehören Sie jetzt hin.»

«Ach, Mrs. Abney, was würde ich ohne Sie anfangen?»

«Eine Menge, denk ich», sagte Mrs. Abney, die als waschechte Einwohnerin von Northumberland nichts davon hielt, Gefühle zu zeigen. «Und wie wär’s, wenn ich uns jetzt einen schönen heißen Tee mache?»

Der Tee war eine gute Idee. Während sie ihn trank, stellte Eve Listen auf. Als sie fertig getrunken hatte, holte sie den Wagen heraus, fuhr das kurze Stück zur nächsten Stadt, ging in den Supermarkt und kaufte einen Vorrat an allen Lebensmitteln, die Walter notfalls selbst zubereiten konnte. Suppendosen, Quiches, Tiefkühlpasteten, tiefgefrorenes Gemüse. Sie kaufte Brot, Butter, pfundweise Käse. Eier und Milch lieferte der Hof selbst, aber der Metzger packte Koteletts, Steaks und Würste ein, suchte Fleischreste und Knochen für die Hunde zusammen, versprach, einen Lieferwagen zum Hof zu schicken, falls es sich als notwendig erweisen sollte.

«Fahren Sie weg?», fragte er, während er mit seinem Hackmesser einen Markknochen zerschlug.

«Ja. Bloß nach Schottland zu meiner Tochter.» Der Laden war voll, und sie sagte nicht, warum sie hinfuhr.

«Das wird eine nette Abwechslung.»

«Ja», sagte Eve matt. «Ja, sehr nett.»

 

Sie fuhr nach Hause. Walter, der früh hereingekommen war, saß am Küchentisch und verzehrte, was Mrs. Abney ihm in den Backofen des Elektroherdes gestellt hatte, Braten, Kartoffeln und mit Käse überbackenen Blumenkohl. Er hatte seine alte Arbeitskleidung an und sah aus, wie ein Landwirt eben aussieht. Vor langer Zeit hatte er in der Armee gedient; als Eve ihn heiratete, war er ein groß gewachsener, schneidiger Hauptmann gewesen, und sie hatten eine traditionelle Hochzeit gehabt, Eve in wallendem Weiß, und als sie aus der Kirche traten, erwartete sie ein Bogengang aus Schwertern. Es folgten Versetzungen nach Deutschland, Hongkong und Warminster, immer wohnten sie in Unterkünften für Eheleute, hatten nie ein eigenes Heim. Und dann wurde Jane geboren, und bald danach verkündete Walters Vater, der sein Leben als Bauer in Northumberland verbracht hatte, er habe nicht die Absicht, in den Sielen zu sterben, und was Walter da zu tun gedenke?

Eve und Walter trafen die schwer wiegende Entscheidung gemeinsam. Walter nahm Abschied von der Armee, besuchte zwei Jahre eine Landwirtschaftsschule und übernahm dann den Hof. Keiner von ihnen hatte diese Entscheidung je bereut, aber die schwere körperliche Arbeit hatte bei Walter ihre Spuren hinterlassen. Er war jetzt fünfundfünfzig, sein dichtes Haar ergraut, sein gebräuntes Gesicht von Falten durchzogen; in den Poren seiner Hände hatte sich Maschinenöl festgesetzt.

Er sah auf, als sie mit ihrer Last vollbeladener Körbe erschien. «Hallo, Liebling.»

Sie setzte sich ans andere Ende des Tisches, ohne ihren Mantel auszuziehen. «Hast du Mrs. Abney gesehen?»

«Nein, sie war schon weg, als ich hereinkam.»

«Ich muss nach Schottland.»

Ihre Augen trafen sich. «Jane?», fragte Walter.

«Ja.» Die Angst schien ihn sichtbar zu verzehren, ihn erschreckend zu verkleinern. Es drängte sie, ihn zu trösten. Sie sagte: «Mach dir keine Sorgen. Das Baby kommt bloß ein bisschen zu früh, das ist alles.»

«Geht es ihr gut?»

In nüchternem Ton erklärte Eve, was David ihr gesagt hatte. «So was kommt vor. Aber sie ist im Krankenhaus. Ich bin sicher, sie ist in allerbesten Händen.»

Walter sprach aus, was Eve seit Davids Anruf zu verdrängen versucht hatte. «Sie war so krank, als Jamie geboren wurde.»

«O Walter, nicht …»

«Früher würde man ihr gesagt haben, sie darf kein Kind mehr bekommen.»

«Heute ist das anders. Die Ärzte sind so tüchtig …» Sie fuhr unsicher fort, bemüht, nicht nur ihren Mann, sondern auch sich selbst zu beruhigen: «Du weißt schon, Ultraschall und so …» Er wirkte nicht überzeugt. «Außerdem wollte sie noch ein Kind.»

«Wir wollten auch noch ein Kind, aber wir haben nur Jane.»

«Ja, ich weiß.» Sie stand auf, um ihn zu küssen, und legte ihre Arme um seinen Hals, vergrub ihr Gesicht in seinen Haaren. Sie sagte: «Mrs. Abney wird sich um dich kümmern.»

Er sagte: «Ich sollte mit dir fahren.»

«Liebling, das geht nicht. David versteht das, er ist selbst Landwirt. Jane versteht es auch. Mach dir deswegen keine Gedanken.»

«Es ist mir nicht recht, dass du allein fahren musst.»

«Ich bin nicht allein, solange ich dich irgendwo weiß, und sei es in hundertfünfzig Kilometer Entfernung.» Er hob ihr sein Gesicht entgegen, und sie lächelte ihn an.

«Wäre sie so gut gelungen», fragte Walter, «wenn sie kein Einzelkind gewesen wäre?»

«Aber sicher. Es gibt keinen anderen Menschen, der so gelungen ist wie Jane.»

 

Als Walter hinausgegangen war, packte Eve die Einkäufe weg, stellte für Mrs. Abney eine Liste auf, räumte die Tiefkühltruhe ein, spülte das Geschirr. Sie ging nach oben, packte einen Koffer, aber als alles erledigt war, war es erst halb drei. Sie ging die Treppe hinunter, zog Mantel und Stiefel an und pfiff nach den Hunden, dann spazierte sie über die Felder zur kalten Nordsee, an den kleinen sichelförmigen Strand, den sie von jeher als ihr Eigentum betrachteten.

Sie hatten jetzt Oktober, es war still und kalt. Der Herbst hatte die Bäume bernsteingelb und golden gefärbt, der Himmel war bedeckt, die See stahlgrau. Es war Ebbe, der Sand lag glatt und rein wie ein frisch gewaschenes Bettlaken. Die Hunde tollten voraus, ihre Pfoten hinterließen Spuren im Sand. Eve folgte hinterdrein, der Wind blies ihr die Haare ins Gesicht und pfiff in ihren Ohren.

Sie dachte an Jane. Nicht an die Jane, die jetzt in einem fremden Krankenhausbett lag und darauf wartete, dass Gott weiß was geschah. Sondern an Jane als kleines Mädchen, Jane als Heranwachsende, Jane als Erwachsene. Jane mit ihren wirren braunen Haaren, ihren blauen Augen und ihrem Lachen. Die kleine, emsige Jane, die auf der alten Nähmaschine ihrer Mutter Puppenkleider nähte, ihr kleines Pony striegelte, an nassen Winternachmittagen in der Küche Rosinenbrötchen buk. Sie dachte an Jane als langbeiniger Teenager, als sie ihre Freundinnen mit nach Hause brachte und das Telefon pausenlos klingelte. Jane hatte all die leichtsinnigen, entnervenden Dinge getan, die alle Teenager tun, aber sie selbst war nie entnervend gewesen. Sie war nie aufsässig, nie mürrisch, und dank ihrer natürlichen Freundlichkeit und Lebhaftigkeit war sie nie ohne Begleitung des einen oder anderen Verehrers gewesen.

«Eh du’s dich versiehst, bist du verheiratet», hatte Mrs. Abney sie immer geneckt, aber Jane hatte da ihre eigenen Vorstellungen.

«Ich heirate frühestens mit dreißig. Ich heirate erst, wenn ich für alles andere zu alt bin.»

Aber als sie einundzwanzig war, hatte sie ein Wochenende in Schottland verbracht und sich Hals über Kopf in David Murchinson verliebt, und alsbald sah sich Eve in Hochzeitsvorbereitungen vertieft; sie maß aus, wie das Zelt auf den Rasen passte, und durchstöberte die Geschäfte von Newcastle nach einem geeigneten Hochzeitskleid.

«Dass du einen Bauern heiratest!», wunderte sich Mrs. Abney. «Man sollte meinen, nachdem du auf einem Hof aufgewachsen bist, hättest du die Nase voll vom Landleben.»

«Ich nicht», sagte Jane. «Ich springe von einem Misthaufen in den anderen!»

 

Sie war nie krank gewesen, aber als Jamie vor vier Jahren geboren wurde, war sie schwer krank, und das Baby musste zwei Monate auf die Intensivstation, bevor es nach Hause durfte. Eve war die ganze Zeit in Schottland geblieben, um sich des kleinen Haushalts anzunehmen, und es hatte so lange gedauert, bis Jane genesen und wieder zu Kräften gekommen war, dass Eve im Stillen betete, sie würde kein Kind mehr bekommen. Aber Jane war anderer Meinung.

«Ich will nicht, dass Jamie ein Einzelkind ist. Nicht dass ich es nicht genossen hätte, euer einziges Kind zu sein, aber es ist bestimmt lustiger, Geschwister zu haben. Außerdem wünscht David sich noch ein Kind.»

«Aber Liebling …»

«Ach, es wird schon klappen. Reg dich nicht auf, Mama. Ich bin stark wie ein Pferd, nur meine Innereien wollen nicht immer so wie ich. Es sind ja nur ein paar Monate, und dann hat man für den Rest seines Lebens etwas Wunderbares.»

Für den Rest seines Lebens. Den Rest von Janes Leben. Auf einmal wurde Eve von eiskalter Panik gepackt. Zwei Zeilen eines Gedichtes, das sie einmal gelesen hatte, entstiegen ihrem Unterbewusstsein und dröhnten wie Trommelschläge in ihrem Kopf:

Unaufhörliches Blühen

über meiner verwesenden Tochter …

 

Sie schauderte, fröstelnd bis ins Mark, innerlich und äußerlich von Kälte befallen. Sie war jetzt in der Mitte des Strandes, wo ein Felsen, der bei Flut nicht zu sehen war, aufragte, von der See verlassen wie ein gestrandeter Koloss. Er war mit Napfschnecken überkrustet, hatte Fransen aus grünem Tang, und auf ihm saßen zwei perläugige Silbermöwen und schrien trotzig gegen den Wind an.

Sie blieb stehen und beobachtete sie. Weiße Vögel. Aus irgendeinem Grunde hatten weiße Vögel in ihrem Leben immer eine wichtige, ja schicksalhafte Rolle gespielt. Sie hatte die Möwen schon als Kind geliebt, in den Sommerferien am Meer, wenn sie am blauen Himmel segelten, und jedes Mal rief ihr Schrei jene endlosen, müßigen, sonnigen Tage zurück.

Und dann die Wildgänse, die im Winter Davids und Janes Hof in Schottland überflogen. Morgens und abends zogen die großen Verbände am Himmel entlang, glitten hinab, um sich in dem schilfigen Watt an den Ufern des weiten Meeresarmes niederzulassen, der an Davids Land grenzte.

Und Pfauentauben. Eve und Walter hatten ihre Flitterwochen in einem kleinen Hotel in der Provence verbracht. Ihr Fenster hatte auf einen mit Kopfsteinen gepflasterten Hof mit einem Taubenschlag in der Mitte hinausgesehen, und die Pfauentauben hatten sie jeden Morgen mit ihrem Gurren und Flattern und ihren Sturzflügen geweckt. Am letzten Tag ihrer Hochzeitsreise waren sie einkaufen gegangen, und Walter hatte ihr ein Paar Pfauentauben aus weißem Porzellan gekauft, die heute noch den Kaminsims im Wohnzimmer schmückten. Sie gehörten zu Eves kostbarstem Besitz.

Weiße Vögel. Im Krieg, als sie ein Kind war, war ihr älterer Bruder als vermisst gemeldet gewesen. Angst und Sorge hatten sich im Haus ausgebreitet und jegliche Geborgenheit zunichtegemacht. Bis zu dem Morgen, als sie aus ihrem Schlafzimmerfenster die Möwe auf dem Dach des Hauses gegenübersitzen sah. Es war Winter, und die Sonne war soeben wie ein scharlachroter Feuerball am Himmel aufgestiegen, und als die Möwe plötzlich aufflog, sah Eve die Unterseite der Schwingen rosig gefleckt. Das unerwartete Entzücken über diese wunderbare Schönheit gab ihr ein tröstliches Gefühl. Da wusste sie, dass ihr Bruder lebte, und als ihre Eltern eine Woche später erfuhren, dass er heil und gesund war, wenngleich in Kriegsgefangenschaft, konnten sie nicht verstehen, warum Eve die Nachricht so gelassen aufnahm. Aber von der Möwe erzählte sie ihnen nichts.

 

Und diese Möwen hier …? Sie hatten Eve nichts zu geben, spendeten keine Zuversicht. Sie wandten die Köpfe, blickten suchend auf den leeren Sand, erspähten in der Ferne einige Bröckchen essbaren Abfalls, schrien, breiteten ihre schneeweißen Schwingen aus und segelten kreisend auf den Armen des Windes von dannen.

Sie seufzte, sah auf ihre Uhr. Es war Zeit umzukehren. Sie pfiff nach den Hunden und trat den langen Heimweg an.

 

Es war beinahe dunkel, als der Zug in den Bahnhof einfuhr, aber sie sah ihren groß gewachsenen Schwiegersohn, der sie auf dem Bahnsteig erwartete. Er stand unter einer Lampe, in einer alten Arbeitsjacke, den Kragen zum Schutz vor dem Wind hochgeschlagen. Eve verließ den warmen Zug und spürte den Wind, der auf diesem Bahnhof stets schneidend blies, sogar mitten im Sommer.

Ihr Schwiegersohn trat zu ihr. «Eve.» Sie gaben sich einen Kuss. Seine Wange war eiskalt, und Eve fand, er sah schrecklich aus, dünner denn je, ohne jede Farbe im Gesicht. Er nahm ihren Koffer. «Ist das dein ganzes Gepäck?»

«Ja, das ist alles.»

Schweigend gingen sie den Bahnsteig entlang, die Treppe hinauf und auf den Platz hinaus, wo sein Wagen wartete. Er warf den Koffer in den Kofferraum, öffnete die Beifahrertür. Erst als der Bahnhof hinter ihnen lag und sie auf der Landstraße waren, wappnete Eve sich für die Frage: «Wie geht es Jane?»

«Ich weiß es nicht. Niemand will etwas Bestimmtes sagen. Ihr Blutdruck ist gestiegen, damit hat alles angefangen.»

«Kann ich sie sehen?»

«Frühestens heute Abend, hat die Schwester gesagt. Vielleicht morgen früh.»

Es gab nicht mehr viel zu sagen. «Und was macht Jamie?»

«Ihm geht’s gut. Nessie Cooper hat sich sehr lieb um ihn gekümmert, zusammen mit ihrer eigenen Horde.» Nessie war mit Tom Cooper verheiratet, Davids Vorarbeiter. «Er freut sich auf dich.»

«Ein lieber kleiner Junge.» Im Dunkel des Wagens rang sie sich ein Lächeln ab. Ihr Gesicht fühlte sich an, als hätte es seit Jahren nicht gelächelt, aber um Jamies willen war es wichtig, heiter und gelassen zu wirken, einerlei, was für Schreckensvorstellungen ihr durch den Kopf gingen.