Sommer am Meer - Rosamunde Pilcher - E-Book + Hörbuch

Sommer am Meer Hörbuch

Rosamunde Pilcher

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Beschreibung

Wenn die Liebe erwacht ... Nach dem Tod ihres Mannes kehrt die junge Witwe Virginia zum ersten Mal seit Jahren an ihren Heimatort in Cornwall zurück, um dort den Sommer zu verbringen. In einem abgeschiedenen Haus am Meer will sie mit ihren beiden Kindern Ruhe finden. Doch damit ist es vorbei, als sie ihrer Jugendliebe Eustace Philips wiederbegegnet. Wird Virginia diesmal den Mut haben, das Glück zu ergreifen?

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Zeit:6 Std. 9 min

Sprecher:Lisa Rauen
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Rosamunde Pilcher

Sommer am Meer

Roman

Über dieses Buch

Wenn die Liebe erwacht ...

 

Über Rosamunde Pilcher

Rosamunde Pilcher wurde 1924 in Lelant/Cornwall geboren, arbeitete zunächst beim Foreign Office und trat während des Zweiten Weltkrieges dem Women’s Royal Naval Service bei. 1946 heiratete sie Graham Pilcher und zog nach Dundee/Schottland, wo sie seither wohnt. Rosamunde Pilcher schreibt seit ihrem fünfzehnten Lebensjahr. Ihre Romane haben sie zu einer der erfolgreichsten Autorinnen der Gegenwart gemacht.

 

Weitere Veröffentlichungen

Das blaue Zimmer

Blumen im Regen

Ende eines Sommers

Heimkehr

Karussell des Lebens

Lichterspiele

Meine beiden Mütter

Die Muschelsucher

Schlafender Tiger

Schneesturm im Frühling

September

Stürmische Begegnung

Inhaltsübersicht

1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel

1

Es war gegen drei Uhr an einem sonnigen, warmen Montagnachmittag im Juli. Die Luft, die nach Heu duftete, wurde von einer Brise, die von der See her blies, gekühlt. Von der Hügelkuppe, zu der die Straße sich über die Felsschulter von Carn Edvor hinaufwand, fiel das Land schräg ab zu fernen Klippen, Ackerland, mit gelbem Stechginster durchzogen, mit Granitbrocken durchsetzt und in Dutzende von kleinen Feldern aufgeteilt. Wie eine Patchworkdecke, dachte Virginia, und sie stellte sich die Weiden als grüne Samtschnipsel vor, das grünliche Gold des frischgemähten Heus als Satin, das rosige Gold der Maiskolben als etwas Weiches, Pelziges, das sich anfassen und streicheln ließ.

Es war sehr still. Doch als sie die Augen schloss, drängten die Geräusche des Sommernachmittags sich auf; eines nach dem anderen suchten sie auf sich aufmerksam zu machen. Das leise Säuseln des Windes bewegte das Farnkraut. Von Porthkerris erklomm ein Auto den langgestreckten Hügel, schaltete in einen niedrigeren Gang, fuhr bergauf. Von weiter weg kam das emsige Brummen der Mähmaschinen. Virginia öffnete die Augen und zählte drei Maschinen. Die Entfernung ließ sie zu Spielzeuggröße schrumpfen; sie waren knallrot und winzig, wie die Modellautos, die Nicholas in seinem Kinderzimmer herumschob.

Das Auto tauchte auf dem Hügelkamm wieder auf. Es fuhr sehr langsam, sämtliche Insassen betrachteten durch die heruntergekurbelten Fenster die herrliche Aussicht. Die Gesichter waren von Sonnenbrand gerötet, Brillen glitzerten, Arme quollen aus ärmellosen Blusen, das Auto machte einen überfüllten Eindruck. Als es an der Parkbucht vorüberkam, wo Virginia ihren Wagen abgestellt hatte, sah eine Frau im Fond zu ihr hinüber. Eine Sekunde lang trafen sich ihre Blicke, dann war das Auto um die nächste Kurve in Richtung Land’s End verschwunden.

Virginia sah auf ihre Uhr. Viertel nach drei. Sie seufzte und stand auf, streifte Gras und Farnblätter vom Gesäß ihrer weißen Jeans und lief den Hügel hinab zu ihrem Wagen. Der Ledersitz war von der Sonne heiß wie ein Blechdach. Sie wendete den Wagen und machte sich auf den Rückweg nach Porthkerris. Unterschiedlichste Bilder gingen ihr durch den Sinn. Von Nicholas und Cara in dem fremden Londoner Kinderzimmer, die von Nanny Tag für Tag nach Kensington Gardens, von der Großmutter in den Zoo, ins Kostümmuseum und in geeignete Filme geführt wurden. In London war es bestimmt heiß, schwül und stickig. Sie fragte sich, ob sie Nicholas die Haare geschnitten hatten. Sie überlegte, ob sie ihm ein Mähmaschinenmodell kaufen und mit einem mütterlichen Begleitbrief schicken sollte.

Heute habe ich drei solcher Maschinen auf den Feldern bei Lanyon arbeiten sehen, und da dachte ich an Dich und glaubte, dass Du vielleicht eine möchtest, um herauszubekommen, wie sie funktionieren.

Ein Brief an Lady Keile, so formuliert, dass sie ihn anerkennend vorlesen würde. Nicholas sah keinen Grund, die Schrift seiner Mutter zu entziffern, wenn seine Großmutter in der Nähe und willens war, ihm den Brief vorzulesen. Virginia malte sich den anderen Brief aus, einen, der von Herzen kam.

Mein liebstes Kind, ohne Dich und Cara bin ich ohne Ansporn, ziellos. Ich fahre im Auto herum, weil mir nichts anderes einfällt, und das Auto bringt mich an Orte, die ich von früher kenne, und ich beobachte die Mähmaschine und frage mich, wer die Riesenmaschine fährt, die immense Heuballen ausspuckt, eckig und fest wie ordentlich verschnürte Pakete.

Die alten Bauernhäuser mit ihren großen Scheunen und Nebengebäuden waren an der acht Kilometer langen Küste aufgereiht wie ungeschliffene Steine an einer primitiven Halskette, sodass nicht zu erkennen war, wo die Felder von Penfolda aufhörten und die des nächsten Hofes anfingen. Und die Mähmaschinen waren so weit entfernt, dass unmöglich zu erraten war, wer die Männer waren, die sie fuhren, oder die winzigen Gestalten, die hinterhergingen und die Ballen mit Heugabeln zu Garbenhaufen schichteten, damit sie in der Mittsommersonne trockneten.

Virginia war sich nicht einmal sicher, ob er noch hier wohnte, ob er Penfolda noch bewirtschaftete, und doch konnte sie sich ihn nirgendwo anders auf dieser Welt vorstellen. Wie die Linse einer großen Kamera holte ihr geistiges Auge die geschäftige Szene dort unten zu sich heran. Die Gestalten wurden scharf, groß und deutlich, und da war er, hoch oben am Steuer der Mähmaschine, die Hemdsärmel über die braunen Unterarme hochgekrempelt, das Haar vom Wind zerzaust. Und weil es gefährlich war, so nahe heranzugehen, stattete Virginia ihn flugs mit einer Ehefrau aus, die sie sich vorstellte, wie sie mit einem Korb über die Felder ging und ihn mit einer Thermosflasche Tee, vielleicht einem Königskuchen verpflegte. Sie trug ein rosa Baumwollkleid und eine blaue Schürze, und ihre langen, nackten Beine waren gebräunt.

Mrs. Eustace Philips. Mr. und Mrs. Eustace Philips aus Penfolda.

Der Wagen glitt vorsichtig über den Hügelkamm, die Bucht, die weißen Strände und fernen Landzungen breiteten sich vor Virginia aus, und weit unten, bis hin zur blauen Hafenbucht, waren die Häusergruppen und der normannische Kirchturm von Porthkerris zu sehen.

Haus Wheal, wo die Lingards lebten, bei denen Virginia wohnte, lag auf der anderen Seite von Porthkerris. Wäre sie fremd gewesen, neu in der Gegend und zum ersten Mal zu Besuch, wäre sie der Hauptstraße gefolgt, die direkt in die Stadt hinunter- und auf der anderen Seite hinausführte, und wäre infolgedessen hoffnungslos im kriechenden Verkehr und in den Horden zielloser Touristen stecken geblieben, die über die zu schmalen Bürgersteige hinausquollen oder an sehenswerten Ecken herumstanden, Eis schleckten, Postkarten aussuchten und in Schaufenster glotzten, die angefüllt waren mit Messingfischern, Keramikmeerjungfrauen und anderen Scheußlichkeiten, die als souvenirgeeignet galten.

Weil sie aber keine Fremde war, bog Virginia, lange bevor die Häuser begannen, nach rechts ab und nahm den schmalen, von einer hohen Hecke gesäumten Weg, der sich über den Hügel am Stadtrand wand. Dies war beileibe keine Abkürzung, im Gegenteil, doch am Ende stieß der Weg durch einen Tunnel aus wilden Rhododendren, keine fünfzig Meter vom Tor von Haus Wheal entfernt, wieder auf die Hauptstraße.

Durch ein weißes Gittertor ging es über eine holprige Zufahrt, die mit rosa blühenden Steinbrechhecken gesäumt war. Das Haus im neogeorgianischen Stil war wohlproportioniert, mit einem Giebelbalkon über der Eingangstür. Die Zufahrt verlief zwischen kurz gemähten grünen Rasenflächen und Blumenbeeten, die den schweren Duft von Goldlack verströmten. Als Virginia den Wagen im Schatten des Hauses parkte, ertönte ein scharfes, raues Gebell, und Dora, Alice Lingards alte Spanielhündin, wechselte von der geöffneten Haustür, wo sie wegen der Kühle gelegen hatte, auf den gebohnerten Fußboden der Diele.

Virginia blieb stehen, um Dora zu tätscheln und ihr kurz ein paar Worte zu sagen, dann ging sie hinein. Sie nahm ihre Sonnenbrille ab, denn nach der strahlenden Helligkeit draußen wirkte das Haus stockfinster.

Auf der anderen Seite der Diele stand die Gartentür zum Innenhof offen, der nach Süden ging und die ganze Sonne einfing. Er war bei jedem Wetter, außer im tiefsten Winter, Alice’ Lieblingsplatz. Heute hatte sie wegen der Hitze die Bambusmarkisen heruntergelassen, und die hellen Leinenstühle und niedrigen Tischchen, die schon zum Tee gedeckt waren, hatten schmale Streifen von dem Schattenmuster, das die Markisen warfen.

Auf dem Tisch in der Mitte der Diele lag die Nachmittagspost. Zwei Briefe für Virginia, beide in London abgestempelt. Sie legte Handtasche und Brille hin und nahm die Briefe. Einer war von Lady Keile und einer von Cara. Die Buchstaben waren in sorgfältiger Schreibschrift, wie sie es in der Schule lernte, gemalt, ein lieber, vertrauter Anblick.

Mrs. A. Keile

c/o Mrs. Lingard

Haus Wheal

Porthkerris (Cornwall)

Nichts war falsch. Kein Rechtschreibfehler. Virginia fragte sich, ob Cara es allein zustande gebracht hatte oder ob Nanny ihr hatte helfen müssen. Mit den Briefen in der Hand ging sie durch die Diele nach draußen, wo ihre Gastgeberin anmutig in einem Liegestuhl lehnte, eine Näharbeit auf dem Schoß. Sie fertigte einen Kissenbezug aus korallenrosa Samt und fasste die Kanten mit einer Seidenkordel ein. Der Stoff lag wie ein riesiges herabgefallenes Rosenblatt in ihrem Schoß.

Sie blickte auf. «Da bist du ja! Ich habe mich schon gefragt, wo du bleibst. Ich dachte, du steckst vielleicht im Stau.»

Alice Lingard war eine großgewachsene, dunkle Frau Ende dreißig. Ihre stramme Figur stand in krassem Gegensatz zu den langen, schlanken Armen und Beinen. Sie war für Virginia eine Freundin in mittlerem Alter, das heißt, zu der Generation zwischen Virginia und Virginias Mutter gehörend. Sie war eine langjährige Freundin der Familie, und vor Jahren war sie auf der Hochzeit von Virginias Mutter eine kleine Brautjungfer gewesen.

Alice selbst hatte vor ungefähr achtzehn Jahren geheiratet. Tom Lingard war damals ein junger Mann, im Begriff, den kleinen Familienbetrieb in der nahe gelegenen Stadt Fourbourne zu übernehmen, der auf die Herstellung von schweren Maschinen und Geräten spezialisiert war. Unter Toms Leitung hatte die Firma expandiert, und nach einer Reihe erfolgreicher Übernahmen besaß sie nun Anteile an Betrieben von Bristol bis St. Just, dazu Schürfrechte, eine kleine Reederei und einen Vertrieb von Landbaumaschinen.

Sie hatten keine Kinder, und Alice hatte ihre natürlichen Hausfrauentalente auf Haus und Garten konzentriert. Im Laufe der Jahre hatte sie das einstmals recht phantasielose Anwesen in ein bezauberndes Haus verwandelt, mit einem Garten, der laufend von den Gartenredakteuren der Hochglanzmagazine fotografiert und beschrieben wurde. Als Virginia und ihre Mutter vor zehn Jahren nach Cornwall gekommen waren, um Ostern bei den Lingards zu verbringen, hatte die Arbeit eben erst begonnen. Da Virginia in der Zwischenzeit nie in Haus Wheal gewesen war, hatte sie es diesmal kaum wiedererkannt. Alles war geschickt verändert, gerade Linien waren aufgelockert, Einfassungen und Begrenzungen wunderbarerweise entfernt worden. Die Bäume waren gewachsen und warfen lange Schatten auf ebene Rasenflächen, die sich erstreckten, so weit das Auge reichte. Der alte Obstgarten war in einen wilden Garten verwandelt, wo sich die herrlichsten altmodischen Rosen ineinander verrankten; und wo einst Stangenbohnen und Himbeersträucher in Reih und Glied wuchsen, da standen nun Magnolien und berauschend duftende Azaleen, höher, als ein Mensch reichen konnte.

Alice’ erfolgreichstes Projekt aber war der Innenhof, der den Charme von Haus und Garten in sich vereinte. Geranien quollen aus Blumentöpfen, und an einer Seite hatte sie begonnen, eine dunkellila blühende Klematis an einem Spalier hochzuziehen. Vor kurzem hatte sie sich auch zu einem Klettergewächs entschlossen, und zurzeit plünderte sie Ideen von Freunden und aus Büchern, um herauszubekommen, wie sie diese Pflanze pflegen sollte. Ihre Energien schienen unerschöpflich.

Virginia zog sich einen Stuhl heran und ließ sich hinfallen, verwundert, wie heiß und abgespannt sie sich fühlte. Sie streifte ihre Sandalen ab und stützte die nackten Füße auf einen Hocker. «Ich war nicht in Porthkerris.»

«Nein? Aber ich dachte, du warst auf der Post.»

«Ich wollte nur ein paar Briefmarken. Die kann ich ein andermal kaufen. Es waren so viele Leute unterwegs und so viele Busse, so ein schwitzendes Menschengewühl, dass ich Platzangst bekommen und gar nicht angehalten habe. Ich bin einfach weitergefahren.»

«Briefmarken kannst du von mir haben», sagte Alice. «Komm, ich schenk dir Tee ein.» Sie legte ihr Nähzeug hin, setzte sich auf, griff nach der Teekanne. Dampf stieg aus der zierlichen Tasse, duftend, erfrischend.

«Milch oder Zitrone?»

«Zitrone wäre köstlich.»

«Und an so einem heißen Tag viel erfrischender, finde ich.» Sie reichte Virginia die Tasse und lehnte sich wieder zurück. «Wohin bist du gefahren?»

«Hm … oh, in die andere Richtung …»

«Land’s End?»

«Nicht so weit. Nur bis Lanyon. Ich habe den Wagen in einer Parkbucht abgestellt, mich in den Farn gesetzt und die Aussicht genossen.»

«Wie schön», sagte Alice und fädelte die Nadel ein.

«Auf den Feldern wird gerade geheut.»

«Ja, das denk ich mir.»

«Es ändert sich nie, nicht? Ich meine, Lanyon. Keine neuen Häuser, keine neuen Straßen, keine Geschäfte, keine Wohnwagenplätze.» Sie nahm einen Mundvoll glühend heißen Lapsang Suchong und stellte die Tasse dann vorsichtig auf den gepflasterten Boden neben ihren Stuhl. «Alice, wird Penfolda noch von Eustace Philips bewirtschaftet?»

Alice hielt mit Nähen inne, nahm ihre Sonnenbrille ab und starrte Virginia an, ein fragendes Runzeln zwischen ihren dunklen Augenbrauen.

«Was weißt du von Eustace Philips? Woher kennst du ihn?»

«Alice, du hast ein schrecklich schlechtes Gedächtnis. Ihr selbst hattet mich mitgenommen, du und Tom, zu einem riesigen Grillfest auf den Klippen bei Penfolda. Es müssen mindestens dreißig Leute gewesen sein, und ich weiß nicht, wer es organisiert hatte, aber wir haben Würstchen am Feuer gebraten und Bier vom Fass getrunken. Das musst du doch noch wissen. Und dann haben wir bei Mrs. Philips in der Küche Tee getrunken!»

«Jetzt, wo du mich erinnerst, fällt es mir wieder ein. Es war bitterkalt, aber sehr schön, und hinter Boscovey Head sahen wir den Mond aufgehen. Ja, ich erinnere mich. Aber wer hat das Grillfest veranstaltet? Eustace bestimmt nicht, er war immer zu sehr mit seinem Stall beschäftigt. Es müssen die Barnets gewesen sein. Er war Bildhauer und hatte einige Jahre in Porthkerris ein Atelier, bevor er nach London zog. Seine Frau flocht Körbe oder Gürtel oder so was, schrecklich folkloristisch, und sie hatten einen Haufen Kinder, die nie Schuhe trugen. Sie ließen sich immer die originellsten Partys einfallen. Es müssen die Barnets gewesen sein … Komisch, ich habe jahrelang nicht an sie gedacht. Und wir sind alle nach Penfolda gefahren.» Doch hier ließ ihr Gedächtnis sie im Stich. Sie sah Virginia ratlos an. «Oder nicht? Wer ist auf das Grillfest gegangen?»

«Mutter ist nicht mitgekommen. Sie sagte, so was wäre nicht ihr Fall …»

«Womit sie sehr recht hatte.»

«Aber du und ich und Tom sind hingegangen.»

«Natürlich. In Pullover und Socken gemummelt. Ich bin nicht sicher, ob ich nicht einen Pelzmantel anhatte. Aber wir sprachen von Eustace. Wie alt warst du, Virginia? Siebzehn? Dass du dich nach all den Jahren noch an Eustace Philips erinnerst!»

«Du hast meine Frage nicht beantwortet. Ist er noch in Penfolda?»

«Da der Hof seinem Vater und dessen Vater und, soviel ich weiß, davor dessen Vater gehörte, hältst du es wirklich für möglich, dass Eustace seine Sachen packen und weggehen würde?»

«Vermutlich nicht. Es ist bloß, als sie heute Nachmittag das Heu eingeholt haben, da habe ich mich gefragt, ob er es war, der einen der Mähdrescher fuhr. Siehst du ihn manchmal, Alice?»

«Kaum. Nicht weil wir es nicht wollen, versteh mich recht, aber er arbeitet schwer auf seinem Hof, und Tom hat so viel mit seinem Betrieb zu tun, dass ihre Wege sich nicht oft kreuzen. Ich nehme an, sie treffen sich manchmal bei der Hasenjagd oder auf der Dreikönigsversammlung … du kennst ja solche Veranstaltungen.»

Virginia nahm ihre Teetasse mit der Untertasse und betrachtete eingehend die gemalte Rose an der Seite. «Er ist verheiratet», sagte sie.

«Du sagst das wie eine unumstößliche Feststellung.»

«Ist es das nicht?»

«Nein. Er hat nie geheiratet. Weiß der Himmel, warum. Ich fand ihn immer attraktiv, er war wie ein Naturbursche aus einem Roman von D.H. Lawrence. In Lanyon haben bestimmt eine Menge Frauen für ihn geschwärmt, aber er hat dem ganzen Haufen widerstanden. Anscheinend gefällt es ihm so.»

Eustace’ Frau, so flugs in der Phantasie gezaubert, starb ebenso schnell, eine Erscheinung, vom kalten Wind der Realität ins Nichts geweht. Statt ihrer stellte Virginia sich die Küche in Penfolda vor, trist und unaufgeräumt, die vergessenen Reste der letzten Mahlzeit auf dem Tisch, Geschirr im Spülstein, ein Aschenbecher voll Zigarettenkippen.

«Wer sorgt für ihn?»

«Das weiß ich nicht. Seine Mutter ist, glaube ich, vor ein paar Jahren gestorben. Ich weiß nicht, was er macht. Vielleicht hat er eine verführerische Haushälterin oder eine zum Heimchen gezähmte Geliebte? Ich weiß es wirklich nicht.»

Und es ist mir auch schnuppe, ließ ihr Ton erkennen. Sie war mit dem Applizieren der Seidenkordel fertig, vernähte mit ein paar sauberen, festen Stichen und riss den Faden mit einem kleinen Ruck ab. «So, geschafft. Ist die Farbe nicht göttlich? Aber es ist wirklich zu heiß zum Nähen.» Sie legte die Arbeit beiseite. «Ach du liebe Zeit, ich muss wohl mal nachsehen, was es zum Abendessen gibt. Was würdest du zu einem köstlichen frischen Hummer sagen?»

«‹Freut mich, dich zu sehen›, würde ich sagen.»

Alice stand auf, ihr langes Gestell überragte Virginia. «Hast du deine Post gesehen?»

«Ja, ich hab die Briefe eingesteckt.»

Alice bückte sich, um das Tablett aufzuheben. «Dann lass ich dich jetzt allein», sagte sie, «damit du sie in Ruhe lesen kannst.»

Um das Beste bis zuletzt aufzubewahren, las Virginia zuerst den Brief ihrer Schwiegermutter. Das Couvert war dunkelblau, mit marineblauem Seidenpapier gefüttert. Das Schreibpapier war dick, die Adresse schwarz auf den Briefkopf geprägt.

32 Welton Gardens, S.W. 8.

Meine liebe Virginia,

hoffentlich genießt Du das wunderbare Wetter, eine ziemliche Hitzewelle, gestern hatten wir über dreißig Grad. Ich nehme an, Du schwimmst in Alice’ Pool, wie angenehm, nicht jedes Mal zum Strand fahren zu müssen, wenn Du baden willst.

Beiden Kindern geht es gut, sie lassen Dich grüßen. Nanny geht jeden Tag mit ihnen in den Park. Sie nehmen ihre Teemahlzeit mit und verzehren sie dort. Ich war heute Morgen mit Cara bei Harrods, um ihr ein paar neue Kleider zu kaufen, sie wird so groß und war aus den alten herausgewachsen. Eines ist blau mit aufgenähten Blumen, das andere rosa mit ein bisschen Smokarbeit. Sie werden Dir bestimmt gefallen!

Morgen gehen sie zu den Manning-Prestons zum Tee. Nanny freut sich auf einen ausführlichen Schwatz mit dem Kindermädchen, und Susan hat genau das richtige Alter für Cara. Es wäre nett, wenn sie Freundinnen würden.

Grüße Alice von mir und gib mir Bescheid, wenn Du Dich entschließt, wieder nach London zu kommen, aber wir schaffen es großartig und möchten nicht, dass Du aus irgendeinem Grund Deinen Urlaub abkürzt. Du hattest ihn wirklich nötig.

Mit lieben Grüßen

Dorothea Keile

Sie las den Brief zweimal, von widersprüchlichen Gefühlen hin und her gerissen. Doppeldeutigkeiten sprangen sie zwischen den akkurat geschriebenen, wohlgeformten Sätzen an. Sie sah ihre Kinder im Park, das versengte Londoner Gras in der Hitze vergilbt, niedergetreten und von Hunden besudelt. Sie sah den glühend heißen Morgenhimmel hoch über den Dächern und das kleine Mädchen in Kleider gesteckt, die es weder mochte noch wollte; aber es war zu höflich, um sich zu wehren. Sie sah das große Haus der Manning-Prestons mit der Terrasse und dem gepflasterten Garten dahinter, wo Mrs. Manning-Preston ihre berühmten Cocktailpartys gab und wohin Cara und Susan zum Spielen geschickt würden, während die Kindermädchen sich über Strickmuster unterhielten und darüber, was für ein Racker Nanny Briggs kleine Schutzbefohlene sei. Und sie sah Cara still dort stehen, versteinert vor Schüchternheit und von Susan Manning-Preston mit Verachtung behandelt, weil Cara eine Brille trug und Susan sie für ein Dummchen hielt.

Und «wir schaffen es großartig». Die Feststellung kam Virginia durch und durch zwielichtig vor. Wer war «wir»? Nanny und die Großmutter? Oder schloss es die Kinder ein, Virginias Kinder? Ließen sie Cara mit dem alten Teddy schlafen, von dem Nanny behauptete, er sei unhygienisch? Dachten sie immer daran, das Licht anzulassen, damit Nicholas nachts allein auf die Toilette gehen konnte? Und wurden sie jemals allein gelassen, unbeaufsichtigt, schmutzig, unordentlich, um in geheimen Winkeln im Garten zwecklose Spiele zu spielen, vielleicht mit einer Nuss oder einem Blatt und mit all den Phantasien, die in ihren kleinen, klugen, rätselhaften Köpfen waren?

Virginias Hände zitterten. Sie ärgerte sich über ihre Reaktion. Nanny hatte sich um die Kinder gekümmert, seit sie auf der Welt waren, sie kannte ihre Eigenarten, und niemand wurde besser mit Nicholas’ Wutanfällen fertig als sie.

(Aber was bedeuteten diese Anfälle? Sollte er ihnen mit sechs Jahren nicht entwachsen sein? Von welchen Enttäuschungen wurden sie ausgelöst?)

Und Nanny war zärtlich zu Cara. Sie nähte den Puppen Kleider, strickte den Teddybären Schals und Pullover aus Wollresten. Und sie ließ Cara ihren Puppenwagen in den Park schieben; sie gingen über die Kreuzung am Albert Memorial. (Aber las sie Cara die Bücher vor, die das Kind liebte? Die geliehenen Tage und Die Eisenbahnkinder und Der geheime Garten, Wort für Wort?) Liebte sie die Kinder, oder betrachtete sie sie schlicht als ihren Besitz?

Ständig dieselben Fragen, die Virginia in letzter Zeit immer häufiger durch den Kopf gingen. Aber nie beantwortet wurden. In dem vollen Bewusstsein, dem Kern des Problems auszuweichen, verdrängte sie ihre Sorgen jedes Mal mit einer Ausrede. Ich kann jetzt nicht darüber nachdenken, ich bin zu müde. In ein paar Jahren vielleicht, wenn Nicholas in die Vorschule kommt, vielleicht sage ich meiner Schwiegermutter dann, dass ich Nanny nicht mehr brauche; ich sage Nanny, es sei Zeit, zu gehen, sich ein neues Baby zu suchen, für das sie sorgen kann. Und vielleicht bin ich im Moment einfach zu sentimental, das wäre nicht gut für die Kinder, sie sind bei Nanny besser aufgehoben; schließlich ist sie seit vierzig Jahren für Kinder da.

Einem gewohnten Beruhigungsmittel gleich, waren die abgedroschenen Ausreden ideal, um Virginias Unbehagen zu beschwichtigen. Sie steckte den blauen Brief in das vornehme Couvert zurück und wandte sich erleichtert dem zweiten zu. Die Erleichterung währte jedoch nicht lange. Cara hatte sich das Briefpapier ihrer Großmutter geborgt, doch ihre Sätze waren weder akkurat geschrieben noch wohlgeformt. Die Tinte war klecksig, und die Zeilen liefen schräg nach unten, als ob die Worte hoffnungslos bergab purzelten.

Liebste Mutter,

Hofentlich hast Du es schön. Hofentlich ist das Wetter schön. In London ist es heis. Ich muss mit Susan Maning Preston Tee trinken. Ich weis nicht, was wir spielen. Gestern Abend hat Nicholas geschrien, und Großmutter musste ihm eine Tablete geben. Er ist gans rot geworden. Ein Auge von meiner Puppe ist abgegangen, und ich kann es nicht finden. Bitte schreib mir balt, wann wir wieder nach Kirkton faren.

In Liebe Deine Cara.

P.S. Vergis nicht mir zu schreiben.

Sie faltete den Brief zusammen und steckte ihn weg. Ganz hinten im Garten, jenseits des Rasens, glitzerte Alice’ Swimmingpool wie ein Schmuckstück. Die kühle Luft war erfüllt von Vogelgesang und Blumenduft. Aus dem Haus hörte sie Alice mit Mrs. Jilkes, der Köchin, sprechen, zweifellos wegen des Hummers, den es zum Abendessen geben sollte.

Virginia fühlte sich hilflos, ratlos. Sie überlegte, ob sie Alice bitten sollte, die Kinder hierherholen zu können, und wusste im nächsten Augenblick, dass es ausgeschlossen war. Alice’ Haus war nicht für Kinder geeignet, sie waren in ihrem Leben nicht vorgesehen. Alice würde sich maßlos ärgern, wenn Cara vergaß, ihre Gummistiefel auszuziehen, wenn Nicholas seinen Fußball in die kostbare Blumenrabatte schoss oder «Bilder» auf die Tapete malte. Ohne Nanny wäre er zweifellos unerträglich, weil er immer doppelt ungezogen war, wenn sie ihn nicht beaufsichtigte.

Ohne Nanny. Das waren die ausschlaggebenden Worte. Allein verantwortlich. Sie würde allein für sie verantwortlich sein.

Schon der bloße Gedanke machte ihr Angst. Was würde sie mit ihnen anfangen? Wo würden sie wohnen? Wie Fühler tasteten ihre Gedanken suchend nach Ideen. Im Hotel? Aber die hiesigen Hotels waren vollgestopft mit Sommergästen und schrecklich teuer. Außerdem wäre Nicholas im Hotel genauso nervtötend wie in Haus Wheal. Sie erwog, einen Wohnwagen zu mieten oder mit ihnen am Strand zu zelten, wie die zahllosen Tramper, die jeden Sommer einfielen, Feuer aus Treibholz machten und auf dem kühlen Sand schliefen.

Natürlich könnten sie jederzeit nach Kirkton. Irgendwann würde sie zurückmüssen. Doch ihre sämtlichen Instinkte scheuten vor der Heimkehr nach Schottland zurück, vor der Heimkehr in das Haus, wo sie mit Anthony gelebt hatte, an den Ort, wo ihre Kinder geboren waren, den einzigen Ort, der für sie Heimat war. Wenn sie an Kirkton dachte, sah sie Baumschatten auf hellen Mauern flackern, das kalte Nordlicht an den weißen Zimmerdecken reflektieren; sie hörte ihre eigenen Füße die teppichlose, gebohnerte Treppe hinaufgehen. Sie dachte an die klaren Herbstabende, wenn die ersten Gänse vorüberflogen, und an den Park vor dem Haus, der sich bis ans Ufer des tiefen, rasch dahineilenden Flusses hinunterzog …

Nein, noch nicht. Cara würde warten müssen. Später würden sie vielleicht nach Kirkton zurückkehren. Noch nicht. Hinter ihr schlug eine Tür, und sie wurde durch die Ankunft des von der Arbeit heimgekehrten Tom Lingard abrupt in die Wirklichkeit zurückgeholt. Sie hörte ihn nach Alice rufen, dann seine Aktentasche auf den Dielentisch werfen und auf der Suche nach seiner Frau in den Innenhof herauskommen.

«Hallo, Virginia.» Er bückte sich und gab ihr einen flüchtigen Kuss auf den Scheitel. «Ganz allein? Wo ist Alice?»

«Sie hat in der Küche eine Besprechung mit einem Hummer.»

«Post von den Kindern? Alles bestens? Na prima …» Es war Toms Eigenart, nie eine Antwort auf seine Fragen abzuwarten. Virginia fragte sich zuweilen, ob dies das Geheimnis seines enormen Erfolgs war. «Was hast du den ganzen Tag gemacht? In der Sonne gelegen? Genau das Richtige. Hast du Lust, jetzt mit mir schwimmen zu gehen? Die Bewegung wird dir guttun nach der Faulenzerei. Alice soll auch mitkommen …» Leichten Schrittes und strotzend vor Energie ging er ins Haus und durch den Flur zur Küche, während er lauthals nach seiner Frau rief. Und Virginia, dankbar für die Aufforderung, stand auf, nahm ihre Post, ging gehorsam hinein und nach oben in ihr Zimmer, um einen Bikini anzuziehen.

2

Die Anwälte hießen Smart, Chirgwin und Williams. Zumindest waren dies die Namen auf dem Messingschild an der Tür, das so lange und gründlich poliert worden war, dass die Buchstaben ihre Schärfe verloren hatten und schwer lesbar waren. An der Tür befanden sich außerdem ein Messingklopfer und ein Messingknauf, glatt und schimmernd wie das Schild. Als Virginia den Knauf drehte und die Tür öffnete, trat sie in einen schmalen Flur mit gebohnertem braunen Linoleum und glänzendem cremefarbenen Anstrich, und sie hatte das Gefühl, dass sich hier jemand tagaus, tagein zu Tode schuftete.

Vor ihr befand sich ein Glasfenster, wie ein altmodischer Fahrkartenschalter, mit der Aufschrift AUSKUNFT. Virginia entdeckte einen Klingelknopf, und auf ihr Läuten schnellte das Fenster hoch.

«Ja?»

Erschrocken erklärte Virginia dem Gesicht hinter dem Schalter, dass sie Mr. Williams sprechen wolle.

«Haben Sie einen Termin?»

«Ja. Ich bin Mrs. Keile.»

«Einen Moment bitte.»

Das Fenster klappte herunter, und das Gesicht verzog sich. Kurz darauf ging eine Tür auf, das Gesicht erschien wieder, zusammen mit einem gutgepolsterten Körper und einem Paar Beine, die in robusten Schnürschuhen endeten.

«Bitte hier entlang, Mrs. Keile.»