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Die aufregende Geschichte des Erdöls, das in der Hand kalt kalkulierender Strategen zur Waffe um die Weltherrschaft wurde Dieses Buch verfolgt einen manchmal fast unsichtbaren Faden, eine rote Linie der Ölgeopolitik, der Militär- und Finanzmacht, die mehr als ein Jahrhundert lang ein Hauptfaktor für die Entscheidungen von Regierungen, Terroristen und ganzen Ländergruppen gewesen ist. Nichts hat die Geschichte der letzten hundert Jahre so geprägt wie der Kampf um die Kontrolle der Weltölreserven. William Engdahls Betrachtungen bieten dem Leser einen beeindruckenden Blick hinter die Kulissen der Weltpolitik. Er beleuchtet die wahren Hintergründe von Kriegen und Wirtschaftskrisen, von Attentaten und Mordanschlägen. Er geht ausführlich auf Schlüsselindividuen und -institutionen wie etwa David Rockefeller, Henry Kissinger, Zbigniew Brzezinski, Winston Churchill, den Council on Foreign Relations, die Bilderberger, die Trilaterale Kommission und deren tatsächlichen Machteinfluß ein – mehr als jedes andere gegenwärtig erhältliche Werk zu diesem Thema. »Dieses Buch liefert einen ebenso faszinierenden wie schockierenden Einblick in das Innere der britisch-amerikanischen Ölmaschine, die ansetzt, die Weltherrschaft zu erringen. Wer die Hintergründe dieser Herrschaft verstehen will, muß dieses Buch lesen!« Gerhard Wisnewski, Fernsehproduzent des WDR und Bestsellerautor
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Widmung
Für Inge, die all dies mit mir teilte
Stimmen zum Buch
»Dieses Buch ist die einzigzutreffende, mir bekannte Darstellung dessen, was mitdem Ölpreis im Jahre 1973 tatsächlich geschehen ist. MeineEmpfehlung: Lesen Sie dieses Buch!«
Scheich Zaki Yamani, ehemaliger Ölminister von Saudi-Arabien
»Ich empfehle dieses Buchall jenen, die herausfinden wollen, nach wessen Pfeife die Welt wirklich tanzt, welche Systeme sichhinter Subsystemen befinden, denen wir täglich inden Massenmedien begegnen, und die sichfür die wahre Vorgeschichte des gegenwärtigenglobalen politischen Dilemmas interessieren.«
Dr. Fredrick Wills, ehemaliger Außenminister von Guyana
»Mit der Ölwaffe zur Weltmacht von William Engdahl ist Pflichtlektüre für jeden, der sichfragt, wie das Öl die politischen und wirtschaftlichen Ereignisse im20. Jahrhundert geprägt hat … Das Ergebnis, zu demder Autor gelangt, ist atemberaubend, denn der Leser erhält Einblickin die Hintergründe von Kriegen, Attentaten, Mordanschlägenund politischen Unruhen … Dieses Buch leistet unschätzbar wertvolle Hilfe beidem Versuch, übergeordnete Zusammenhänge in der Weltgeschichte des vergangenenJahrhunderts zu erkennen.«
Richard Heinberg, Autor des Buches The Party’s over
»Dieses Buch ist nichts für zaghafte oderunaufmerksame Menschen. Es geht den Dingenwirklich auf den Grund … Es ist ein ausgezeichnetes Werk,das die wirklichen Problembereiche unserer Gesellschaft und ihre Hintergründe besserbeleuchtet.«
Oberst a. D. Fletscher Prouty, US Air Force
HINWEIS FÜR DIE LESERSCHAFT:
Die vorliegende fünfte deutsche Auflage des Buches beinhaltet die unverändert übernommene Einleitung sowie die Kapitel 1 bis 13 der vierten Auflage. Das Nachwort der vierten Auflage avcancierte zum Kapitel 14.
Neu aufgenommen wurden das Vorwort des Autors zur fünften deutschen Auflage, die Kapitel 15 und 16 sowie das Nachwort zur fünften deutschen Auflage. Auch der Bildteil wurde ergänzt, und zwar um den Zeitraum 2005–2014.
Vorwort des Autors zur fünften deutschen Auflage 2014
Während ich dieses Vorwort für die neue Auflage schreibe, gedenkt die Welt des Beginns des Ersten Weltkrieges vor 100 Jahren. Es war der bis dahin verheerendste Krieg in der Geschichte der menschlichen Zivilisation – und bei allen Schrecken war er weder der letzte, noch forderte er die größten Opfer an Menschenleben und verwüsteten Ländern.
Ich selbst hätte nicht erwartet, daß dieses Buch, das vor über 20 Jahren erstmals in deutscher Sprache erschien, zu einem »Untergrund-Bestseller« (diesen Begriff prägte ein enthusiastischer Leser) werden würde. Dabei wurde das Buch von den deutschen Mainstream-Medien praktisch ignoriert. Damals wie heute waren sie politisch korrekt und ängstlich darauf bedacht, nur das zu bringen, was man in Deutschland nach dem Willen der Zensoren aus Washington über die eigene Geschichte wissen sollte.
Einige Jahre später hörte ich bei verschiedenen Vortragsveranstaltungen von mehreren Redakteuren deutscher Zeitungen und Zeitschriften aus erster Hand, daß sie mein Buch kannten und schätzten. Ihre Herausgeber hatten ihnen jedoch untersagt, es auch nur zu erwähnen. Als ich Ende der 1990er Jahre in der Bibliothek der Deutschen Bundesbank über ein anderes Thema forschte, fiel mir sogar ein katalogisiertes Exemplar in die Hände.
Seit jener ersten Veröffentlichung ist dieses Buch in 14 Sprachen übersetzt worden. In chinesischer, kroatischer, deutscher, japanischer, koreanischer, türkischer, französischer und russischer Übersetzung wurde es jeweils zu einem internationalen Bestseller. Jetzt ist es Zeit für eine durchgesehene und erweiterte Auflage.
Dieser Arbeit widme ich mich mit großer Freude, denn wie der Leser sehr schnell verstehen wird, beleuchte ich einige der dunkelsten Ecken der Geschichte des vergangenen Jahrhunderts, die in keinem von britischer oder amerikanischer Seite als »politisch korrekt« zugelassenem Geschichtswerk behandelt werden. Dieses Buch unterstreicht, daß das Deutsche Reich und seine Menschen – weit entfernt, die Alleinschuld für die Tragödie des Ersten Weltkriegs zu tragen – Teil eines Systems waren, das geschickt und klug für sein wirtschaftliches Überleben kämpfte, so daß sich das Britische Empire, damals die dominierende Macht der Welt, aufs Äußerste herausgefordert fühlte. Die britische Elite im Umkreis der bekannten Geheimgesellschaft Round Table von Alfred Milner und Männer wie Halford Mackinder, der Vater der britischen Geopolitik, wußten: Wenn England und seine Alliierten die »deutsche Bedrohung« nicht ausschalteten, würde Deutschland binnen weniger Jahre England als Wirtschaftsmacht in den Schatten stellen.
Als die Deutsche Bank, damals geleitet von Georg von Siemens, und Karl Helfferich den Bau einer Eisenbahnverbindung von Berlin ins mesopotamische Herzland des Osmanischen Reichs – die Bagdad-Bahn – planten, sorgte dies in London für Alarmstimmung. Dort empfand man den Plan als größte Bedrohung der britischen Weltherrschaft, denn im Verein mit der Berliner Entscheidung für den Aufbau einer deutschen Flotte aus Großkampfschiffen würden die »barbarischen Hunnen« das britische Weltreich schon bald überholen.
Wie geheime Bündnisse zur Einkreisung des Deutschen Reichs – Londons Entente Cordiale mit Frankreich und die Triple Entente mit dem zaristischen Russland – zur Militärallianz von 1914 führten, ist bekannt. Weniger bekannt sind die Rolle des Erdöls und der verdeckten Kriege um die Herrschaft über dieses Öl, die vom Nahen und Mittleren Osten über Persien, Kuwait und Mesopotamien bis hin zum heutigen Irak reichten.
Seit damals, vor 100 Jahren, steht bei allen großen und fast allen kleinen Kriegen und militärischen Konflikten unausgesprochen immer die Herrschaft über das Erdöl im Mittelpunkt. So im Zweiten Weltkrieg, im Vietnam-Krieg, dem Iran-Irak-Krieg, der Besetzung des Irak durch die USA 2003 oder dem fälschlich »Arabischer Frühling« genannten Konflikt, der ab 2011 die ölreichen muslimischen Länder von Libyen bis Syrien erschütterte. Auch bei der explosionsartigen Ausbreitung einer US-trainierten Dschihad-Truppe namens ISIS in Syrien und im Irak ging es letztendlich um die Herrschaft über die reichen Erdöl- und Erdgasfelder in beiden Ländern.
Während der Ölschocks der 1970er Jahre brachte es Ex-US-Außenminister Henry Kissinger, damals auf dem Höhepunkt seiner Macht, auf den Punkt: »Wer über das Erdöl herrscht, der kann über ganze Länder oder sogar Gruppen von Ländern herrschen.« Die Herrschaft über das Erdöl, nicht etwa zum Nutzen amerikanischer Verbraucher, sondern zur geopolitischen Kontrolle über die Welt, ist das Leitmotiv, der rote Faden dieses Buchs, das zeitlich und räumlich scheinbar weit voneinander entfernte geschichtliche Ereignisse miteinander in Verbindung bringt.
In der Vorphase der praktisch einseitigen Entscheidung des damaligen US-Präsidenten George W. Bush zur Irak-Invasion von 2003 entspann sich in den Medien plötzlich eine Debatte über die geophysikalischen Grenzen der Versorgung der Welt mit Erdöl und Erdgas. Die Verfechter sprachen von »Peak Oil«. Erfinder des Begriffs war King Hubbert, ein Erdölgeologe von RoyalDutch Shell. In den 1950er Jahren hatte er Shell und den großen britischen und amerikanischen Ölkonzernen – damals bekannt als die »Sieben Schwestern« – die Rechtfertigung geliefert, ihr Erdöl teurer zu machen.
2003 behauptete die Peak-Oil-Lobby, Hubberts Vorhersage der 1950er Jahre, der »Peak« oder »Scheitelpunkt« der US-Ölförderung werde 1970 erreicht, sei korrekt gewesen. Jetzt stehe die Welt vor einem »absoluten Peak«; nach Ansicht vieler Schwarzmaler hatte er bereits eingesetzt. Die Mainstream-Medien überschlugen sich mit der Werbung für Bücher mit alarmierenden Titeln wie Twilight in theDesert über den »Peak« der riesigen saudischen Ölfelder. Genauso wie es später in der Frage des Global Warming geschah, nutzten die Peak-Oil-Verfechter jede versiegende Ölquelle als »Beweis« für die Richtigkeit ihrer beinahe religiösen Überzeugung, daß Erdöl sei knapp. Wie ich selbst bei vielen Konferenzen erlebt habe, wurde kategorisch jede kritische Diskussion mit dem Kommentar »Peak-Oil-Leugner« abgelehnt.
Als das Pentagon mit dem neuen AFRICOM seinen Einfluß vom Irak auf Afghanistan und nach Afrika ausdehnte, um dem Vordringen Chinas auf dem ölreichen Kontinent zu begegnen, war die Propaganda über die kommende Verknappung der Primärenergiequellen für die Weltwirtschaft – Erdöl und Erdgas – plötzlich »vergessen«. 2011 wurde von Washington und einigen von der CIA beeinflussten Washingtoner Denkfabriken ein neues, der früheren These widersprechendes Thema ins Spiel gebracht: die »Schiefergas-Revolution«. Emphatisch kündigte der amerikanische Präsident an, die Vereinigten Staaten würden in wenigen Jahren wieder Spitzenreiter des weltweiten Erdölexports und dabei sogar Saudi-Arabien überholen.
Bei der öffentlichen Diskussion in den USA fiel kaum jemandem auf, daß der drastische Anstieg der inländischen Erdgas- und später auch Erdölförderung weitgehend auf Täuschung beruhte. Er ging auf lediglich zwei oder drei sehr produktive Felder oder Schiefergesteinlagerstätten zurück. In der Erdölindustrie waren Schiefergas und Schieferöl seit Jahrzehnten bekannt; sie waren jedoch nie von großem Interesse gewesen, da die Förderung ein sehr kostspieliges Verfahren erfordert – »Fracking« oder hydraulische Frakturierung des Schiefergesteins, mit der eingeschlossenes Gas oder Öl freigesetzt wird.
Während die amerikanischen Mainstream-Medien den von den Wall-Street-Banken – die beteiligten Unternehmen Milliardenkredite gewährt hatten – angestimmten Schiefergas-Hype verkauften, veröffentlichte das US-Energieministerium die einzige umfassende geologische Analyse über die Lagerstätten der Schieferenergieressourcen auf der Welt. Es war schon bemerkenswert, daß dieser Bericht aus Washington auf die chinesische Provinz Sichuan und die Ostukraine verwies.
Die vorliegende durchgesehene und erweiterte fünfte deutsche Auflage meines Buchs enthält viele wichtige neue Informationen in bezug auf das Peak-Oil-Argument der großen britischen und amerikanischen Ölkonzerne und auch über deren Strategie der »Schieferrevolution«. Beide widerlege ich im Detail und zeige, daß sich dahinter eine zunehmend verzweifelte US-Elite verbirgt, die mit allen Mitteln vor der übrigen Welt verbergen will, daß uns das Erdöl keineswegs ausgeht, sondern daß ständig neues Erdöl gefunden wird, vorausgesetzt, es werden die richtigen geophysikalischen Erkundungen durchgeführt, wie Professor Peter Odell von der Rotterdamer Erasmus-Universität nicht müde wird zu betonen.
F. William Engdahl, Wiesbaden, im September 2014
Einleitung
Ein Jahrzehnt nach dem Ende des Kalten Kriegs und dem Zusammenbruch der Sowjetunion erschütterten die Ereignisse des 11. September 2001 die Grundlagen der zivilisierten Welt wie kein anderes Ereignis seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Vor allem schienen sie das Selbstvertrauen der einzigen verbliebenen Supermacht USA ins Wanken zu bringen. Innerhalb von Wochen nach den verheerenden Angriffen auf New York und das Pentagon verwüsteten amerikanische Bomber Landstriche und Ortschaften in Afghanistan, den abgelegenen, verzweifelten und nahezu vergessenen Außenposten des Kalten Krieges.
Kaum mehr als ein Jahr nach den traumatischen Geschehnissen des 11. September jedoch muß die Welt zusehen, wie sich der Brennpunkt der amerikanischen militärischen Druckausübung allem Anschein nach von dem Ziel, Osama bin Ladins Al Qaida und ihre Verbündeten an verschiedenen Stellen zu bekämpfen, verlagert hat. Im Frühjahr 2002 spricht der jüngere Präsident Bush von einer neuen »Achse des Bösen«, in dessen Mittelpunkt wieder einmal der Irak steht.
Während Washington einseitig mit der Vorbereitung für ein gegen den Irak gerichtetes Militärunternehmen begann, reagierte der Großteil der restlichen Welt alarmiert über die Beweggründe dieses letzten Washingtoner Vorstoßes. In Europa distanzierten sich die meisten Regierungen von der Vorbereitung der USA auf einen Irak-Krieg. Einzig Tony Blair schien an der langjährigen anglo-amerikanischen »Sonderbeziehung« festzuhalten und unterstützte Washington.
Der deutsche Kanzler wies eine Beteiligung an Washingtons Vorbereitungen auf einen Krieg gegen den Irak zurück. Der französische Außenminister hatte mit Bezug auf die überwältigende militärische Dominanz in den Händen einer einzigen Macht Amerika als eine Hypermacht bezeichnet. Der neuartigen Drohung, daß Amerika diese Macht einseitig, ohne Konsultation und Zustimmung seiner traditionellen Verbündeten, verwenden könnte, um das Weltgeschehen allein nach seinem Verständnis von nationaler Sicherheit zu formen, setzte die französische Diplomatie das Beharren auf die institutionellen Verfahren und Barrieren der Vereinten Nationen entgegen.
Zwölf Jahre nachdem sein Vater gegen Saddam Husseins Irak wegen des Überfalls auf Kuwait und wegen der Gefährdung der strategischen Ölversorgung für die Welt in den Krieg gezogen war, hatte George W. Bush einen neuen Krieg gegen den Irak geleitet – die sogenannte Operation Shock andAwe. Dieses Mal waren viele europäische Beobachter davon überzeugt, daß die Gründe für einen solchen Krieg mehr mit enormem politischen Druck auf den amerikanischen Präsidenten durch eine Koalition von politisch aktiven christlichen Fundamentalisten und mit ihnen verbündeten einflußreichen proisraelischen Neo-Konservativen zu tun hatten, einer Koalition, die auch die aggressiven Militäraktionen von Premierminister Sharon gegen die Palästinenser unterstützte. Dagegen hatte der ältere Bush 1990 Israel unter Druck gesetzt, sich aus den unrechtmäßig angelegten Neuansiedlungen auf dem Westufer des Jordans zurückzuziehen, hatte überdies neue Hilfszahlungen für Israel verweigert, um von den arabischen Staaten Rückendeckung für den Krieg gegen den Irak zu erhalten. Die spätere Wahlniederlage gegen einen unbekannten Bill Clinton 1992, davon waren Bush und sein Sohn fortan überzeugt, kam zustande, weil die gutorganisierte, Christliche Rechte Israel unterstützte und gegen Bush war. War der jüngere Bush nun in einem Wahljahr so sehr zur Geisel dieser mächtigen, organisierten Kräftekonzentration geworden?
Manche Beobachter begannen andere Vermutungen über die Tagesordnung hinter den Kriegsvorbereitungen der USA anzustellen. War es die Geopolitik des Öls? Wenn ja, mit welchem Ziel? Zur Sicherstellung der Versorgung der Weltwirtschaft oder zur strategischen Beherrschung des Ölflusses? Die Operation Enduring Freedom in Afghanistan hatte den Vereinigten Staaten zu strategischer Militärpräsenz in einer Region von Usbekistan bis Georgien verholfen, in der die heiß umstrittenen Öl- und Gasvorkommen um das Kaspische Meer lagern. Im Zuge der Kriegsvorbereitungen der letzten Zeit gegen den Irak verschafften sich die Vereinigten Staaten somit eine militärische Präsenz von Inçirlik in der Türkei, das nahe an einer projektierten Pipeline vom Kaspischen Meer bis an das Arabische Meer und den Persischen Golf liegt.
Während der Verhandlungen über eine neue Resolution des Sicherheitsrats begannen bereits Spekulationen darüber, ob Washington sich auf ein neues geheimes Sykes-Picot-Abkommen einlassen könnte, um die Zustimmung der beiden wichtigsten Mitglieder des Sicherheitsrats mit Veto-Recht, Rußland und Frankreich, zu gewinnen, die beide lebenswichtige Interessen an der Entwicklung der gewaltigen unerschlossenen Ölreserven des Irak haben. Die geheimen nach Sykes und Picot benannten Vereinbarungen während des Ersten Weltkriegs hatten die heutigen Nahoststaaten als Anreiz für die Araber, in den Krieg gegen die Achsenmächte um Deutschland einzutreten, aus dem zerfallenden Osmanischen Reich herausgeschnitten. Steckte dieses Mal Washington hinter einer neuen Version solch einer Neuaufstückelung der Staatsgebiete?
Zum Entsetzen der zivilisierten Welt verteidigten der Präsident der USA und sein Kabinett in aller Offenheit Folter an Gefangenen, was einen krassen Verstoß gegen sämtliche Konventionen der Kriegsführung darstellt. Ebenso verteidigten sie verfassungswidrige Verletzungen der Privatsphäre US-amerikanischer Bürger. Ganz offen erklärten sie zudem, daß eine Bombardierung iranischer Atomanlagen durch die Vereinigten Staaten oder Israel eine »Option« sei, die »auf dem Tisch« liege. Beruhte dies alles auf den sogenannten »Notwendigkeiten des Krieges«, nämlich eines Krieges gegen den Terror? Oder war es das, wovon einige führende Denkstrategen in Rußland ausgehen – eine fadenscheinige Entschuldigung von Präsident George W. Bush, mit der die Errichtung der neuen Weltordnung zum Abschluß gebracht werden soll, die bereits 1991 nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion von seinem Vater ausgerufen wurde?
Wenn hinter dem beispiellosen Druck der USA auf den Irak, den Iran und andere Staaten, die von Weißrußland bis Usbekistan und Kirgisien reichen und die Washington als »Tyrannenstaaten« brandmarkt, ein neues geheimes Sykes-Picot-Abkommen steckt, das zum Ziel hat, die Machtverhältnisse im Nahen Osten – von Eurasien über Wladiwostok bis zum Atlantik – neu zu ordnen, dann sind für aufgeweckte Menschen, die über ein Verständnis geschichtlicher Abläufe verfügen, die historischen Parallelen unmöglich zu übersehen.
Dieses Buch verfolgt einen manchmal fast unsichtbaren Faden, eine rote Linie der Öl-Geopolitik, der Militärmacht und Finanzmacht, die mehr als ein Jahrhundert lang ein Hauptfaktor für die Entscheidungen von Regierungen, Terroristen und ganzen Ländergruppen wie der Europäischen Union gewesen ist.
Es ist die Absicht des Verfassers, einige weniger sichtbare Aspekte eines Jahrhunderts der Öl-Geopolitik zu beleuchten und dazu beizutragen, daß sich der unkundige Leser in einer im Fluß befindlichen Weltsituation dazu herausgefordert sieht, hinter die Oberflächenerscheinung der gewohnten Darstellung in den Medien zu schauen und über die den weltpolitischen Entwicklungen zugrunde liegenden Verhältnisse neu nachzudenken.
Während ich diese Sätze schrieb, wurde klar, daß Amerika, die mächtigste Großmacht der Geschichte, auf tönernen Füßen steht und dabei unsere ganze Zivilisation gefährdet. Meine Hoffnung ist, daß dieses Buch den Lesern mindestens eine Idee bringt, worum es geht.
F. William Engdahl, im Januar 2006
1. KAPITEL
Eine neue Strategie für das Britische Empire
Nichts hat die Geschichte der vergangenen 100 Jahre so geprägt wie der Kampf um die Kontrolle der Welt-Ölreserven. Wir wollen etwas Licht in diese Auseinandersetzung bringen. Es wird sich zeigen, wie zuerst England und später zunehmend auch die USA ihre wirtschaftliche und politische Macht an den Rohstoff Erdöl banden und wie sie ihre Kontrolle über diesen Rohstoff im Laufe der Jahre zu nutzen verstanden. Im Licht dieser Auseinandersetzung wird so manche geschichtliche Selbstverständlichkeit plötzlich ganz andere Züge annehmen. Doch beginnen wir am Anfang.
Gegen Ende der 1890er Jahre war Großbritannien in jeder Hinsicht die vorherrschende wirtschaftliche, politische und militärische Macht der Welt. Britisches Gold war, unter den eifersüchtig wachenden Augen der Bank von England, der feste Grund, auf dem das Pfund Sterling ruhte. Gold verlieh dem Sterling die Macht, die Welt zu regieren und aller Welt Kredit einzuräumen. Und Kredit war die Hauptquelle des britischen Ansehens in der Welt. Zwar hatte erst die militärische Landmacht Preußens den Sieg über Napoleon 1815 bei Waterloo möglich gemacht. Aber Wellington und die britische Elite holten sich nicht nur die Siegestrophäe, sie verstanden es auch, diese für ihre wirtschaftlichen Ziele auszunutzen. Sie half ihnen nämlich, den weltweiten Strom der Goldreserven sicher in die Londoner Tresore umzulenken.
»So gut wie Sterling« wurde zur Redensart der Zeit. Ein Gesetz vom 22. Juni 1866 erklärte Gold zum einzigen Wertmaß im Britischen Empire. Aufgabe der britischen Außenpolitik wurde es mehr und mehr, die britische Schatztruhe zu schützen. Vor allem galt es sicherzustellen, daß das in Australien, Kalifornien oder Südafrika neugeschürfte Gold möglichst vollständig in die Tresore der Bank von England gelangte. Es handelt sich bei der Bank von England nicht um eine Staatsbank. Sie ist ein privates Unternehmen, das hoheitliche Aufgaben wahrnimmt, und gehört einem Konsortium der wichtigsten englischen Privatbanken wie Baring, Hambros, Rothschild u. a. Trotzdem nimmt die Bank Aufgaben des Souveräns wahr. Sie beeinflußte besonders die britische Außenpolitik und brachte sie mit den Nationen in Konflikt, die selbst Goldreserven aufbauen wollten.
Seit 1815 konnte sich die britische Vorherrschaft auf den Weltmeeren unangefochten behaupten. Britische Schiffe transportierten britischen Stahl, britische Kohle oder Bekleidung aus der Textilindustrie der Midlands in alle Teile der Welt. Britische Manufakturen hielten in den folgenden Jahrzehnten die Spitzenstellung der Weltproduktion.
Aber wie so oft trügt auch hier der Schein. Hinter der Kulisse der führenden Weltmacht faulte Großbritannien im Inneren. Je weiter die britischen Handelshäuser ihre Stellung in der Welt ausbauten, Londoner Banken Kredite zum Bau von Eisenbahnen in Argentinien, den Vereinigten Staaten und Rußland vorstreckten, desto morscher wurde die Wirtschaft im eigenen Land. Nur wenige Leute haben verstanden, wie eng und gesetzmäßig der Zusammenhang zwischen den beiden scheinbar widersprüchlichen Entwicklungen zu jener Zeit ist.
Seit dem unrühmlichen Wiener Kongreß von 1815, der Europa nach Napoleons Niederlage neuordnen wollte, und den sprichwörtlichen Intrigen des britischen Außenministers Lord Castlereagh hatte England die Vorherrschaft zur See inne. Es hatte sich dieses Vorrecht mit »Zugeständnissen« an das Haus Habsburg in Österreich und an andere europäische Mächte erkauft. England verstand es aber, solche Zugeständnisse so einzusetzen, daß die Mächte miteinander in Streit geraten mußten und sich auf diese Weise gegenseitig in Balance hielten. Durch ihren Konkurrenzkampf geschwächt, konnten sie die Expansion Englands nicht aufhalten. »Balance of power« wurde zur Leitidee britischer Außenpolitik.
Die britische Vorherrschaft zur See, und damit verbunden die britische Kontrolle über den Welthandel, war das Ergebnis von Waterloo und bildete eine der drei Säulen des britischen Weltreiches.
London konnte wichtige Handelsbedingungen für die Unternehmer in Kontinentaleuropa und in anderen Teilen der Welt festlegen. Dazu dienten nämlich die Tarife des Londoner Schiff- und Seehandelversicherers Lloyds und die Kreditbedingungen des Bankensyndikats der Londoner City. Da die Marine Ihrer Majestät die größte der Welt war und die Weltmeere und wichtigsten Schiffsrouten bewachte, erhielten britische Schiffe kostenlose Versicherung. Demgegenüber mußten die Handelsflotten der Konkurrenz astronomische Summen an Londons großes Versicherungskartell Lloyds zahlen, um gegen Piraterie, Katastrophen und kriegerische Einwirkungen versichert zu sein.
Um ihre Handelsfahrten zu finanzieren, waren die Seehandelsgesellschaften der Welt auf sehr große Kredite und Wechsel angewiesen. Vorschüsse der erforderlichen Höhe konnten nur die Banken der Londoner City zur Verfügung stellen. Denn nur sie waren durch entsprechende Goldreserven der Bank von England gedeckt. Kredite wurden an Bedingungen geknüpft, die es britischen Handelshäusern erlaubten, die Märkte möglicher Konkurrenten mit einer Flut billiger englischer Exporte gnadenlos zu überschwemmen. Die unangefochtene Dominanz britischer Banken über das Bankwesen anderer Nationen war die zweite Säule britischer Vorherrschaft nach 1815.
Die dritte Säule, die im Laufe des Jahrhunderts immer wichtiger wurde, war die geopolitische Beherrschung der Rohstoffreserven der Welt. Das waren zunächst Kohle und Erz, Baumwolle und Kaffee sowie gegen Ende des Jahrhunderts das »schwarze Gold« – Öl.
Im Jahre 1820 verabschiedete das britische Parlament eine folgenreiche Grundsatzerklärung. Sie sollte knapp 100 Jahre später den Ersten Weltkrieg mit all seinen tragischen Folgeerscheinungen auslösen. Eine Gruppe mächtiger Finanziers und Seehändler unter Führung von Alexander Baring legte dem britischen Parlament eine damals in seinen Auswirkungen noch unbekannte Wirtschaftsdoktrin vor; sie hieß »Freihandel«. Die Anregung dazu stammte von Adam Smith, der als radikaler Physiokrat in seinen Schriften gut 50 Jahre zuvor den »absolut freien Handel« und die freiwillige Unterwerfung der Gesellschaft unter den Automatismus der Marktmechanismen gefordert hatte.
Bis zum Jahre 1846 gelang es dieser Gruppe, mit Hilfe ihrer Freihandelsgrundsätze die berühmten »Corn Laws« in England zu kippen. Die Korngesetze waren vor über 100 Jahren eingeführt worden und sollten die Versorgung der eigenen Bevölkerung mit Nahrungsmitteln sicherstellen. Insbesondere sollten sie die heimische Landwirtschaft vor ausländischer Konkurrenz und das Land vor Erpressungen durch die »Nahrungsmittelwaffe« anderer Mächte schützen. Die mächtigen Handels- und Finanzinteressen der Londoner City hatten sich ausgerechnet, daß sie bei absoluter Handelsfreiheit ihre wirtschaftspolitische Überlegenheit weltweit weiter ausbauen und gegen das Erstarken aufkommender Konkurrenz besser verteidigen konnten. Sie waren entschlossen, ihren Vorteil bis zum letzten auszureizen. Mit Hilfe des »Freihandels« ließ sich nämlich das Wirtschaftswachstum anderer, noch nicht so entwickelter Nationen bremsen oder unterbinden.
Unter dem Deckmantel des »Freihandels« zogen britische Geschäftsbanken nach 1840 – um nur ein besonders drastisches Beispiel für die angestrebte »Freiheit« zu geben – astronomische Gewinne aus dem Dreiecksgeschäft mit Opium, das sie zwischen Indien, der Türkei und China abwickelten. Das britische Außenministerium stellte sich auf die Seite der Finanzinteressen der Opiumhändler und zwang China in mehreren Kriegen, seine Häfen für den »Freihandel«, also das Opiumgeschäft, zu öffnen.
Auf dem Höhepunkt der Debatte um den Freihandel im Jahre 1843 schufen sich die mächtigen Finanzinteressen der Londoner City mit der Wochenzeitung The Economist ein Propagandainstrument ihrer Wirtschaftsdoktrin. Das offen ausgesprochene Ziel der Zeitung war es, das ehrwürdige Korngesetz mit Hilfe der Freihandelslehre von Adam Smith zu stürzen. Sie erhob den Grundsatz des Händlers an der Ecke: »Kaufe billig, verkaufe teuer« zur Leitlinie nationaler Wirtschaftspolitik und ließ nur noch den Gewinn als Maß und Zweck der Produktion gelten.
Das Jahr 1846 brachte den Erfolg: Die Tories unter Sir Robert Peel brachten das Korngesetz zu Fall. Sie stellten damit eine nicht nur für die britische Geschichte verhängnisvolle Weiche; das Ereignis hatte weltgeschichtliche Auswirkungen. Daß es eine Wende zum Schlechteren war, zeigte sich bereits an den unmittelbaren Folgen. Die neuen Gesetze öffneten die Schleusen für eine Flut billiger landwirtschaftlicher Importgüter. Sie schwemmten die heimische Landwirtschaft hinweg und trieben auch Bauern anderer Länder in den Ruin.
Als die Preise in England plötzlich abrutschten, traf das neben den englischen die irischen Bauern besonders hart. Der Freihandel führte unmittelbar zu Massenelend, Hunger und zwang irische Bauern und ihre Familien zur Auswanderung. Der tragische irische Hungerwinter von 1846 und die späteren Hungersnöte waren die direkte Folge dieser Wirtschaftspolitik. Die britische Politik wollte bislang um jeden Preis verhindern, daß sich in Irland ein Manufakturwesen mit eigener Industrie bildete. Auf diese Weise wurde Irland in die Rolle des billigen Brotkorbs zur günstigen Versorgung Englands gezwungen. Nun zog der freie Markt Irland ersatzlos diesen Boden unter den Füßen weg. 1› Hinweis
Nach 1846 importierte Großbritannien Nahrungsmittel aus seinen Kolonien. Kulis und Fellachen mit ihren Hungerlöhnen traten in Konkurrenz zu den englischen und irischen Bauern. Die willfährigen Feudalherren zwangen die bedauerlichen Geschöpfe, unter sklavischen Bedingungen zu arbeiten.
So gelang es einerseits, das Einkommen der Bauern in Großbritannien zum angeblichen Vorteil der Konsumenten unter das Existenzminimum zu drücken. Andererseits ließen sich in England mit dem Brotpreis auch das Lohnniveau und der Lebensstandard der Arbeiter senken. Ein Armengesetz hatte nämlich den Mindestlohn und die Unterstützungszahlungen für Arbeiter, deren Einkommen unter das Existenzminimum absank, vom Preis für einen Laib Weißbrot abhängig gemacht.
Die Abschaffung des Korngesetzes läutete für das gesamte britische Kolonialreich die Politik der »billigen Arbeit« ein. Und dies hatte Auswirkungen auf die »soziale Frage« im restlichen Europa. Denn die Konkurrenz indischer Fellachen traf nicht nur die englischen und irischen Bauern, sondern auch die deutschen. Die billigen Produkte verelendender britischer Arbeiter drückten die Preise für die aufstrebende Industrie auf dem europäischen Kontinent und in den USA. Sie alle wurden in den erbarmungslosen Verdrängungswettbewerb hineingezwungen.
Die einzigen, die aus dem angeblich ehrenwerten Bemühen um einen billigen Nahrungsmittelpreis Vorteil zogen, waren die großen Londoner Handelshäuser und Banken. Die Senkung der Lebensmittelpreise trieb die Klassengegensätze in England und in den übrigen Industrieländern auf die Spitze. Die sich verschärfende »soziale Frage« machte es mit Hilfe weniger Einflußagenten möglich, in den Konkurrenzländern sozialistische Massenorganisationen aufzubauen. Sie ließen sich gegen das dort aufkeimende industrielle Bürgertum leicht in Bewegung setzen. Mit kurzen Worten läßt sich das Wesen des Freihandels so bestimmen: Er trennt die Menschen in immer weniger extrem reiche Familien und eine rasch wachsende Zahl immer ärmerer, meist unterernährter Leute.
Mit den Worten des zeitgenössischen amerikanischen Ökonomen E. Peshine Smith macht die Freihandelsdoktrin »aus der Nation einen gigantischen Kleinkrämer«. Er setzte dieser Lehre das volkswirtschaftliche Denken des übrigen Europa entgegen, besonders das des Deutschen Zollvereins und dessen Urhebers Friedrich List.
»Die Politik (dieser Europäer) wird vom Denken des Herstellers und nicht des Kleinkrämers bestimmt«, bemerkt Peshine Smith. »Wenn sie den nationalen Wohlstand beurteilen, schauen sie auf den Produktionsapparat und nicht auf die Handelsspanne. So haben die großen Nationen auf dem europäischen Kontinent – Frankreich, Rußland und die deutschen Staaten, die sich im Zollverein zusammengeschlossen haben – die Wirtschaftsdoktrin, die die Wirtschaftspolitik Englands so lange bestimmte, durch ihre Praxis abgelehnt. Joseph Kay, ein gelehrter und angesehener britischer Schriftsteller, hat den Gewinn, den England aus seiner Art zu wirtschaften zog, richtig eingeschätzt. Er beschreibt seine Nation als eine, in der ›der Adel reicher und mächtiger ist als in irgendeinem anderen Land der Welt, und wo die Armen stärker unterdrückt, ärmer und zahlreicher im Vergleich zu anderen Bevölkerungsschichten, der Religion mehr entfremdet und wesentlich schlechter gebildet sind als die Armen irgend einer anderen europäischen Nation‹.« 2› Hinweis
Schon 1850 versuchte man sich in England über die offensichtliche wirtschaftliche Fehlentwicklung mit einer Kampagne hinwegzumogeln, die noch heute dazu dient: Schuld an allem Elend sei nur eine angebliche Übervölkerung. Damit verdeckte man die Tatsache, daß die finanziellen Auflagen zu Unterinvestitionen in neue industrielle Fertigungsverfahren geführt hatten. Das war die Folge der neuen Lehre, des »britischen Wirtschaftsliberalismus«. Diesem Liberalismus ist im wesentlichen zu verdanken, daß sich eine immer mächtigere und immer schmalere Elite immer uneingeschränkter über die »ignoranten Volksmassen« erheben konnte.
Die liberale politische Elite stellte sich wie die britische Regierung den Interessen einer immer exklusiveren, zahlungskräftigen, privaten Clique zur Verfügung. Diese Clique umschwirrte ein Heer von Intellektuellen, die ihre »Analysen« und Propagandaleistungen feilboten. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts konzentrierte sich die politische Macht Großbritanniens in den Händen weniger Londoner Bankiers und ihrer Familien.
Beeinflussung und Manipulation anderer Volkswirtschaften mit Hilfe der Freihandelsdoktrin bildete in den vergangenen 150 Jahren das Wesen britischer Wirtschaftsstrategie. Großbritanniens zweifelhafte Größe bestand darin, seine Wirtschaftspolitik dabei geschickt wie ein Chamäleon auf die Wandlungen der internationalen Wirtschaftsrealität einzustellen. Dabei blieb aber ihr Kern, den »absoluten Freihandel« Adam Smiths als Waffe gegen die souveräne nationale Wirtschaftspolitik rivalisierender Mächte einzusetzen, unverändert.
Ende des 19. Jahrhunderts stellte sich dem britischen Establishment erneut das Problem, seine Weltherrschaft gegen aufkommende wirtschaftliche Widerstände in den Kolonien und abhängig gemachten Nationen absichern zu müssen. Als in den 1880er Jahren der Ruf nach einer »neuen Ara des Antiimperialismus« lauter wurden, verlegte die britische Elite sich auf eine raffiniertere und weitaus wirksamere Methode, um ihre Welthegemonie weiter auszubauen. Man kam auf die Idee der »informellen Herrschaft«. Während die Kernländer des britischen Kolonialreiches, Indien und die Länder des Fernen Ostens, weiterhin britischer Besitz blieben, wurde der Einfluß des Empire zugleich auf neue, bisher kaum unterworfene Gebiete ausgedehnt. So floß plötzlich Kapital in erstaunlichem Umfang nach Argentinien, Brasilien und andere spanische Kolonien in Amerika. Sie legten um diese Länder Bande finanzieller Abhängigkeit, die sich in vielfacher Hinsicht bald als wirksamer erweisen sollten als der direkte Kolonialstatus.
Zum Komplex der »informellen Herrschaft« zählten Begriffe wie »Klientelstaat« (client state), »Einflußsphären« oder »Machtgleichgewicht« (balance of power). Sie wurden Ende des vorletzten Jahrhunderts zu Standardbegriffen der internationalen Diplomatie.
Die Stärke Großbritanniens beruhte seit dem englischen Seesieg über die spanische Armada im Jahre 1588 auf seiner Insellage vor dem europäischen Kontinent. Sie ersparte England die Kosten eines großen stehenden Landheeres und hielt ihm den Rücken frei, sich auf die Seefahrt zu konzentrieren. Der Seehandel brachte England in den Genuß der Reichtümer der Welt und erlaubte ihm, seine »Gleichgewichtsdiplomatie« auf dem Kontinent zu finanzieren. Im Sinne dieser Diplomatie schmiedete England Allianzen gegen jede Nation, die bestrebt war, auf dem europäischen Kontinent zwischen Spanien und Rußland eine Vormachtstellung einzunehmen.
Nach dem Wiener Kongreß von 1815, der nach der Niederlage Napoleons die Machtsphären Europas neu verteilte, hatte England seine zynische Strategie des »Machtgleichgewichts« weiter vervollkommnet. Es ging dabei allerdings weniger um das Gleichgewicht zwischen verschiedenen Mächten. Nicht die Waagschalen, oder was darin lag, waren wichtig, sondern einzig und allein das Zünglein dieser Waage war ausschlaggebend: das strategische Interesse des Britischen Empire. Ausschließlich dieses Interesse bestimmte, welche Rivalen England wie gegeneinander ausspielte und mit wem es sich – ebenfalls aus reinem Kalkül – verbündete.
Die hohe Kunst der britischen Diplomatie des 19. Jahrhunderts bestand vor allem in der Abruptheit, mit der das Empire seine Bündnisse entsprechend diesem Kalkül zu ändern gewillt war. Die englische Diplomatie sah in anderen Nationen keine gleichberechtigten, souveränen Partner, sondern nur Rivalen oder nützliche Schachfiguren. Sie war regelrecht stolz darauf, Bündnisse grundsätzlich nicht aus sentimentalen oder moralischen Gründen einzugehen oder beizubehalten, sondern ausschließlich aus Berechnung. So vollzog Großbritannien um die vorletzte Jahrhundertwende einen Kurswechsel um 180 Grad gegenüber dem vormaligen Erzfeind Frankreich. Aus dem Rivalen auf dem Kontinent wie in den Kolonien wurde nach der Faschoda-Krise von 1898 der Partner in der englisch-französischen Entente Cordiale gegen Deutschland. Ebenso plötzlich, wie dieses Bündnis zustandekam, ließ London damals die Türkei fallen. Jahrzehntelang hatte Großbritannien das Osmanische Reich unterstützt, um die russische Expansion einzudämmen, aber jetzt brauchte es Rußland als Bündnispartner in der Triple Entente von 1907. Diese Art von Schachbrettpolitik nannte man in London und in Indien das »Great Game«, das Große Spiel.
Eine neue Variante des Großen Spiels war nun die »informelle Herrschaft«, die sich verstärkt in der wirtschaftlichen Arena bewegte. Anlaß für den britischen Kapitalstrom in außereuropäische Länder wie Argentinien und Brasilien war das Vorhaben jener Länder, eine eigene nationale Infrastruktur für das Transport- und Verkehrswesen aufzubauen. Die Briten halfen zwar bei der Finanzierung, brachten damit aber diese Projekte unter ihre Kontrolle.
Die jeweilige Regierung unterstützte diese Bemühungen durch die Vergabe großzügiger Zuwendungen und Konzessionen an britische Unternehmen. Britisches Kapital baute die Eisenbahnen, die Hafenanlagen und entwickelte die Schiffahrt. London diktierte aber die Kreditbedingungen so, daß sie die Klientelstaaten finanziell strangulierten und zu wirtschaftspolitischen Gefangenen britischer Handelshäuser und Banken machten. Indem sich die Nationen auf diese Handels- und Finanzbedingungen einließen, traten sie die Kontrolle über ihre Volkswirtschaft an die Handelshäuser und Banken ab. Die Länder wurden damit viel wirksamer und nachhaltiger unterworfen, als wenn britische Soldaten die Hauptstadt erobert und für das Britische Empire Tribute und Steuern eingetrieben hätten.
In den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts wurde zum Beispiel der Eisenbahnbau in Argentinien abgeschlossen. Über die Gleise rollten die Waren des Landes, insbesondere Rindfleisch und Getreide, zum Export in die argentinischen Häfen, wo sie auf britische Schiffe verladen und nach England verschifft wurden. Während sich in diesen Jahren der Export Argentiniens rasch verdoppelte, wuchsen die Verbindlichkeiten gegenüber britischen Finanzhäusern um das Siebenfache. Sie machten das Land zum Vasallen des Britischen Empire. »Billigimperialismus« nannten das damals die Zeitgenossen zutreffend. Niemals dachten die Briten daran, in ihren Klientelstaaten unabhängige, industriell starke Volkswirtschaften hochkommen zu lassen. Einziges Ziel dieser Investitionen war die Kontrolle über die Rohstoffe und Reichtümer des Landes.
Anders zum Beispiel das Vorgehen in Ägypten: Um 1882 landeten dort britische Truppen und besetzten das Land unter dem Vorwand, so den Seeweg nach Indien offenzuhalten. Tatsächlich wollte man den Suezkanal aber dem Rivalen Frankreich, der den Kanalbau begonnen hatte, abjagen. Schon 1875 hatte die britische Regierung unter Königin Viktoria die ägyptischen Suezkanal-Aktien gekauft. Die militärische Besetzung machte alle Strukturen der Selbstregierung in Ägypten grundlegend zunichte. So blieb das britische »Protektorat« Ägypten auf die Präsenz britischer Truppen und »Verwaltungsspezialisten« angewiesen und zahlte auch noch dafür. Ägypten bildete einen wichtigen Knotenpunkt auf der Achse zwischen London und Indien, und der Suezkanal war das Nadelöhr zwischen den beiden Reichshälften.
Aus ähnlichen Gründen hatten die Briten zuvor schon Südafrika besetzt. Auch hier sollte angeblich der Seeweg nach Indien gesichert werden. Vor allem wollten die Briten aber verhindern, daß andere ausländische Mächte dort Stapelrechte erwerben und dem britischen Seehandel irgendwie zuvorkommen konnten. In den 40er und 50er Jahren des 19. Jahrhunderts war Südafrika weitgehend unabhängig.
Aber nun wollten die Engländer der Burenrepublik den Zugang zum Indischen Ozean verwehren und annektierten aus diesem Grund 1843 Natal. Dann verdrängten sie die Buren aus dem Gebiet von Delagoa Bay und verhinderten, daß sie sich 1869 unter Pretorius politisch vereinigten.
Die Briten wollten die eigene Vorherrschaft nicht nur in der südafrikanischen Region, sondern überall entlang der wichtigsten Schiffahrtswege ausbauen und festigen. Dadurch wollten sie ihr Handelsmonopol zur See erweitern und absichern.
Zu diesem Zweck gruppierten sie damals auch ihren Geheimdienst auf eine sehr bemerkenswerte Weise um. Auch die übrigen Weltmächte wie Frankreich oder Rußland unterhielten militärische Nachrichtendienste. Großbritannien stützte nach dem Sieg von Waterloo seine Macht auf ein ganz eigenartig fein gewobenes, informelles Informations- und Verbindungsnetz. Es wurde zwischen den Spitzenbankiers und Finanziers der Londoner City, Mitgliedern der Regierung und führenden Persönlichkeiten der Schlüsselindustrie und der klassischen Spionagedienste geknüpft. Niemand gelangte in der britischen Gesellschaft, ihrer Politik, Regierung oder Opposition, ihrer Wirtschaft, Kultur oder Kunst zu Rang und Einfluß, wenn er nicht in dieses Netz verflochten war.
Ein typisches Beispiel dieser unseligen, aber wirksamen Verbindung ist der Sproß einer Londoner Handelsbank, Sir Charles Jocelyn Hambro. Er war von 1928 bis zu seinem Tod 1963 Direktor bei der Bank von England. Während des Zweiten Weltkrieges leitete Hambro daneben die Abteilung für besondere Aufträge (Special Operations Executive, SOE) des britischen Geheimdienstes, die dem Ministerium für Wirtschaftskriegführung unterstand. Seiner Dienststelle oblag der Wirtschaftskrieg gegen Deutschland. Sie bildete das Führungspersonal jener Organisation aus, die nach dem Krieg als CentralIntelligence Agency (CIA) bekannt wurde. Zu dieser Geheimdienstelite der USA gehörten und gehören Personen wie William Casey, Charles Kindelberger, Walter Rostow und Robert Roosa, später stellvertretender Finanzminister unter der Regierung Kennedy und Geschäftspartner der prominenten Wall-Street-Firma Brown Brothers, Harriman.
Die britische Geheimdienstspitze beschaffte sich nicht wie ein gewöhnlicher Geheimdienst Informationen aus ausländischen Hauptstädten. Sie bildete ein geheimes, freimaurerartig verschworenes Netz, das die gewaltige Macht britischer Bankierkreise, Handelshäuser, Großindustrie und der Regierung zusammenhielt. Dieses Netz weihte gerne auch führende Persönlichkeiten anderer Nationen ein, die sich das zur Ehre anrechneten und nun willentlich oder unwillentlich gegen die Interessen ihrer Heimatländer zu arbeiten begannen. Da dieses Netz geheim blieb und hinter den Kulissen arbeitete, erzielte es einen gewaltigen Einfluß auf die leichtgläubige und arglose Wirtschaft und Politik des Auslandes.
Das eigentliche Geheimnis der britischen Vorherrschaft während dieser zu Unrecht »Freihandelsära« genannten Zeit nach 1846 stellt diese heimliche Ehe zwischen den Mächtigen der Wirtschaft, der Regierung und der Geheimdienste dar.
Der Übergang Großbritanniens zur Freihandelspolitik löste Mitte des 19. Jahrhunderts eine Finanzpanik und anschließend eine langanhaltende wirtschaftliche Depression aus. Die Freihändler hatten darauf gebaut, ihren Einfluß und die britische Vorherrschaft mit Hilfe politischer Bewegungen wie etwa der Sozialdemokratie in allen Handelsnationen der Welt durchsetzen zu können. Sie hatten die Gleichschaltung aber nicht so rasch und zur vollen Befriedigung bewerkstelligen können.
Nach der ernsten Londoner Bankenpanik von 1857 beschloß das Establishment der City eine ungewöhnliche Maßnahme, um zu verhindern, daß künftig wieder einmal das Währungsgold von Londoner Banken abgezogen werden konnte. Damals hatte sich nämlich das Ausland auf die Goldreserven der Bank von England gestürzt und so den Bankguthaben in England die Deckung entzogen. Die Gegenmaßnahme, wozu die englischen Behörden damals Zuflucht nahmen, schuf einen unheilvollen Präzedenzfall für die Politik der Zentralbanken.
Die Bank von England war eine private Einrichtung, die nicht von der Regierung, sondern von privaten Finanzinteressen der City gelenkt wurde. Letztere waren auf einen einfachen Mechanismus aufmerksam geworden: Man brauchte nur den Diskontsatz im Verhältnis zu dem der Zentralbanken anderer Staaten erhöhen, und schon konnte man aus Berlin, New York, Paris oder Moskau Gelder anziehen. Damit ließ sich verhindern, daß mit den dort vorhandenen Kapitaleinlagen Goldreserven aus der Bank von England abgerufen wurden.
Die Zinspolitik wurde damit zu einer mächtigen Waffe im Zentralbankwesen. Hierbei hatte die Bank von England ihren Rivalen gegenüber einen entscheidenden Vorteil: Sie konnte in Kauf nehmen, daß die überhöhten Wucherzinsen verheerende Folgen für die britische Industrie oder Landwirtschaft nach sich zogen. Denn Industrie und Landwirtschaft bestimmten nicht mehr ihre Wirtschaftsmacht und ihre Wirtschaftspolitik. Nach der Abschaffung der Korngesetze 1846 hielten die internationalen Banken und Handelshäuser die Wirtschaftsmacht Großbritanniens in Händen. Die Handelsherren und Bankiers scheuten sich nicht, um ihrer Vorrangstellung auf den Weltmärkten willen die heimische Industrie zu knebeln und ihr den Zufluß von Geldern für weitere Investitionen abzugraben. Das gleiche wiederholt sich seit der Ermordung Präsident Kennedys in den USA.
Die Hochzinspolitik der Bank von England behinderte produktive Investitionen und bewirkte folgerichtig eine verheerende Depression. Die Depression setzte um 1873 ein und hielt bis 1896 an.
Ausgelöst wurde sie allerdings von den englischen Banken. Der riesige Berg an Auslandsschulden, der trotz hoher Zinsen für den Eisenbahnbau in Nord und Südamerika aufgetürmt worden war, stürzte in sich zusammen, weil sich die Zins- und Tilgungszahlungen nicht eintreiben ließen. Wertpapiere lösten sich über Nacht in Nichts auf. Zwischen 1873 und 1896 verfielen die Binnenpreise um ungefähr 50 Prozent. Dies löste eine Welle von Konkursen aus und trieb die Arbeitslosigkeit in schreckliche Höhen.
Der Mangel an investivem Kapital in den Manufakturen und bei der Industrie Großbritanniens zeichnete sich bereits auf der Weltausstellung von 1867 ab. Damals warteten viele Länder, vor allem aber Deutschland, mit völlig neuen Erzeugnissen hoher Qualität zu niedrigen Preisen auf. Das sprunghaft weiterentwickelte, produktivere Maschinenwesen hatte dies möglich gemacht. Sogar Tuche und Textilien aus Deutschland und anderen Ländern übertrafen die berühmten britischen Waren.
Britische Manufakturen, die noch 20 Jahre vorher die Weltspitze angeführt hatten, segelten nun in der Kiellinie anderer, weil sie die technologische Entwicklung verpaßt hatten. Als natürliche Folge sank auch der britische Export an Stahl, Kohle, Tuch und anderen Industrieprodukten. Die britische Wirtschaft und mit ihr die britische Politik trieb, seit die Freihandelsdoktrin den Schwerpunkt des Wirtschaftens von Produktion und Entwicklung in Richtung Handel und Finanzen verlagert hatte, auf einen Wendepunkt zu. Das zeichnete sich schon 30 Jahre nach Abschaffung der Korngesetze deutlich ab. Die britische Finanzwelt zog daraus ihre Konsequenzen – allerdings andere, als man gemeinhin hätte erwarten sollen. Wenn produktive Spitzenleistungen ihrer Vormachtstellung nicht mehr dienen konnten, mußte man sich eben anderer Machtmittel bedienen.
Jedenfalls war die Zeit vorbei, da Großbritannien den Reigen der Industrieländer der Welt anführte. Das Freihandelsdogma des 19. Jahrhunderts und die damit einhergehenden malthusianischen Ideen hatten sich verhängnisvoll ausgewirkt. Die Anstrengungen, womit das Britische Empire zu verhindern suchte, daß sich irgendwo in der Welt andere Nationen industrialisierten und wirtschaftlich entwickelten, hatten England knapp ein Vierteljahrhundert nach Abschaffung der Korngesetze in die tiefste und längste Wirtschaftsdepression seiner Geschichte gestürzt.
Nach der Krise von 1873 fiel es schwer, das inzwischen überall als »Englische Krankheit« verschriene »kosmopolitische Wirtschaftsmodell« Adam Smiths zu verbreiten. Es gab erfolgreichere Vorbilder. Dazu gehörte zum Beispiel Deutschland. Es hatte sich mit Hilfe einer rigorosen Schutzzollpolitik vom Agrarland zum auffälligsten Industrieland der Welt gemausert und wies die höchsten Wachstumsraten unter den damaligen Industrienationen auf. 3› Hinweis
Vor diesem Hintergrund sah sich die britische Elite zu der Diskussion genötigt, wie sie ihr Empire und ihre Macht in der sich rasch verändernden Welt weiterhin aufrechterhalten konnte. In dieser Diskussion kristallisierte sich seit 1882 immer deutlicher die Ölwaffe als Machtmittel und Instrument britischer Vorherrschaft heraus.
2.KAPITEL
Auf Konfrontationskurs
Seit 1873 beobachtete die Welt den wirtschaftlichen Niedergang des Britischen Empire und den Aufstieg anderer Industrienationen in Europa, allen voran des Deutschen Reichs. Diese Dynamik drängte 1914 zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Schon damals spielte Erdöl eine bedeutende Rolle in diesem Konflikt, wenn auch nur wenige Personen außerhalb einer kleinen Elite von Bankiers in London und New York sich dessen bewußt waren.
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts deutete sich an, daß britische Kreise die eindrucksvolle industrielle Entwicklung in Deutschland beunruhigte. Das betraf vor allem zwei Bereiche. Zunächst bedrohte der Aufbau einer unabhängigen, modernen deutschen Handels- und Kriegsflotte die uneingeschränkte britische Seeherrschaft. Dann gab es das ehrgeizige deutsche Vorhaben, eine Eisenbahnlinie von Berlin bis Bagdad quer durch das Osmanische Reich zu bauen.
In beiden Fällen, beim Ausbau der Flotte wie der Eisenbahn, spielte das Öl für beide Parteien eine entscheidende Rolle, wenn dies auch nicht allen Beteiligten bewußt war. Der deutsche Flottenausbau und der Bau der Bagdad-Bahn ließen um die vorletzte Jahrhundertwende einen Krieg in den Augen der angelsächsischen Elite zwingend notwendig erscheinen. In den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts überflügelte die sich rasch entwickelnde Industrie und Landwirtschaft Deutschlands die Großbritanniens hinsichtlich Leistungsfähigkeit, Qualität sowie Tempo und Umfang ihrer jährlichen Zuwachsraten. Die Vereinigten Staaten konzentrierten sich nach dem Bürgerkrieg weitgehend auf den Ausbau ihrer Binnenwirtschaft. Daher sah man in Großbritannien vor allem im industriellen Aufstieg Deutschlands die vorrangige »Bedrohung« der weltweiten Vormachtstellung des Britischen Empire.
In den 1870er Jahren zeigten die Wirtschaftsreformen Friedrich Lists, die mit der Gründung des Zollvereins 1834 eingesetzt hatten, bemerkenswerte Resultate. Sie hatten den Ausbau eines nationalen Eisenbahnsystems vorangetrieben und die sich entwickelnde Industrie durch »Erziehungszölle« geschützt. Diese Schutzzölle hielten in der Aufbauphase eines Industriezweiges die ausländische Konkurrenz nieder, ließen sie aber mit dem Erstarken des Industriezweiges schrittweise immer mehr zu. Die politische Einheit des Deutschen Reiches nach 1871 beschleunigte seinen wirtschaftlichen Aufstieg.
Noch bis Mitte des 19. Jahrhunderts hatte sich Deutschland weitgehend an dem scheinbar erfolgreichen britischen Wirtschaftsmodell orientiert. Die Freihandelsdoktrin britischer Ökonomen galten den Großagrariern im Osten wie den deutschen Professoren als eine Art »geheiligtes Evangelium«.
Nachdem aber die englische Wirtschaft in den 1870er Jahren in eine langanhaltende Depression gerutscht war, die bald auf Österreich und Deutschland übergriff, kamen Zweifel auf. Man begann in Deutschland immer deutlicher zu verstehen, welch katastrophale Lage ein weiteres Festhalten am »britischen Modell« heraufbeschwor. Das führte zu einer wirtschaftsstrategischen Wende. Und die brachte spürbaren Erfolg.
Von 1850 bis zum Vorabend des Ersten Weltkrieges 1913 hatte sich das deutsche Inlandsprodukt verfünffacht. Die Produktionsleistung pro Kopf wuchs in der gleichen Zeit um 250 Prozent. Die Bevölkerung erlebte einen kontinuierlichen Anstieg ihres Lebensstandards. Das Realeinkommen der Industriearbeiter verdoppelte sich in der Zeit von 1871 bis 1913.
Motor der deutschen industriellen Revolution war die rasante technische Entwicklung. In Deutschland entstanden nach dem Vorbild der französischen Ecole Polytechnique zahlreiche technische Hochschulen und Lehranstalten zur Ausbildung qualifizierter Wissenschaftler und Ingenieure für die Industrie. Die Industrie- und Handelskammern regten zudem die Einrichtung von Handelshochschulen an, in denen qualifizierte Unternehmer herangebildet werden sollten. An den deutschen Universitäten fand der naturwissenschaftliche Unterricht immer mehr das Interesse neuer Studentengenerationen. Das deutsche Ingenieurwesen und die Naturwissenschaften blühten auf.
Noch 1870 war die britische Großindustrie ihrer jüngeren deutschen Konkurrenz weit überlegen. Doch ihr Vorteil sollte in den folgenden Jahrzehnten rasch dahinschwinden. Kohle war bis zum Kriegsausbruch 1914 der Brennstoff für Industrie und Transportwesen. 1890 förderte Deutschland 88 Millionen Tonnen Kohle, Großbritannien hingegen mit 182 Millionen Tonnen mehr als das Doppelte. Aber schon 1910 war die Kohleproduktion in Deutschland auf 219 Millionen Tonnen gestiegen. Großbritannien hielt mit seinen 264 Millionen Jahrestonnen nur noch einen knappen Vorsprung.
Im Mittelpunkt der deutschen Wirtschaftsentwicklung stand die Stahlerzeugung, gefolgt vom Aufbau der Elektrizitätswirtschaft und der chemischen Industrie. Die Erfindung einer neuen Verhüttungsmethode durch Gilchrist Thomas, die das stark phosphorhaltige Eisenerz Lothringens verwertbar machte, ließ die Stahlproduktion in Deutschland zwischen 1880 und 1900 um 1000 Prozent ansteigen. Dadurch geriet die britische Stahlproduktion erheblich ins Hintertreffen. 1890 produzierte Großbritannien 7,9 Millionen Tonnen Roheisen, Deutschland lediglich 4,6 Millionen Tonnen. 1910 überrundete Deutschland mit 14,6 Millionen Tonnen die britische Roheisenproduktion, die bei knapp 10 Millionen Tonnen lag. Zu dieser Zeit sanken die Herstellungskosten für Stahl in Deutschland auf zehn Prozent der Kosten von 1860. 1913 schmolzen deutsche Gießereien fast die doppelte Menge Roheisen ein wie ihre britischen Konkurrenten. 4› Hinweis
Die »Lokomotive« des ersten deutschen Wirtschaftswunders war der Ausbau eines flächendeckenden Eisenbahnnetzes. Es bewältigte leicht und kostengünstig den Transport der rasch wachsenden Menge industrieller Güter. Nach einigem Vorgeplänkel begann der Ausbau des Eisenbahnnetzes zwischen 1840 und 1850. Er folgte weitgehend dem Plan, den Friedrich List für den Deutschen Zollverein entwickelt hatte. Mit staatlichen Geldern wurde die Länge des Streckennetzes zwischen 1870 bis 1913 noch einmal verdoppelt.
Die Stromerzeugung verbesserte sich in wenigen Jahren und wurde immer effektiver. Oskar von Miller entwickelte ein leistungsfähiges Versorgungsnetz, das immer größere Entfernungen bewältigte. Unter diesen Voraussetzungen entwickelte sich die deutsche Elektroindustrie. Sie hatte 1895 nur 26000 Personen beschäftigt, 1913 stammte die Hälfte aller auf dem Weltmarkt gehandelten Elektroerzeugnisse aus Deutschland. Die Beiträge vieler großer Forscher sorgten auch für einen Aufschwung der deutschen chemischen Industrie. Sie überrundete bald die chemische Industrie Frankreichs und Großbritanniens. Mit der Produktion von Anilinfarben aus Steinkohlenteer, von Pharmazeutika und Düngemitteln arbeitete sie sich auf den ersten Platz in der Welt vor.
Nachdem Justus Liebig und andere die wissenschaftliche Grundlage für die Agrochemie gelegt hatten, stieg auch in der deutschen Landwirtschaft die Produktivität steil an. Noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts war es immer wieder zu Mißernten und Hungersnöten gekommen. Dann mußte Getreide aus Rußland oder sogar aus Argentinien importiert werden. Selbst in den 1890er Jahren sah sich Deutschland noch gezwungen, Schutzzölle einzuführen, um seine Landwirtschaft und ihre Fähigkeit, die Bevölkerung aus eigenen Mitteln ernähren zu können, vor Billigeinfuhren zu schützen. Vermehrte Mineraldüngung ließ dann trotz der meist minderwertigen und sandigen Böden die Ernteerträge steigen. Zur Zeit des Ersten Weltkrieges erntete man 80 Prozent mehr Getreide als vor 1887, denn in diesem Jahr wurden zum ersten Mal in größerem Maßstab Düngemittel eingesetzt. Im Unterschied zu Deutschland wurden zum Beispiel in Rußland auf drei Millionen Morgen mehr Ackerland 19 Millionen Tonnen Getreide weniger geerntet.
Auch die Mechanisierung der Landwirtschaft leistete dazu einen bedeutenden Beitrag. Die Anzahl der eingesetzten Erntemaschinen stieg von 20000 im Jahre 1882 auf etwa 300000 im Jahre 1907. Bei Fleisch konnte sich Deutschland 1913 zu 95 Prozent selbst versorgen, obwohl sich der Fleischverbrauch pro Kopf seit 1870 verdoppelt hatte. Dagegen mußte 1913 Großbritannien 45 Prozent seines Fleischbedarfs importieren.
In dem Maße, wie sich Industrie und Landwirtschaft entwickelten, nahm die Auswanderung aus Deutschland ab. Dafür wuchs die Bevölkerung seit Ende des 19. Jahrhunderts stetig an. Zwischen 1870 und 1914 vermehrte sie sich um 27 Millionen auf insgesamt 67 Millionen Menschen. Zwischen Großindustrie und Banken bildete sich in Deutschland eine Art Symbiose. Daraus entstand das sogenannte »Industriebanken-« oder »Großbankenmodell«. Vielfach sprach man auch einfach vom »deutschen Modell«, wenn Großbanken Anteile an großen Industrieunternehmen besaßen, während die Bankaktien in den Händen der Industriellen lagen. 5› Hinweis
Die rasche industrielle und wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands in den Gründerjahren kann man getrost das erste deutsche Wirtschaftswunder nennen. Das Wirtschaftswunder, das nach dem Zusammenbruch um 1950 einsetzte, baute weitgehend auf den Konzepten und den wirtschaftlichen Grundlagen auf, die damals, zwischen 1870 und 1914, gelegt worden waren.
Ausgerechnet eine Bankenpanik verursachte die zweite Ausbauphase der deutschen Wirtschaft und führte zu dem nationalen Sonderweg der deutschen Wirtschaftspolitik. 1890 stand die renommierte Londoner Handelbank Baring Brothers am Rande des Konkurses. Die Bank hatte sich bei Spekulationsgeschäften in Argentinien übernommen und mußte hohe Verluste hinnehmen. Auch deutsche Banken hatten sich an der argentinischen Spekulation beteiligt. Das gewagte Spiel mißglückte, die wankenden Finanzkartenhäuser stürzten ein und trafen die Berliner Banken empfindlich.
Deutsche Anleger hatten sich den Verlockungen der internationalen Eisenbahnspekulation der 1880er Jahre nicht entziehen wollen. Das Geschäft florierte zunächst, geriet aber, als man so richtig zu verdienen glaubte, plötzlich ins Stocken. Als das große Vorbild, das Bankhaus Baring Brothers, auf argentinischen Anleihen im Wert von mehr als 75 Millionen Dollar (damals eine riesige Summe) sitzen blieb, platzten die Illusionen vieler Deutscher über die Wunderkraft der Finanzspekulation.
Der Berliner Getreidegroßhändler Ritter & Blumenthal wollte die finanzielle Unsicherheit in Argentinien, damals eines der wichtigsten Weizenausfuhrländer, nutzen, um sich gesundzustoßen. Er versuchte zugleich, den gesamten deutschen Weizenmarkt zu übernehmen. Auch er hatte sich übernommen. Das heizte die Finanzpanik zusätzlich an. Es kam zum Bankrott der angesehenen Privatbank Hirschfeld & Wolf und zu hohen Verlusten der Rheinisch-Westfälischen Bank. Nun setzte ein allgemeiner Run auf die deutschen Banken ein und löste den Zusammenbruch der Berliner Börse aus, die sich davon bis zum Herbst 1891 nicht mehr erholte.
Um der Krise zu begegnen, ernannte Reichskanzler von Caprivi eine Untersuchungskommission von 28 bedeutenden Persönlichkeiten aus Industrie, Landwirtschaft, Wissenschaft, Politik und Finanzen. Den Vorsitz übernahm Reichsbankpräsident Dr. Richard Koch. Man wollte die Ursachen der Krise analysieren und Maßnahmen finden, um die Wiederholung eines derartigen Einbruchs an den Finanzmärkten zu verhindern. Die »britische« Fraktion der Arbeitsgruppe, die mit dem Sprecher Max Weber vehement für die Beibehaltung ungebremster Finanzspekulationen eintrat, unterlag.
Das Arbeitsergebnis der Kommission führte zu dem Börsen- und dem Depotgesetz, die der Reichstag zwischen Juni und Juli 1896 verabschiedete. Beide Gesetze wollten mit strengen Maßnahmen die Spekulation eindämmen und bekämpfen. Termingeschäfte mit Getreide wurden zum Beispiel verboten, und die Börsentätigkeit wurde restriktiven Regelungen unterstellt. Das hatte zur Folge, daß die Börsenspekulation im deutschen Wirtschaftsleben keine so maßgebliche Rolle mehr spielte, wie sie es heute noch in Großbritannien und in den USA tut.
Das Börsengesetz von 1896 krempelte das gesamte Finanz- und Bankwesen in Deutschland um. Die Spieler im Lande und auch aus den angelsächsischen Einflußzonen wurden von den Börsen an die Spielbanken verwiesen. Sie zogen sich aus den weniger lukrativen deutschen Märkten zurück. Mit ihnen schwand auch der Einfluß der Londoner City auf die deutsche Wirtschaftspolitik. Die Unterschiede in der Finanzpraxis zwischen dem anglo-amerikanischen Raum und dem »deutschen Modell«, das sich bald auch in Holland und Japan und mit Einschränkungen auch in der Schweiz durchsetzte, sind bis auf den heutigen Tag augenfällig. 6› Hinweis
Die britische Industrie- und Finanzpolitik legte nach 1873 keinen besonderen Wert auf den technologischen Fortschritt. Dagegen zielte die deutsche Wirtschaftspolitik genau in diese Richtung. Hier liegt der Grund für die Spannungen zwischen Deutschland und England. Sie kamen in zwei Bereichen zum Vorschein. Einer davon war der Aufstieg Deutschlands zur modernen Seemacht. Er bedrohte die jahrzehntelange britische Vorherrschaft auf den Weltmeeren.
Ohne eine eigene moderne Handelsflotte und eine Marine zu ihrer Verteidigung konnte Deutschland keine Exportwirtschaft betreiben. Solange England die Weltmeere uneingeschränkt beherrschte, konnte es ungestraft in das Wirtschaftsleben anderer Nationen eingreifen und lebenswichtige Aspekte des internationalen Handels manipulieren. Wie sollte man sich dagegen schützen? Um den Außenhandel gegen Eingriffe von außen und ungerechtfertigte Auflagen zu sichern, mußte eine eigene Flotte den Seeverkehr und das Anlegerecht deutscher Schiffe schützen können. Diese Erkenntnis setzte sich in immer breiteren Wirtschaftskreisen Deutschlands durch.
1870 umfaßte die gesamte Handelsflotte des Deutschen Reiches kaum 640000 Bruttoregistertonnen (BRT) und rangierte in der Welt hinter England, Amerika, Frankreich und Norwegen an fünfter Stelle. 1914 stand sie bereits an zweiter Stelle direkt nach England und wuchs kräftig weiter.
1870 waren deutsche Exporte nur mit den Schiffen und zu den Seefrachttarifen anderer Länder möglich. 1914 bot sich ein ganz anderes Bild. Schon 1901 fuhren 52000 Schiffe mit insgesamt neun Millionen BRT unter deutscher Flagge. 1909 war die Zahl auf 65000 Schiffe mit insgesamt 13 Millionen BRT angestiegen. Zu dieser Zeit wurden fast 70 Prozent des gesamten deutschen Außenhandels über See abgewickelt. Deshalb wurde die Kontrolle über die Seeschiffahrt für die deutsche Außenwirtschaft immer lebenswichtiger. Der britischen Finanzwelt und Politik war dies natürlich alles andere als willkommen.
Die Stahlherstellung und der Maschinenbau Deutschlands stellten sich mehr und mehr auf den Schiffsbau ein. Die Handelsflotte stieg bald vom Segelschiff auf das Dampfschiff um. An die Stelle der eisenverstärkten Schiffskörper traten rein stählerne. Das machte die deutsche Handelsflotte leistungsfähiger und schneller. 1891 zählte die deutsche Handelsflotte nur drei Dampfschiffe mit rund 7000 BRT. 1914 fuhren unter deutscher Flagge fünf Dampfschiffe mit mehr als 20000 BRT, neun mit 15000 bis 20000 BRT und 66 mit 7000 bis 10000 BRT.
Während dieser Zeit dehnte sich die deutsche Seeschiffahrt mit außergewöhnlicher Schnelligkeit und Effizienz aus. 1914 verschifften die Hamburg-Amerika-Linie (Hapag) und der Norddeutsche Lloyd etwa 40 Prozent der gesamten deutschen Seefracht. Das Geheimnis dieser spektakulären Entwicklung lag in der Organisation der Warenabfertigung und im Einsatz modernster, großer und schneller Schiffe.
Ein französischer Beobachter jener Tage beschrieb die Erfolge der deutschen Handelsflotte so: »Diese Art der Konzentration macht die schnelle Amortisierung von Kapital, das ›Ausrangieren‹ alter Schiffe und eine fortwährende Erneuerung der schwimmenden Anlagen möglich. Man findet in der deutschen Handelsflotte keine Schiffe, die älter als 30 oder 40 Jahre sind. Was die deutsche Industrie, genauer gesagt die Metallurgie, Elektrotechnik etc., durch standardisierte Herstellungsverfahren erreicht, leistet der deutsche Handel durch die Häufigkeit und Regelmäßigkeit der Schiffsfahrten.« Er fügt hinzu: »Wasdie Deutschen betrifft, so folgt die Einrichtung von Schiffahrtslinien nicht dem Handel, sondern geht diesem vorausund bringt ihn dadurch erst hervor.«7› Hinweis (Hervorhebung W. E.)
1888 traten Hamburg und später auch Bremen dem Deutschen Zollverein bei. Es dauerte nicht lange, und beider Städte Häfen wurden zu den modernsten, schnellsten und umschlagsgrößten Hafenanlagen ganz Europas. Die Eisenbahn lieferte die Güter aus ganz Nordeuropa auf den Kaianlagen an, von dort wurden sie aufs Schiff verladen und zu den Märkten der Welt weitertransportiert. Deutschland baute seine Schiffsrouten zügig aus und fuhr um 1900 alle wichtigen Häfen der Welt an. Damit drang es natürlich auch in die traditionellen britischen Marktmonopole und »Einflußsphären« wie Ägypten oder Nord- und Südamerika vor.
Schon 1897, kaum ein Jahr nach dem Börsengesetz, kündigte Großadmiral von Tirpitz das erste deutsche Flottenbauprogramm an. Es wurde 1898 vom Reichstag gebilligt. 1900 folgte ein zweites Flottenbaugesetz, das den vorgesehenen Bau von Kriegsschiffen verdoppelte.
1906 lief mit der Dreadnaught in England eine neue Klasse von Schlachtschiffen vom Stapel, die schneller war und größere Feuerkraft besaß als jedes andere damalige Kriegsschiff. Als Reaktion darauf wurde in Deutschland im gleichen Jahr ein wenig beachtetes Gesetz verabschiedet. Es bestimmte, daß die deutsche Hochseeflotte alle 20 Jahre erneuert werden müsse. 1909 liefen zum Erstaunen der Briten vier Schiffe der deutschen Nassau – Klasse vom Stapel, die der Dreadnaught überlegen waren. Bald konstruierten britische Schiffsbauer eine »Super«-Dreadnought. Ihr setzten deutsche Konstrukteure wieder Ebenbürtiges entgegen. In Großbritannien hatte niemand ernsthaft damit gerechnet, daß Deutschland eine so moderne Flotte auf eigenen Werften in einer derart kurzen Zeit bauen könnte.
1951 äußerte sich Sir Llewellyn Woodward in einer Vorlesung an der Universität Oxford zu den Ursachen des Ersten Weltkriegs. Er sagte: »Deutschland besaß natürlich wie jede andere Macht die Freiheit, sich eine beliebig große Flotte zu bauen. Das war eine Frage der Zweckmäßigkeit und der realistischen Einschätzung. Eine deutsche Kriegsflotte konnte aber nichts anderes als eine Herausforderung andie herrschende Seemacht Großbritannien bedeuten.«8› Hinweis (Hervorhebung W.E.)
Um 1910 war sich die englische Elite einig, daß man zu drastischen Maßnahmen würde greifen müssen, wollte man den bedrohlichen wirtschaftlichen Aufschwung der Deutschen zurückstutzen. Dabei trat, wie wir gleich sehen werden, zum ersten Mal neben Krieg auch das Öl als entscheidender geopolitischer Machtfaktor in Erscheinung.
3. KAPITEL
Die Welt im Krieg ums Öl
Noch 1882 hatte der schwere schwarze Schlamm, der heute Erdöl genannt wird, außer als Brennstoff für jene neuartigen Öllampen, die der deutsche Lampenfabrikant Stohwasser 1853 entwickelt hatte, eine geringe wirtschaftliche Bedeutung. Zunächst hieß der neue Stoff Petroleum, d. h. »Felsenöl«, weil er in einigen Gebieten wie z. B. in Titusville (Pennsylvania) oder in Baku zwischen den Steinen herausgesickert war. Um Petroleum zu vermarkten, gründete John D. Rockefeller 1870 die Standard Oil Co. Er dachte an Lampenöl und verschiedene medizinische und quacksalberische Präparate aus Erdöl. An die Verwendung im Verbrennungsmotor dachte damals noch niemand.
Aber ein Mann verstand die militärstrategische Bedeutung des Erdöls als Mittel zur künftigen Kontrolle über die Weltmeere. Erstmals im September 1882 setzte sich Admiral Lord Fisher, damals noch Captain Fisher, in einer öffentlichen Rede dafür ein, daß Großbritannien seine Kriegsflotte von der umständlichen Kohlefeuerung auf den neuen Brennstoff Öl umstellen solle. Zwar verfeuerten schon seit etwa 1870 russische Dampfschiffe auf dem Kaspischen Meer schweres Heizöl, das die Russen »Masut« nannten. Aber das war eine wenig beachtete Ausnahme, als John Fisher und einige wenige weitsichtige Individuen begannen, sich für die Einführung des neuen Treibstoffes einzusetzen. Sie waren davon überzeugt, daß Öl als Treibstoff Großbritannien einen entscheidenden strategischen Vorteil verschaffen würde, um auch in Zukunft die Kontrolle über die Meere zu behalten.
Fisher konnte noch nicht an den Dieselmotor denken. Der mußte erst noch erfunden werden. Fisher wollte nur schweres Heizöl statt Kohle unter dem Dampfkessel verfeuern. Seine Auffassung war wohlbegründet. Ein Schlachtschiff, das mit Heizöl betrieben wurde, zog keine verräterische Rauchwolke hinter sich her. Ein kohlebefeuertes Schiff konnte man schon bis auf zehn Kilometer Entfernung an seiner Qualmwolke erkennen. Zwölf Mann konnten an einem halben Tag ein Schlachtschiff mit Öl auftanken. Um die entsprechende Menge Kohle zu verladen, hätten sie ununterbrochen zehn Tage lang arbeiten müssen.
Mit der späteren Erfindung des Dieselmotors kamen weitere entscheidende Vorteile hinzu. Benötigte ein kohlebefeuerter Schiffsmotor vier bis neun Stunden, um auf volle Touren zu kommen, so brauchte ein Ölverbrennungsmotor dazu weniger als 30 Minuten. Er konnte unter Umständen sogar innerhalb von fünf Minuten auf seine Spitzenleistung gebracht werden. Ein Ölmotor mit der gleichen Antriebsleistung wie eine kohlebefeuerte Schiffsdampfmaschine wog lediglich ein Drittel und verbrauchte überdies nur ein Viertel der Brennstoffmenge. Entsprechend war der Aktionsradius einer ölbetriebenen Flotte viermal so groß wie der einer Flotte mit Kohlefeuerung. Dies waren entscheidende Vorteile, die nicht nur für die Kriegs-, sondern auch für die Handelsmarine zählten. 9› Hinweis
Diese Einsicht setzte sich aber damals noch nicht durch, und so galt John Fisher vielen seiner Zeitgenossen zunächst noch als exzentrischer Visionär.
1883 hatte dann der deutsche Ingenieur Gottlieb Daimler seinen ersten schnellaufenden Benzinmotor entwickelt. Er baute ihn in ein Automobil ein. Bis zur Jahrhundertwende galt das Automobil noch als Spielzeug vermögender Schichten, aber man begann allmählich auch außerhalb des Kreises um Captain Fisher die wirtschaftliche Bedeutung des Erdöls zu erahnen. 1893 begann Diesel mit der Entwicklung des nach ihm benannten Motors, der, sobald er ausgereift war, auch als Schiffsmotor verwendet werden konnte.
Bis 1914 waren nur wenige Schiffe der englischen Marine und keines der deutschen von Kohle- auf Ölfeuerung umgestellt worden. Trotzdem stand fest: Die Zukunft des Öls war angebrochen. Um 1904 jedenfalls hatten der britische Geheimdienst und die britische Regierung die strategische Bedeutung des neuen Brennstoffs begriffen und Fisher zu ihrem Admiral befördert. Das Problem für Großbritannien war nur, daß es keine eigenen Ölvorkommen besaß. Es war von Öllieferungen aus Amerika, Rußland oder Mexiko abhängig. Dieser Zustand war schon in Friedenszeiten schwer zu ertragen, aber schon gar nicht in einem Krieg.
Als nun Captain Fisher zum obersten Befehlshaber der britischen Kriegsflotte ernannt worden war, setzte er als eine der ersten Amtshandlungen einen Ausschuß ein, der »Vorschläge erarbeiten« sollte, »wie die Ölversorgung für die britische Kriegsflotte sichergestellt werden könne«.