Nicolas Sparks
Mit dir an meiner Seite
Roman
Aus dem Amerikanischenvon Adelheid Zöfel
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Die Originalausgabe erschien unter dem Titel The Last Song bei Grand Central Publishing/Hachette Book Group USA, New York
Copyright © 2009 by Nicholas Sparks
Copyright © 2010 der deutschen Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Covergestaltung: UNO Werbeagentur GmbH
Covermotiv: zero-media.net, München, Composing aus mehreren Motiven von FinePic®, München
Herstellung: Helga Schörnig
ISBN 978-3-641-04493-0
V004
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www.randomhouse.de
Für Theresa Park und Greg Irikura,meine Freunde
PROLOG
Ronnie
Durchs Schlafzimmerfenster schaute sie hinaus auf die Wellen, die sich am Strand brachen. Ob Pastor Harris schon in der Kirche war?, fragte sie sich. Wahrscheinlich ja. Und ob er wohl bemerkte, was für wunderschöne Lichteffekte die durchs Buntglasfenster fallenden Sonnenstrahlen hervorriefen? Es war über einen Monat her, dass das Fenster eingesetzt worden war. Bestimmt war der Pastor viel zu beschäftigt, um darauf zu achten. Aber Ronnie hoffte, dass vielleicht irgendein Fremder heute Morgen die Kirche betrat und ergriffen innehielt, so wie sie selbst an jenem kalten Novembertag, als sie zum ersten Mal das herrliche Licht in den Kirchenraum fluten sah. Vielleicht nahm sich dieser Besucher auch ein wenig Zeit, um darüber nachzudenken, woher das Fenster stammte. Und um seine überwältigende Schönheit zu bewundern.
Ronnie war schon seit einer Stunde wach, konnte sich aber nicht aufraffen, den Tag zu beginnen. Die Feiertage fühlten sich dieses Jahr anders an als sonst. Gestern hatte sie mit Jonah, ihrem kleinen Bruder, einen Strandspaziergang gemacht. Auf den Veranden der Häuser, an denen sie unterwegs vorbeikamen, standen vereinzelt festlich geschmückte Weihnachtsbäume. Jetzt im Winter hatten sie und ihr Bruder den Strand mehr oder weniger für sich, aber Jonah interessierte sich weder für die Wellen noch für die Möwen, die er vor wenigen Monaten noch absolut faszinierend gefunden hatte. Stattdessen wollte er lieber in die Werkstatt. Ronnie hatte ihn natürlich hingebracht, aber auch da blieb er nur ein paar Minuten, dann ging er schon wieder, ohne ein Wort zu sagen.
Auf Ronnies Nachttisch lag ein Stapel mit gerahmten Fotos aus dem Wohnzimmer des kleinen Strandhauses. Außerdem noch ein paar andere Sachen, die sie heute in aller Frühe geholt hatte. Gedankenverloren starrte sie darauf, wurde dann aber von einem Klopfen unterbrochen. Ihre Mom steckte den Kopf zur Tür herein.
»Möchtest du frühstücken? Ich habe im Küchenschrank eine Packung Cornflakes gefunden.«
»Ich habe keinen Hunger, Mom.«
»Aber du musst etwas essen, Schätzchen.«
Ronnie konnte den Blick nicht von dem Stapel mit den Fotos abwenden, nahm sie aber gleichzeitig gar nicht richtig wahr. »Ich habe so vieles falsch gemacht, Mom. Und jetzt weiß ich nicht, was ich tun soll.«
»Du meinst, wegen Dad?«
»Ja, und überhaupt.«
»Möchtest du darüber reden?«
Als Ronnie nicht antwortete, setzte sich ihre Mutter zu ihr auf die Bettkante.
»Manchmal hilft es, wenn man es ausspricht. Du warst die letzten Tage immer so still.«
Einen Moment lang fühlte sich Ronnie von der Last der vielen Erinnerungen fast erdrückt: das Feuer und der Wiederaufbau der Kirche, das Buntglasfenster, die Komposition, die sie doch noch abgeschlossen hatte. Sie dachte an Blaze, an Scott, an Marcus. Sie dachte an Will. Sie war jetzt achtzehn, und ihre Gedanken wanderten zurück zum letzten Sommer, dem Sommer, in dem sie betrogen und verhaftet worden war. Dem Sommer, in dem sie sich verliebt hatte. Es war alles noch gar nicht lange her, aber manchmal hatte sie das Gefühl, als wäre sie inzwischen ein ganz anderer Mensch.
Ronnie seufzte. »Was macht Jonah?«
»Er ist nicht hier. Brian ist mit ihm Schuhe kaufen gegangen. Jonah ist wie ein kleiner Hund. Seine Füße wachsen schneller als der Rest.«
Ronnie lächelte, aber ihr Lächeln verschwand genauso schnell wieder, wie es gekommen war. Sie schwieg und ließ es willig über sich ergehen, dass Mom ihre langen Haare zu einem lockeren Pferdeschwanz zusammennahm. Das tat sie oft – seit Ronnie ein kleines Mädchen war, und komischerweise fand sie es sehr tröstlich. Was sie natürlich nie zugegeben hätte.
»Ich mache dir einen Vorschlag«, fuhr ihre Mutter fort, ging zum Schrank und stellte den Koffer aufs Bett. »Erzähl mir was vom Sommer, während du deine Sachen packst.«
»Ich weiß doch gar nicht, womit ich anfangen soll.«
»Wie wär’s, wenn du einfach vorne beginnst? Jonah hat etwas von Schildkröten gesagt.«
Ronnie verschränkte die Arme vor der Brust. Nein, ihre Geschichte begann nicht mit den Schildkröten. »So ganz stimmt das nicht«, murmelte sie. »Ich war zwar nicht dabei, als es passiert ist, aber ich glaube, eigentlich hat das Ganze mit dem Brand angefangen.«
»Mit welchem Brand?«
Zwischen den gerahmten Fotos steckte auch ein alter Zeitungsartikel, den Ronnie herauszog und ihrer Mutter reichte.
»Den Brand hier meine ich«, sagte sie. »Das Feuer in der Kirche.«
Verbotene Feuerwerkskörper vermutlich Ursache für Kirchenbrand Pastor verletzt
Wrightsville Beach, North Carolina. – Ein Feuer zerstörte am Silvesterabend die historische Baptistenkirche. Als Ursache vermuten die Behörden verbotene Feuerwerkskörper.
Die Feuerwehr wurde von einem anonymen Anrufer kurz nach Mitternacht alarmiert und zu der Kirche am Strand gerufen. Dort schlugen aus dem hinteren Teil des Gebäudes bereits hohe Flammen, und dichter Rauch drang ihnen entgegen, wie Tim Ryan, Leiter der Feuerwehr von Wrightsville Beach, berichtete. Die Überreste einer Feuerwerksrakete wurden als Brandursache identifiziert.
Pastor Charlie Harris befand sich zu dem Zeitpunkt, als das Feuer ausbrach, in der Kirche. Er erlitt an Armen und Händen Verbrennungen zweiten Grades. Deshalb wurde er in das Krankenhaus in New Hanover transportiert und liegt derzeit noch auf der Intensivstation.
Es war bereits der zweite Kirchenbrand in zwei Monaten im Bezirk New Hanover. Im November war die Good Hope Convenant Church bis auf das Fundament niedergebrannt. »Die Ermittler haben noch immer den Verdacht, dass es sich um Brandstiftung handelt, und gehen der Sache weiter nach«, sagte Ryan.
Augenzeugen berichten, sie hätten gesehen, wie etwa zwanzig Minuten vor dem Brand auf dem Strandstück hinter der Kirche Feuerwerkskörper gezündet wurden, vermutlich im Zusammenhang mit Silvester. »Feuerwerksraketen sind im Staat North Carolina verboten, und angesichts der langen Dürreperiode ist ihre Wirkung besonders gefährlich«, warnte Ryan. »Das Feuer ist der Beweis dafür. Ein Mann liegt im Krankenhaus, und die Kirche ist zerstört.«
Nachdem Mom den Artikel gelesen hatte, schaute sie ihre Tochter fragend an. Ronnie zögerte einen Moment, seufzte dann tief und begann eine Geschichte zu erzählen, deren tieferen Sinn sie immer noch nicht ganz erfasste.
KAPITEL 1
Ronnie
Ronnie saß schlecht gelaunt auf dem Beifahrersitz und fragte sich, warum ihre Eltern sie so hassten.
Wieso sollten sie ihre Tochter sonst zwingen, ihren Vater in diesem gottverlassenen Kaff in den Südstaaten zu besuchen? Tausendmal lieber wäre Ronnie zu Hause in Manhattan geblieben und hätte sich mit ihren Freundinnen amüsiert.
Eigentlich war alles sogar noch viel schlimmer. Sie musste ihren Vater nicht einfach besuchen. Ein Besuch würde bedeuten, dass sie nur ein Wochenende blieb. Oder zur Not auch eine ganze Woche. Das könnte sie ja noch verkraften. Aber sie war verpflichtet, bis Ende August bei ihm zu wohnen – also den ganzen Sommer. Wie sollte sie das überleben? Das war, wie wenn man in die Verbannung geschickt wurde, und während der neunstündigen Fahrt hierher hatte sie sich tatsächlich gefühlt wie eine Gefangene, die in eine Strafanstalt auf dem Land überführt wird. Sie konnte es nicht fassen, dass Mom ihr das tatsächlich zumutete.
Weil sie so in Selbstmitleid badete, dauerte es eine ganze Weile, bis sie Mozarts Klaviersonate Nummer 16 in C-Dur erkannte. Diese Sonate gehörte zu den Stücken, die sie vor vier Jahren bei ihrem Auftritt in der Carnegie Hall gespielt hatte. Offenbar hatte Mom die Musik aufgelegt, als Ronnie kurz eingedöst war. Nein, das ging nicht. Ronnie stellte die CD ab.
»Warum tust du das?«, fragte ihre Mutter irritiert. »Ich höre es gern, wie du spielst.«
»Ich nicht.«
»Und wenn ich es ganz leise drehe?«
»Bitte nicht, Mom. Okay? Ich bin nicht in der Stimmung.«
Verärgert starrte sie aus dem Fenster. Sie wusste ganz genau, dass der Mund ihrer Mutter jetzt aussah wie ein schmaler Strich. In letzter Zeit presste Mom oft die Lippen aufeinander. Als wären sie mit einem Magnet versehen.
»Ich glaube, ich habe einen Pelikan gesehen, als wir vorhin über die Brücke nach Wrightsville Beach gefahren sind«, bemerkte ihre Mutter beiläufig, aber sie klang sehr angespannt.
»Ach, wie schön! Vielleicht kannst du ja den Crocodile Hunter anrufen.« Jeder kannte die Fernsehserie des australischen Dokumentarfilmers und Naturschützers Steve Irwin.
»Er ist doch tot!«, rief Jonah vom Rücksitz. Seine Stimme vermischte sich mit dem Geklingel seines Gameboy. Ronnies zehnjähriger Bruder war eine schreckliche Nervensäge und konnte ohne dieses Ding nicht mehr leben. »Weißt du das nicht? Es war supertraurig!«
»Klar weiß ich das«, entgegnete Ronnie.
»Klang aber nicht so.«
»Stimmt trotzdem.«
»Dann hättest du nicht sagen dürfen, dass Mom ihn anrufen soll.«
Ronnie beschloss, diesmal nicht zu antworten. Ihr Bruder musste immer das letzte Wort haben. Das machte sie wahnsinnig.
»Hast du ein bisschen geschlafen?«, fragte ihre Mutter.
»Bis du durch das Schlagloch gefahren bist. Das war echt nett von dir, vielen Dank. Mein Kopf ist gegen die Windschutzscheibe gedonnert.«
Mom nahm den Blick nicht von der Straße. »Wie schön, dass du nach deinem kleinen Mittagsschlaf besserer Laune bist.«
Trotzig knallte Ronnie mit ihrem Kaugummi. Ihre Mutter hasste das, und genau deshalb tat Ronnie es immer wieder, seit sie die Interstate 95 entlangfuhren. Diese Straße war, nach ihrer unmaßgeblichen Meinung, so ziemlich die ödeste Strecke, die man sich denken konnte. Es sei denn, man liebte fettiges Fastfood, eklige Toiletten in blöden Raststätten und Millionen von Nadelbäumen. Jeden normalen Menschen schläferte diese Straße mit ihrer hässlichen Monotonie sofort ein.
Genau das hatte Ronnie in Delaware, in Maryland und in Virginia ihrer Mutter unter die Nase gerieben, aber Mom hatte die Kritik einfach ignoriert und stattdessen versucht, für gute Stimmung zu sorgen, weil sie sich ja nach dieser Fahrt eine ganze Weile lang nicht sehen würden. Sonst gehörte sie eigentlich nicht zu den Leuten, die Gespräche im Auto liebten. Sie fuhr nicht besonders gern, was nicht weiter überraschte, weil man in New York sowieso entweder die U-Bahn oder ein Taxi nahm, wenn man irgendwohin musste. Aber zu Hause redete Mom sehr viel und hatte auch keine Hemmungen, richtig loszuschimpfen. In den letzten beiden Monaten war der Hausverwalter zweimal nach oben gekommen, um sie und Ronnie zu bitten, sich etwas zu mäßigen. Mom dachte wahrscheinlich, je lauter sie zeterte, desto eher würde Ronnie auf sie hören – gleichgültig, ob es um ihre Schulnoten ging oder um ihre Freundinnen, um ihre Weigerung, sich an die vereinbarten Zeiten zu halten, oder um den Zwischenfall. Ihr Lieblingsthema war natürlich der berühmte Zwischenfall.
Okay, Mom war nicht die schlechteste aller Mütter. Wirklich nicht. Und wenn Ronnie großzügiger Laune war, dann gab sie sogar zu, dass ihre Mutter eigentlich ganz in Ordnung war – für eine Mutter. Sie war nur in dieser merkwürdigen Zeitschleife hängen geblieben, in der die Kinder niemals erwachsen wurden. Und Ronnie wünschte sich zum hundertsten Mal, sie wäre im Mai auf die Welt gekommen und nicht im August. Im August wurde sie nämlich achtzehn, und dann konnte Mom sie zu nichts mehr zwingen. Juristisch gesehen war sie dann alt genug, um ihre eigenen Entscheidungen zu treffen, und die Fahrt hierher stand, ehrlich gesagt, nicht auf ihrer Liste von Dingen, die sie freiwillig tun würde.
Aber unter den gegebenen Umständen hatte sie keine andere Wahl. Weil sie noch siebzehn war. Weil der Kalender ihr einen Streich spielte. Weil Mom drei Monate zu spät schwanger geworden war. Was ging hier ab? Wie sehr Ronnie auch wegen der Sommerpläne gebettelt und gejammert, gemeckert und gestöhnt hatte – alles vergebens. Ronnie und Jonah mussten den Sommer bei ihrem Vater verbringen, daran war nicht zu rütteln. Keine Widerrede, wie ihre Mutter so gern sagte. Ronnie hasste diesen Ausdruck.
Gleich hinter der Brücke hatten die unzähligen Touristen das allgemeine Tempo auf ein müdes Schleichen reduziert. Zwischen den Häusern sah Ronnie immer wieder den Atlantik schimmern. Na, super. Als würde sie das interessieren.
»Erklär’s mir bitte noch mal – warum müssen wir den Sommer über hierbleiben?«, maulte Ronnie.
»Das haben wir doch schon oft genug besprochen«, erwiderte ihre Mutter. »Ihr sollt eine Weile bei eurem Vater sein. Er vermisst euch.«
»Aber wieso die ganzen Ferien? Würden vierzehn Tage nicht reichen?«
»Nein, zwei Wochen bringen nichts. Du hast ihn drei Jahre lang nicht gesehen.«
»Aber das ist nicht meine Schuld. Er ist doch derjenige, der weggegangen ist.«
»Ja, aber du willst am Telefon nicht mit ihm reden. Und wenn er nach New York kommt, um dich und Jonah zu besuchen, dann ignorierst du ihn immer nur und ziehst mit deinen Freundinnen los.«
Ronnie knallte wieder mit ihrem Kaugummi. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie ihre Mutter zusammenzuckte.
»Ich will ihn aber auch jetzt nicht sehen. Und mit ihm reden will ich erst recht nicht«, verkündete Ronnie.
»Du musst versuchen, das Beste daraus zu machen, okay? Dein Vater ist ein netter Mensch, und er liebt euch beide sehr.«
»Ist er deswegen abgehauen?«
Statt zu antworten, schaute ihre Mutter in den Rückspiegel.
»Du freust dich auf die Ferien, stimmt’s, Jonah?«
»Klar. Das wird bestimmt cool hier.«
»Nur gut, dass du so denkst. Vielleicht kannst du deiner Schwester das noch beibringen.«
Jonah schnaubte verächtlich. »Ja, klar.«
Ronnie meldete sich wieder zu Wort. »Ich sehe einfach nicht ein, warum ich nicht den ganzen Sommer mit meinen Freundinnen rumhängen kann.« Sie war noch nicht bereit aufzugeben. Ihr war klar, dass ihre Chancen gleich null waren, aber irgendwie hoffte sie doch noch, sie könnte ihre Mutter überreden, einfach umzudrehen und zurückzufahren.
»Das heißt doch nur, du möchtest jeden Abend in die Disco oder in einen Club gehen, stimmt’s? Ich bin nicht naiv, Ronnie. Ich weiß, was da los ist.«
»Ich mache nichts Verbotenes, Mom!«
»Und was ist mit deinen Schulnoten? Und mit dem Heimkommen abends? Und -«
»Können wir das Thema wechseln?«, unterbrach Ronnie sie. »Ich möchte lieber darüber reden, warum es so unbedingt nötig ist, dass ich meinen Vater besuche.«
Darauf ging ihre Mutter nicht ein, und im Grunde wusste Ronnie ganz genau, warum. Sie hatte die Antwort auf diese Frage ja schon tausendmal gehört, konnte aber die Entscheidung einfach nicht akzeptieren.
Endlich begann der Verkehr wieder zu fließen – nach ein paar Hundert Metern war allerdings schon wieder Schluss. Mom kurbelte ihr Fenster herunter und versuchte, die Ursache zu ergründen.
»Keine Ahnung, was los ist«, murmelte sie. »Die Straße ist ganz verstopft.«
»Alle wollen an den Strand«, sagte Jonah belehrend. »Da gibt es doch immer einen Stau.«
»Aber sonntagnachmittags um drei dürfte nicht mehr so viel Betrieb sein.«
Ronnie schlug die Beine unter. Sie hasste die ganze Situation. Sie hasste das Leben.
»Hey, Mom!«, rief Jonah. »Weiß Dad überhaupt, dass Ronnie verhaftet worden ist?«
»Ja, klar weiß er das«, antwortete sie.
»Und – will er irgendwas deswegen machen?«
Diesmal antwortete Ronnie: »Dad macht überhaupt nichts. Ihn interessiert doch nur das Klavier.«
Ronnie hasste das Klavier und hatte sich geschworen, nie wieder zu spielen. Sogar ihre ältesten Freundinnen fanden diesen Entschluss seltsam, weil das Klavier eigentlich von Anfang an zu Ronnies Leben gehört hatte. Ihr Dad war früher Dozent an der Juilliard School of Music gewesen und hatte auch Ronnie unterrichtet, und lange Zeit war es für sie das Schönste auf der Welt gewesen, nicht nur Klavier zu spielen, sondern auch gemeinsam mit ihrem Vater zu komponieren.
Und sie war gut! Sehr gut sogar. Und da ihr Vater an der Juilliard School unterrichtete, hatten auch die Leitung und die anderen Professoren dort gemerkt, wie begabt Ronnie war. In den Kreisen ihres Vaters, in denen nur klassische Musik etwas zählte, hatte sich das schnell herumgesprochen. Das ging so weit, dass in verschiedenen Musikzeitschriften Artikel über Ronnie erschienen, dann brachte die New York Times ein längeres Feature über die musikalische Zusammenarbeit von Vater und Tochter, was schließlich dazu führte, dass Ronnie vor vier Jahren bei der renommierten Konzertreihe Young Performers in der Carnegie Hall auftreten durfte. Das war der Höhepunkt ihrer bisherigen Karriere gewesen, so viel stand fest. Und es war eine hohe Auszeichnung, das wusste Ronnie. Längst nicht jeder bekam so eine Chance. Aber in letzter Zeit fragte sie sich immer öfter, ob sich die Opfer, die sie dafür bringen musste, gelohnt hatten. Außer ihren Eltern erinnerte sich wahrscheinlich niemand mehr an ihren Auftritt. Keiner interessierte sich noch dafür. Ronnie hatte begriffen: Wenn man kein populäres Video bei YouTube einstellte oder vor Tausenden von Zuschauern eine spektakuläre Show abzog, hatten musikalische Fähigkeiten wenig zu bedeuten.
Manchmal wünschte sie sich, ihr Vater hätte ihr E-Gitarre beigebracht. Oder ihr wenigstens Gesangsunterricht gegeben. Was sollte sie mit dem Klavier anfangen? An irgendeiner Akademie Musik unterrichten? Oder in einer Hotellobby herumklimpern, während die Gäste ihre Anmeldungsformulare ausfüllten? Oder das schwierige Leben anstreben, das ihr Vater führte? Was hatte das Klavier ihm gebracht? Er hatte seine Stelle an der Juilliard School of Music gekündigt, um als Konzertpianist auf Tournee zu gehen. In der Folge spielte er in unbedeutenden Städten, und das Publikum füllte höchstens die ersten zwei Reihen. Vierzig Wochen im Jahr war er unterwegs gewesen – lang genug, um seine Ehe zu gefährden. Ronnie hatte erlebt, wie sich ihre Mutter bitter beschwerte, während sich ihr Vater immer mehr in sein Schneckenhaus zurückzog, was er tendenziell von jeher getan hatte. Und eines Tages kam er von einer längeren Konzertreise durch die Südstaaten einfach nicht mehr nach Hause zurück. Soweit Ronnie wusste, arbeitete er zurzeit überhaupt nicht mehr. Er gab nicht einmal Privatstunden.
Wie konnte es so weit kommen, Dad?
Sie schüttelte den Kopf. Nein, sie hatte nicht die geringste Lust, hier zu sein. Sie wollte mit dem Ganzen nichts zu tun haben.
»Hey, Mom!« Jonah beugte sich nach vorn. »Das da drüben – ist das ein Riesenrad?«
Mom reckte den Hals und versuchte, an dem Minivan vorbeizusehen, der in der Spur neben ihr fuhr. »Ich glaube, ja«, sagte sie. »Anscheinend gibt es hier einen Jahrmarkt.«
»Können wir hingehen? Wenn wir alle miteinander zu Abend gegessen haben?«
»Das musst du deinen Vater fragen.«
»Ja, und danach sitzen wir um ein Feuer herum und rösten Marshmallows«, warf Ronnie ein. »Wie eine große, glückliche Familie.«
Diesmal ignorierten die anderen beiden sie wortlos.
»Meinst du, es gibt auch ein Karussell? Eine Achterbahn?«, fragte Jonah.
»Ganz bestimmt. Und wenn dein Vater nicht mit dir fahren möchte, musst du nur deine große Schwester fragen. Sie kommt bestimmt mit.«
»Supercool!«
Ronnie sank in sich zusammen. Typisch, dass ihre Mom so etwas vorschlug. Es war alles so maßlos deprimierend, dass man es kaum glauben konnte.
KAPITEL 2
Steve
Steve Miller spielte Klavier. Er war zwar sehr konzentriert, aber auch unruhig. Jede Minute konnten seine Kinder eintreffen.
Seit Kurzem wohnte er in einem kleinen Strandbungalow, und der Flügel stand in einem Alkoven, einer Art Nische, die vom Wohnzimmer abging. Dort hatte er auch die paar persönlichen Dinge aufgehängt, die zu seiner Lebensgeschichte gehörten. Viel war es nicht. Abgesehen von dem Flügel hatte Kim seine sämtlichen Habseligkeiten in eine einzige Kiste gestopft, und innerhalb einer halben Stunde waren sie wieder ausgepackt gewesen. Es gab einen Schnappschuss von ihm mit seinen Eltern, als er noch klein war, und ein Foto, auf dem er als Jugendlicher Klavier spielte. Diese Bilder hingen zwischen seinen beiden Abschlussdiplomen, das eine von der Chapel Hill University, das andere von Boston, und darunter befand sich die Urkunde der Juilliard School of Music, an der er fünfzehn Jahre unterrichtet hatte. Neben dem Fenster hingen drei gerahmte Terminpläne mit seinen Tourneedaten. Noch wichtiger waren allerdings die sechs Fotos von Jonah und Ronnie. Zwei hatte er mit Reißnägeln an der Wand befestigt, die anderen standen gerahmt auf dem Flügel, und immer, wenn er sie anschaute, wurde er daran erinnert, dass nichts in seinem Leben so gekommen war, wie er es sich vorgestellt hatte – dabei hatte er doch immer nur das Beste gewollt.
Die Spätnachmittagssonne schickte ihre schrägen Strahlen durch die Fenster, wodurch die Luft ziemlich stickig wurde. Steve spürte, wie sich auf seiner Stirn Schweißtropfen bildeten. Zum Glück hatten die Magenschmerzen von heute Morgen etwas nachgelassen, aber er war seit Tagen extrem nervös und wusste, die Schmerzen würden wiederkommen. Er hatte schon immer einen empfindlichen Magen gehabt. Mit zwanzig bekam er ein Magengeschwür und musste wegen einer schweren Darmentzündung ins Krankenhaus, mit dreißig wurde er am Blinddarm operiert, nachdem dieser geplatzt war, und das passierte ausgerechnet in der Zeit, als Kim mit Jonah schwanger war. Er lutschte Magentabletten wie andere Leute Bonbons; jahrelang hatte er Nexium geschluckt. Klar, er wusste, dass er gesünder essen und sich mehr bewegen sollte, aber insgeheim bezweifelte er, ob das tatsächlich etwas helfen würde. In seiner Familie hatten alle Probleme mit dem Magen.
Vor sechs Jahren war sein Vater gestorben, und das hatte ihn sehr verändert. Seit dem Begräbnis quälte ihn das Gefühl, dass nun für ihn der Countdown begonnen hatte. Und so ganz falsch war das nicht. Vor fünf Jahren hatte er seine Stelle an der Juilliard School gekündigt, um ein Jahr später sein Glück als Konzertpianist zu versuchen. Und es war jetzt drei Jahre her, dass Kim und er beschlossen hatten, sich endgültig zu trennen. Danach dauerte es keine zwölf Monate, bis die Krise einsetzte: Er bekam immer weniger Engagements, bis er schließlich gar nicht mehr gebucht wurde. Im vergangenen Jahr war er hierhergezogen – zurück in die Stadt, in der er aufgewachsen war. Eigentlich hatte er gedacht, er würde diesen Ort nie wiedersehen. Und nun stand er kurz davor, den ganzen Sommer mit seinen Kindern hier zu verbringen. Aber was erwartete ihn im Herbst, wenn Ronnie und Jonah wieder nach New York zurückgingen? Er hatte nicht die geringste Ahnung. Nur so viel wusste er: Die Blätter an den Bäumen verfärbten sich erst gelb und dann rot, und in der kühlen Morgenluft bildete der Atemhauch kleine Wölkchen. Die Zukunft vorhersehen zu wollen, hatte er längst aufgegeben.
Das störte ihn nicht. Prophezeiungen waren ohnehin sinnlos, und außerdem verstand er ja nicht einmal die Vergangenheit so richtig. Eines stand fest – nämlich dass er ein durchschnittlicher Mensch war in einer Welt, die das Überdurchschnittliche liebte. Diese Erkenntnis rief bei ihm ein diffuses Gefühl der Enttäuschung hervor. Vor allem, wenn er an das Leben dachte, das er geführt hatte. Aber was konnte er machen? Im Gegensatz zu Kim, die extrovertiert und umgänglich war, gehörte er zu den eher verschlossenen Menschen und fiel wenig auf. Natürlich besaß er eine gewisse Begabung als Musiker und Komponist, aber ihm fehlten das Charisma und die Präsenz – oder was immer man brauchte, um sich als Künstler durchzusetzen. Er wusste längst, dass er eher ein Beobachter war als jemand, der aktiv ins Geschehen eingriff, und in schmerzlichen Momenten der Wahrheit glaubte er, in all den Dingen, die wirklich zählten, versagt zu haben. Er war jetzt achtundvierzig. Seine Ehe war zerbrochen, seine Tochter ging ihm aus dem Weg, und sein Sohn wuchs ohne ihn auf. Dabei konnte er niemandem auf der Welt Vorwürfe machen, höchstens sich selbst. Mehr als alles andere beschäftigte ihn allerdings die Frage, ob es jemandem wie ihm noch gelingen konnte, die Gegenwart Gottes zu erfahren.
Vor zehn Jahren hätte er solche Gedanken weit von sich gewiesen. Auch vor zwei Jahren noch. Aber seit er auf die fünfzig zuging, kam er öfter ins Grübeln. Früher war er davon überzeugt gewesen, dass die Antwort auf die Frage nach Gott in der Musik lag. Aber inzwischen hielt er das für einen Irrtum. Je mehr er darüber nachdachte, desto klarer wurde für ihn die Einsicht, dass die Musik ihn eher von der Wirklichkeit weggeführt hatte, als ihm zu ermöglichen, das Leben intensiver zu spüren. Wenn er die Werke Tschaikowskis spielte, erlebte er zwar Leidenschaft und Läuterung, und er empfand eine gewisse Zufriedenheit, wenn er selbst eine Sonate geschrieben hatte. Aber ihm war bewusst geworden, dass es wenig mit Gott zu tun hatte, wenn er sich in der Musik vergrub. Nein, dahinter stand sein egoistischer Wunsch, vor allem davonzulaufen.
Er glaubte heute, dass die eigentliche Antwort in der liebevollen Zuneigung lag, die er für seine Kinder empfand, in der Sehnsucht, die ihn überkam, wenn er morgens in dem stillen Haus aufwachte und ihm klar wurde, dass sie nicht da waren. Doch selbst dann spürte er, dass es noch mehr geben musste.
Und irgendwie hoffte er, dass seine Kinder ihm bei der Suche helfen würden.
Ein paar Minuten später sah Steve, dass sich die Sonne in der Windschutzscheibe eines staubigen Vans spiegelte. Er und Kim hatten diesen Wagen vor ein paar Jahren gekauft, um damit am Wochenende bei Costco einkaufen zu können – und für Familienausflüge. Kurz schoss ihm der Gedanke durch den Kopf, ob sie vor der Abfahrt auch daran gedacht hatte, das Öl zu wechseln. Womöglich hatte sie das seit seinem Weggehen vollständig vergessen. Kim war in solchen Dingen nicht besonders zuverlässig, deshalb hatte er sich immer darum gekümmert.
Aber dieser Teil seines Lebens war vorbei.
Er erhob sich. Als er auf die Veranda trat, war Jonah schon ausgestiegen und kam auf ihn zugerannt. Seine Haare waren zerzaust, die Brille saß schief, und seine Arme und Beine waren so dünn wie Bleistifte. Steve spürte einen Kloß in der Kehle, weil ihm wieder einmal bewusst wurde, wie viel er in den vergangenen drei Jahren versäumt hatte.
»Dad!«
»Jonah!«, rief Steve und lief mit raschen Schritten über den steinigen Sand in seinem Vorgarten. Jonah warf sich ihm dermaßen schwungvoll in die Arme, dass er fast das Gleichgewicht verloren hätte.
»Du bist so groß geworden!«
»Und du bist geschrumpft!«, lachte Jonah. »Aber ganz ehrlich, du bist ja superdünn.«
Steve drückte seinen Sohn fest an sich. »Ich freue mich so, dass ihr kommt«, murmelte er, bevor er ihn wieder losließ.
»Ich bin auch froh, dass wir endlich hier sind. Mom und Ronnie haben sich die ganze Zeit gestritten.«
»Haben sie dich genervt?«
»Na ja – ist schon okay. Ich habe einfach nicht hingehört. Aber manchmal habe ich sie ein bisschen geärgert.«
»Aha.«
Jonah schob seine Brille hoch. »Warum hat uns Mom eigentlich nicht erlaubt, dass wir fliegen?«
»Hast du sie gefragt?«
»Nein.«
»Vielleicht hättest du das tun sollen.«
»Ach, so wichtig ist es auch nicht. Ich wollt’s nur wissen.«
Steve grinste. Er hatte vergessen, wie gern und viel sein Sohn plapperte.
»Hey – wohnst du in dem Haus da?«
»Ja.«
»Das ist ja supercool.«
Meinte Jonah das ernst? Sein Haus war alles andere als supercool. Vermutlich war der Bungalow das älteste Gebäude in ganz Wrightsville Beach, eingequetscht zwischen zwei Villen, die in den letzten zehn Jahren gebaut worden waren und seine Bleibe noch mickriger erscheinen ließen. Der Verputz blätterte ab, es fehlten mehrere Dachziegel, und die Veranda moderte vor sich hin – es würde ihn nicht wundern, wenn der nächste Sturm sie wegwehte, was seine Nachbarn garantiert nicht besonders lustig fänden. Seit er eingezogen war, hatte niemand hier in der Gegend auch nur ein Wort mit ihm gewechselt.
»Findest du?«
»Hallo? Das Haus ist doch direkt am Strand. Was Besseres gibt’s gar nicht.« Jonah deutete auf das Meer. »Kann ich mich mal umsehen?«
»Ja, klar. Aber bleib bitte in der Nähe des Hauses. Geh nicht weiter weg.«
»Okay.«
Steve blickte ihm einen Moment lang nach, dann drehte er sich um und sah Kim. Ronnie war inzwischen auch ausgestiegen, stand aber noch neben dem Auto.
»Hallo, Kim«, sagte Steve.
»Guten Tag, Steve.« Sie umarmte ihn kurz zur Begrüßung. »Ist alles in Ordnung? Du bist schmal geworden.«
»Es geht mir gut.«
So ganz allmählich machte sich auch Ronnie auf den Weg. Steve war verblüfft, wie sehr sie sich verändert hatte seit dem letzten Foto, das Kim ihm gemailt hatte. Verschwunden war das sorglose, sportliche Mädchen. Jetzt war sie eine junge Frau mit einer violetten Strähne in den langen braunen Haaren, mit lackierten Fingernägeln und dunklen Kleidern. Es war nicht zu übersehen, dass sie rebellierte, aber trotzdem ähnelte sie ganz stark ihrer Mutter. Gut so, dachte Steve. Kim war so hübsch wie eh und je.
Er räusperte sich, bevor er Ronnie begrüßte. »Hallo, Schätzchen. Schön, dich zu sehen.«
Als seine Tochter nichts erwiderte, warf Kim ihr einen vorwurfsvollen Blick zu. »Sei nicht so unhöflich. Dein Vater redet mit dir. Sag etwas.«
Ronnie verschränkte die Arme vor der Brust. »Gut, meinetwegen. Wie wär’s damit: Ich habe null Lust, für dich Klavier zu spielen.«
»Ronnie!«
An Kims Tonfall hörte Steve, dass sie mit ihrer Geduld am Ende war.
»Was denn?« Trotzig warf Ronnie den Kopf zurück. »Ich wollte das nur gleich am Anfang klarstellen.«
Ehe Kim etwas sagen konnte, griff Steve ein. Er wollte auf jeden Fall vermeiden, dass die beiden sich stritten. »Ist schon okay, Kim«, murmelte er.
»Ja, Mom – das ist okay!«, rief Ronnie patzig. »Mir sind unterwegs die Füße eingeschlafen – ich gehe mal ein Stück spazieren«, verkündete sie und stapfte los.
Steve wusste, dass seine Exfrau sie am liebsten zurückgeholt hätte. Aber sie schwieg.
»Ganz schön lange Fahrt, was?«, sagte er, um die Atmosphäre etwas zu lockern.
»Du kannst dir nicht vorstellen, wie lang.«
Er grinste, und für einen kurzen Moment stellte er sich vor, sie wären noch verheiratet. Sie würden dann beide am selben Strang ziehen und würden einander immer noch verliebt in die Augen sehen.
Nur sah die Wirklichkeit leider anders aus.
Nachdem Steve das Gepäck aus dem Wagen geholt hatte, ging er in die Küche, klopfte die Eiswürfel aus dem altmodischen Eiswürfelbehälter und warf sie in zwei nicht zusammenpassende Gläser, die er bei seinem Einzug hier im Küchenschrank vorgefunden hatte.
Kim trat hinter ihm in die Küche. Ohne sich umzudrehen, goss er Eistee aus der Karaffe und reichte Kim ein Glas. Draußen am Strand jagte Jonah die Wellen oder wurde von ihnen gejagt, immer abwechselnd, während über ihm kreischend die Möwen kreisten.
»Sieht aus, als würde es Jonah hier gefallen«, sagte Steve.
Kim trat ans Fenster. »Er hat sich schon seit Wochen auf den Besuch gefreut.« Sie zögerte einen Moment, bevor sie hinzufügte: »Du fehlst ihm.«
»Er fehlt mir auch.«
»Ich weiß.« Kim trank einen Schluck von ihrem Eistee, dann schaute sie sich in der Küche um. »Das ist also deine neue Bleibe, was? Sie hat... Charakter.«
»Mit ›Charakter‹ spielst du vermutlich darauf an, dass im Dach Löcher sind und dass es keine Klimaanlage gibt?«
Kim lächelte verlegen. Sie fühlte sich ertappt.
»Ich weiß, es ist nichts Besonderes«, fuhr Steve fort. »Aber hier habe ich meine Ruhe, und ich kann den Sonnenaufgang sehen.«
»Und die Kirche verlangt keine Miete?«
»Genau. Das Haus hat Carson Johnson gehört. Er war Maler, und bei seinem Tod hat er sein Eigentum der Kirche vermacht. Pastor Harris sagt, ich kann hier wohnen, bis es verkauft wird.«
»Und wie ist es für dich, wieder in deiner alten Heimat zu wohnen? Deine Eltern haben gar nicht weit von hier gelebt, stimmt’s? Drei Straßen weiter?«
Sieben, um genau zu sein. Na ja, er wollte nicht pedantisch wirken. »Insgesamt gar nicht schlecht.« Er zuckte etwas ratlos die Achseln.
»Aber hier ist viel mehr Verkehr als früher, oder? Alles hat sich verändert, seit ich das letzte Mal hier war.«
»Ja. Alles verändert sich«, sagte Steve und lehnte sich an die Arbeitsplatte. Eigentlich wollte er lieber das Thema wechseln. »Und – wann ist der große Tag für dich und Brian?«
»Steve... genau darüber wollte ich mit dir reden.«
»Mach dir keine Gedanken«, sagte er und hob die Hand. »Ich freue mich für dich, dass du jemanden gefunden hast.«
Kim musterte ihn prüfend. Sie wusste nicht, ob sie ihm das glauben konnte oder ob sie sich nicht doch auf gefährliches Terrain begab.
»Im Januar«, antwortete sie schließlich. »Und ich möchte, dass du weißt – also, mit den Kindern... Brian drängt sich nicht in den Vordergrund. Ich glaube, er würde dir gefallen.«
»Ganz bestimmt.« Steve trank noch einen Schluck Tee und stellte dann das Glas ab. »Was sagen die Kinder zu Brian?«
»Jonah mag ihn. Aber Jonah mag eigentlich alle Leute.«
»Und Ronnie?«
»Sie kommt mit ihm ungefähr so gut aus wie mit dir.«
Steve lachte, aber dann bemerkte er Kims gequälten Gesichtsausdruck. »Was ist los mit Ronnie?«
»Ich weiß es nicht.« Kim seufzte. »Und sie weiß es auch nicht, glaube ich. Oft ist sie unheimlich schlecht gelaunt. Sie hält sich nicht an Vereinbarungen, und meistens kriege ich nicht viel mehr aus ihr heraus als ein ›Meinetwegen‹, wenn ich mit ihr reden will. Ich sage mir immer wieder, dass so ein Verhalten typisch ist für ihr Alter, und ich kann mich gut daran erinnern, wie ich selbst früher war. Aber...« Sie schüttelte den Kopf. »Du hast ja sicher gemerkt, wie sie sich anzieht? Und dann ihre Haare und dieses fürchterliche Augenmake-up!«
»Ja, klar.«
»Und?«
»Könnte schlimmer sein.«
Kim öffnete den Mund, um etwas zu sagen, schwieg jedoch. In einer Sache war sich Steve vollkommen sicher: Gleichgültig, was für eine Phase seine Tochter gerade durchmachte, gleichgültig, welche Ängste seine Exfrau quälten – Ronnie war immer noch Ronnie.
»Du hast wahrscheinlich recht«, räumte Kim ein. »Nein – du hast sogar ganz bestimmt recht. Ich weiß. In letzter Zeit war es aber echt schwierig mit ihr. Zwischendurch ist sie dann wieder so süß und lieb wie früher. Auch Jonah gegenüber. Die beiden streiten sich zwar wie Hund und Katze, aber Ronnie geht trotzdem jedes Wochenende mit ihm in den Park. Und wenn Jonah Probleme mit seinen Matheaufgaben hat, dann lernt sie mit ihm. Das ist besonders lustig, weil sie selbst fast alle Klassenarbeiten verhaut. Aber da fällt mir etwas ein, was ich dir noch gar nicht erzählt habe, glaube ich – im Februar habe ich sie dazu überredet, die Aufnahmetests fürs College zu machen. Sie hat jede einzelne Frage falsch beantwortet. Weißt du, wie klug man sein muss, um bei allen Antworten konsequent danebenzuliegen?«
Steve musste lachen, aber Kim brummte verärgert: »Das ist überhaupt nicht lustig.«
»Irgendwie schon.«
»Du musstest dich in den letzten drei Jahren ja auch nicht mit ihr herumschlagen.«
Betroffen schwieg er. »Ja, du hast vollkommen recht. Entschuldige.« Er trank noch einen Schluck Tee, um Zeit zu gewinnen. »Was hat denn der Richter zu dem Ladendiebstahl gesagt?«
»Nicht viel mehr als das, was ich dir schon am Telefon berichtet habe.« Sie klang müde, resigniert. »Wenn sie sich von jetzt an einwandfrei verhält, wird es aus ihrer Akte gestrichen. Wenn sie aber noch einmal bei irgendetwas erwischt wird, dann...« Kim redete nicht weiter.
»Du machst dir deswegen Sorgen«, sagte Steve.
Kim drehte sich fort. »Es war ja nicht das erste Mal – darin liegt das Problem. Letztes Jahr hat sie zugegeben, dass sie das Armband gestohlen hat, aber dieses Mal hat sie eine andere Geschichte auf Lager. Sie sagt, sie hat verschiedene Sachen im Drugstore gekauft und konnte nicht alles in der Hand halten, deshalb hat sie den Lippenstift eingesteckt. Und vergessen. Für alles Übrige hat sie bezahlt, und wenn man sich das Video der Überwachungskamera anschaut, sieht es auch so aus, als würde das stimmen, aber...«
»Aber du bist dir nicht sicher?«
Als Kim nicht antwortete, fuhr Steve fort: »Glaub mir – ihr Foto erscheint garantiert nie auf dem Plakat für die meistgesuchte Verbrecherin Amerikas. Sie hat einen Fehler gemacht, mehr nicht. Im Grunde ihres Herzens ist sie ein sehr liebes Mädchen.«
»Das heißt aber noch lange nicht, dass sie jetzt die Wahrheit sagt.«
»Aber es heißt auch nicht, dass sie lügt.«
»Soll das bedeuten, du glaubst ihr?« In Kims Stimme lag eine Mischung aus Hoffnung und Skepsis.
Steve überlegte kurz. Seit Kim ihm von dem Vorfall erzählt hatte, war er immer wieder zu demselben Schluss gekommen: »Ja, ich glaube ihr.«
»Warum?«
»Weil sie in Ordnung ist.«
»Woher willst du das wissen?« Jetzt klang Kim fast missmutig. »Als du das letzte Mal länger mit ihr zusammen warst, ging sie gerade mal in die neunte Klasse.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust und schaute aus dem Fenster. Verbittert fügte sie hinzu: »Du hättest zurückkommen sollen. Du hättest wieder in New York unterrichten können. Es gab überhaupt keinen Grund, kreuz und quer durch die Staaten zu fahren und dann hierherzuziehen... Du hättest auch weiterhin am Leben der Kinder teilnehmen können.«
Kims Worte taten ihm weh. Er wusste ja, dass sie recht hatte. Aber so einfach war das alles nicht. Aus Gründen, die sie beide kannten – und die sie beide nicht aussprechen wollten.
Nach ein paar Sekunden angespannter Stille räusperte sich Steve. »Ich wollte nur sagen, dass Ronnie durchaus zwischen Richtig und Falsch unterscheiden kann. Klar, sie will ihre Selbstständigkeit und Unabhängigkeit demonstrieren, aber ich glaube fest daran, dass sie immer noch derselbe Mensch ist wie früher. In den entscheidenden Punkten hat sie sich nicht verändert.«
Ehe Kim etwas entgegnen konnte, kam Jonah mit geröteten Wangen ins Haus gestürzt.
»Dad! Ich habe eine ganz tolle Werkstatt entdeckt. Komm mit – ich muss sie dir unbedingt zeigen!«
Kim zog eine Augenbraue hoch.
»Die Werkstatt ist im Schuppen hinter dem Haus«, erklärte Steve. »Möchtest du sie sehen?«
»Sie ist supercool, Mom!«
Kim schaute von Steve zu Jonah und wieder zurück. »Nein, nein, ist schon okay – das ist was für Vater und Sohn. Und außerdem muss ich allmählich los.«
»Jetzt schon?«, fragte Jonah.
Steve wusste, wie schwer Kim der Abschied fiel, deshalb antwortete er für sie: »Deine Mom hat eine anstrengende Fahrt vor sich. Und außerdem will ich heute Abend mit euch auf den Jahrmarkt gehen. Hast du Lust?«
Man konnte sehen, dass Jonah enttäuscht die Schultern hängen ließ. Aber dann sagte er:
»Ja, klar.«
Nachdem sich Jonah von seiner Mutter verabschiedet hatte – Ronnie war nirgends zu sehen, und Kim meinte, dass sie sicher nicht so bald zurückkommen würde -, gingen Steve und sein Sohn gemeinsam zu der Werkstatt. Der schiefe Schuppen mit dem Blechdach stand auf Steves Grundstück.
In den vergangenen drei Monaten hatte Steve seine Nachmittage meistens dort verbracht, umgeben von allem möglichen Krempel. Am wichtigsten waren die kleinen Scheiben aus buntem Glas, die der Junge jetzt kurz inspizierte: In der Mitte der Werkstatt stand ein großer Arbeitstisch mit den ersten Anfängen eines Buntglasfensters. Aber Jonah interessierte sich dann doch mehr für die merkwürdigen ausgestopften Tiere in den Regalen. Sie waren die Spezialität des vorherigen Besitzers gewesen, lauter eigenartige Geschöpfe – zum Beispiel gab es eine Kreatur, die halb Flussbarsch, halb Eichhörnchen war. Eine andere bestand aus dem Kopf einer Beutelratte und dem Körper eines Huhns.
»Was ist das denn?«, fragte Jonah verdutzt.
»Das ist angeblich Kunst.«
»Ich dachte immer, Kunst sind Gemälde und solche Sachen.«
»Stimmt. Aber Kunst ist ein ziemlich weiter Begriff.«
Jonah rümpfte die Nase, während er ein Schlangen-Kaninchen studierte. »Ich finde, wie Kunst sieht das nicht aus.«
Steve grinste. Jonah verlor das Interesse an den Fabelwesen und deutete auf das Glasfenster auf dem Arbeitstisch. »Ist das auch von ihm?«, fragte er.
»Nein, das stammt von mir. Ich mache es für die Kirche hier in der Straße. Dort hat es letztes Jahr gebrannt, und die Flammen haben das alte Fenster zerstört.«
»Ich habe gar nicht gewusst, dass du auch Fenster machen kannst.«
»Ob du’s glaubst oder nicht – das hat mir der Künstler beigebracht, der früher hier gewohnt hat.«
»Der Typ mit den komischen Tieren?«
»Genau.«
»Hast du ihn richtig gut gekannt?«
Steve trat neben seinen Sohn an den Tisch. »Als Kind habe ich mich oft hierhergeschlichen, wenn ich eigentlich in der Kirche im Bibelkreis sein sollte. Von dem Künstler, der hier früher gewohnt hat, stammen die meisten Buntglasfenster in den Kirchen dieser Gegend. Sieh dir mal das Bild da an der Wand an!« Steve deutete auf ein kleines Foto des auferstandenen Jesus, das mit einem Reißnagel an einem der Regale befestigt war und das man in dem allgemeinen Chaos leicht übersehen konnte. »So sieht das Fenster aus, wenn es fertig ist – hoffentlich.«
»Supercool«, sagte Jonah, und Steve lächelte wieder. Supercool war offenbar zurzeit Jonahs Lieblingswort. Wie oft er es wohl in diesem Sommer hören würde?
»Möchtest du mir helfen?«
»Echt?«
»Ich rechne fest mit deiner Unterstützung.« Steve gab ihm einen sanften Schubs. »Ich brauche einen guten Assistenten.«
»Ist es schwer?«
»Als ich damit angefangen habe, war ich etwa so alt wie du jetzt. Du kannst das, da bin ich mir sicher.«
Vorsichtig nahm Jonah ein Stück Glas in die Hand und hielt es mit ernster Miene gegen das Licht. »Ich bin mir auch ziemlich sicher, dass ich das kann.«
Steve musterte ihn liebevoll, dann fragte er: »Gehst du noch in die Kirche?«
»Ja, schon. Aber nicht mehr in dieselbe wie früher. Wir gehen jetzt in die von Brian. Ronnie kommt nicht immer mit. Sie schließt sich in ihr Zimmer ein und kommt einfach nicht raus. Aber kaum sind wir weg, da rennt sie los und hockt dann mit ihren Freundinnen im Starbucks. Mom wird darüber total wütend.«
»So ist das, wenn Kinder langsam erwachsen werden. Sie testen ihre Eltern.«
Jonah legte das Glasstück wieder auf den Tisch. »Ich nicht«, sagte er. »Ich bin immer brav, auch später. Nur – die neue Kirche gefällt mir nicht besonders. Da ist es so langweilig. Also gehe ich vielleicht auch bald nicht mehr hin.«
»Das ist dein gutes Recht.« Steve schwieg für einen Moment. »Stimmt es, dass du im Herbst nicht mehr Fußball spielst?«
»Ich bin nicht gut.«
»Na und? Du spielst doch trotzdem gern, oder?«
»Nicht, wenn die anderen Kinder lachen.«
»Sie lachen über dich?«
»Ist schon okay. Es macht mir nichts aus.«
»Hm.«
Jonah scharrte mit den Füßen. Anscheinend war ihm etwas eingefallen, was ihn beschäftigte. »Ronnie hat die Briefe nicht gelesen, die du ihr geschrieben hast, Dad. Und sie will auch nicht mehr Klavier spielen.«
»Ich weiß.«
»Mom sagt, das ist, weil sie ihre Tage hat.«
Steve hätte fast losgelacht, konnte sich aber gerade noch beherrschen. »Weißt du überhaupt, was das heißt?«
Jonah schob seine Brille hoch. »Ich bin doch kein kleines Kind mehr! Es gibt solche Tage, und es gibt andere Tage.«
Steve verwuschelte ihm lachend die Haare. »Was denkst du – sollen wir deine Schwester suchen gehen? Ich habe sie in Richtung Jahrmarkt laufen sehen, glaube ich.«
»Können wir Riesenrad fahren?«
»Alles, was du willst.«
»Supercool.«
KAPITEL 3
Ronnie
Auf dem Jahrmarkt war viel Betrieb. Nein, korrigierte sich Ronnie: Auf dem Wrightsville Beach Seafood Festival war viel Betrieb. Als sie an dem Getränkestand ihre Limo bezahlte, sah sie, dass in den beiden Straßen, die zum Pier führten, die Autos dicht an dicht geparkt waren. Ein paar geschäftstüchtige Jugendliche vermieteten sogar ihre Einfahrten.
Bisher war es aber trotzdem grässlich langweilig. Sie hatte gehofft, dass das Riesenrad eine permanente Einrichtung war und dass es am Pier Läden und Geschäfte gab, so wie am berühmten Boardwalk in Atlantic City. Mit anderen Worten: Sie hatte gehofft, dass sie sich hier im Sommer amüsieren konnte. Tja, Pech gehabt. Das Seafood Festival fand auf dem Parkplatz oben am Pier statt, aber nur ein paar Tage. Im Grunde war es nicht mehr als ein ländlicher kleiner Rummel. Es gab nicht viele Fahrgeschäfte, und die vorhandenen waren klapperig und altmodisch. Am Rand des Parkplatzes standen mehrere überteuerte Buden mit Spielen, außerdem gab es noch ein paar Imbissstände, von denen ein billiger Fettgeruch ausging. Das Ganze war ziemlich... eklig.
Aber außer ihr waren anscheinend alle Leute anderer Meinung. Es gab unglaublich viel Publikum. Alt und Jung, Familien, Schülercliquen, die sich gegenseitig beäugten. Gleichgültig, wo Ronnie hinging, überall musste sie gegen die Massen ankämpfen. Lauter verschwitzte Körper. Dicke, verschwitzte Körper! Und sie war zwischen zwei von ihnen eingequetscht, als der Menschenstrom aus unerklärlichen Gründen zum Stillstand kam. Garantiert hatten die beiden die frittierten Würstchen und die frittierten Schokoriegel gegessen, die Ronnie gerade an der Imbissbude gesehen hatte. Sie rümpfte die Nase. Das war schlimmer als eklig!
Sie musste hier weg. Sie befreite sich aus der Masse und strebte zum Pier. Zum Glück waren hier nicht ganz so viele Leute. Dafür gab es Stände, an denen man selbst gemachtes Kunsthandwerk kaufen konnte. Aber Ronnie wollte nichts von diesem Kram – wer brauchte schon einen Zwerg, der aus Muscheln gebastelt war? Doch anscheinend gefiel das manchen Leuten, denn sonst hätte es diese Stände nicht gegeben.
Weil sie mit ihren Gedanken ganz woanders war, stieß sie gegen einen Tisch, hinter dem eine ältere Dame auf einem Klappstuhl saß. Sie trug ein T-Shirt mit dem Logo SPCA für den Tierschutzverein, hatte weiße Haare und ein offenes, freundliches Gesicht – die Art von Großmutter, die den ganzen Tag Plätzchen buk. Auf dem Tisch lagen verschiedene Broschüren. Und außerdem standen da eine Büchse für Spenden und ein großer Karton, in dem sich vier hellgraue Welpen befanden. Einer der winzigen Hunde stellte sich auf die Hinterfüße und betrachtete Ronnie neugierig über den Papprand hinweg.
»Hallo, Kleiner«, sagte Ronnie.
Die ältere Frau lächelte. »Möchtest du ihn mal nehmen? Er ist ein richtiger Spaßvogel. Ich habe ihn Woody getauft.«
Der Welpe jaulte.
»Nein danke, lieber nicht.« Aber das Hündchen war süß. Sehr süß. Auch wenn der Name ihrer Meinung nach nicht so ganz passte. Am liebsten hätte sie ihn in den Arm genommen, doch sie wusste, dass es ihr dann schwerfallen würde, ihn wieder abzugeben. Sie liebte Tiere über alles, vor allem, wenn sie heimatlos waren. Wie diese kleinen Kuschelhunde. »Sie finden bestimmt ein gutes Zuhause und müssen nicht eingeschläfert werden – oder?«
»Nein, nein, keine Sorge«, antwortete die Frau. »Wir haben extra ihretwegen den Tisch hier aufgestellt, damit jemand sie adoptiert. Letztes Jahr konnten wir über dreißig Tiere vermitteln, und für diese vier hier gibt es auch schon Bewerber. Ich warte nur darauf, dass ihre neuen Besitzer sie auf dem Rückweg abholen. Aber falls du Interesse hast – im Tierheim gibt es noch mehr Hunde.«
»Ich bin nur zu Besuch hier«, entgegnete Ronnie, während plötzlich vom Strand her lauter Applaus zu hören war. »Was ist da los? Gibt es ein Konzert?«
Die Frau schüttelte den Kopf. »Nein. Beachvolleyball. Sie spielen schon seit ein paar Stunden. Es ist eine Art Turnier. Du solltest es dir ansehen. Ich höre die ganze Zeit, wie die Leute klatschen und jubeln. Die Spiele müssen ziemlich spannend sein.«
Ronnie überlegte. Warum eigentlich nicht? Es konnte nicht viel schlimmer sein als das Gedränge hier oben. Sie steckte zwei Dollar in die Spendendose, dann ging sie die Treppe zum Strand hinunter.
Die Sonne ging gerade unter, der Ozean schimmerte wie flüssiges Gold. Am Strand hatten sich ein paar Familien auf Handtüchern in der Nähe des Wassers versammelt und großartige Sandburgen gebaut, die schon bald von der steigenden Flut wieder weggespült wurden. Unablässig kamen Seeschwalben angeschossen, auf der Jagd nach Krabben.
Ronnie brauchte nicht lange, um zum Zentrum der Aktivität zu gelangen. Als sie sich dem Spielfeldrand näherte, merkte sie gleich, dass die jungen Mädchen im Publikum sich vor allem auf die Spieler im rechten Abschnitt konzentrierten. Das war nicht weiter verwunderlich. Die beiden waren etwa so alt wie sie. Oder ein bisschen älter? Jedenfalls gehörten sie zu den Jungs, die Ronnies Freundin Kayla immer gern als »supersüß« bezeichnete. Obwohl keiner von beiden so richtig Ronnies Typ war, konnte sie nicht leugnen, dass sie athletisch gebaut waren und sich hier im Sand sehr gekonnt bewegten.
Vor allem der größere der beiden, der mit den dunkelbraunen Haaren und dem Makramee-Armband am Handgelenk. Kayla hätte sich garantiert auf ihn gestürzt – sie mochte große Männer. Auch das blonde Mädchen im Bikini auf der anderen Seite des Spielfelds konnte den Blick nicht von ihm nehmen. Sie und ihre Freundin waren Ronnie sofort aufgefallen: dünn und hübsch, mit blitzend weißen Zähnen und sichtlich daran gewöhnt, im Mittelpunkt zu stehen und von allen Jungs angehimmelt zu werden. Sie standen eher am Rand und jubelten nur ganz verhalten. Wahrscheinlich wollten sie ihre Frisuren nicht durcheinanderbringen. Ronnie fand die beiden blöd, auch wenn sie noch gar nicht mit ihnen geredet hatte.
Sie wandte sich lieber dem Spiel zu. Genau in dem Moment machten die beiden attraktiven Jungs einen Punkt. Und noch einen. Ronnie kannte zwar den Spielstand nicht, aber die zwei waren eindeutig das bessere Team. Trotzdem beschloss sie, lieber für das andere zu sein. Nicht nur, weil sie grundsätzlich eher für die Außenseiter war, sondern weil die beiden Gewinner sie an die verwöhnten Privatschüler erinnerten, denen sie gelegentlich in den Clubs begegnete. Diese Knaben von der Upper East Side, die sich für etwas Besseres hielten, nur weil ihre Väter Investmentbanker waren. Sie kannte einige von den privilegierten Jugendlichen und merkte deshalb gleich, wer in diese Kategorie gehörte und wer nicht. Und unter Garantie waren die beiden gut aussehenden Sportler hier in der Gegend sehr populär. Ihre Vermutung bestätigte sich nach dem nächsten Punkt, als der Partner des braunhaarigen Jungen vor dem Aufschlag der Freundin des blonden Mädchens zuzwinkerte. Diese Freundin war perfekt gebräunt und sah aus wie eine Barbiepuppe. Bestimmt kannten sich die reichen und schönen Menschen in dieser Stadt alle gegenseitig.
Was nicht weiter überraschend war, oder?
Das Spiel schien plötzlich weniger interessant. Ronnie wollte gehen und hatte sich schon abgewandt, als wieder ein Aufschlag übers Netz geschmettert wurde. Das gegnerische Team gab den Ball zurück, jemand rief irgendetwas, und auf einmal fingen die Leute um sie herum an, sich gegenseitig zu schubsen. Ronnie verlor einen Moment lang das Gleichgewicht.
Das genügte.
Sie sah gerade noch, wie einer der Spieler in ihre Richtung gerannt kam, den Kopf im Nacken, damit er den Ball erwischte. Sie konnte ihm nicht mehr ausweichen, er packte sie an den Schultern – einerseits wollte er dadurch seinen Schwung bremsen, aber andererseits wollte er auch verhindern, dass sie hinfiel. Bei dem Aufprall zuckte ihr Arm unkontrolliert, der Deckel ihres Styroporbechers löste sich, der Limostrahl schoss durch die Luft und landete auf ihrem Gesicht und ihrem T-Shirt – sie konnte es nicht mehr verhindern.
Der braunhaarige Junge starrte sie mit erschrocken aufgerissenen Augen an.
»Ist alles okay?«, keuchte er.
Die Flüssigkeit lief ihr übers Gesicht und drang durch den Stoff ihres T-Shirts. Wie aus weiter Ferne hörte sie, dass jemand im Publikum anfing zu lachen. Das hatte ihr gerade noch gefehlt. Was für ein großartiger Tag.
»Ja, klar – alles okay«, fauchte sie giftig.
»Ehrlich?« Der junge Mann schien ernsthaft besorgt zu sein. »Ich bin ja richtig in dich reingeknallt.«
»Lass mich einfach los«, zischte sie zwischen den Zähnen hervor.
Er schien gar nicht gemerkt zu haben, dass er sie immer noch an den Schultern festhielt. Sofort nahm er seine Hände weg, wich einen Schritt zurück und fasste automatisch nach seinem Armband. »Tut mir schrecklich leid. Ich habe nur auf den Ball geachtet und -«
»Das ist mir klar«, unterbrach Ronnie ihn. »Ich hab’s überlebt, okay?«
Mit diesen Worten drehte sie sich um. Nichts wie weg! Hinter ihr rief jemand: »Komm schon, Will! Wir spielen weiter.« Aber während sie sich einen Weg durch die Zuschauermenge bahnte, spürte sie, dass sein Blick ihr folgte.
Ihr T-Shirt war zwar nicht ruiniert, aber ihre Laune hatte dieser Zusammenprall nicht gerade verbessert. Im Gegenteil. Sie mochte dieses Shirt, es war eine Erinnerung an ein Konzert von Fall Out Boy, in das sie sich letztes Jahr mit Rick geschmuggelt hatte. Ihre Mom war fast durchgedreht deswegen. Nicht nur, weil Rick am Hals ein Spinnweb-Tattoo hatte und mehr Piercings im Ohr als Kayla. Nein, sie war sauer, weil Ronnie gelogen hatte – sie wollte ihrer Mutter nicht sagen, wo sie hinging, und kam erst am folgenden Nachmittag heim, nachdem sie mit Rick bei seinem Bruder in Philadelphia übernachtet hatte. Mom untersagte ihr daraufhin jeden Kontakt mit Rick. Sie durfte nicht einmal mehr mit ihm sprechen. Aber schon am nächsten Tag verstieß Ronnie gegen das Verbot.
Nein, sie war nicht in Rick verliebt. Sie mochte ihn nicht einmal besonders. Aber sie war wütend auf ihre Mom, und irgendwie fühlte es sich gut an, ihr nicht zu gehorchen. Aber als sie dann zu Rick kam, war der schon wieder bekifft und betrunken, und ihr wurde klar, wenn sie sich weiter mit ihm traf, würde er noch mehr Druck auf sie ausüben, damit sie das Zeug, das er immer einwarf, endlich auch ausprobierte. So wie er sie schon am Abend zuvor bedrängt hatte. Sie blieb also nur ganz kurz bei ihm, dann ging sie zum Union Square und verbrachte den Rest des Tages dort. Sie wusste, dass es zwischen ihr und Rick aus war.
Ronnie war nicht ahnungslos in Bezug auf Drogen. Einige ihrer Freundinnen rauchten Gras, manche nahmen Kokain oder Ecstasy, und eine war sogar süchtig nach Meth, was ziemlich übel war. Am Wochenende tranken alle außer ihr Alkohol. In jedem Club und bei jeder Party war das alles problemlos zugänglich.
Aber wenn ihre Freundinnen kifften oder tranken oder Tabletten schluckten – wodurch der Abend ja angeblich erst richtig gut wurde -, verbrachten sie den Rest der Zeit meistens damit, unverständliches Zeug zu lallen und herumzutorkeln. Oder sie mussten sich übergeben, verloren völlig die Kontrolle und taten etwas echt Dummes. Und das hatte meistens etwas mit Jungs zu tun.
Ronnie fand das alles nicht verlockend. Besonders nicht nach Kaylas Erlebnis letzten Winter. Jemand – Kayla wusste bis heute nicht, wer es war – hatte das Narkotikum GHB in ihren Drink gegeben. Sie konnte sich nur ganz vage an das erinnern, was dann folgte, aber sie wusste, dass sie mit drei Typen in einem Raum war, die sie vor diesem Abend noch nie gesehen hatte. Als sie am nächsten Morgen aufwachte, lagen ihre Kleider verstreut auf dem Boden. Kayla sprach nie darüber – sie tat lieber so, als wäre es nie passiert, und bedauerte insgeheim, dass sie Ronnie davon erzählt hatte. Aber es war nicht schwer, sich den Rest zusammenzureimen.
Als Ronnie wieder zum Pier kam, stellte sie den halb leeren Becher ab und tupfte mit einer nassen Serviette wie verrückt auf dem Shirt herum. Die ganze Aktion schien tatsächlich etwas zu helfen, aber die Serviette löste sich in ihre Bestandteile auf und verwandelte sich in weiße Papierflöckchen, die aussahen wie Schuppen.
Super.
Warum war der Typ nicht mit einem anderen Zuschauer zusammengestoßen? Sie war doch nur kurz da gewesen, höchstens zehn Minuten. Wie groß war die Chance, dass der Ball in ihre Richtung flog, obwohl sie sich schon umgedreht hatte, weil sie gehen wollte? Und dass sie ausgerechnet einen Plastikbecher in der Hand hielt, während sie bei einem Volleyballspiel zuschaute, das sie eigentlich gar nicht sehen wollte, in einer Stadt, in der sie gar nicht sein wollte? So etwas passierte in hunderttausend Jahren höchstens ein Mal. Genauso gut hätte sie im Lotto gewinnen können!
Und dann dieser Typ, der an allem schuld war. Braune Haare, braune Augen. Hübscher Junge. Er war sogar mehr als hübsch, er sah echt gut aus, vor allem, wenn er... wenn er so ein besorgtes Gesicht machte. Klar, er gehörte zu den beliebten Jugendlichen, aber in dem Sekundenbruchteil, als sich ihre Blicke begegneten, hatte sie das seltsame Gefühl gehabt, dass er etwas Besonderes war.
Ronnie schüttelte den Kopf, um diese verrückten Gedanken loszuwerden. Wirkte sich die Sonne schon auf ihr Gehirn aus? Wenigstens hatte sie mit ihrer Serviette etwas erreicht. Sie griff wieder nach dem Becher und wollte den Rest Limo wegschütten, aber erst, als sie sich umdrehte, merkte sie, dass jemand direkt hinter ihr stand. Und diesmal passierte es nicht in Zeitlupe. Diesmal landete die Flüssigkeit blitzschnell vorn auf ihrem T-Shirt.
Sie erstarrte und schaute fassungslos an sich hinunter. Das konnte doch nicht wahr sein!
Vor ihr stand ein Mädchen, das auch einen Becher in der Hand hielt und mindestens so verdutzt war wie Ronnie selbst. Sie war ganz schwarz gekleidet, und ihre ungepflegten Haare umrahmten in wilden Locken ihr Gesicht. Genau wie Kayla hatte sie in jedem Ohr mindestens ein Dutzend Piercings, was unterstrichen wurde durch die zwei kleinen Totenköpfe, die an ihren Ohrläppchen baumelten. Der dicke schwarze Lidstrich trug noch dazu bei, dass sie richtig gruftig wirkte. Sie deutete auf den immer größer werdenden Fleck auf Ronnies T-Shirt.
»Bist du noch zu klein zum Limo-Trinken?«, fragte sie grinsend.
»Ja, wahrscheinlich brauche ich noch eine Babyflasche.« Grufty lachte, und ihr Lachen klang verblüffend mädchenhaft. »Du bist nicht von hier, was?«
»Nein, ich bin aus New York. Zu Besuch bei meinem Dad.«
»Übers Wochenende?«
»Nein. Den ganzen Sommer.«
»Du bist echt ein Pechvogel.«
Dieses Mal musste Ronnie lachen. »Ich heiße Ronnie. Das ist eine Abkürzung für Veronica.«
»Ich heiße Blaze.«
»Blaze?«
»Eigentlich heiße ich Galadriel. Das ist aus Herr der Ringe. Meine Mom spinnt in der Beziehung.«
»Sei froh, dass sie dich nicht Gollum genannt hat.«
»Oder Ronnie.« Mit einer Kopfbewegung deutete sie zu einem Stand mit Kleidungsstücken. »Wenn du trockene Klamotten brauchst – da drüben gibt es Nemo-T-Shirts.«
»Nemo?«
»Ja, klar, Nemo. Aus dem Film. Du weißt doch – der orange-weiße Fisch, so’ne Art Zwergflipper? Landet in einem Aquarium, und sein Dad sucht ihn überall.«
»Ich will aber kein Nemo-Shirt.«
»Nemo ist cool.«
»Wenn man sechs ist, vielleicht«, erwiderte Ronnie.
»Wie du meinst.«
Bevor Ronnie antworten konnte, sah sie, wie sich drei Jungs durch die Menschenmenge drängten. Sie fielen auf, weil sie zerrissene Shorts trugen und überall tätowiert waren. Und weil man unter ihren schweren Lederjacken ihre nackte Brust sehen konnte. Einer hatte eine gepiercte Augenbraue und schleppte einen altmodischen Gettoblaster mit sich herum, der Zweite hatte einen blondierten Irokesenschnitt und vollständig tätowierte Arme. Beim Dritten bildeten die langen schwarzen Haare einen extremen Kontrast zu seiner milchig weißen Haut, ähnlich wie bei Blaze. Instinktiv drehte sich Ronnie nach ihrer neuen Freundin um – aber sie war verschwunden. Dafür stand Jonah vor ihr.
»Was hast du auf dein T-Shirt gekippt?«, fragte er. »Es ist ja ganz nass und klebrig.«
Ronnie suchte mit den Augen nach Blaze. Wo konnte sie nur stecken? Und wieso war sie ohne Abschied so schnell abgehauen? »Jonah – verschwinde einfach wieder, ja?«
»Geht nicht. Dad sucht dich. Ich glaube, er will, dass du nach Hause kommst.«
»Wo ist er?«
»Er wollte aufs Klo, aber er müsste gleich hier sein.«
»Sag ihm, du hast mich nicht gesehen.«
Jonah überlegte. »Fünf Dollar.«
»Wie bitte?«
»Gib mir fünf Dollar, und ich vergesse, dass ich dich hier getroffen habe.«
»Meinst du das ernst?«
»Du hast nicht viel Zeit«, sagte er. »Jetzt sind’s schon zehn Dollar.«
Weiter hinten erspähte sie ihren Vater, der sich suchend umschaute. Instinktiv duckte sie sich weg, aber ihr war klar, dass sie nicht an ihm vorbeischleichen konnte. Sie warf Jonah, dem raffinierten Erpresser, einen verärgerten Blick zu. Er hatte Dad auch schon entdeckt. Ihr kleiner Bruder war süß, sie liebte ihn über alles, und sie respektierte sogar sein Erpressertalent, aber trotzdem – er war ihr kleiner Bruder. In einer perfekten Welt stünde er auf ihrer Seite. Aber tat er das? Nein, natürlich nicht.
»Ich hasse dich, weißt du das?«, zischte sie.
»Ja, klar weiß ich das – ich hasse dich auch. Aber es kostet dich trotzdem zehn Dollar.«
»Wie wär’s mit fünf?«
»Du hast deine Chance verpasst. Aber für zehn ist dein Geheimnis gut bei mir aufgehoben.«
Dad hatte sie noch nicht gesehen, aber er kam immer näher.
»Einverstanden.« Ihr blieb keine andere Wahl. Sie durchwühlte ihre Taschen und drückte Jonah einen zerknüllten Geldschein in die Hand, den er blitzschnell einsteckte. Als sie den Blick hob, sah sie, dass sich ihr Vater unaufhaltsam in ihre Richtung bewegte. Er drehte den Kopf nach rechts, nach links – und gerade noch rechtzeitig tauchte Ronnie hinter den Stand. Zu ihrer Überraschung traf sie dort auf Blaze, die an die Wand gelehnt eine Zigarette rauchte.
Blaze grinste. »Na – Probleme mit deinem Dad?«
»Wie komme ich hier weg?«, fragte Ronnie.
»Das ist deine Sache.« Blaze zuckte die Achseln. »Aber er weiß, was für ein T-Shirt du anhast.«