Weit wie das Meer - Nicholas Sparks - E-Book

Weit wie das Meer E-Book

Nicholas Sparks

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Beschreibung

Die Journalistin Theresa findet am Strand eine Flaschenpost, in der ein Liebesbrief voll verzweifelter Sehnsucht steckt. Zutiefst berührt davon, veröffentlicht Theresa das Dokument in ihrer Zeitungskolumne. Binnen kurzer Zeit erhält sie von Lesern weitere Briefe, die offenbar vom selben Autor stammen. Wer ist dieser Mann? Theresa macht sich auf die Suche, sie findet Garrett – und die Begegnung ist schicksalhaft: Garrett leidet noch unter dem Tod seiner geliebten Frau, aber Theresa bringt erstmals wieder etwas in ihm zum Klingen, was er längst verloren glaubte.

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Seitenzahl: 419

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Das Buch

Die Zeitungsjournalistin Theresa Osborne, die seit ihrer Scheidung einsam und unglücklich ist, findet eines Tages am Strand eine Flaschenpost. In der Flasche liegt der gefühlvolle Liebesbrief eines Mannes an eine Frau. Als Theresa, angerührt von der Poesie der Worte, den Brief in ihrer Kolumne veröffentlicht, erhält sie von Lesern weitere Briefe, die offenbar vom selben Autor stammen. Wer ist dieser Mann? Voller Neugier macht sich Theresa auf die Suche und findet seinen Namen und Wohnort heraus. Sie möchte unbedingt wissen, welches Schicksal sich hinter seinen sehnsüchtigen und leidenschaftlichen Briefen verbirgt. Deshalb tarnt sie sich als Touristin und reist in den kleinen Küstenort Wilmington in North Carolina, wo Garrett eine Tauchschule hat. Für beide wird das Treffen zu einer schicksalhaften Begegnung. Doch das neue Glück ist von Anfang an gefährdet.

Der Roman wurde unter dem Titel »Message in a Bottle« verfilmt mit Kevin Costner und Robin Wright in den Hauptrollen.

»Mit Weit wie das Meerfestigt Nicholas Sparks seinen Ruf als Meister des modernen Liebesromans.« Für Sie

Der Autor

Nicholas Sparks, 1965 in Nebraska geboren, lebt zusammen mit seiner Frau und den gemeinsamen fünf Kindern in North Carolina. Mit seinen gefühlvollen Romanen, die ausnahmslos die Bestsellerlisten eroberten und weltweit in 47 Ländern erscheinen, gilt Sparks als einer der meistgelesenen Autoren der Welt. Viele seiner Bestseller wurden erfolgreich verfilmt, zuletzt Mit dir an meiner Seite.

Alle seine Bücher sind bei Heyne erschienen. Ein ausführliches Werkverzeichnis finden Sie am Ende dieses Buches.

Große Autorenwebsite unter www.nicholas-sparks.de.

NICHOLAS

SPARKS

Weit wie das Meer

Roman

Aus dem Amerikanischen

von Bettina Runge

WILHELMHEYNEVERLAG

MÜNCHEN

Die Originalausgabe

MESSAGE IN A BOTTLE

erschien bei Warner Books Inc., New York

Vollständige deutsche Taschenbuchausgabe 09/2011

Copyright © 1998 by Nicholas Sparks Enterprises Inc.

Copyright © 1998 der deutschen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlagillustration: © Jasmin Sander/plainpicture

Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich

Satz: Leingärtner, Nabburg

ePub-ISBN: 978-3-641-06012-1

www.heyne.de

Für Miles und Ryan

Prolog

Die Flasche wurde an einem warmen Sommerabend, wenige Stunden bevor der Regen einsetzte, über Bord geworfen. Wie alle Flaschen war sie zerbrechlich und wäre zerschellt, hätte man sie einen Meter über dem Boden einfach fallen lassen. Sorgfältig verschlossen und den Wellen anvertraut, wurde sie indes zu einem der seetüchtigsten Gegenstände, die dem Menschen bekannt sind. Sie konnte Hurrikane und tropische Stürme überstehen oder auf den gefährlichsten Strömungen schaukeln. Sie war in gewisser Weise das ideale Behältnis für die Nachricht, die sie beförderte, eine Nachricht, die verschickt worden war, um ein Versprechen einzulösen.

Wie bei allen Flaschen, die den Launen des Meers überlassen werden, war ihr Kurs unberechenbar. Winde und Strömungen spielen eine bedeutende Rolle bei der Reiseroute einer jeden Flasche; auch Stürme und Wracks können ihren Kurs verändern. Gelegentlich verfängt sich eine Flasche in einem Fischernetz und wird Dutzende von Meilen in die entgegengesetzte Richtung gezogen. Und so kann es sein, dass zwei Flaschen, die am gleichen Ort und zur gleichen Zeit ins Wasser geworfen werden, in verschiedenen Kontinenten oder sogar Hemisphären landen. Es ist unmöglich vorherzusagen, wohin eine solche Flasche reist, und das ist Teil ihres Geheimnisses.

Dieses Geheimnis beschäftigt den Menschen, seitdem es Flaschen gibt, und manch einer hat versucht, dem Geheimnis auf den Grund zu kommen. 1929 machte sich ein deutsches Team von Wissenschaftlern daran, die Route einer bestimmten Flasche nachzuvollziehen. Sie wurde im Südindischen Ozean ins Meer geworfen, und eine Nachricht darin bat den Finder, den Ort, an dem sie in seine Hände gelangt war, auf dem Zettel zu notieren und sie dann wieder ins Meer zu werfen. 1935 hatte sie einmal den Erdball umrundet und etwa sechzehntausend Meilen – die längste offiziell registrierte Entfernung – zurückgelegt.

Berichte über Flaschenpost wurden über Jahrhunderte aufgezeichnet, und in einigen von ihnen stößt man auf berühmte Namen der Geschichte. Benjamin Franklin zum Beispiel bediente sich solcher Flaschen, um Mitte des 18. Jahrhunderts Richtung und Geschwindigkeit der Meeresströmungen entlang der amerikanischen Ostküste zu erforschen; die von ihm gesammelten Daten sind bis heute gültig. Und bis zum heutigen Tag benutzt die US-Marine Flaschen, um Informationen über Gezeiten und Strömungen zu sammeln oder den Verursacher von Ölspuren zu ermitteln.

Als berühmteste Flaschenpost gilt wohl die des jungen Matrosen Chunsosuke Matsuyama, der 1784 als Schiffbrüchiger ohne Nahrungsmittel und ohne Wasser auf einem Korallenriff strandete. Vor seinem Tod ritzte er den Bericht über das Unglück in ein Stück Holz und steckte es in eine Flasche, die er dann verschloss. 1935, also hundertfünfzig Jahre nachdem er sie ins Meer geworfen hatte, wurde sie in dem kleinen japanischen Fischerdorf, aus dem Matsuyama stammte, ans Ufer gespült.

Die Flasche aber, die an jenem warmen Sommerabend ins Meer geworfen worden war, enthielt weder den Bericht von einem Schiffbruch noch sollte sie der Kartografierung der Meere dienen. Dafür aber barg sie eine Nachricht, die das Leben zweier Menschen verändern sollte, zweier Menschen, die sich sonst niemals begegnet wären, und deshalb kann man sie wohl als schicksalhaft bezeichnen. Sechs Tage trieb sie, gelenkt von den Winden eines Hochdrucksystems über dem Golf von Mexiko, gemächlich in nordöstliche Richtung. Am siebten Tag flauten die Winde ab, und die Flasche steuerte direkt gen Osten, gelangte schließlich in den Golfstrom, wo sie das Tempo beschleunigte und fast siebzig Meilen am Tag zurücklegte.

Zweieinhalb Wochen nach Reiseantritt trieb die Flasche noch immer im Golfstrom. Am siebzehnten Tag jedoch brachte ein weiterer Sturm – diesmal über der Mitte des Atlantiks – Ostwinde, stark genug, um die Flasche aus dem Golfstrom zu lenken, sodass sie jetzt Kurs auf Neuengland nahm. Ohne die Kraft des Golfstroms verlangsamte sich ihr Tempo wieder, und sie trieb fünf Tage lang im Zickzack vor der Küste von Massachusetts, bis sie in das Fischernetz von John Hanes geriet. Hanes fand die Flasche inmitten Tausender zappelnder Barsche und warf sie beiseite, während er seinen Fang begutachtete. Der Zufall wollte es, dass sie nicht zerbrach, aber sie wurde vergessen und blieb den Rest des Nachmittags und frühen Abends im Bug liegen, während das Boot nach Cape Cod zurückfuhr. Gegen halb neun Uhr abends, als das Boot bereits im Windschatten der Bucht war, stolperte Hanes beim Rauchen einer Zigarette über die Flasche. Er hob sie auf, konnte aber im Licht der eben untergegangenen Sonne nichts Außergewöhnliches erkennen, warf sie achtlos über Bord und bewirkte so, dass sie vor einem der vielen kleinen Orte, die die Bucht säumten, ans Ufer gespült wurde.

Das geschah jedoch nicht sofort. Die Flasche trieb noch mehrere Tage hin und her, als zögere sie, einen Kurs einzuschlagen, und wurde schließlich an den Strand von Chatham gespült.

Nach achtundzwanzig Tagen, in denen sie siebenhundertachtunddreißig Meilen zurückgelegt hatte, war ihre Reise beendet.

1. Kapitel

Ein kalter Dezemberwind blies, und Theresa Osborne blickte mit vor der Brust gekreuzten Armen aufs Meer hinaus. Als sie zum Strand gekommen war, waren noch ein paar Leute am Wasser entlangspaziert, aber dann hatten sie die Wolken aufziehen sehen und waren schon vor einer ganzen Weile fortgegangen. Jetzt war sie ganz allein am Strand und nahm die Umgebung in sich auf. Das Meer, das die Farbe des Himmels widerspiegelte, sah aus wie flüssiges Blei, und die Wellen rollten gleichmäßig an die Küste. Schwere Wolken sanken langsam herab, der Nebel wurde dichter und verhüllte den Horizont. An einem anderen Ort zu einer anderen Zeit hätte Theresa die Erhabenheit der Schönheit ringsum wahrgenommen, aber als sie jetzt dastand, wurde ihr klar, dass sie überhaupt nichts empfand. Irgendwie hatte sie das Gefühl, als wäre sie gar nicht wirklich hier, als wäre alles nur ein Traum.

Sie war heute Morgen hierhergekommen, konnte sich aber kaum mehr an die Fahrt erinnern. Als sie sich dazu entschloss, hatte sie geplant, über Nacht zu bleiben. Sie hatte die notwendigen Vorkehrungen getroffen und sich sogar auf eine ruhige Nacht fern von Boston gefreut, doch als sie jetzt das Meer schäumen und brodeln sah, wurde ihr klar, dass sie nicht bleiben wollte. Sie würde heimfahren, sobald sie erledigt hatte, weshalb sie hergekommen war, ganz gleich, wie spät das sein würde.

Langsam ging sie aufs Wasser zu. Unterm Arm trug sie eine Tasche, die sie am Morgen sorgfältig gepackt hatte. Sie hatte niemandem gesagt, was sie bei sich trug, geschweige denn, was sie vorhatte. Stattdessen hatte sie vorgegeben, ihre Weihnachtseinkäufe zu erledigen. Das war die beste Ausrede, denn obwohl sie wusste, dass alle Verständnis für die Wahrheit gehabt hätten, wollte sie mit niemandem über diese Reise sprechen. Sie hatte die Sache allein begonnen und wollte sie auch allein beenden.

Theresa seufzte und sah auf die Uhr. Bald würde die Flut kommen, und dann würde sie bereit sein. Nachdem sie ein Fleckchen gefunden hatte, das bequem aussah, setzte sie sich in den Sand und zog den Reißverschluss ihrer Tasche auf. Sie wühlte darin und fand den Umschlag, den sie suchte. Sie holte tief Luft und öffnete ihn langsam.

Darin waren drei Briefe, sorgsam gefaltet, Briefe, die sie schon unzählige Male gelesen hatte. Sie hielt sie vor sich auf den Knien und starrte darauf.

In der Tasche befanden sich noch andere Gegenstände, doch sie war noch nicht bereit, sich ihnen zu widmen, sondern hielt ihr Augenmerk weiter auf die Briefe gerichtet. Er hatte sie mit einem Füllfederhalter geschrieben, und an mehreren Stellen waren Tintenkleckse zurückgeblieben. Das Briefpapier mit der Zeichnung eines Segelschiffs in der rechten oberen Ecke begann sich stellenweise zu verfärben und langsam zu verbleichen. Sie wusste, der Tag würde kommen, da die Worte nicht mehr lesbar wären, aber sie hoffte, in Zukunft nicht mehr das Bedürfnis zu haben, sie zu betrachten.

Schließlich ließ sie die Briefe so behutsam, wie sie sie herausgezogen hatte, zurück in den Umschlag gleiten. Und nachdem sie den Umschlag wieder in die Tasche gesteckt hatte, ließ sie den Blick erneut über den Strand schweifen. Von hier aus konnte sie die Stelle sehen, wo alles begonnen hatte.

Sie war bei Tagesanbruch joggen gegangen, erinnerte sie sich, und sie hatte diesen Sommermorgen noch deutlich vor Augen. Es war der Beginn eines strahlenden Tages. Sie nahm die Welt ringsum in sich auf, lauschte dem Kreischen der Seeschwalben und dem sanften Plätschern der Wellen, die über den Sand rollten. Obwohl sie Urlaub hatte, war sie früh genug aufgestanden, um nicht überlegen zu müssen, wohin sie laufen sollte. In wenigen Stunden würde der Strand bevölkert sein mit Touristen, die auf ihren Handtüchern in der heißen Sonne Neuenglands brieten. Cape Cod war zu dieser Jahreszeit stets überfüllt, doch die meisten Urlauber schliefen länger als gewöhnlich, und Theresa liebte es, auf dem festen Sand zu joggen, der von der zurückweichenden Flut noch ein wenig feucht war. Im Gegensatz zu den Bürgersteigen zu Hause gab der Sand gerade so viel nach, dass ihre Knie nicht schmerzten wie manchmal nach einem Lauf auf dem asphaltierten Untergrund.

Sie hatte schon immer gern gejoggt, eine Gewohnheit, die sie seit dem Geländelauf an der Highschool beibehalten hatte. Auch wenn sie nicht mehr an Wettkämpfen teilnahm und nur selten auf Zeit lief, gehörte das Joggen jetzt zu den seltenen Gelegenheiten, bei denen sie mit ihren Gedanken allein sein konnte. Sie betrachtete es als eine Art Meditation und hatte nie verstehen können, warum so viele Leute gern in Gruppen joggten.

Bei aller Liebe zu ihrem Sohn war sie doch froh, Kevin nicht bei sich zu haben. Jede Mutter braucht manchmal eine Verschnaufpause, und sie freute sich auf die unbeschwerten Tage hier. Kein abendliches Fußballspiel oder Schwimmen, kein MTV-Geplärre im Hintergrund, kein Abhören von Hausaufgaben, kein Aufstehen mitten in der Nacht, um ihn zu trösten, wenn er schlecht geträumt hatte. Sie hatte ihn vor drei Tagen zum Flughafen gebracht, damit er seinen Vater – ihren Exmann – in Kalifornien besuchen konnte, und erst nachdem sie ihn darauf hingewiesen hatte, war es Kevin bewusst geworden, dass er sie zum Abschied weder umarmt noch geküsst hatte. »’tschuldigung, Mom«, hatte er gesagt, als er die Arme um sie schlang und ihr einen Kuss gab. »Ich hab dich lieb. Und vermiss mich nicht zu sehr, okay?« Damit hatte er sich abgewandt, dem Flugbegleiter sein Ticket ausgehändigt und war, ohne sich noch einmal umzudrehen, im Flugzeug verschwunden.

Theresa hatte es ihm nicht übel genommen. Mit zwölf befand er sich in jener schwierigen Phase, in der es nicht cool ist, seine Mutter in der Öffentlichkeit zu umarmen und zu küssen. Außerdem kreisten seine Gedanken um andere Dinge. Seit Weihnachten fieberte er dieser Reise entgegen. Sein Vater und er würden den Grand Canyon besuchen, dann eine Woche auf einem Floß den Colorado River hinunterfahren und sich schließlich Disneyland ansehen. Es war die Traumreise für einen Jungen, und Theresa freute sich mit ihm. Es war gut für Kevin, längere Zeit mit seinem Vater zu verbringen, auch wenn er ihr in den sechs Wochen sehr fehlen würde.

David und sie hatten seit ihrer Scheidung vor etwa drei Jahren ein relativ gutes Verhältnis. Obwohl er nicht gerade der beste aller Ehemänner gewesen war, war er ein guter Vater. Er vergaß nie, ein Geburtstags- oder Weihnachtsgeschenk zu schicken, rief wöchentlich an und reiste mehrmals im Jahr quer durchs Land, um ein Wochenende mit seinem Sohn zu verbringen. Dann gab es natürlich noch die gesetzlich vorgeschriebenen Besuche – sechs Wochen im Sommer, jedes zweite Weihnachten und ein paar Tage in der Ferienwoche um Ostern. Annette, Davids neue Frau, hatte mit dem neuen Baby alle Hände voll zu tun, aber Kevin mochte sie sehr und hatte sich nie vernachlässigt oder fehl am Platz gefühlt. Im Gegenteil, er schwärmte immer von seinen Besuchen und erzählte, wie viel Spaß er gehabt habe. Manchmal war sie fast ein bisschen eifersüchtig, aber sie tat ihr Bestes, um es vor Kevin zu verbergen.

Jetzt, am Strand, lief sie in mäßigem Tempo. Deanna würde mit dem Frühstück auf sie warten – Brian war dann schon fort –, und Theresa freute sich darauf, mit ihr zu plaudern. Deanna und Brian waren ein älteres Paar (beide gingen auf die sechzig zu), doch Deanna war ihre beste Freundin.

Deanna und ihr Mann Brian, Chef vom Dienst bei der Zeitung, für die Theresa arbeitete, kamen schon seit Jahren nach Cape Cod. Sie wohnten immer im selben Haus, dem Fisher House, und als Deanna erfuhr, dass Kevin einen Großteil des Sommers bei seinem Vater in Kalifornien verbringen würde, hatte sie auf einem Besuch Theresas bestanden. »Brian spielt jeden Tag Golf«, hatte sie gesagt, »und überhaupt, was willst du sonst tun? Du brauchst einfach mal einen Tapetenwechsel.« Theresa wusste, dass sie recht hatte, und nach einigen Tagen Bedenkzeit hatte sie die Einladung schließlich angenommen. »Ich bin so froh«, hatte Deanna mit einem triumphierenden Leuchten in den Augen gesagt. »Es wird dir dort gefallen.«

Theresa musste zugeben, dass es ein wunderschöner Ort war. Das Fisher House war ein hübsch restauriertes Kapitänshaus am Rand einer Klippe mit Blick auf die Bucht von Cape Cod, und als sie das Haus jetzt in der Ferne erblickte, verlangsamte sie das Tempo. Im Gegensatz zu den anderen Joggern hielt sie nichts vom Endspurt, sondern zog auf den letzten Metern eine gemächlichere Gangart vor. Mit sechsunddreißig erholte sich ihr Körper nicht mehr so schnell wie früher.

Während ihr Atem langsam zur Ruhe kam, überlegte sie, wie sie den Rest des Tages verbringen sollte. Sie hatte fünf Bücher mitgenommen, Bücher, die sie seit einem Jahr hatte lesen wollen. Es blieb ihr einfach nie genügend Zeit – mit Kevin und seiner unerschöpflichen Energie, mit dem Haushalt und mit all der Arbeit, die sich ständig auf ihrem Schreibtisch stapelte. Als Kolumnistin für die Boston Times war sie, um wöchentlich ihre drei Kolumnen schreiben zu können, unter ständigem Termindruck. Die meisten ihrer Kollegen glaubten, sie würde ihre Artikel über moderne Kindererziehung aus dem Ärmel schütteln – einfach dreihundert Wörter heruntertippen –, doch das war ein Irrtum. Ständig mit etwas Originellem aufzuwarten war nicht mehr einfach – vor allem wenn sie ihre Artikel an mehrere Zeitungen verkaufen wollte. Ihre Kolumne »Moderne Kindererziehung« erschien bereits in sechzig Zeitungen des Landes, auch wenn die meisten wöchentlich nur eine oder zwei ihrer Kolumnen abdruckten. Und da sie erst seit anderthalb Jahren Angebote der Presseagentur bekam und bei den meisten Zeitungen als Neuling galt, konnte sie sich nicht einmal ein paar »freie« Tage leisten. Der Platz für Kolumnen ist in den meisten Zeitungen äußerst begrenzt, und es gibt Hunderte von Kolumnisten, die sich darum schlagen.

Theresa verfiel in Schritttempo, blieb schließlich stehen und betrachtete eine Seeschwalbe, die über ihr am Himmel kreiste. Sie wischte sich mit dem Unterarm den Schweiß vom Gesicht, holte tief Luft, hielt den Atem einen Augenblick an und atmete langsam wieder aus. Dann blickte sie aufs Meer. Da es früh war, lag noch dichter Nebel über dem Wasser, doch das würde sich rasch ändern, sobald die Sonne etwas höher stand. Es sah verlockend aus. Nach einer Weile zog sie Schuhe und Socken aus, lief an den Rand des Wassers und ließ die winzigen Wellen über ihre nackten Füße schwappen. Das Wasser war erfrischend, und sie watete ein paar Minuten hin und her. Plötzlich war sie froh, dass sie sich in den letzten Monaten die Zeit genommen hatte, mehrere zusätzliche Kolumnen zu schreiben, sodass sie ihre Arbeit diese Woche würde vergessen können. Sie konnte sich gar nicht mehr erinnern, wann sie sich das letzte Mal nicht in Reichweite ihres Computers befunden und keine drängenden Termine gehabt hatte, und so war sie glücklich, eine Weile ihrem Schreibtisch fernzubleiben. Es war fast, als hätte sie ihr Leben wieder in der Hand und dürfte noch einmal von vorne beginnen.

Zugegeben, es gab eine Menge Dinge, die sie zu Hause hätte erledigen sollen. Das Badezimmer hätte längst neu tapeziert und renoviert werden müssen, es gab eine Unmenge Löcher von Nägeln in den Wänden, die man zuspachteln musste, und die ganze Wohnung gehörte gestrichen. Vor zwei Monaten hatte sie Tapete und Wandfarbe, Handtuchhalter, Türklinken, einen neuen Spiegel und das nötige Werkzeug gekauft, aber sie hatte die Schachteln nicht einmal geöffnet. Das war etwas, das immer auf das nächste Wochenende verschoben werden konnte, obwohl die Wochenenden oft genauso mit Arbeit ausgefüllt waren wie die Werktage. Die gekauften Sachen steckten noch immer in ihren Einkaufstüten gleich hinter dem Staubsauger, und jedes Mal, wenn sie den Besenschrank öffnete, schienen sie sich über ihre guten Vorsätze lustig zu machen. Vielleicht, wenn sie von ihrem Urlaub zurückkam …

Theresa ließ den Blick schweifen und bemerkte einen Mann, der ein Stück von ihr entfernt am Strand stand. Er war älter als sie, so um die fünfzig, und sein Gesicht war braun gebrannt, so als lebte er das ganze Jahr über hier. Er rührte sich nicht vom Fleck, stand nur da und ließ das Wasser seine Beine umspülen. Theresa bemerkte, dass er die Augen geschlossen hielt, als wolle er die Schönheit der Welt genießen, ohne sie zu sehen. Er trug ausgeblichene Jeans, die bis zu den Knien hochgekrempelt waren, und ein Hemd, das salopp über der Hose hing. Während sie ihn so beobachtete, wünschte sie plötzlich, ein anderer Mensch zu sein. Wie mochte es sein, über den Strand zu laufen und sich um nichts in der Welt kümmern zu müssen? Wie mochte es sein, fern von der Hektik Bostons jeden Tag an einen ruhigen Ort wie diesen zu kommen, nur um zu genießen, was das Leben zu bieten hatte?

Sie watete etwas weiter ins Wasser und folgte dem Beispiel des Mannes, in der Hoffnung, das zu empfinden, was er empfand. Aber als sie die Augen schloss, konnte sie nur an Kevin denken. Wie sehr sie sich wünschte, mehr Zeit mit ihrem Sohn zu verbringen und dabei mehr Muße zu haben! Sie wollte mit ihm zusammensitzen und mit ihm plaudern, Monopoly spielen oder einfach nur fernsehen, ohne ständig das Gefühl zu haben, aufstehen und etwas Wichtigeres tun zu müssen. Sie kam sich manchmal unehrlich vor, wenn sie Kevin versicherte, dass er an erster Stelle stand und dass die Familie das Wichtigste war.

Das Problem war nur, dass es immer etwas zu tun gab. Geschirr musste gespült, Wäsche gewaschen, das Badezimmer geputzt, die Katzenstreu erneuert werden; das Auto musste zur Inspektion gebracht, Rechnungen mussten bezahlt werden. Kevin, ihre größte Stütze im Haushalt, war fast so beschäftigt wie sie, mit Schule und Freunden und all seinen anderen Aktivitäten. Und so kam es, dass Zeitungen ungelesen im Papierkorb landeten, Briefe ungeschrieben blieben, dass sie manchmal, wie etwa jetzt, fürchtete, ihr Leben könne ihr entgleiten.

Aber wie ließ sich das alles ändern? »Mach im Leben immer eins nach dem anderen«, hatte ihre Mutter immer gesagt, aber ihre Mutter hatte nicht außer Haus arbeiten und einen lebhaften und selbstbewussten, aber liebebedürftigen Sohn ohne Vater aufziehen müssen. Sie konnte nicht begreifen, welchem Druck Theresa täglich ausgesetzt war. Auch ihre jüngere Schwester Janet, die in die Fußstapfen ihrer Mutter getreten war, verstand sie nicht. Sie war seit knapp elf Jahren glücklich verheiratet und hatte drei reizende Töchter als Beweis ihres Glücks. Ihr Mann Edward war keine Leuchte, dafür aber zuverlässig und fleißig, und er verdiente genügend Geld, sodass Janet nicht arbeiten musste. Manchmal dachte Theresa, ein solches Leben würde ihr behagen, auch wenn sie dann ihren Beruf würde aufgeben müssen.

Doch das war nicht möglich. Nicht, seitdem sie von David geschieden war. Und das waren jetzt schon drei Jahre, vier sogar, wenn man das erste Jahr der Trennung hinzuzählte. Sie hasste David nicht für das, was er getan hatte, aber ihre Achtung vor ihm war erschüttert. Ehebruch, egal ob nur ein kurzer Seitensprung oder eine dauerhafte Affäre, war etwas, womit sie nicht leben konnte. Daran änderte auch die Tatsache nichts, dass er die Frau, mit der er seit zwei Jahren zusammenlebte, nicht geheiratet hatte. Der Vertrauensbruch war irreparabel.

David war nach ihrer Trennung in seinen Heimatstaat Kalifornien zurückgekehrt und hatte wenige Monate später Annette kennengelernt. Seine neue Lebensgefährtin war sehr fromm und weckte nach und nach Davids Interesse für die Kirche. Der Agnostiker David schien immer schon auf der Suche nach einem höheren Sinn in seinem Leben gewesen zu sein. Jetzt ging er regelmäßig in die Kirche und engagierte sich sogar neben dem Pastor als Eheberater. Was mochte er wohl jemandem raten, der das Gleiche getan hatte wie er, fragte sie sich oft, und wie konnte er anderen helfen, wenn er sich selbst nicht hatte beherrschen können? Sie wusste es nicht, und genau genommen war es ihr auch gleichgültig. Sie war einfach nur froh, dass er sich immer noch um seinen Sohn kümmerte.

Natürlich waren nach der Trennung auch viele Freundschaften zerbrochen. Jetzt, da sie solo war, schien sie bei Weihnachtsfeiern oder Grillfesten fehl am Platze. Einige Freunde aber waren ihr geblieben, sie sprachen auf ihren Anrufbeantworter, luden sie zu einer Party oder zu einem Abendessen ein. Gelegentlich nahm sie die Einladung an, meist aber erfand sie eine Ausrede. Keine der Freundschaften erschien ihr so wie früher zu sein. Die Umstände veränderten sich, die Menschen veränderten sich, und das Leben draußen vor dem Fenster ging weiter.

Seit ihrer Scheidung war sie nur selten mit Männern ausgegangen. Nicht dass sie eine unattraktive Frau gewesen wäre. Ganz im Gegenteil, das jedenfalls wurde ihr oft bestätigt. Sie hatte dunkelbraunes glattes und seidiges Haar, das schulterlang war. Ihre Augen, die ihr die meisten Komplimente einbrachten, waren braun und hatten goldene Flecken, die im Sonnenlicht funkelten. Da sie täglich joggte, war sie fit und sah jünger aus, als sie war. Sie fühlte sich auch nicht alt, aber wenn sie sich in letzter Zeit im Spiegel betrachtete, glaubte sie zu sehen, wie das Alter sie einzuholen begann. Ein neues Fältchen um die Augenwinkel, ein graues Haar, das über Nacht gewachsen zu sein schien, ein etwas müder Blick, der die ständige Anspannung verriet.

Ihre Freunde erklärten sie für verrückt. »Du siehst besser aus als vor Jahren«, beharrten sie, und Theresa bemerkte manchmal, dass ihr im Supermarkt noch Männer nachschauten. Aber sie war eben keine zweiundzwanzig mehr, würde es nie wieder sein. Nicht dass sie das wünschte, doch manchmal dachte sie, sie sollte ihre Lebenserfahrung nutzen. Andernfalls würde sie bestimmt auf einen anderen David reinfallen – auf einen gut aussehenden Mann, den es nach den erfreulichen Dingen des Lebens gelüstete und der davon ausging, dass für ihn keine Regeln galten. Doch Regeln waren, verdammt noch mal, wichtig, vor allem in der Ehe. Ihr Vater und ihre Mutter hatten sie nicht verletzt, ihre Schwester und ihr Schwager nicht und Deanna und Brian genauso wenig. Warum hatte er es tun müssen? Und warum, so fragte sie sich, während sie reglos am Wasser stand, warum kehrten ihre Gedanken nach all dieser Zeit immer wieder zu diesem Thema zurück?

Es hing wohl damit zusammen, dass sie beim Eintreffen der Scheidungspapiere das Gefühl gehabt hatte, ein kleiner Teil ihrer selbst sei gestorben. Ihr anfänglicher Zorn war in Traurigkeit umgeschlagen und in eine Art Abgestumpftheit. Obwohl sie ständig in Bewegung war, kam es ihr vor, als spiele sich in ihrem Leben nichts Besonderes mehr ab. Ein Tag schien wie der andere, und es fiel ihr oft schwer, sie auseinanderzuhalten. Einmal, es musste vor einem Jahr gewesen sein, hatte sie an ihrem Schreibtisch gesessen und etwa eine Viertelstunde darüber gegrübelt, was ihre letzte spontane Tat gewesen war. Es war ihr keine eingefallen.

Die ersten Monate waren sehr schwer gewesen. Dann aber war ihr Zorn verebbt, und sie hatte nicht länger das drängende Bedürfnis verspürt, auf David einzuschlagen und es ihm heimzuzahlen. Sie hatte nur noch Selbstmitleid empfunden. Selbst die Tatsache, dass sie Kevin ständig um sich hatte, vermochte nichts daran zu ändern, dass sie sich allein auf der Welt fühlte. Eine Zeit lang hatte sie nachts nicht mehr als ein paar Stunden geschlafen, und manchmal war sie in der Redaktion von ihrem Schreibtisch aufgestanden und hatte sich in ihr Auto gesetzt, um zu weinen.

Jetzt, nachdem drei Jahre vergangen waren, hatte sie echte Zweifel, dass sie je wieder jemanden so würde lieben können wie David. Als sie David auf einer Studentenparty das erste Mal gesehen hatte, war ihr sofort klar gewesen, dass sie mit ihm zusammen sein wollte. Ihre junge Liebe war ihr damals so überwältigend, so mächtig erschienen. Sie hatte nachts manchmal stundenlang wach im Bett gelegen und an ihn gedacht, und wenn sie über das Campusgelände gelaufen war, hatte sie so strahlend gelächelt, dass andere zurücklächelten.

Doch eine Liebe wie diese ist nicht von Dauer, das jedenfalls war ihre Erfahrung. Mit den Jahren entstand eine andere Art von Beziehung. David und sie wurden älter – und entwickelten sich auseinander. Sie konnten sich kaum noch erinnern, warum sie sich anfangs so zueinander hingezogen gefühlt hatten. Im Rückblick kam es Theresa vor, als wäre David ein ganz anderer Mensch geworden, auch wenn sie nicht hätte sagen können, wann dieser Wandel eingesetzt hatte. Doch alles ist möglich, wenn die Flamme einer Liebe erlischt, und für ihn war sie erloschen. Eine Zufallsbegegnung in einem Videoshop, ein Gespräch, das zu einem Lunch und schließlich zu Aufenthalten in verschiedenen Hotels rund um Boston geführt hatte.

Das Gemeine an der ganzen Geschichte war, dass er ihr manchmal immer noch fehlte – zumindest seine guten Seiten. Die Ehe mit David war bequem wie ein Bett gewesen, in dem man seit Jahren schlief. Sie war es gewohnt gewesen, einen anderen Menschen um sich zu haben, mit ihm zu reden oder ihm zuzuhören; sie hatte es genossen, morgens mit dem Duft von Kaffee aufzuwachen. Nun fehlte ihr die Gegenwart eines anderen Erwachsenen in der Wohnung. Am meisten aber vermisste sie die Intimität, das Kuscheln und Flüstern hinter verschlossenen Türen.

Kevin war noch nicht alt genug, um das zu verstehen, und obwohl sie ihn über alles liebte, war es nicht die Art von Liebe, nach der sie sich jetzt so sehnte. Ihr Gefühl für Kevin war Mutterliebe, sicher die tiefste und heiligste Liebe, die es gibt. Noch immer ging sie, wenn er schon schlief, oft in sein Zimmer und setzte sich an sein Bett, nur um ihn zu betrachten. Kevin sah im Schlaf immer so friedlich, so unschuldig aus. Anders als tagsüber, wenn er ständig in Bewegung schien, weckte der Anblick ihres schlafenden Kindes bei ihr alte Gefühle aus der Zeit, als er noch ein Baby gewesen war. Aber selbst diese wundervollen Gefühle änderten nichts an der Tatsache, dass sie, wenn sie sein Zimmer verlassen hatte, nach unten ging, um sich ein Glas Wein einzuschenken, und nur Kater Harvey ihr dabei Gesellschaft leistete.

Sie träumte immer noch davon, sich wieder zu verlieben, von jemandem in die Arme genommen zu werden, der ihr das Gefühl gab, dass sie der einzige wichtige Mensch für ihn war. Doch es war schwer, wenn nicht gar unmöglich, jemand Geeigneten kennenzulernen. Die meisten Männer in den Dreißigern, die sie kannte, waren verheiratet, und diejenigen, die geschieden waren, suchten meist eine Jüngere, die sie genau nach ihren Wünschen formen konnten. Also blieben nur ältere Männer übrig, und obwohl sie sich durchaus vorstellen konnte, sich in jemand Älteren zu verlieben, blieb die Sorge um ihren Sohn. Sie wollte einen Mann, der Kevin so behandeln würde, wie er es verdiente, und nicht wie ein unliebsames Anhängsel einer Frau, die er begehrte. Tatsache war, dass die älteren Männer meist erwachsene Kinder hatten; und nur wenige waren auf die Probleme erpicht, die die Erziehung eines Halbwüchsigen in den Neunzigern mit sich brachte. »Ich hab mein Teil geleistet«, hatte ihr ein Mann klipp und klar gesagt. Und das war das Ende ihrer kurzen Beziehung gewesen.

Zugegebenermaßen fehlte ihr auch der körperliche Aspekt der Liebe. Seit der Scheidung von David war sie mit keinem Mann mehr zusammen gewesen. Natürlich hatte es Gelegenheiten gegeben – jemanden fürs Bett zu finden war nicht schwer für eine attraktive Frau –, aber das war einfach nicht ihr Stil. So war sie erzogen, und daran wollte sie auch jetzt nichts ändern. Sex war etwas zu Wichtiges, zu Besonderes, um mit irgendeinem x-Beliebigen geteilt zu werden. Genau genommen hatte sie in ihrem Leben nur mit zwei Männern geschlafen – mit David und mit Chris, ihrem ersten richtigen Freund. Nur für ein paar Minuten der Lust wollte sie diese Liste nicht erweitern.

Jetzt also, in dieser Urlaubswoche – allein in der Welt und ohne Aussicht auf einen Mann –, wollte sie etwas nur für sich tun. Bücher lesen, die Füße hochlegen und ohne das Flackern des Fernsehers im Hintergrund ein Glas Wein trinken. Ein paar Briefe an Freunde schreiben, von denen sie lange nicht gehört hatte. Spät zu Bett gehen, zu viel essen, morgens joggen, wenn der Strand noch leer war. Sie wollte ihre kurzfristige Freiheit genießen.

Sie wollte auch einkaufen gehen. Nicht in Läden, die Nike-Schuhe und Diesel-T-Shirts verkauften, sondern in kleinen Boutiquen, die Kevin langweilig fand. Sie wollte ein paar neue Kleider anprobieren und zwei oder drei kaufen, die ihrer Figur schmeichelten, nur um sich das Gefühl zu geben, dass sie noch lebte, noch eine Frau war. Vielleicht würde sie sogar zum Friseur gehen. Sie trug ihr Haar seit Jahren unverändert und hatte es satt, jeden Tag gleich auszusehen. Und falls sie ein netter Typ zum Essen einlud, würde sie vielleicht zusagen, nur um eine Gelegenheit zu haben, eins der neuen Kleider zu tragen.

Von neuem Optimismus erfüllt, blickte sie sich nach dem Mann von vorhin um, doch er war so unbemerkt verschwunden, wie er gekommen war. Auch sie war jetzt bereit zu gehen. Ihre Beine waren im kalten Wasser ganz steif geworden, und sich hinzusetzen und ihre Schuhe anzuziehen war etwas schwieriger, als sie erwartet hatte. Sie hatte kein Handtuch dabei und zögerte einen Augenblick. Ach was, dachte sie. Ich bin im Urlaub, am Strand. Was brauche ich da Schuhe oder Socken?

Einen Schuh in jeder Hand, machte sie sich auf den Heimweg. Als sie dicht am Wasser entlanglief, entdeckte sie plötzlich einen halb im Sand verborgenen großen Stein, nahe der Markierung, wo die morgendliche Flut ihren Höchststand erreicht hatte. Merkwürdig, dachte sie bei sich, der Stein wirkt irgendwie fehl am Platz.

Beim Näherkommen fiel ihr auf, dass er sonderbar aussah, ganz glatt und lang, und als sie jetzt direkt davorstand, sah Theresa, dass es gar kein Stein war. Es war eine Flasche, die wohl von einem Touristen oder einem der Teenager des Ortes achtlos liegen gelassen worden war. Theresa blickte sich um, erspähte einen Abfalleimer, der an einen Rettungsschwimmer-Turm gekettet war, und fand, dies sei eine Gelegenheit für die gute Tat des Tages. Beim Bücken stellte sie erstaunt fest, dass die Flasche zugekorkt war. Sie hob sie auf, hielt sie gegen das Licht und entdeckte ein Papier darin.

Einen Augenblick fühlte sie ihr Herz schneller schlagen, denn eine Erinnerung stieg in ihr auf. Als sie acht gewesen war, hatte sie mit ihren Eltern ihre Ferien in Florida verbracht. Dort hatte sie mit einer Freundin eine Flaschenpost losgeschickt, aber nie eine Antwort erhalten. Die Botschaft war ein einfacher Kinderbrief gewesen, aber zu Hause war sie dann wochenlang zum Briefkasten gelaufen in der Hoffnung, dass jemand die Flasche gefunden und ihr von dem Ort, wo sie an Land gespült worden war, zurückgeschrieben hätte. Als kein Brief kam, war die Enttäuschung groß, doch langsam verblasste die Erinnerung, bis sie ganz ausgelöscht war. Aber jetzt fiel ihr alles wieder ein. Wer war diese Freundin gewesen? Ein Mädchen ihres Alters … Tracy? … Nein … Stacey? … Ja, Stacey! Stacey war ihr Name! Sie hatte ihre Ferien bei ihren Großeltern verbracht … und … doch an mehr konnte sie sich nicht erinnern, sosehr sie sich auch bemühte.

Sie begann an dem Korken zu ziehen. Fast erwartete sie, dass es die Flasche war, die sie damals ins Meer geworfen hatte, auch wenn sie wusste, dass es Unsinn war. Sicher kam sie von einem Kind, und sie würde ihm gerne antworten, vielleicht mit einem kleinen Souvenir von Cape Cod oder einer Ansichtskarte.

Der Korken steckte sehr fest, und ihre Finger glitten mehrmals ab, als sie versuchte, ihn herauszuziehen. Sie grub ihre kurzen Fingernägel in den vorstehenden Teil und drehte die Flasche langsam herum. Nichts. Mit der anderen Hand versuchte sie es noch einmal. Sie klemmte die Flasche zwischen die Knie, griff noch fester zu, und als sie fast schon aufgeben wollte, gab der Korken ein wenig nach. Sie wechselte erneut die Hände, packte mit frischer Kraft zu … drehte langsam die Flasche … der Korken bewegte sich … noch ein wenig mehr … und plötzlich lockerte er sich und glitt leicht heraus.

ENDE DER LESEPROBE