Mittsommersehnsucht - Elfie Ligensa - E-Book
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Elfie Ligensa

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Beschreibung

Alles hat die junge Ärztin Andrea für ihre große Liebe, Jonas Fredriksen, aufgegeben: ihren Job, ihre Heimat, ihre Freunde. Doch als sie im norwegischen Bergen ankommt, erwischt sie den Geliebten in flagranti. Kurzerhand bucht sie eine Passage mit den Hurtigruten! Zwischen überwältigenden Fjorden und der Weite des Meeres findet sie Ruhe und neue Freunde. Aber eines Tages wird ihr Können als Ärztin gefragt, und sie gerät in einen Strudel aus kriminellen Machenschaften und Gefühlen für einen geheimnisvollen jungen Mann ...

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Das Buch

Es hat vor zwei Jahren als Urlaubsflirt in Südafrika begonnen – seit dieser Zeit sind die Düsseldorfer Chirurgin Dr. Andrea Sandberg und der norwegische Hotelier Jonas Fredriksen ein Paar. Um immer mit dem geliebten Mann zusammen sein zu können, hat sich Andrea an einer Klinik in Bergen beworben – und ist angenommen worden. Drei Wochen früher als mit Jonas besprochen reist sie in die alte Hansestadt, ihre Ankunft soll eine Überraschung werden. Und das wird sie auch – für An­drea, denn sie ertappt Jonas in flagranti.

Andrea will nur fort aus Bergen. Als sie im Hafen ein Post­schiff sieht, das in wenigen Stunden auslaufen wird, bucht sie eine Passage in Richtung der Lofoten.

Die Landschaft ist gigantisch, der Ausblick wirkt be­ruhigend auf Andrea. Sie lernt einen geheimnisvollen alten Mann kennen und ein todkrankes kleines Mädchen, und sie wird nach einem Unfall als Ärztin gefordert. Ihr Pa­tient ist ein attraktiver junger Mann, der Andrea in un­geahnte Gefühls­verirrungen stürzt: Wird ihre Zukunft doch in Norwegen liegen?

Die Autorin

Sie liebt skandinavische Krimis, altes Silber und guten Wein. Hausarbeit hingegen gehört nicht gerade zu Elfie Ligensas Leidenschaften. Sie schreibt lieber an ihren erfolgreichen Romanen. Ihr Mann hat sich in dieses Schicksal gefügt, und deshalb gibt es bei dem glücklich verhei­rateten Paar aus dem Rheinland sonntags immer süße Teilchen vom Konditor.

Von Elfie Ligensa ist in unserem Hause bereits erschienen:

Im Herzen der Feuersonne Das Paradies liegt in Afrika

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein-taschenbuch.de

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch 1. Auflage November 2012 © Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2012 Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München Titelabbildung: Getty Images/Persson, Magnus, Per Satz und eBook: LVD GmbH, Berlin

ISBN 978-3-8437-0365-9

1

Zum Hotel Peer Gynt bitte.« Andreas Herz begann nervös zu schlagen, als sie sich auf die Rückbank des ­Taxis sinken ließ. Der Fahrer, ein grauhaariger Mann mit Wikingerbart und einer etwas zu großen Nase, nickte. Er hatte den silberfarbenen Rollkoffer und die braune Arzttasche, die Andrea mit im Flugzeug gehabt hatte, im Kofferraum verstaut und setzte sich jetzt mit einem unterdrückten Seufzer hinters Lenkrad.

»Das liegt aber am Stadtrand«, erklärte er und sah seinen Fahrgast im Rückspiegel fragend an.

»Ich weiß.«

»Ja, dann …« Er fädelte sich in den Verkehr ein. Der Flughafen von Bergen lag etwa fünfzehn Kilometer südlich der Stadt. Achtlos schaute Andrea Sandberg aus dem Fenster. Sie war bestimmt schon ein Dutzend Mal hier gewesen, die Umgebung des Flughafens war so uninspirierend wie die der meisten Flughäfen der Welt. Ein paar Werbetafeln gaben Hinweise auf Bootsausflüge zum nahe gelegenen Geiranger-Fjord oder zu den nördlichen Gebieten, dorthin, wo die Sami mit ihren Rentierherden daheim waren. Ein Foto zeigte eine hölzerne Stabkirche, ein anderes die Weltkugel am Polarkreis.

Sekundenlang schloss die junge Ärztin die Augen. Am Fuß der eisernen Weltkugel hatte ihr Jonas seine Liebe gestanden. Nach einer romantischen Nacht in einem Hotel in Trondheim waren sie zu dem weitläufigen Nordkap-Plateau weitergefahren. Wenn man hier stand, hatte man wahrlich den Eindruck, am Ende der Welt angelangt zu sein. Es war ein trockener, heller Tag gewesen, fast hundert Touristen wurden Zeugen, als Jonas sie umarmte, lange küsste und sagte: »Ich liebe dich, schöne Doktorin, und ich würde dich am liebsten nie mehr loslassen. Seit wir uns getroffen haben, muss ich immerzu an dich denken.« So etwas wie Ironie hatte in seinen Worten mitgeschwungen, als er hinzufügte: »Das muss doch Schicksal sein, meinst du nicht auch? In Kapstadt begegnen wir uns, machen gemeinsam Urlaub in diesem Traumland … und ich verliere mein Herz an dich.«

Mir ist es ganz genauso ergangen, dachte Andrea. Dieser Urlaub – ihr erster, seit sie als Chirurgin an der Düsseldorfer Universitätsklinik arbeitete – war auch ihr schicksalhaft erschienen. Und Jonas, ein blonder Hüne mit dem Aussehen eines jungen Robert Redford, schien der Mann zu sein, der für sie bestimmt war.

So oft es ging, besuchte sie ihn in seiner Heimat. Jonas war nicht so leicht abkömmlich wie sie, denn er leitete in Bergen ein großes Hotel, musste fast rund um die Uhr ansprechbar sein. Und so kam Andrea, wann immer sie einige freie Tage angesammelt hatte, in die alte Hansestadt, die so reizvoll war, dass sie sich hier beinahe heimisch fühlte. Und nach dem dritten Besuch beschloss sie, sich an einer Klinik in Bergen zu bewerben. Ärzte aus dem Ausland waren in Norwegen gern gesehen, und so bekam sie bereits nach wenigen Wochen eine Zusage.

Jonas … sie freute sich so darauf, ihn zu überraschen! Drei Wochen früher als geplant hatte sie ihre Arbeit in Düsseldorf beenden können und war spontan in das nächste Flugzeug gestiegen. Nur zwei Koffer hatte sie dabei, alles andere war verschifft worden und würde ­sicher wenig später als sie selbst in Jonas’ Hotel eintreffen.

»Wir sind da. Ich wünsche einen schönen Aufenthalt in Bergen«, sagte der Taxifahrer, als sie den Stadtteil Fana erreicht hatten, und lud ihr Gepäck aus. Andrea glaubte die nahe See zu riechen, den unverwechselbaren Geruch nach Salz und Teer, nach Fisch und Tang. Aber das war wohl nur Einbildung. »Danke.« Sie gab ein üppiges Trinkgeld. Warum sollte der Mann mit der viel zu großen, leicht geröteten Nase nicht auch ein wenig von dem Glück, das sie verspürte, abbekommen? Er nickte nur zum Dank und ging, sich den Bart streichend, zurück zur Fahrertür.

Ein Portier, der Andrea nicht kannte, begrüßte sie höflich und fragte sie, wie lange sie bleiben wolle.

»Das kommt ganz auf Ihren Chef an«, erwiderte An­drea lächelnd. »Lassen Sie bitte das Gepäck in sein Büro bringen. Ich gehe gleich hinauf in seine Privaträume.«

»Aber …« Der Portier, etwa sechzig Jahre alt und mit einem ähnlichen Vollbart wie der Taxifahrer, zuckte nur mit den Schultern und zeigte zum Lift. »Dann kennen Sie ja den Weg.« Er sprach ein fast akzentfreies Deutsch.

Kam es ihr nur so vor oder war tatsächlich alles Freundliche, Verbindliche aus seiner Miene verschwunden? An­drea zuckte unmerklich mit den Schultern. Die Vorfreude auf das Wiedersehen hatte sie wohl ein wenig verwirrt, denn als sie sich noch einmal nach dem Mann umblickte, sah er ihr mit einem unverbindlichen Lächeln nach.

Im vierten Stock des Hotels, das zur Südseite hin einen Blick auf das Grieg-Haus gewährte, besaß Jonas Fredriksen eine Wohnung, die durch eine Wendeltreppe mit einem darüber liegenden Maisonettebereich verbunden war. Nur drei Räume befanden sich hier oben – ein geräumiges Schlafzimmer, an das sich ein Bad anschloss, eine Küche und ein Wintergarten, der eine fantastische Aussicht bot. Weit dehnten sich die grünen Hügel bis hinunter zum Fjord. Dort, in einem Felsengrab, lagen Edvard Grieg und seine Frau Nina begraben. Bei ihrem ersten Besuch hier war Andrea, so wie viele Touristen, dorthin gegangen und hatte an dem Gedenkstein eine kurze Andacht gehalten.

Sie wollte gerade an Jonas’ Wohnungstür läuten, als sie sah, dass die Tür nur angelehnt war. Sicher war Jonas für einen Moment nach oben gegangen, um etwas zu holen. Es war schon recht praktisch, wenn man gleich über dem Arbeitsplatz wohnte.

Sie lächelte und trat ein. Die fast rechteckige Diele war mit hellen Ahorndielen ausgelegt. Links befand sich ein ebenfalls aus Ahorn gefertigter Einbauschrank, rechts stand eine bunt bemalte kleine Truhe, über der zwei rechteckige Lampen hingen. Geradeaus ging es zum großen Wintergarten, rechts zur Küche, die jedoch kaum benutzt wurde. Der Hotelier aß meist mit seinen Leuten zusammen. Jonas legte Wert darauf, dass auch das Essen für die Hotelangestellten gut und reichhaltig war.

»Jonas?«

Keine Antwort. Dabei war Andrea sicher, Geräusche gehört zu haben.

Langsam, zögernd stieg sie die helle Holztreppe hinauf – und glaubte im nächsten Moment, einen Schlag in die Magengrube bekommen zu haben. Das war ein schlechter Film, in den sie da hineingeraten war! So etwas passierte vielleicht in billigen Soaps, doch nicht ihr, nicht im wirk­lichen Leben.

Aber das Bild blieb: Jonas lag nackt mit einem langbeinigen, blutjungen Mädchen auf seinem Bett, über das eine rotbraune Fuchsfell-Decke gebreitet war. Die beiden waren so intensiv miteinander beschäftigt, dass sie Andrea nicht bemerkten. Neben dem Bett stand ein weißer Barwagen, darauf ein Champagnerkübel, zwei Gläser, eine Silbervase mit einer Rose – das übliche Szenario einer routinierten Verführung, schoss es Andrea durch den Kopf. Bei ihren ersten beiden Besuchen war auch sie von Jonas mit Champagner, frischen Erdbeeren und roten Rosen begrüßt worden. Sie hatte es romantisch gefunden und erinnerte sich jetzt noch genau daran, wie ausgiebig und leidenschaftlich Jonas und sie das Wiedersehen gefeiert hatten.

War das wirklich erst ein halbes Jahr her?

Andrea biss sich auf die Lippe, bis sie Blut schmeckte. Nur nicht schreien jetzt. Nur nicht nach der bauchigen Tonvase greifen, die auf einem Sideboard links von der Tür stand und geradezu dazu einlud, nach Jonas geschleudert zu werden. Nur nicht weinen …

Nur weg! Fort aus dem Haus, so weit weg wie möglich von Jonas!

Wie blind rannte sie die Treppen und dann den Hang hinunter, stolperte zweimal über kleine Steinbrocken, die von Grasbüscheln verdeckt waren, rannte an Touristen vorbei, die das Grieg-Haus Troldhaugen und die Grabstätte des Komponisten besichtigen wollten.

Die irritierten, teils mitleidigen, teils verständnislosen Blicke, die ihr folgten, bemerkte sie nicht. Erst als sie Seitenstechen bekam und nach Luft ringend am Straßenrand stehen bleiben musste, kam sie wieder zu sich. Die Enttäuschung wich Wut, aus Trauer wurde gerechter Zorn.

»Scheißkerl!«, schimpfte sie laut vor sich hin. »Verdammter Scheißkerl!«

»Junge Frau … wollen Sie zurück in die Stadt?« Der bärtige Taxifahrer, der sie hergebracht hatte, stand plötzlich neben ihr. Die dicke Nase leuchtete blaurot, doch seine Augen waren voller Wärme auf Andrea gerichtet. »Ich fahre zum Hafen. Zur Anlegestelle der Hurtig­ruten.« Er strich sich über den Bart und sah sie erwartungsvoll an. »Na, wäre das nichts für Sie, so eine Fahrt mit dem Postschiff? Die Reise würde Sie auf andere Gedanken bringen.«

Als sie nicht antwortete, sagte er: »Warten Sie hier. Ich hole Ihr Gepäck.«

»Ja, aber …« Sie schüttelte den Kopf. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie ihren Koffer und die Arzttasche im Hotel gelassen hatte.

Der Alte reagierte nicht, er wendete das Taxi, fuhr zurück zum Hotel – und war knappe fünf Minuten später wieder bei ihr. Andrea war langsam, mit gesenktem Kopf, weitergegangen. Tränen liefen ihr übers Gesicht. Es tat gut, weinen zu können, es nahm den Druck von ihrer Brust. Und dennoch blieben tausend quälende Gedanken: Warum tat ihr Jonas das an? Was faszinierte ihn an dem blonden Mädchen? Ihre perfekte Figur? Die Jugend? Ihre Unbeschwertheit? Andrea konnte sich gut vorstellen, dass die blonde Norwegerin das Leben unbekümmert genoss, dass sie von den Pflichten des täglichen Lebens, die ihren eigenen Alltag prägten, noch nicht viel wusste – oder wissen wollte.

Seinetwegen hab ich daheim alles aufgegeben … der Gedanke ließ Andrea noch heftiger weinen. Sie hatte an die wahre Liebe geglaubt, war sicher gewesen, mit Jonas in Norwegen ein neues Leben anfangen zu können. Sie hatten doch so viele Pläne gemacht. Hatten sich die gemeinsame Zukunft in vielen Stunden ausgemalt. Und jetzt? Alles vorbei. Von einer Sekunde zur anderen war ein Traum geplatzt.

Warum nur? Warum? Die Frage, auf die sie keine Antwort wusste, tat körperlich weh.

»Zum Hafen, nicht wahr?«, fragte der Taxifahrer.

Als Andrea nickte, glitt ein kleines Lächeln über das faltige Gesicht des Mannes. »In zwei Stunden geht ein Schiff nach Norden«, erklärte er mit ruhiger dunkler Stimme. »Buchen Sie eine Passage, Sie werden es nicht bereuen.«

»Aber …«

Er wischte den Einwand, den sie noch nicht mal ausgesprochen hatte, mit einer kleinen Handbewegung weg. »Sie wollen doch in meiner Heimat bleiben, oder?« Und ohne auf eine Antwort zu warten, fuhr er beinahe beschwörend fort: »Sie werden bleiben. Und glücklich werden.«

Durch das halb geöffnete Fenster wehte der Wind den Geruch nach Salz und Dieselöl, nach Fisch und Tang. Doch es duftete auch nach frischem Gebäck, und als das schwarze Taxi an einem Bäckereistand vorüberfuhr, knurrte Andreas Magen unüberhörbar. Sie biss sich auf die Lippe. Vor lauter Vorfreude auf Jonas hatte sie kaum etwas zu sich genommen vor dem Abflug. Und den Snack im Flieger hatte sie ignoriert, nur zwei Kaffee getrunken.

In den Lärm der Autos mischten sich laute Rufe der vielen Fischhändler, die fangfrische Lachse, Dorsch und Krabben anboten. Hin und wieder erklang das laute Tuten eines Schiffes, das auslief. Große Fähren und kleinere Ausflugsschiffe verließen den Hafenbereich oder liefen ein. Fischerboote und ein paar Segelyachten nahmen von einem anderen Hafenbereich aus Kurs hoch in den Norden.

»Dort liegt die Midnatsol, eines der schönsten Schiffe der Hurtigruten-Flotte.« Der bärtige Chauffeur wies mit der Hand nach links, wo am Kai ein Schiff lag, das fast schon die Ausmaße eines Kreuzfahrtschiffes besaß. »Ein Neffe von mir ist dort Erster Offizier. Ich kann mit ihm reden … er wird bestimmt noch einen Platz für Sie haben. Ach, übrigens, ich heiße Bengt.«

»Und ich Andrea.« Der Wind blies ihr eine blonde Locke ins Gesicht, die sich aus der lässig zusammengebun­denen Frisur gelöst hatte. Während ihres Dienstes trug An­drea das blonde Haar meist hochgesteckt, aber Jonas liebte es, seine Finger in den langen Haaren zu verstecken. Bei der Erinnerung an seine Hände, die erst das Haar, dann den Nacken und später ihren ganzen Körper gestreichelt hatten, bekam Andrea eine Gänsehaut.

Eine Möwe, die dicht über der Frontscheibe des Taxis hinwegflog, riss sie aus den Gedanken. Mit einer fast unwilligen Bewegung steckte sie die Haarlocke in das Gummiband, mit dem sie die Haare am Morgen zusammengebunden hatte.

Von einem Fährschiff, das den Hafen verließ, erklang dreimal lang anhaltendes Tuten. Ein paar Autos hupten, zwei kleine Jungen auf ihren Rädern fuhren laut klingelnd an dem Taxi vorbei. Sie hielten an einem Eisstand und bestellten, wild gestikulierend, ihre Eiswaffeln.

Der Taxifahrer drehte sich halb um. »Norwegen ist ein guter Platz zum Leben. Vergessen Sie das nicht.«

»Ich weiß. Aber ich kann trotzdem nicht einfach auf ein Schiff gehen. Das war nicht geplant. Und ich habe gar nicht genug Gepäck bei mir. Und außerdem …«

»Außerdem brauchen Sie Abwechslung, das ist am wichtigsten. Und Kleidung kann man überall kaufen.« Er zuckte mit den Schultern. »Auf einem Postschiff muss man keine Modenschau machen.« Er strich sich wieder über den Bart. »Ich denke mir, dass Sie die wichtigsten Dinge im Koffer haben, oder? Für die ersten Tage reichen sowieso zwei Pullover und eine Wetterjacke, es ist Regen angesagt.«

Wider Willen musste Andrea lächeln. »So kann auch nur ein Mann reden.« Sie sah vom Hafenkai aus hinüber zur anderen Seite, dorthin, wo die bunten Häuser der Brygge standen. Bereits 1350, hatte ihr Jonas bei ihrem ersten Besuch in seiner Heimatstadt stolz erzählt, war die erste Hanse-Niederlassung hier begründet worden. Und damit der Ruhm und Reichtum der Stadt. Die spitzgiebeligen bunten Holzhäuser waren zu Beginn des vorigen Jahrhunderts ein Opfer der Flammen geworden, doch seit 1955 wieder aufgebaut und mit neuem Leben erfüllt worden. Jetzt waren sie in helles Sonnenlicht getaucht und zogen das Interesse der Touristen, die durch die Straßen schlenderten, auf sich.

Auch der Ulriken, einer der sieben Berge, die die Stadt umgaben, war von der Sonne beschienen. Die Schwebebahn, die hinauffuhr, glänzte silbern inmitten von grünen Bäumen und braunen Felsen.

Tränen stiegen Andrea in die Augen, als sie sich daran erinnerte, dass sie häufig mit Jonas durch die engen Gassen des Stadtkerns spaziert war und sie gemeinsam in den Geschäften gestöbert hatten. Immer wieder hatte Jonas bei einer solchen Gelegenheit von der gemeinsamen Zukunft gesprochen, von einem Leben mit ihr.

»Komm zu mir. Ich bin sicher, du wirst rasch einen Job finden, wenn du dich an einem Krankenhaus in der Gegend bewirbst«, hatte er ihr versichert. »Und alle Patienten werden dich lieben – so wie ich!«

»Er ist es nicht wert.« Die dunkle Stimme des Taxifahrers riss sie aus ihren Gedanken.

»Was meinen Sie?«

»Der Mann – er ist nicht wert, dass Sie um ihn weinen. Machen Sie einen Strich unter die Beziehung, fangen Sie neu an.« Er wendete und fuhr zum Anlegeplatz des Hurtigruten-Schiffes. »Wollen wir fragen, ob noch eine Kabine frei ist?«

Andrea zögerte. Dieser alte Mann besaß eine ungeheure Ausstrahlung. Seine Augen blickten wach und wissend, seine dunkle Stimme hatte einen fast suggestiven Tonfall. Dabei sah er aus wie ein Waldschrat. Nein, korrigierte sie sich sofort, hier sagt man ja Troll dazu.

Doch Trolle trieben oft ihren Schabernack mit den Menschen, nicht immer verliefen die Begegnungen mit ihnen positiv. Bengt aber schien ein sehr netter Kerl zu sein. Vielleicht war er ein liebenswerter Troll. Sie lächelte. Was für ein Unsinn! Sie lebte im 21. Jahrhundert, da gehörten die Geschichten von Trollen und Elfen ins Märchenland. Langsam folgte sie dem Alten hinüber zum Anlegeplatz. Erst jetzt fiel ihr auf, dass er sie gesiezt hatte. Das war ungewöhnlich, denn in Norwegen duzte man sich. Ausnahmen bildeten höchstens Respektspersonen oder sehr viel ältere Menschen. Anfangs war es ihr nicht leichtgefallen, sich daran zu gewöhnen.

»Andrea?«

Jonas!

Er kam vom Parkplatz schräg gegenüber. Sein Hemd war, wie sie mit einer gewissen Ironie feststellte, falsch geknöpft, das sonst stets korrekt gescheitelte Haar nur mit ein paar Fingerstrichen geglättet. Der Blick, mit dem er Andrea ansah, war eine Mischung aus Unglauben und Entsetzen. »Du … du bist hier?«

»Wie du siehst.« Glaubt er wirklich, ich würde mich für Tage oder gar Wochen verkriechen und um ihn weinen? Das kommt ja gar nicht in Frage!, schoss es ihr durch den Kopf. Gesunde Wut und der trotzige Gedanke, dass sie auch ohne ihn gut zurechtkam, ließen sie kühl reagieren.

»Ja aber … Ich … wir … du wolltest doch …«

»Seit wann stotterst du, Jonas?« Ihr fiel es wirklich nicht leicht, ihm ruhig entgegenzusehen. Am liebsten wäre sie auf ihn zugerannt und hätte ihm das Gesicht zerkratzt. Verrückt, dachte sie im nächsten Moment. So was sieht man nur im Kino, da lassen die betrogenen Frauen ihrem Frust freien Lauf. Aber wir sind hier auf der Straße, und ich … ich werde ihm nicht zeigen, wie sehr er mich verletzt hat. Doch ihr Herz klopfte heftig, sie spürte, dass ihre Hände verdächtig zitterten, und verbarg sie rasch in den Jacken­taschen.

»Was machst du hier?«

»Das könnte ich dich auch fragen. Vor allem: Was soll dein Aufzug? Du siehst aus, als kämst du frisch aus dem Bett.« Der Seitenhieb musste sein, auch wenn ihr die Vorstellung beinahe körperlich weh tat. Immer wieder sah sie die Szene vor sich: Jonas und dieses blonde Mädchen auf seinem Bett. So wilden Sex hatten sie beide nie gehabt. Verdammt, warum eigentlich nicht? War sie ihm nicht aufregend genug gewesen? Hatte er mit ihr nicht diese Lust empfunden? Und wenn es so war – warum hatte er nicht mit ihr darüber gesprochen?

Jonas wurde rot. Sein Blick irrte suchend umher und blieb schließlich an einem jungen Mädchen hängen, das sich mit dem Fahrrad zwischen zwei geparkten Wagen hin­durchschlängelte. Ihr offenes weißblondes Haar wehte wie eine Fahne hinter ihr her.

»Ist sie dir davongelaufen?«

Nur zögernd drehte er den Kopf in Andreas Richtung. »Was meinst du?«

»Das blonde Mädchen, mit dem du eben noch im Bett warst.« Andrea wies hinüber zu der Radfahrerin. »Lauf ihr nach! Wahrscheinlich passt ihr gut zusammen. Mich musst du entschuldigen, das Schiff läuft gleich aus.«

»Ja, aber …«

»Du wiederholst dich, Jonas. Adieu.« Sie drehte sich zu dem alten Bengt um. »Kommen Sie mit aufs Schiff?«

»Sicher. Mein Neffe wäre sonst böse auf mich.« Er drehte sich noch einmal um, und der Blick, mit dem er ­Jonas maß, ließ den smarten Hotelier zusammenzucken.

2

Nun, wie gefällt dir das Schiff?« Knut Niebur, der Erste Offizier der Midnatsol, machte eine weiträumige Handbewegung. »Sie ist wunderbar, nicht wahr? Fast so luxuriös wie ein Traumschiff.«

Andrea sah zu dem fast zwei Meter großen Mann auf. Er war blond, braun gebrannt, und um seine blauen Augen zeigten sich feine Fältchen, die sich beim Lachen vertieften.

»Es ist – überwältigend.« Die junge Ärztin beugte sich über die Reling und sah hinunter ins Hafenbecken, wo winzig klein, Punkten ähnlich, die immer hungrigen Möwen auf den Wellen schaukelten und darauf warteten, dass ihnen ein paar Leckerbissen zugeworfen wurden. Langsam drehte sie sich zu Knut und Bengt um. »Ich kann verstehen, dass immer mehr Menschen eine solche Reise machen möchten.«

»Das freut uns auch sehr.«

»Und – es ist wirklich noch eine Kabine frei?«

»Sagte ich doch.« Der alte Bengt strich wieder einmal über seinen Bart. »Knut macht das schon, keine Sorge, Kindchen.«

Andrea zuckte leicht zusammen. Kindchen … so hatte sie zuletzt ihr Doktorvater genannt, der liebenswerte Professor Hillebrand. Er und seine Frau waren beinahe so ­etwas wie Eltern für Andrea gewesen. Kurz nachdem sie volljährig geworden war, hatten ihre Eltern einen Unfall erlitten und waren an den Folgen kurz hintereinander ­gestorben. Professor Hillebrand erinnerte sie häufig an ihren Paps, der so gern gelacht, so klug und weltoffen gewesen war.

»Komm mit, ich zeige dir dein Reich für die nächsten Tage.« Knuts Stimme riss sie aus ihren Gedanken. Er hatte ihren Koffer genommen, dazu die Reisetasche, und trug beides so, als seien es Leichtgewichte.

»Aber … du hast doch bestimmt anderes zu tun«, wandte sie ein. »Ich komme auch allein zurecht.«

Doch der Marineoffizier, der eine dunkelblaue Hose und einen blauen Pullover trug, unter dem der weiße Hemdkragen hervorschaute, schüttelte den Kopf. »Nichts da, ich bringe alle Passagiere, die mir wichtig sind, persönlich zur Kabine.« Er schmunzelte und wandte sich an Bengt. »Wartest du noch, bis wir zurück sind?«

»Nein, ich muss wieder los.« Der alte Mann reichte Andrea die Hand. »Eine gute Reise. Sie wird wichtig für dich werden, Kindchen, ich weiß es.«

»Danke. Für alles.« Ihre Augen füllten sich mit Tränen, als sie Bengt nachsah, der kurz die Hand an die blaue Wollmütze legte und dann so behände wie ein junger Mann die Gangway hinunterging.

»Andrea? Kommst du mit?«

»Ja. Sofort.« Ein letzter Blick ging zu dem Alten, der sich in diesem Moment noch einmal umschaute. Wieder strich er sich über den Bart, ehe er die Tür seines Taxis öffnete und in der nächsten Sekunde ihren Blicken entschwunden war.

Die Kabine, in die Knut sie führte, war unerwartet geräumig und mit allem Komfort ausgestattet. Helle Möbel, sonnengelbe Vorhänge vor dem schmalen Fenster, ein paar Bilder an der Wand, die Impressionen der Mitternachtssonne zeigten.

»Leider ist die Sicht aus dem Fenster ein bisschen eingeschränkt, doch eine bessere Kabine war nicht mehr frei«, sagte Knut entschuldigend.

»Ich bitte dich. Das ist perfekt für mich. Und ich bin dir sehr dankbar, dass ich noch mitkommen kann. Wann kann ich die Passage bezahlen?«

»Ich rede mit dem Zahlmeister. Du gehst am besten morgen zu ihm, wenn du dich eingerichtet hast. Onkel Bengt hat gesagt, dass du eine gute Bekannte von ihm bist, das reicht vollkommen fürs Erste.«

»Eine gute Bekannte …« Andrea schüttelte den Kopf. »Wir kennen uns erst seit ein paar Stunden.«

»Das hat bei ihm nichts zu bedeuten. Er mag dich, und das allein ist wichtig.« Knut zögerte, dann fügte er leise hinzu: »Onkel Bengt ist ein ganz besonderer Mensch.«

Das konnte Andrea nur bestätigen. Als sie allein war, trat sie ans Fenster und versuchte hinauszuschauen, doch mehr als ein paar Kräne sah sie nicht. Egal! Wichtig war erst einmal nur, dass sie weg von Jonas war. Dieser elende Betrüger! Wieder überkam Andrea eine gesunde Wut. Egoistisch, selbstherrlich und unverschämt war er! Und so einen Mann hätte sie um ein Haar geheiratet. Sie musste dem Schicksal wohl noch dankbar sein, dass sie gerade noch rechtzeitig erkannt hatte, welch miesen Charakter Jonas hatte. Als sie sich die Szene in seinem Schlafzimmer in Erinnerung rief, stiegen ihr wieder Tränen in die Augen. Aufschluchzend warf sie sich aufs Bett und vergrub den Kopf in der linken Armbeuge.

Wie euphorisch war sie noch vor wenigen Stunden gewesen! Sie hatte sich auf einen neuen Lebensabschnitt gefreut. Auf ihre Arbeit an einer norwegischen Klinik. Und auf ein Leben mit Jonas. Aufregend hätte es werden sollen. Voller interessanter Eindrücke – und natürlich voller Liebe und Zärtlichkeit.

Pah! Jedes Wort, das er ihr mal ins Ohr geflüstert hatte, kam ihr jetzt wie Hohn vor. Lügner. Betrüger. Selbstgerechtes, egoistisches Arschloch! Sie zuckte zusammen bei diesem letzten Wort. So tief wollte sie nicht sinken. Nicht mal in dieser Situation! Jonas war es nicht wert. Weder ein unflätiges Schimpfwort noch ihre Tränen!

Sie rief sich ihre ersten Begegnungen ins Gedächtnis zurück. In Südafrika war es gewesen, in ihrem Hotel in Kapstadt. Sie war gestolpert und wäre gefallen, wenn Jonas sie nicht aufgefangen hätte. Sie spürte jetzt noch seinen Herzschlag, hörte sein leises, etwas kehliges Lachen, als er sagte: »Hoppla! Den Kniefall sollte ich eigentlich vor so viel Schönheit machen.« Abends saßen sie dann zusammen im Restaurant, es war leicht, zu erraten, dass er das arrangiert hatte. Den ersten Kuss bekam sie drei Tage später am Strand von Hermanus. Die übrigen Touristen hielten Ausschau nach Walen, die von hier aus besonders gut zu sehen sein sollten. »Wale gibt es bei uns daheim mehr als genug. Komm mit, ich zeig dir was anderes.« Jonas zog sie mit sich in Richtung des Startplatzes der Gleitschirmflieger. In einer Senke, die über und über mit dem landesüblichen Fynbos bedeckt war, der weiß, gelb und zartrot blühte, zog er sie an sich und küsste sie so lange, bis sie die Welt um sich herum vergaß.

Von dem Moment an waren sie ein Paar. Jonas war ein ebenso zärtlicher wie liebevoller Partner, der ihr immer wieder aufs Neue beteuerte, wie sehr er sie liebte.

Lügen? Selbstbetrug? Ironie? Oder konnte er gar nicht anders, als sich immer wieder bei jungen Frauen eine gewisse Selbstbestätigung zu holen? Sie wusste, dass es solche Menschen gab. Gehörte Jonas dazu? »Wenn ja, ist es keine Entschuldigung«, murmelte sie und schniefte mehrmals.

Dann wischte sie sich entschlossen die Tränen ab und setzte sich mit einem Ruck auf. »Und jetzt? Was machst du jetzt in Norwegen, Andrea Sandberg?«

Keine Antwort. Stattdessen ein langgezogenes Tuten, dann begann das Schiff leise zu vibrieren. Die Motoren werden angelassen. Wir laufen in wenigen Minuten schon aus!, schoss es Andrea durch den Kopf.

Aus der Reisetasche, die neben dem Bett stand, zog sie eine Wetterjacke. Dann lief sie hoch zur Reling. Fast alle Passagiere standen dort und sahen zu, wie die Gangway eingezogen wurde. Dann lösten drei Männer am Kai die Leinen. Schwer klatschten die Taue ins Wasser, wurden von ein paar Matrosen an Bord gezogen. Neben einem kleinen Holzhaus, das Andrea bislang nicht beachtet hatte, stellten sich sieben Männer in blauen Uniformen auf und spielten zum Abschied »Sail away« und eine norwe­gische Volksweise, die Andrea schon einige Male bei ihren Besuchen gehört hatte, deren Text sie jedoch nicht kannte. Als der Applaus verklungen war, war aus dem Bordlautsprecher »Time to say goodbye« zu hören. Langsam glitt das Schiff im ersten Abenddämmern aus dem Hafen und ließ die bunten, spitzgiebeligen Häuser der Brygge hinter sich. Jetzt, da der Hjelte-Fjord sich öffnete, war deutlich zu sehen, dass die Stadt von sieben Hügeln umschlossen wurde. Der gut dreihundert Meter hohe Floyen, auf den eine Standseilbahn führte, sah aus, als wäre er mit flüssigem Gold übergossen worden. Und auch die Häuser an den umliegenden Hängen waren in das Goldrot der Abendsonne getaucht. Es war ein ungemein friedliches Bild, und Andrea spürte, dass sich ihre Anspannung legte und auch der Zorn auf Jonas erst einmal abflaute.

Im Grunde muss ich froh sein, dass ich ihn jetzt schon durchschaut habe, sagte sie sich und sah ein paar Segelbooten zu, die der Midnatsol Geleit gaben. Jetzt habe ich noch die Möglichkeit, meine Umsiedlung rückgängig zu machen. Vielleicht bekomme ich sogar meine alte Stellung in Düsseldorf wieder, der Chef hat mich ja nur ungern gehen lassen. Und auch der Umzug ist noch nicht ganz zu Ende geplant, ich kann wieder zurück in mein altes Leben, wenn ich will …

Ein trockenes, gequältes Husten ließ sie aufmerken. Schräg links hinter ihr, im Schutz eines kleinen Holzaufbaus, saßen ein alter Mann und ein kleines Mädchen. Übergroß wirkten die nachtschwarzen Augen in dem viel zu blassen Gesicht. Das Kind trug die Tracht der Samen aus dem hohen Norden – zu einem blauen Kleid, das an den Ärmeln und am Rocksaum mit rot-weißen Bordüren geschmückt war, gehörte eine rote Kappe, die mit weißen Litzen verziert war. Um die Schultern der etwa Achtjährigen lag ein gehäkelter weißer Schal, den sie jetzt enger um sich zog. Sie fror sichtlich, und der alte Mann holte aus einer Tasche eine Jacke aus hellem Robbenfell, die er der Kleinen umlegte. Sie schloss dankbar die Augen und lehnte den Kopf an den Alten, der wohl ihr Großvater war.

Schon wollte Andrea sich abwenden, als ihr der Alte zunickte. Und es war etwas in seinem Blick, das Andrea nicht mehr loslassen mochte. Auch, als sie sich in der Kabine für das erste Abendessen an Bord fertig machte, glaubte sie die dunklen Augen des Mannes noch immer auf sich gerichtet zu sehen.

3

Deine Doktorin ist erst mal fort. Pech für dich, mein Lieber. Das durchkreuzt deine Pläne gewaltig, stimmt’s?« Das Mädchen, das unbemerkt hinter Jonas getreten war, legte ihm die Arme um die Taille und schmiegte den Kopf an seine Schulter. »Du hättest eben abschließen sollen.«

Mit einem Ruck drehte er sich um, so dass das Mädchen fast hingefallen wäre. Hart griff er in ihr Haar, zog daran, so dass sie den Kopf weit nach hinten legen musste.

»Nina, ich hab dich gewarnt. Reiz mich nicht noch mehr!«

Sie lachte, und wenn er ihr auch weh tat mit seinem Griff, sie zeigte es nicht. »Reg dich ab! Im Moment kannst du sowieso nichts ändern.«

»O doch!« Jonas ließ sie so abrupt los, dass sie taumelte. »Ich werde etwas tun, und zwar sofort!«

»Und was?«

»Ich werde ihr nachfahren. In Ålesund legt das Schiff zum ersten Mal für längere Zeit an. Dann werde ich dort sein und mit Andrea reden. Sie muss mich anhören – und sie wird mir verzeihen.« Nervös fuhr er sich mit beiden Händen durch die Haare.

»Glaubst du!« Es klang spöttisch.

»Natürlich wird sie das! Wir lieben uns schließlich und wollen bald heiraten.«

»Davon, dass du sie liebst, hat sie ja wirklich viel gemerkt.« Nina drehte sich um und nahm ihr Fahrrad, das sie an einen Laternenpfahl gelehnt hatte. »Ruf mich an, wenn du wieder normal bist.« Sie warf den Kopf mit der für sie so typischen Geste in den Nacken, dass das hellblonde Haar wie ein Schleier auf ihre Schultern fiel.

Jonas spürte, dass ihn erneut Erregung erfasste bei diesem Bild. Sie war die personifizierte Verführung, die junge Musikstudentin Nina. Vor vier Wochen waren sie sich ­zufällig am Grieg-Grab begegnet. Nina hatte einen Strauß gelber Wildblumen vor das Felsengrab gelegt. Das Erste, was Jonas an ihr auffiel, war ihr helles Haar, das ihr bis fast zur Taille reichte. Als sie sich umwandte, geriet die hellblonde Haarflut in Bewegung, es war, als tanze die Haarflut zu der leisen Melodie, die Nina summte. Spontan streckte Jonas ihr den Arm entgegen.

»Hei, das ist nett, dass du mir hilfst.« Sie lachte, dabei machte sie drei übermütige Sprünge und stand dicht vor ihm, so dass er den zarten Duft ihres Parfüms wahrnahm. Sein Griff wurde fester, und sie ließ es zu, kam ihm sogar noch ein wenig entgegen.

Sie zu halten, ihr in die Augen zu sehen und eine nie ­zuvor gekannte erotische Ausstrahlung zu spüren waren unvergessliche Erfahrungen gewesen. Im Geist sah er die Szene wieder vor sich.

»Kommst du mit auf einen Drink ins Hotel?« Er hielt sie noch fest, als er die Frage stellte.

»Ich hab keinen Schock erlitten, den man mit einem Drink bekämpfen müsste«, erwiderte Nina lachend. »Aber ich komme trotzdem gerne mit.« Sie sah an sich her­unter. »Kann ich denn so in das vornehme Hotel?« Zu den Jeans, die sie oberhalb der Knie abgeschnitten hatte, trug sie ein knappes Top, das viel von ihrer gebräunten Haut sehen ließ.

»Du kannst überall hingehen.« Jonas hörte selbst, wie belegt seine Stimme klang.

»Na, wenn du es sagst …« Sie lachte und folgte ihm unbekümmert an die Bar, wo sie sehr schnell erfuhr, dass er der Direktor des Hotels war. »Das hättest du mir gleich sagen sollen.« Sie trank den Champagner-Cocktail in einem Zug aus. »Dann hätte ich keine Skrupel haben müssen.«

»Die hast du doch sowieso nicht«, entfuhr es ihm.

»Meinst du?« Ihr Blick lockte, die Zungenspitze fuhr über die Lippen und nahm die letzten Tropfen des Drinks auf. Dabei wandte sie nicht eine Sekunde den Blick von ihm.

Jonas spürte seine Erregung wachsen. »Noch einen Drink?«

»Ja. Aber nicht hier.« Sie schwang die langen Beine vom Barhocker und ging quer durch die Halle zu den Aufzügen. Dass ihr fast alle Männerblicke folgten, ignorierte Nina. Es schien für sie normal zu sein.

Als sie vor den Aufzügen stand, sah sie sich kurz nach Jonas um. Wieder warf sie das lange Haar in den Nacken – es war wie eine Einladung.

Und Jonas … er folgte ihr wie hypnotisiert.

Oben in seiner Wohnung blieb Nina mitten im Wohnzimmer stehen. »Nett hast du es hier.« Sie sah sich um. »Wo ist die Bar?«

»Oben.« Er wies zur Wendeltreppe.

Nina lachte und nahm die ersten Stufen. Jonas sah faszi­niert auf ihre langen, gebräunten Beine, die sanften Rundungen ihres Pos …

Nein, den Wintergarten, an dessen Stirnseite ein gut bestückter Barwagen stand, zeigte er ihr erst später. Sie waren noch nicht ganz oben, da zog er sie an sich und küsste sie voller Verlangen.

Nina kicherte leise, schlang ihm dann fest die Arme um den Nacken und erwiderte seine leidenschaftlichen Zärtlichkeiten.

Unter dem Top trug sie nichts, und auch der winzige Hauch von einem Slip war schnell abgestreift. Jonas’ Hände zitterten vor Erregung, als er sein Hemd aufknöpfte. Nina dauerte es zu lange, mit einem Ruck riss sie den feinen Leinenstoff auseinander. Ihre Lippen liebkosten seine Haut, blieben kurz an den Brustwarzen haften, glitten tiefer.

Jonas kam kaum dazu, sie zu küssen. Ihr Kopf glitt tiefer, das helle Haar war wie ein Schleier, der sich über ihr Tun breitete. Mit einem wohligen Stöhnen ließ er sich rücklings aufs Bett fallen – und genoss es, von Nina verwöhnt zu werden.

»Und jetzt bin ich dran.« Sie ließ lachend von ihm ab, legte sich neben ihn und nahm seine Hand. Langsam schob sie sie von den Brüsten hinunter bis zur Scham … und schloss die Augen, als Jonas versuchte, sie im gleichen Maß zu verwöhnen, wie sie es bei ihm getan hatte.

Sie war eine Hexe, verstand von Sex mehr als jede ­andere Frau, die er bisher im Bett gehabt hatte. Flüchtig dachte er an Andrea. Das Zusammensein mit ihr war vor allem von Zärtlichkeit und inniger Zuneigung geprägt. Die Leidenschaft, die sie in ihm entfachte, war nicht an­nähernd so groß wie das Gefühl, das Nina in ihm zu wecken verstand.

Er wurde garadezu süchtig nach ihrer Nähe.

Als sie für ein paar Tage zu ihrer Familie nach Kristiansand im Süden fuhr, hatte er fast so etwas wie Entzugserscheinungen. Andrea und er telefonierten jeden zweiten Tag miteinander, und seine Sorge, dass sie merken würde, dass eine andere sein ganzes Denken beherrschte, wuchs immer mehr. Wie sollte er reagieren, wenn Andrea in Bergen eintraf und er sich immer noch nicht von Nina gelöst hatte? Himmel, die Vorstellung jagte ihm Schauer über den Rücken. Ich werde Nina sagen, dass wir uns nicht mehr sehen können, nahm er sich vor.

Und dann kam Nina zurück! Unangemeldet erschien sie im Hotel und fuhr gleich hoch in seine Privaträume, wo Jonas noch beim Frühstück saß. Sie tat, als sei sie nicht wochenlang fort gewesen, umarmte und küsste ihn und nahm sich erst mal einen Drink. Ungezwungen setzte sie sich dann in einen der weiß lackierten Rattansessel im Wintergarten und trank in kleinen Schlucken. Gin mit Bitterlemon – das trank sie am liebsten, und Jonas hatte stets genügend Vorräte bereitstehen.

Als das Glas halb leer war, winkte sie ihn zu sich. »Na komm schon. Oder …«, sie zwinkerte ihm zu, »… hast du vielleicht keine Sehnsucht nach mir?«

»Große sogar.« Wie ein Hund folgte er ihrer Aufforderung, kniete vor ihr nieder und küsste jeden Zentimeter ihres linken Fußes, mit dem sie so aufreizend wippte, dass ihm das Blut in die Lenden schoss.

»Mehr«, forderte Nina ihn lachend auf und spreizte die Beine. »Gib mir mehr von dir.«

Ein tiefes Stöhnen drang aus seiner Kehle, dann kam er ihrer Aufforderung nach. Seine Küsse quittierte sie mit ­einem lustvollen Lachen, dann, ganz überraschend, sprang sie auf und zog ihn hinüber zum Schlafzimmer. »Hier ist mehr Platz.« Wieder zerriss sie sein Hemd, weil es ihr zu lange dauerte, bis er die feinen Perlmuttknöpfe geöffnet hatte.

Jonas ließ es geschehen, all seine Sinne waren darauf ausgerichtet, Nina glücklich zu machen – und den eigenen Gipfel der Lust gemeinsam mit ihr zu erreichen.

Sie genoss seine Leidenschaft, dann aber stand sie auf und erklärte: »Ich gehe kurz duschen, dann muss ich weg. Hab noch einen Termin.« Wohin sie ging, mit wem sie sich traf, sagte sie nicht. Und Jonas wagte nicht zu fragen. Er war ernüchtert, denn es war klar, dass Nina ihn nicht annähernd so schmerzlich vermisst hatte wie er sie.

»Nina, das muss aufhören mit uns beiden. Du weißt, dass ich eine Freundin in Deutschland habe, die bald herkommen wird.«

»Sie ist aber nicht da, oder?« Nina lachte, sie nahm ihn einfach nicht ernst.

»Du, das mit uns beiden muss aufhören!« Er sagte es so entschlossen wie möglich, als Nina, nur in ein Badelaken gehüllt, zu ihm zurückkam und das lange Haar über ihm ausschüttelte. Die kleinen Tropfen auf seiner Haut küsste sie spielerisch fort, was seine Erregung wieder aufflammen ließ. Sie ließ sich neben ihn gleiten, strich über seine Brust, bedeckte spielerisch seine Brustwarzen mit kleinen Küssen.

»Und was sagst du jetzt? Willst du mich wirklich nicht mehr?« Mit spöttischem Lächeln sah sie ihn an. »Du machst Witze.«

»Nein. Das muss aufhören mit uns. Ich … ich werde bald heiraten.«

Mit einem Ruck richtete sie sich auf, stützte den Kopf auf den Arm und sah ihn spöttisch an. »Ach ja? Wen denn?«

»Eine Ärztin. Ich … wir haben uns im Urlaub kennengelernt. Wir lieben uns. Sie kommt bald für immer her.« Fast tonlos war seine Stimme, und er blickte bei den Worten starr zur Decke, als käme von dem glatten weißen Holzanstrich irgendwelche Hilfe.

»Tja dann …« Sie atmete ein paar Mal tief durch, dann schwang sie die langen Beine aus dem Bett. Langsam, aufreizend langsam ging sie zurück zum Bad. »Schade. Es hat Spaß gemacht mit dir.«

Er blieb still liegen, rührte sich auch nicht, als sie ging.

Doch am nächsten Tag stand er mehr als eine Stunde lang vor der Grieg-Akademie und wartete auf die blonde Studentin.

Als Nina ihn sah, lachte sie und lief auf ihn zu. »Wusste ich es doch!« Sie küsste ihn lange. »Und jetzt?«

»Komm mit!«

Und sie kam mit. Sie kam, wann immer sie Zeit hatte, und es war wie ein Rausch, der Jonas immer tiefer mit sich zog. Wenn Nina bei ihm war, fiel der Stress des Tages von ihm ab. Dann gab es keine Pflichten im Hotel, keine Sorgen wegen unpünktlicher Lieferanten oder unzuverläs­siger Mitarbeiter. Termine wurden unwichtig. Was zählte, war nur noch dieses Mädchen mit dem weichen hellen Haar, das immer ein wenig nach Limetten duftete. Ihre Augen, dunkelblau wie die tiefen Seen im Landesinnern oder die engen Fjorde, blitzten stets vor Übermut. Er hatte nie zuvor einen Menschen mit so großer Lebensfreude getroffen wie Nina. Andrea dagegen war oft ernst. Sie stellte ihren Beruf, der mit großem Pflichtbewusstsein verbunden war, über alles. Jonas hatte sich schon etliche Male dabei ertappt, dass er eifersüchtig auf Andreas Patienten war. Dabei bewunderte er sie für das, was sie tagtäglich leistete. Ja, er liebte sie – doch der Rausch, den er bei Nina erlebte, fand er bei der jungen deutschen Ärztin nicht.

Und dann traf Andrea früher als erwartet in Bergen ein.

Ihm trieb es die Schamröte ins Gesicht, wenn er sich vergegenwärtigte, in welcher Situation sie ihn ertappt hatte. Es war wie eine Szene aus einem billigen Film gewesen. Aber es war leider unschöne Wirklichkeit.

Er war ein Idiot, dass er es so weit hatte kommen lassen. Sein Verstand sagte es ihm immer wieder. Aber da waren die Gefühle, diese lustvolle Gier, die ihn immer wieder zu Nina zog.

Dass Andrea ihn in flagranti erwischt hatte, war mehr als peinlich. Er wollte, er musste ihr erklären, was passiert war – wobei es im Grunde keinerlei Erklärungen bedurfte. Was sie gesehen hatte, sprach für sich. Aber er wollte unbedingt, dass sie ihm verzieh. Er wollte sie nicht verlieren. Es war verrückt, dass er sie halten wollte, wo doch alles in ihm sich schon jetzt wieder nach seiner blonden Hexe sehnte …

Er drehte sich um und sah Nina nach, die kraftvoll in die Pedalen trat. Heute trug sie einen bunten dünnen Rock, der sich im Wind bauschte und ihre Beine sehen ließ. Beine, die ihn so oft umklammert hatten …

Sollte er hinüber nach Ålesund fahren und mit An­drea reden?

4

Bald ist Mittsommer. Dann tanzen die Elfen und Feen aus dem Wald heraus, sie treffen sich auf den Hügeln und den Felsen mit den Trollen. Dann feiern sie ein Fest, das drei Tage lang dauert. Sie essen, trinken Milch und …«

»Trolle mögen keine Milch. Bestimmt nicht!«

»Doch, doch, Kleines, ganz bestimmt. Die Trolle wollen nämlich noch wachsen und groß und stark werden.« Dunkel und sanft klang die Männerstimme, und Andrea, die an der Reling stand und gedankenverloren in den hellen Nachthimmel geschaut hatte, hörte fasziniert weiter zu. »Du weißt doch, Kim, dass Trolle nur vier Finger und vier Zehen haben. Nicht fünf, wie wir Menschen. Und sie hoffen, wenn sie fleißig essen und trinken, dass ihnen dann noch ein weiterer Finger und auch ein fünfter Zeh wachsen.«

»Du machst Witze, Ole. Das stimmt gar nicht.« Ein trockenes Husten folgte den leisen Worten. »Aber ich nehme noch ein bisschen Joghurt.« Pause. »Du musst jetzt aber weitererzählen, ja?«

»Du solltest schlafen, Kim. Es ist weit nach Mitternacht.«

»Ich weiß. Aber ich bin nicht müde, Ole. Bestimmt nicht. Außerdem liege ich ganz bequem und ruhe mich aus. Die Sonne … sieh nur, sie steht genau zwischen den zwei Bergen. Wie schön!« Sehnsucht, in die sich leise Trauer mischte, war aus den Worten herauszuhören. »Und dahinten feiern sie. Ich kann die Feuer sehen. Und die Musik hören.«

»Ja, du hast recht, da sind drei Feuer. Sicher kommen dann auch gleich die Trolle und tanzen um den Reisigberg.«

»Ole! Aber in Wirklichkeit gibt es gar keine Trolle.«

»Wie kannst du so etwas sagen? Natürlich gibt es die. Das weiß doch jeder Norweger!«

»Der Doktor in der Klinik hat aber gesagt …«

»Was weiß der denn schon! Gar nichts.« Die sonst so sanfte, warme Männerstimme hatte einen harten Unterton angenommen.

»Der Doktor Daniel war aber sehr nett. Er hat mir neue Haare gekauft, weil meine doch ausgefallen sind. Und er hat mir Buffy geschenkt. Das ist ein Hund, wie er in seiner Heimat lebt. Ganz groß werden die. Fast so groß wie unsere Rentiere. Sie heißen Bernhardiner.«

Eine Tür klappte, für einen Moment hörte man fröh­liche Musik aus dem Schiffsinnern. Die meisten der Passagiere und auch der Teil der Besatzung, der dienstfrei hatte, feierte die Mittsommernacht. Es war ein ganz besonderes Fest, und kaum jemand versäumte es, dabei zu sein.

Andrea hatte sich diesen Tag, diese besondere Nacht ganz anders vorgestellt, als sie in Düsseldorf aufgebrochen war. Sie biss sich auf die Lippe. Nur nicht weinen! Es war vorbei. Und es war gut, dass sie Jonas durchschaut hatte, bevor sie ihm das Jawort gegeben hatte.

»Ole …«

»Ja, Kim?«

»Ich hab Schmerzen. Und die Sonne … ich kann sie gar nicht mehr sehen …«

»Sie ist hinter den Bergen verschwunden.« Oles Stimme klang rau.

Andrea runzelte die Stirn. Warum log der Mann? Die Sonne war noch genau dort zu erkennen, wo sie auch vor fünf Minuten zu sehen gewesen war – ein heller, weißgelber Ball zwischen zwei Bergspitzen. Aber vielleicht hatte sie sich auch verhört. Schließlich war ihr Norwegisch noch lange nicht perfekt. Seit Jonas und sie ein Paar waren, lernte sie eifrig seine Muttersprache. Noch konnten sie sich auf Englisch verständigen, und auch in den großen Städten würde sie damit weiterkommen. Aber wenn sie erst einen Job an der Klinik hatte und mit vielen Menschen zusammenkam, war es wichtig, sich in der Landessprache verständigen zu können.

»Sing etwas, Ole. Bitte!«

Der Mann räusperte sich, dann begann er leise zu singen – es war der typische Joik-Gesang der Samen. Er erinnerte Andrea an die Gesänge der alten Indianer. Es war kein fröhliches Lied, das Ole anstimmte, sondern es klang wie ein immerwährendes Schluchzen, das zu einer traurigen Melodie geworden war.

Eine ganze Zeitlang sang er leise vor sich hin, der Joik-Gesang mischte sich mit den Discoklängen, die jetzt aus dem Schiffsinnern kamen.

Am rechten Ufer loderten fünf große Feuer, in den Sträuchern, die sich mühsam Platz zwischen bizarren Felsen geschaffen hatten, hingen bunte Lampions. Laute, fröhliche Rufe schallten zum Schiff herüber. Andrea hob die Hand und winkte den Feiernden zu.

Als sie sich umwandte, waren Ole und Kim nicht mehr zu sehen.

5

Frau Sandberg!« Laut wurde an die Kabinentür geklopft.

»Einen Moment bitte!« Andrea schob die hellgelbe Bettdecke zurück und schwang die Beine aus dem Bett. In vielen langen Nächten, in denen sie in der Klinik Dienst gemacht hatte, hatte sie gelernt, gleich hellwach zu sein, wenn man sie rief. Sie trug nur ein knielanges Sleep-Shirt mit einem albernen Herz auf dem Bauch, doch das kümmerte sie nicht. Als sie es kaufte, hatte sie das Shirt witzig gefunden und sich vorgestellt, dass Jonas und sie erst über das kitschige Herz lachen würden, anschließend würde er es ihr ausziehen. Und dann …

»Was ist passiert?« Der Weg zur Tür war etwas mühevoll, da das Schiff schwankte. Es herrschte starker Seegang, doch davon hatte sie bislang nichts mitbekommen.

Knut, der Erste Offizier, lächelte entschuldigend. »Nicht böse sein, aber du verschläfst einen der Höhepunkte der Reise. In einer knappen halben Stunde sind wir am Geiranger-Fjord. Und den solltest du unbedingt sehen.«

»Natürlich! Danke, dass du mich geweckt hast.« An­drea fuhr sich kurz durch das Haar. »In fünf Minuten bin ich an Deck.«

Knut lächelte. »Ich muss auf die Brücke, habe Dienst bei diesem Sturm. Aber ich wollte dich persönlich wecken. Und – keine Sorge, bei Windstärke sieben passiert gar nichts. Da liegt das Schiff ganz ruhig.« Er tippte sich kurz an die Mütze, dann war er schon fort.

Na, ruhig ist anders, dachte Andrea, während sie sich anzog und dabei zweimal fast umgefallen wäre. So etwas kann auch nur ein Seemann behaupten. Die Stabilisatoren waren zwar nützlich, doch ganz konnten auch sie die Wellen bei der stürmischen See nicht ausgleichen.

So wie etliche andere Passagiere hielt sich Andrea an den hellen Handläufen fest, die entlang der Gänge angebracht waren. Eine junge Frau versuchte im Gehen ihre Wetterjacke anzuziehen, doch sie stolperte und wäre gefallen, wenn Andrea sie nicht festgehalten hätte.

»Danke.«

»Du solltest dir noch die Schuhe richtig zubinden.« Andrea wies auf den rechten Turnschuh der Fremden.

»Ach, du liebe Güte … ich komme mal wieder zu spät. Knut wird sauer sein.« Sie bückte sich, dabei fiel der dicke blonde Pferdeschwanz über ihre rechte Schulter. »Knut ist der Erste Offizier – und mein Freund.« Sie richtete sich auf und schob eine Haarsträhne hinters Ohr.

»Er ist sehr nett. Er hat mich geweckt, sonst hätte ich glatt verschlafen.«

»Ach so …« Der Zopf wurde schwungvoll wieder auf den Rücken befördert. Die Freundlichkeit war aus den Augen der jungen Norwegerin verschwunden. Ganz deutlich war ihre Eifersucht spürbar.

Andrea lächelte. »Wir haben uns durch einen Taxifahrer kennengelernt, der mich im letzten Moment aufs Schiff gebracht hatte.«

»Dann weiß ich, wer du bist. Hei, ich bin Carina.« Die Kühle aus ihren Augen war sofort wieder weg. »Komm mit, ich weiß einen windgeschützten Platz.« Unbekümmert nahm sie Andrea beim Arm und zog sie mit sich.

Als das Schiff in den Stor-Fjord einlief, wurde das Wetter zum Glück besser, die See beruhigte sich. Andrea wusste, dass der weltberühmte Geiranger-Fjord eine Fortsetzung des großen Stor-Fjords war. Auch, dass er seit einigen Jahren zum UNESCO-Weltnaturerbe gehörte, hatte sie gelesen. Voller Spannung schaute sie, so wie die meisten der Mitreisenden, hinauf zu den steil aufragenden Felswänden rechts und links. Auf den höchsten Bergspitzen glitzerten noch weiße Schneekuppen. Unzählige Gebirgsbäche stürzten als schäumende Wasserfälle in die Tiefe. Langsam nur schob sich das Schiff, das in den Nationalfarben Norwegens gestrichen war, durch das tiefdunkle Wasser des Fjords. Der dunkelblaue Kiel hob sich kaum von der Farbe des Wassers ab.

Zwischen den hohen Berghängen schimmerten in sanftem Grün Hochalmen, wie man sie aus den Alpen kannte. Ein paar vereinzelte Holzhäuser klebten an den Hängen, es war kaum vorstellbar, dass sie bewohnt waren.

Andrea war fasziniert wie selten zuvor. Sie konnte kaum den Blick abwenden. So wie sie waren die meisten der Reisenden beeindruckt von dieser überwältigenden Landschaft, die das Wasser vor zweieinhalb Millionen Jahren geschaffen hatte. Sogar Carina, die eine Weile munter von sich, Knut und ihren Zukunftsplänen erzählt hatte, wurde stiller und stiller angesichts der Schönheit der Natur.

Erst als sie den Rückweg antraten, schaute sich Andrea um und bemerkte Ole, der, unbeeindruckt von der imposanten Fjordlandschaft, auf einer schmalen Bank im Schatten saß und an einem Stück Holz schnitzte.

»Da sind die ›Sieben Schwestern‹!« Einer der Reise­leiter, ein schmaler Engländer mit blassem Teint und einer runden Brille auf der spitzen Nase, zeigte zu den sieben Wasserfällen hin. »Nicht zu verwechseln mit der Bergkette, die den gleichen Namen trägt. Doch dahin kommen wir erst in einigen Tagen.«

So wie alle Touristen schaute Andrea fasziniert zu den Wasserfällen hinüber, die sich tosend ins Meer ergossen.

Eine Bewegung dicht neben ihr ließ sie aufmerken. Zu ihren Füßen lag ein Stück Holz – ein kleiner, grob geschnitzter Troll. Auf seinem runden Bauch war ein Äskulapstab eingeritzt.

Andrea runzelte die Stirn. Was sollte das? Eine Anspielung? Zufall? Niemand hier an Bord wusste, dass sie Ärztin war.

Als sie nach Ole Ausschau hielt, war von dem alten Mann nichts mehr zu sehen.

6

Was weißt du von dieser blonden Deutschen? Andrea heißt sie.« Carina schmiegte sich an Knut und streichelte sanft sein Knie in der dunkelblauen Wollhose.

»Nichts, im Grunde genommen. Warum fragst du?«

»Sie scheint nett zu sein. Aber traurig.«

Knut zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Bengt hat sie aufs Schiff gebracht und eindringlich darum gebeten, sie mitzunehmen. Mehr weiß ich nicht.«

»Bengt. Aha!«

Der junge Offizier richtete sich auf. Sein Dienst war beendet, er hatte sich mit Carina auf dem oberen Deck getroffen. Zwei der hölzernen Deckstühle, die er viel lieber mochte als die hellen, pflegeleichten Liegen, die inzwischen auch auf den Postschiffen üblich waren, standen im Windschatten unter den verglasten Panoramasalons. Knut hatte zwei Decken aus seiner Kabine mitgebracht, eine Flasche Sekt und Gläser.

Hier, wo die Passagiere keinen Zutritt hatten, konnte er hoffen, mit Carina ungestört zu sein. In der Bar herrschte noch reger Betrieb, doch viele Passagiere waren auch schon in ihre Kabinen gegangen. Der Tag, den sie in Ålesund verbracht hatten, war anstrengend gewesen. Es gab in der Hafenstadt, die weit ins Meer hinausragte, unendlich viel zu sehen. Bei einem tragischen Brand im Jahr 1904 war ein Großteil der Gebäude vernichtet worden. Danach hatte man Ålesund im reinen Jugendstil wieder aufgebaut. Bis heute waren die meisten der alten Häuser so erhalten geblieben und bildeten eine der Attraktionen der Stadt. Zusammengedrängt auf vielen Inseln standen die zwei- oder dreistöckigen Häuser, die vielfach in sattem Dunkelrot oder Ockergelb leuchteten.