Töchter der Freiheit - Elfie Ligensa - E-Book

Töchter der Freiheit E-Book

Elfie Ligensa

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Beschreibung

Christina Graber ist eine ungewöhnliche Frau. Mutig nutzt sie nach dem Krieg ihre Chancen: Sie setzt sich durch und macht aus ihrer kleinen Konditorei bei Baden-Baden ein erfolgreiches Backimperium, in das auch Tochter und Enkeltochter einsteigen. Doch das Leben als Unternehmerin ist nicht einfach. Mehrmals steht die Firma vor dem Aus, es gibt Neider - sogar in der eigenen Familie. Der nächste große Schlag droht, als Christinas eigener Bruder intrigiert und seiner Schwester das Geschäft kaputtmachen will. Die drei Frauen müssen sich behaupten und auch zu schlimmsten Krisenzeiten halten sie zusammen, um den Fortbestand der Graber-Dynastie zu sichern.

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Das Buch

Baden-Baden nach dem Zweiten Weltkrieg: Mit Fingerspitzengefühl und unternehmerischem Geschick macht Christina Graber aus ihrer kleinen Konditorei ein erfolgreiches Backimperium. Obwohl das Geschäft floriert, muss die tatkräftige Unternehmerin auch Tiefschläge hinnehmen und immer wieder um das Bestehen der Firma kämpfen – ebenso wie um ihr privates Glück. Ihre große Liebe Jakob kann sie nicht vergessen, auch als sie ihren Ehemann, den Arzt Dr. Karsten Berghausen, kennenlernt …

Besonders hart trifft es Christina, als ihr eigener Bruder beginnt, gegen sie zu intrigieren. Doch sie kann sich auf Hilfe aus ihrer Familie verlassen: Zusammen mit ihrer Tochter und Enkeltochter stellt sie sich den schlimmsten Krisen, und mutig setzen die drei Frauen alles daran, die Graber-Dynastie zu retten.

Die Autorin

Elfie Ligensa schreibt erfolgreich Romane und Drehbücher und lebt mit ihrem Mann und einer eigenwilligen Katze in der Nähe von Köln.

Von Elfie Ligensa sind in unserem Hause bereits erschienen:

Mitternachtssonne am Fjord · Mittsommersehnsucht · Das Paradies liegt in Afrika · Im Herzen der Feuersonne

Unter ihrem Pseudonym Johanna Nellon sind in unserem Hause bereits erschienen:

Ein Sommer am Chiemsee ·Liebesleuchten am Bodensee · Marillenglück und Gummistiefel · Nussgipfel und Alpenglück

Elfie Ligensa

TÖCHTER DER FREIHEIT

oman

Ullstein

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ISBN 978-3-8437-1200-2

Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch

1. Auflage Januar 2016

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2016

Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Titelabbildung: © gettyimages/Cultura Travel/Philip Lee Harvey (Konditorei); © gettyimages/peter zelei (Frau)

E-Book: LVD GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

Prolog

»Dieses Jahr haben wir einen besonders schönen Baum.« Christina Graber sah zu der hohen Blautanne auf, die in einer Ecke des großen Wohnraums stand.

»Das sagst du jedes Jahr, Mutter.«

»Ich weiß. Aber für mich ist unser Weihnachtsbaum jedes Jahr wieder der schönste, den ich je gesehen habe.« Die Zweiundachtzigjährige lachte leise. »Nennt mich sentimental, das ist mir gleich. Für mich ist Weihnachten nun mal das wunderbarste Fest des Jahres.« Sie sah sich um. »Und wenn ihr alle herkommt und wir alle zusammen sind, ist es besonders schön.«

»Apropos alle zusammen …« Ihre Tochter Jasmin stand neben dem Christbaum und erneuerte einige der gelben Bienenwachskerzen, die zusammen mit dunkelroten Kugeln und Strohsternen die einzige Dekoration darstellten. Sie sah auf die Uhr. »Patricia und Steven kommen mal wieder zu spät.« Sie biss sich auf die Lippen. »Meine Tochter kann einfach nicht pünktlich sein. Nicht mal an einem Tag wie heute!«

»Sei nicht so streng mit ihr. Sie wird schon noch rechtzeitig hier sein.« Ein liebevolles Lächeln glitt über das Gesicht der alten Frau, das noch fast ganz ohne Falten war. »Das Baby hat sie eventuell aufgehalten, du weißt doch, dass mit so einem kleinen Wurm immer mal was sein kann. Außerdem ist der Gänsebraten noch nicht gar.«

Christina stand auf und trat ans Fenster. Draußen, im Vorgarten der Villa, stand ebenfalls ein Tannenbaum, und seine Lichter spiegelten sich auf der hellen Schneedecke. Ein paar vereinzelte weiße Flocken tanzten durch die Dunkelheit und glitzerten silbrig, wenn sie ins Licht der Kerzen kamen.

Vor Christinas Augen verschwammen die Lichter und Schneeflocken. Sie sah nach draußen, doch vor ihren Augen entstand das Bild eines kleinen Bäumchens, das ihr Vater heimlich im Forst geschlagen und auf der Wiese hinter dem halbzerstörten Haus aufgestellt hatte. Ein alter Zinneimer, mit Sand gefüllt, hielt die dürftige Pracht aufrecht. Anstelle von Kerzen hingen Holzäpfel, die die Mutter rot bemalt hatte, in den dünnen Ästen. Und Strohsterne, in deren Mitte ein Kreis aus Goldpapier glänzte.

Als mickerig und armselig würde man das Bäumchen heute bezeichnen, doch damals erschien es Christina der schönste Baum der Welt zu sein. Jahrelang hatten sie gar keinen Weihnachtsbaum gehabt, höchstens ein paar kleine Zweige, die eine Illusion von Weihnachtsfrieden vortäuschten. So wie die abgezählten Vanillekipferl, die nicht im entferntesten nach Vanille dufteten, aber zumindest eine Kipferlform aufwiesen. Und die kleinen runden Plätzchen mit der Marmeladenfüllung, die sie so liebte, waren aus Maismehl gebacken worden.

Und doch waren sie unendlich glücklich gewesen an diesem ersten Weihnachtsfest nach dem Krieg! Endlich Frieden! Endlich keine Angst mehr vor Bomben und Granaten. Vor plündernden Soldaten und vor nagendem Hunger.

»Ich brauche noch drei neue Kerzen.« Jasmin strich sich über das dunkelblaue Kaschmirkleid, dessen einziger Schmuck eine schmale Brillantnadel war. »Du hast doch noch zwei Päckchen besorgt, Michael?«

»Sicher doch.« Michael Wallmer schlug die Beine übereinander. »Sei nicht so nervös, Liebes.«

»Ich bin nicht nervös, ich bin sauer!«

»Musst du nicht sein. Spätestens zur Bescherung werden die jungen Leute da sein. Sie sind schließlich heute Morgen pünktlich in Frankfurt gelandet.« Christina lächelte ins Dunkel des Gartens hinein. »Das Baby hat eventuell Jetlag und weint. Der Flug war sicher strapaziös für so ein kleines Kind. Ach, ich bin ja so gespannt auf die Kleine!«

»Womit sollte das Baby sie aufhalten? Nimm sie nicht immer in Schutz, Mutter.« Jasmin Wallmer legte die langen Streichhölzer auf die antike Kommode, die links neben der Tanne stand, und griff nach ihrem Sektglas. Ihrem Mann, der in einem der bequemen Sessel saß und sich wieder dem interessanten Kunstband zugewandt hatte, in dem er zuvor gelesen hatte, warf sie einen knappen Blick zu.

»Aber das tu ich doch gar nicht.« Christina drehte sich um und ging zu ihrem Sessel zurück. Sie war mit ihren zweiundachtzig Jahren immer noch eine aparte Frau. Hoch gewachsen, schlank, das weiße Haar modisch kurz geschnitten. Seit einer komplizierten Hüftoperation vor drei Jahren ging sie bei schlechtem Wetter etwas mühsam, doch sie ignorierte die Beschwerden, so gut es ging.

Michael Wallmer legte mit einem kleinen Seufzer das Buch beiseite und ging durch eine breite Flügeltür hinüber in die Küche. Als er zurückkam, hielt er eine Sektflasche hoch. »Wer möchte noch ein Glas?« Er ging erst zu seiner Schwiegermutter, die zustimmend nickte, dann schenkte er Jasmin ungefragt nach. Kurz legte er ihr die Hand auf den Arm. »Sie kommt sicher gleich.«

Jasmin antwortete nicht, sondern wandte sich mit einer brüsken Bewegung ab und ging zum CD-Player. »Bach?« Sie wartete keine Antwort ab, sondern schob eine schon ausgewählte Scheibe ein.

Eine Weile sagte niemand etwas, nur die beeindruckenden Klänge von Bachs Weihnachtsoratorium schallten durch den großen Raum.

»Da sind sie ja! Endlich!«

Drei kurze Huptöne waren zu hören, draußen fuhr ein Wagen die gekieste Einfahrt hoch, umrundete einmal das Rondell, in dem im Sommer Rosen blühten, und hielt dann vor den Garagen, die links vom Haus standen. Die Reifen knirschten auf dem gefrorenen Schnee.

»Ich geh schon.« Michael Wallmer ging zur Tür.

Wenige Minuten später kamen Patricia Wallmer und Steven Stanford herein. Behutsam trug der große blonde Mann einen Babykindersitz und stellte ihn auf die Couch an der Längsseite des Zimmers.

»Hallo zusammen. Frohe Weihnachten.« Er ging auf Jasmin zu und küsste sie auf die Wange. Dann beugte er sich zu Christina. »Danke für die Einladung, Granny.«

»Ich freue mich, dass ihr hier seid.« Nur flüchtig sah Christina zu dem gutaussehenden Lebensgefährten ihrer Enkelin hoch, ihre Aufmerksamkeit war ganz auf das Baby gerichtet.

Patricia bemerkte ihren Blick. Sie lachte leise. »Ich bring sie dir sofort, Großmutter.« Vorsichtig nahm sie das Baby aus der Tasche und legte es Christina in den Schoß. »Darf ich vorstellen: Eva-Maria Wallmer. Exakt zweiundzwanzig Tage alt, viereinhalb Kilo schwer und schon sehr neugierig auf ihre Urgroßmutter.«

»Sie ist … sie ist wunderschön!« Christinas Stimme zitterte ein wenig, als sie die leichte Wolldecke, in die das Baby gewickelt war, zur Seite schob. Zwei, drei Minuten lang schaute sie dem kleinen Mädchen ins Gesicht. »Willkommen daheim, kleine Eva-Maria«, sagte sie dann. »Ich wünsche dir alles Glück der Welt für dein zukünftiges Leben.«

Sie sah zu Patricia auf. »Gratuliere, mein Schatz. Das hast du wunderbar gemacht.«

»Ich war auch ein bisschen beteiligt«, warf Steven lächelnd ein. Obwohl er sehr gutes Deutsch sprach, hörte man doch gut heraus, dass Englisch seine Muttersprache war.

Patricia und er hatten sich während des Studiums kennen- und lieben gelernt. Seiner Familie, die noch vor vier Generationen in Frankfurt gelebt hatte, gehörte ein großes Weingut in Südafrika. Steven war nach Freiburg gezogen, um an der Albert-Ludwigs-Universität Betriebswirtschaft und Jura zu studieren. »Aber meine Eltern haben auch nur Patricia gelobt.«

»Natürlich lobe ich dich auch. Aber nur ein ganz kleines bisschen.« Christina zwinkerte ihm zu, dann wandte sie die ganze Aufmerksamkeit wieder dem Säugling zu. Zärtlich strich sie dem Kind über die schlafwarme Wange. »Wie hat sie den Flug von Kapstadt hierher überstanden?«

»Ganz wunderbar. Sie hat nur geschlafen und nicht mal bei der Landung geweint.« Patricia kniete sich neben den Sessel der Großmutter.

»Es war aber trotzdem leichtsinnig, dass ihr so lange in Südafrika geblieben seid.«

»Die Kleine hatte es eilig, normalerweise wäre sie doch erst Ende Januar auf die Welt gekommen. Aber sie ist kräftig und topfit.

»Und deine Mutter, Steven? Hat sie die Herz-OP gut überstanden?«

»Ja, danke. Eva-Maria hat Mums Genesung einen riesigen Schub nach vorn gegeben.«

»Ich fand’s trotzdem gewagt, dass Patricia während der Schwangerschaft diese lange Reise gemacht hat«, warf Jasmin ein.

»Ach was!« Patricia lachte und warf das lange blonde Haar mit einer knappen Bewegung in den Nacken. »Mir ging’s doch super. Und Stevens Vater wurde vor acht Tagen fünfzig, das mussten wir doch noch mitfeiern.«

»Du hast Glück gehabt, dass alles so gut ausgegangen ist«, fuhr ihre Mutter hartnäckig fort.

»Ach, weißt du, mir ging’s die ganze Schwangerschaft über so wahnsinnig gut.« Patricia zögerte. »Eventuell hab ich mich sogar mit dem Geburtstermin verrechnet, das meinte auch der Arzt in der Klinik. »Eva-Maria ist voll ausgetragen, alles optimal.«

»Schön, dass du sie nach deiner Urgroßmutter nennen willst.« Christina warf Patricia einen zärtlichen Blick zu.

»Traditionen soll man pflegen, hab ich mal gelesen.«

»Ich freue mich auch darüber.« Jasmin strich ihrer Tochter über den Arm, dann sah sie auf die schmale Weißgolduhr an ihrem Handgelenk. »Ich schau mal nach der Gans. Die müsste gleich fertig sein.«

»Bleib noch zwei Minuten.« Patricia nickte Steven zu, der aus einer Tasche ein kleines, in rotes Geschenkpapier eingeschlagenes Päckchen zog. »Ich hab das Dessert mitgebracht.«

»Aber das hat Annika doch schon fertig.«

»Annikas Orangenparfait essen wir bestimmt auch noch. Aber erst mal probiert das hier.« Sie legte Christina das Päckchen in den Schoß.

»Was ist das?«

»Mach’s auf.«

Gespannt sah Patricia zu, wie ihre Großmutter das Papier entfernte und dann die kleine goldene Pappschachtel öffnete.

»Oh! Gebäck!« Sie nahm eines der Plätzchen, die entweder eine Herz- oder Sternenform besaßen, in die Hand und roch daran. »Das duftet hervorragend.«

»So schmeckt es auch.« Patricia hockte sich auf die Sessellehne, so, wie sie es schon als kleines Mädchen getan hatte. »Koste.« Gespannt sah sie ihre Großmutter an.

Christina biss vorsichtig ein Stück ab. »Hmm. Köstlich. Was ist da drin? Koriander, Zimt, ein Hauch von Amaretto? Nein, das ist es nicht, das ist zu süß.« Sie biss noch ein Stück ab. »Das ist Calvados, oder irre ich mich?«

Patricia lachte. »Es ist auch noch was anderes dabei. Aber … die Rezepte unserer Produkte werden nicht verraten. Betriebsgeheimnis, weißt du doch!«

Ihre Großmutter nickte. »Ja, stimmt. Die Rezepte unserer Firma sind unser wertvollster Besitz.«

1

ie Schneeflocken draußen vor dem Fenster wirbelten in einem wilden Tanz durcheinander. Dicht wie ein weißer Vorhang trennten sie das flache Backhaus vom Wohnhaus ab und nahmen Christina die Sicht auf die Backstube. Nur ein schmaler Lichtschein, den die alte, halbzerborstene Hoflampe ausstrahlte, durchdrang das Flockenballett.

Fröstelnd zog sich Christina die graue Strickjacke fester um die Schultern, dabei hauchte sie kreisrunde Löcher auf die Scheibe, an der sich immer wieder zarte Eisblumen bildeten.

Christinas Zimmer war nicht geheizt, ebenso wenig wie alle anderen Räume des Hauses, die große Wohnküche ausgenommen. Brennholz war knapp, und fast alles, was sie zugeteilt bekamen, wurde für das Heizen des Backofens gebraucht.

Einen letzten, sehnsüchtigen Blick warf Christina hinüber zur Backstube, dann kletterte sie herunter von dem Stuhl, auf dem sie gekniet hatte, strich sich eine vorwitzige Locke aus der Stirn und ging hinunter in die Stube, in der es heimelig warm war.

Ihr Herz klopfte ein bisschen schneller als sonst, denn sie war gespannt, was sie wohl von der Mutter und den Großeltern geschenkt bekommen würde. Schließlich wurde sie heute dreizehn Jahre alt. Sie war also fast schon erwachsen!

»Guten Morgen, Chrissie. Ich gratulier dir zum Geburtstag! Alles, alles Gute.«

Sie hatte erst die Hälfte der Treppenstufen zurückgelegt, als Jakob ihr entgegenkam. Schnee lag auf seinem schwarzen Haar und bedeckte die alte Lodenjoppe, die die Mutter schon so oft geflickt hatte. Aber sie hielt warm, und Jakob scherte sich nicht darum, dass man Flicken aus vier anderen Stofffarben an den Armen und an der Knopfleiste aufgenäht hatte. So wie es ihn auch nicht wirklich zu kümmern schien, dass die Ärmel inzwischen viel zu kurz waren.

»Hier, für dich. Zum Geburtstag viel Glück!« Seine dunklen Augen, die das schmale, blasse Gesicht beherrschten, lachten Christina an, während er ihr ein kleines Päckchen entgegenstreckte. Auf Zeitungspapier prangte ein Tannenzweig, darauf war eine wunderschöne Christrose gebunden.

»Danke, Jakob! Was ist das?«

»Mach’s auf.« Er schüttelte sich den Schnee aus den Haaren.

»Du machst alles nass. Zieh dich hinten im Flur aus, sonst schimpft die Großmutter wieder.«

»Gleich.« Er ließ ihren Blick nicht los. »Mach’s auf.«

»Nein.« Christina schüttelte den Kopf. »Das mach ich nachher, in der Küche. Komm mit.«

»Geht nicht. Ich muss gleich rüber in die Backstube. Bin schon viel zu spät dran. Aber …« Er lachte. »Die Blume musste ich doch noch pflücken.«

»Woher hast du sie?«

»Das sag ich lieber nicht.« Er zwinkerte ihr zu. »Und jetzt schau schon nach.«

Mit klammen, froststeifen Fingern zog Christina die dünne Kordel vom Päckchen und schlug das Papier auseinander. Ein schmales Holzkästchen, dessen Deckel mit kleinen roten Rosenblüten bemalt war, kam zum Vorschein.

»Oh Jakob, das ist wunderschön!«

»Nun mach’s doch schon auf!«

Langsam öffnete Christina den Deckel. Auf rotem Papier lagen zwei silbrig glänzende Zopfspangen, die die Form von Edelweiß hatten.

»Jakob! Wie schön! Woher hast du die denn?«

Er zuckte mit den Schultern. »Eingetauscht.«

»Ja, aber …«

»Frag nicht.« Er strich ihr kurz über die Wange. »Ich weiß doch, dass du solche Spangen wolltest. Und jetzt muss ich los.«

»Danke! Danke, lieber, lieber Jakob!« Sie wollte ihn umarmen, aber da war er schon wieder nach draußen gestürmt. Zurück blieb ein Schwall eisig kalter Morgenluft.

Hastig schloss Christina das Kästchen wieder, klemmte sich das Papier unter den Arm und sprang die letzten Stufen hinab.

Jakobs Geschenk war wunderschön! Und Jakob so lieb!

Kurz nur dachte Christina daran, wie sie den jüdischen Jungen vor drei Jahren in einem kleinen Schuppen hinten im Garten gefunden hatte. Verschreckt, dreckig und halb verhungert hatte er auf einem Strohballen gelegen. Seine einzige Habe waren ein alter Rucksack und die Sachen gewesen, die er am Leib trug.

Christina hatte ihre Mutter gerufen, die Jakob am späten Abend, als es dunkel war, ins Haus geholt hatte. Er hatte sich waschen können, hatte etwas Warmes zu essen bekommen und hatte dann wieder davonschleichen wollen. Gehetzt und voller Panik hatten seine dunklen Augen die Menschen angesehen, die ihm gerade Gutes getan hatten.

»Danke. Aber jetzt muss ich los. Sie wissen …« Nur kurz hatte er auf den gelben Stern auf seiner Jacke gedeutet, dann wieder den Kopf gesenkt.

Das aber hatten die Großeltern nicht zugelassen. Und auch Christinas Mutter hatte erklärt: »Du bleibst. Erst einmal oben auf dem Speicher. Ich richte dir eine Schlafstatt her. Abends, wenn es dunkel wird, kannst du runter zu uns kommen.«

Christina hatte damals noch nicht verstanden, in welche Gefahr sich die Großeltern und die Mutter begeben hatten. Einen Juden zu beherbergen, ihn aufzunehmen, zu ernähren … das war im Nazideutschland ein Unding gewesen. Und es wurde grausam bestraft.

Dennoch – Jakob blieb. Er wurde nicht entdeckt, und als der Krieg endlich zu Ende war, blieb er in Himmelsheim bei den Grabers wohnen.

»Was hast du vor, jetzt, wo du dich wieder frei bewegen kannst?«, fragte ihn Eva-Maria, Christinas Mutter, ein paar Wochen nach Kriegsende. »Willst du zurück nach Berlin?«

Doch Jakob schüttelte den Kopf. »Da gibt es niemanden mehr, den ich kenne.« Tränen standen ihm in den Augen, und Eva-Maria legte ihm tröstend die Hand auf den Arm.

»Du bleibst einfach so lange hier, wie du willst. Denn in Baden-Baden wohnt ja sicher auch niemand mehr von deinen Verwandten.«

Jakob schüttelte den Kopf. »Sicher nicht.«

»Gut, dann kannst du uns ja weiter in der Backstube helfen.« Sie lächelte den Fünfzehnjährigen mit den viel zu ernsten Augen an, und Jakob nickte zustimmend.

Er erinnerte sich noch genau an den Abend, an dem man seine Verwandten abgeholt und nach Dachau gebracht hatte. Jakob war es im letzten Augenblick gelungen, sich zu verstecken, in der Dunkelheit war er aus der Stadt geflüchtet und hatte sich in dem etwa zehn Kilometer entfernt liegenden Dorf Himmelsheim versteckt. Im Schuppen der Bäckersfamilie Graber.

Er sprach kaum von seiner großen Familie, die in Berlin eine Backwarenfabrik betrieben hatte. Sein Vater und sein Großvater hatten in dem großen Unternehmen gearbeitet, bis man ihren Besitz enteignet hatte. Ebenso war es zwei Onkeln ergangen, die einst eine der größten Privatbanken des Landes besessen hatten.

Jakob hatte bei den Grabers eine neue Familie gefunden. Seine Dankbarkeit war grenzenlos, doch er wusste auch, dass er nicht ewig in Deutschland bleiben würde. Noch sprach er mit niemandem darüber, schon gar nicht mit Christina.

Für das Mädel war er wie ein großer Bruder, mit dem sie für die Schule lernte, dem sie heimlich Bücher besorgte, damit er sich damit die Zeit vertreiben konnte, mit dem sie Mühle und Halma spielte und von dem sie viel über Geschichte und Geographie lernte. Jakob hatte eine sehr gute Schule besucht in Berlin, und sein Großvater, der viel gereist war, hatte ihm immer wieder von fremden Städten und fernen Ländern erzählt. Außerdem las er alles, was er in die Finger bekam. Und das Wissen, das er sich in den vielen einsamen Stunden in seinem Versteck angelesen hatte, gab er seiner kleinen Freundin an langen Abenden begeistert weiter.

Und jetzt, da der Krieg endlich vorüber war, gehörte er wie selbstverständlich zur Familie. Niemand im Ort wagte es, Fragen nach seiner Herkunft zu stellen. Und die Grabers taten einfach so, als sei er immer schon einer der ihren gewesen.

Ein einziges Mal nur hatte es ein alter Nachbar gewagt, Skepsis gegenüber Jakobs Anwesenheit zu äußern, doch da hatte ihn Christinas Großvater nur eindringlich angesehen und gesagt: »Wenn du weiter solche Fragen stellst, werde ich mal öffentlich nachforschen, was du in den letzten Jahren gemacht hast – und vor allem, welche Ämter du in Berlin innehattest.«

Daraufhin war der Nachbar still gewesen. Christina, die nicht ganz verstand, womit der Großvater gedroht hatte, wollte von ihm wissen, was der Nachbar denn in Berlin getan hätte, doch der alte Bäckermeister winkte nur ab. »Alte Geschichten, die wärmt man besser nicht auf.«

In der Wohnküche war es herrlich warm. Der alte Ofen an der Längsseite des Raums bullerte kräftig. Die Großmutter, die am Tisch saß, vor sich eine Tasse Malzkaffee, hatte besonders gut eingeheizt.

»Guten Morgen, meine Kleine.« Sie stand auf und streckte die Arme nach Christina aus. »Alles Gute zum Geburtstag!«

»Danke, Oma.« Noch in der Umarmung der Großmutter blinzelte Christina hinüber zum Tischende, wo drei Päckchen lagen. Auf dem größten, das in helles Packpapier eingeschlagen war, prangte eine große rote Schleife!

Wie aufregend und verheißungsvoll!

»Darf ich schon aufmachen?« Sie stellte sich ans schmale Ende des hell gescheuerten Eichentischs und sah auf die Päckchen.

»Nein.« Katharina Graber schüttelte den Kopf. »Warte, bis deine Mutter und der Großvater hier sind.« Sie warf einen raschen Blick zur kleinen Kuckucksuhr an der Wand. »Sie sind bestimmt gleich da.« Sie ging zu Christina und strich ihr übers dichte blonde Haar. Zwei dicke Zöpfe fielen dem Mädchen über die Schultern, nur über den Ohren und über der Stirn kringelten sich ein paar vorwitzige blonde Löckchen.

Aufgeregt trat Christina von einem Fuß auf den anderen. Das Warten fiel ihr ganz schrecklich schwer.

»Wo ist denn der Wolfgang?«

Katharina Grabers Gesicht verdunkelte sich. »Ich weiß es nicht. Seit vorgestern ist er nicht mehr nach Hause gekommen.« Kurz barg sie das Gesicht in den Händen. »Vielleicht ist er nach Baden-Baden gefahren und sucht dort Arbeit.«

Christina nickte nur. Ihr großer Bruder war erst vor drei Monaten aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft heimgekehrt. Ein Fremder, der wenig sprach, der kaum am Familienleben teilnahm und sich weigerte, dem Großvater in der Backstube zu helfen. Womit er seine Tage verbrachte, wusste niemand.

»Da ist ja unser Geburtstagskind!« Mit schweren Schritten kam Martin Graber in die Stube, gefolgt von seiner Tochter, die sich die eisigen Schneekristalle, die sich auf ihr helles Haar gesetzt hatten, abwischte. Sie trug, so wie ihr Vater, eine schwarzweiß karierte Hose und eine weiße Jacke. In den Händen hielt sie einen kleinen, nur handtellergroßen Kuchen, auf dem eine einzelne Kerze brannte. Der Duft des Gebäcks erfüllte sofort den Raum.

Lächelnd ging sie zu Christina und zog sie fest an sich.

»Alles Liebe zum Geburtstag, meine Kleine. Ein wunderbares neues Lebensjahr wünsche ich dir. Hier, dein Geburtstagskuchen, mit Nüssen.«

»Ein Nusskuchen? Mama!« Christinas Augen strahlten auf. »Wie hast du das geschafft?«

»Mein Geheimnis.« Eva-Maria Graber lächelte. Sie hatte einiges eingetauscht, um an Nüsse und zusätzliche Fettmarken zu kommen. Aber das Glück, das aus Christinas Augen strahlte, war die Mühe wert gewesen!

»Puste die Kerze aus und wünsch dir was.«

Sofort kam das Mädchen der Aufforderung nach. Ihr Blick ging zu Jakob, der noch an der Tür stand und ihr zuschaute, wie sie die kleine Kerze ausblies. Sie wünschte sich so sehr, dass er für immer hier bei ihnen blieb! Sie hatte ihn viel lieber als ihren richtigen Bruder, der immer so mürrisch war und nie ein nettes Wort für sie übrig hatte.

»Und jetzt die Geschenke.«

»Sofort. Ich bin ja so gespannt!«

Ihr Großvater lachte. Er war ein untersetzter, kräftiger Mann mit weißem Stoppelhaar und einem harten, wettergegerbten Gesicht. Seit sein einziger Sohn im Krieg gefallen war, arbeitete er wieder mit ganzer Kraft in der Bäckerei.

»Nun schau schon nach. Wir können mit dem Frühstück noch ein paar Minuten warten.« Mit einem unterdrückten Seufzer setzte er sich auf die Bank unter den beiden Sprossenfenstern.

Christina griff zunächst nach dem weichen Päckchen, das ihr am nächsten lag.

»Das ist vom Großvater und mir.« Katharina setzte sich neben ihren Mann und sah gespannt zu, wie Christina das zugeschnürte Päckchen öffnete.

»Eine neue Jacke!« Begeistert hob Christina die tannengrüne Strickjacke mit den dicken Hornknöpfen hoch. Vorn waren bunte Blüten aufgestickt.

Katharina hatte das Garn im Nachbarort gegen vier große Schwarzbrote eingetauscht und heimlich stundenlang an der Jacke gestrickt.

»Oma, danke! Danke! Die ist wunderschön!«

Im zweiten Päckchen befanden sich dicke Socken, auch selbst gestrickt. Zwar waren sie sehr nützlich, doch ganz so groß wie beim Jäckchen war Christinas Begeisterung über dieses Geschenk nicht.

»Und jetzt das hier.« Sie hob das Paket mit der roten Schleife hoch. »Das Band ist toll …« Vorsichtig zog sie an der Schleife. »Davon kann ich mir ein Haarband machen.«

»Ja, kannst du.« Eva-Maria nickte.

Quälend langsam, so, als müsse sie die Vorfreude noch ein bisschen genießen, schlug Christina das Papier auseinander – und stieß einen lauten Freudenschrei aus.

»Eine Bäckerhose! Und eine Jacke!« Sie stürmte auf ihre Mutter zu und umarmte sie. »Danke, Mutsch! Danke! Danke!«

»So ein Unsinn«, knurrte Martin Graber. »Was soll das Mädel denn mit so einer Sach, ha?«

»Arbeiten werd ich mit euch, Opa!« Christina strahlte. »Du weißt doch, wie sehr ich mir das wünsche!«

»Papperlapapp! Frauen haben in einer Backstube nix zu suchen.«

»Aber die Mama ist doch auch …«

»Das ist was anderes«, schnitt der alte Mann ihr das Wort ab. »Das geht nun mal nicht anders. Irgendwer muss ja helfen. Dein Bruder treibt sich ja nur rum, der Lauser. Dabei wär es seine Pflicht, euren toten Vater zu ersetzen.« Für einen kurzen Moment holte er tief Atem und wischte sich über die Augen. Noch immer konnte er nicht verwinden, dass sein einziger Sohn im Krieg gefallen war. In Monte Cassino, dem italienischen Schicksalsort der deutschen Fallschirmjäger, hatte er im Frühjahr 1944 den Tod gefunden.

»Großvater, ich …«

»Nix da, du kommst mir nicht in die Backstube. Niemals!« Hastig stand er auf und ging zur Tür. »Bin wieder drüben.«

Bedrückt sahen ihm die anderen hinterher. Christina wischte sich eine Träne aus den Augen.

»Er meint es nicht wirklich böse, er ist nur … traurig«, nahm Katharina ihren Mann in Schutz.

»Aber ich kann doch nichts dafür, dass der Papa tot ist.«

»Nein, mein Schatz, dafür kannst du nichts. Dafür kann niemand etwas.« Eva-Maria zog ihre Tochter kurz an sich. »Es ist ein grausames Schicksal, das der Krieg …«

Sie hatte noch nicht ausgesprochen, als von draußen ein lauter Schrei ertönte.

»Der Vater!« Gleichzeitig sprangen die beiden Frauen auf und hasteten nach draußen.

Nur ein paar Meter vom Haus entfernt lag Martin Graber kopfüber im Schnee. Sein linkes Bein war unnatürlich vom Körper abgewinkelt, und vergeblich versuchte der alte Mann aufzustehen.

»Vater, um Gottes willen, was ist passiert?« Eva-Maria kniete neben ihm nieder und versuchte, ihn aufzurichten, doch mit einem Schmerzenslaut sank Martin Graber zurück.

»Mein Bein … es ist sicher gebrochen. Und die Hand kann ich auch nicht bewegen.« Stöhnend hob er den linken Arm an.

»Wartet, ich helfe.« Jakob versuchte, den Bäckermeister hochzuziehen, doch auch er war zu schwach.

»Ruf den Nachbarn, Christina«, sagte er, und schon flitzte Christina los. Sie rutschte ein paarmal aus, fiel in den Schnee, doch rasch rappelte sie sich wieder auf. Tränen schossen ihr in die Augen und liefen über die kälteroten Wangen, wo sie sich mit den dichten Schneeflocken, die wieder vom Himmel fielen, vermischten.

Eine halbe Stunde später war Martin Graber auf dem Weg ins Spital.

»Eine Katastrophe ist das. Eine schreckliche Katastrophe.« Katharina Graber konnte sich nicht beruhigen. »Was soll denn jetzt werden? Wer soll denn die Arbeit in der Backstube machen, jetzt, wo der Vater so krank ist?«

Eva-Maria legte ihr den Arm um die zuckenden Schultern. »Es geht schon weiter, Mutter. Irgendwie geht’s immer weiter.«

»Ich helfe der Mama in der Backstube!« Christina, die den Ernst der Situation noch nicht richtig erfassen konnte, lächelte und griff nach der neuen Bäckerjacke. »Ich hab ja jetzt alles, was ich dazu brauche.«

*

Der dunkelblaue Mantel schützte nur unvollkommen gegen die eisige Kälte. Wie mit tausend Nadeln stachen die gefrorenen Wassertropfen, die der Ostwind ihnen mit Macht ins Gesicht blies, auf die Haut.

»Du hättest mich allein gehen lassen sollen. Es ist viel zu kalt.« Besorgt sah Jakob zu Christina hin, die schwer an einem Holzbündel schleppte, das er ihr auf den Rücken gebunden hatte.

»Ach was, das geht schon. Ich hab ja wenigstens feste Schuhe an.« Sie sah auf Jakobs alte, halb zerfetzte Stiefel. Die trug er seit mehr als einem Jahr, dabei war er gewachsen und die Stiefel schon zu klein. Aber es gab im Moment nichts Besseres, sosehr sich Eva-Maria Graber auch bemühte, dem Jungen passendes Schuhwerk zu organisieren.

»Die Großmutter hat mir dicke Socken gestrickt, ich hab keine kalten Füße«, log Jakob und hob noch drei weitere dicke Äste auf.

Seit die Versorgung mit Kohle und anderen Brennmaterialien immer schlechter wurde, gingen die Dorfbewohner regelmäßig in die zwei Wälder, die das Dorf umgaben, um Holz zu sammeln. Die Älteren schlugen auch Bäume, egal, ob es junge oder alte Stämme waren. In diesen Zeiten hatte niemand Interesse daran, dass der Wald erhalten werden musste. Das eigene Überleben war wichtig, dahinter stand alles andere zurück.

Jakob schlug sich den Kragen der braunen Joppe wieder hoch. Noch vor drei Jahren hatte er auf dem Stoff an der linken Brust den gelben Judenstern tragen müssen, doch Eva-Maria hatte ihn gleich abgetrennt, als sie Jakob in ihrem Haus aufgenommen hatte.

»Den brauchst du nicht. Nicht hier bei uns«, hatte sie erklärt und mit zitternden Fingern alle gelben Sterne von Jakobs wenigen Kleidungsstücken entfernt.

»Ich hab deinen Bruder gesehen.« Jakob sah Christina nicht an bei diesen Worten.

»Wo denn?« Das Mädchen hielt inne, rückte das Holzbündel wieder gerade und wischte sich das kalte Nass aus dem Gesicht. Seit fast einer Woche war Wolfgang jetzt schon verschwunden, und die Mutter machte sich große Sorgen um ihn. Gestern erst hatte Christina gesehen, dass sie geweint hatte, als die Großmutter wieder einmal über Wolfgang schimpfte, der sich irgendwo herumtrieb, statt in der Backstube zu helfen. Jetzt, wo der Großvater für Wochen ausfallen würde, war jede helfende Hand wichtig.

»In Baden-Baden.«

»In der Stadt? Was macht er denn da? Hat er den Großvater im Spital besucht?«

»Keine Ahnung. Aber das glaub ich nicht.« Jakob zuckte mit den schmalen Schultern, doch gleich geriet das Holzbündel auf seinem Rücken ins Wanken, und er hatte Mühe, es festzuhalten. »Vielleicht sucht er sich da Arbeit.«

Christina antwortete nicht. Der ältere Bruder war ihr völlig fremd geworden. Früher hatten sie oft miteinander gespielt, er war lustig und fürsorglich gewesen. Jetzt kam er ihr manchmal sogar bedrohlich vor. Er war mürrisch und verschlossen, sprach kaum mit ihr, und daheim war er in den letzten Wochen auch immer seltener, seit der Großvater verlangt hatte, er solle endlich mal mit anpacken, statt den Tag mit Nichtstun zu verplempern.

Vor zweieinhalb Jahren, als man ihn mit knapp siebzehn Jahren eingezogen hatte, war er noch ein fröhlicher Junge gewesen. Immer gut gelaunt, ein Draufgänger, der in der Hitlerjugend aktiv war, sehr zum Missfallen seiner Mutter. Aber Wolfgang glaubte an den Führer, wie so viele andere zu jener Zeit. Er war ehrgeizig, auch in der Schule. Täglich fuhr er nach Baden-Baden ins dortige Gymnasium.

Bis man ihn eines Tages in eines der vielen Wehrertüchtigungslager steckte, wo er lernte, mit Waffen umzugehen. Als immer deutlicher wurde, dass der Krieg nicht gewonnen werden konnte, kamen die Jungs aus diesen Lagern direkt an die Front. Viele von ihnen waren begeistert bei dem Gedanken, für ihr Vaterland zu kämpfen, und die wenigsten ahnten, dass sie in den sicheren Tod geschickt wurden. Und ihre Mütter und Väter, die es besser wussten, hatten keine Chance, ihre Kinder daheim zu behalten.

Auch Wolfgang war stolz darauf gewesen, jetzt Soldat zu sein; dass seine Mutter sich grämte, die Großmutter weinte und ihn gar nicht ziehen lassen wollte, begriff er nicht.

Über die Zeit, die hinter ihm lag, sprach er nicht. Doch er kam als ein anderer zurück nach Hause. Wolfgang war nicht mehr wiederzuerkennen. Aus dem fröhlichen Buben war ein verschlossener junger Mann geworden, der mit dem Alltagsleben und dem neuen Frieden, der in Deutschland herrschte, nicht zurechtkam.

»Es wird bald dunkel, wir müssen uns beeilen, dass wir rechtzeitig nach Hause kommen.« Jakob beschleunigte den Schritt. Sie überquerten eine Schneise, auf der im Schnee noch die Kufen eines Schlittens und die Abdrücke von Hufeisen zu erkennen waren. Tannenzweige, mutwillig abgeschlagen und zum Teil auch unter der Schneelast abgebrochen, lagen am Wegrand.

»Ich nehme noch ein paar Zweige mit. Davon mache ich uns einen Adventskranz.«

»Nein, lieber nicht!« Jakob streckte abwehrend die Hand aus, aber da hatte Christina sich schon gebückt.

In der nächsten Sekunde schrie sie auf, verlor das Gleichgewicht und stürzte. Das Holzbündel auf ihrem Rücken, nur locker zusammengebunden, rutschte von ihren Schultern. Wie Mikadostäbe fielen die dünnen Äste in den Schnee und verteilten sich wie ein holziger Fächer auf dem harten, gefrorenen Boden.

Zwei, drei Sekunden lang blieb Christina reglos liegen. Der heftige Schmerz, der durch ihr linkes Knie gezuckt war, raubte ihr für einen Moment den Atem.

»Steh auf!« Jakob streckte ihr die Hand entgegen.

»Ich … ich kann nicht.«

»Hast du dich verletzt?« Schon machte er Anstalten, sich das Holzbündel abzuschnallen.

»Nicht. Lass das. Ich … ich steh schon wieder auf.« Mühsam rappelte sich das Mädchen hoch. Tränen standen ihr in den Augen, als sie auf die vielen Holzscheite sah, die sie jetzt mühevoll wieder aufsammeln musste.

»Leg mir noch welche auf. Ich kann gut noch was tragen.« Jakob beugte sich vor, damit Christina an ihn heranreichte.

Sie zögerte. »Du trägst doch sowieso schon viel mehr als ich.«

Er lachte. »Bin ja auch älter und größer.«

»Aber dünner.«

»Das heißt gar nix.« Wieder lachte er und ignorierte seinen schmerzenden Rücken. Dann half er Christina, so gut es eben ging, die Äste wieder aufzuladen und mit den vier kurzen Riemen, die sie hatte, festzuzurren. »Das nächste Mal nehmen wir den Handkarren wieder mit.«

»Damit war heute doch die Großmutter unterwegs. Sie wollte nach Lichtental zu einer Freundin, zur Hanni Immig. Die lebt mit ihrer Familie auf einem großen Bauernhof, und mit etwas Glück kriegt Großmutter ein paar gute Sachen von ihr. Schließlich ist bald Weihnachten.« Ein sehnsuchtsvoller kleiner Seufzer kam über ihre Lippen.

Jakob nickte nur. Weihnachten war für ihn und seine Familie kein Fest gewesen, das man feierte. Stattdessen hatten sie immer Hanukkah gefeiert, das große Lichterfest.

Jakob presste bei der Erinnerung daran die Lippen fest zusammen. Es war so lange her, dass er mit seiner Familie Hanukkah oder ein anderes jüdisches Fest erlebt hatte. Eine Ewigkeit. Wie in einem anderen Leben kam es ihm vor.

Unbewusst begann er, leise vor sich hinzusummen. Ein Lied, das die Mutter so gern gesungen hatte. Den vollständigen Text kannte er nicht mehr, doch er wusste noch die ersten Zeilen und sang sie hin und wieder, wenn er allein war:

Ein Stern fällt vom Himmel, ein funkelnder Stern

bringt dir eine Botschaft von fern und das große Glück

Christina sah zu ihm auf. »Das ist so schön! Du hast lange nicht mehr gesungen. Weißt du noch, damals, als ich dich im Schuppen gefunden hab … Ich hab gehört, wie du ganz leise das Lied gesungen hast.«

Jakob nickte nur. Wie könnte er diesen Moment, der sein Leben von Grund auf geändert, der ihm wohl das Leben gerettet hatte, je vergessen!

Mit einem zärtlichen Lächeln sah er auf Christina, deren blonde Zöpfe ganz nass waren. »Es ist viel zu kalt zum Singen. Komm, lass uns rascher gehen, sonst wird es noch dunkel, und du fällst noch mal in den Schnee.«

Der Wind flachte ab, und die eisigen Kristalle verwandelten sich in dichte Schneeflocken, die zwar nicht so kalt auf die Haut klatschten, doch ihre Sachen wurden dadurch noch stärker durchnässt.

Aus einem der breiten Hauptwege kam ein Pferdefuhrwerk. Zwei alte Braune, an den Mäulern schon weiß, zogen einen großen Leiterwagen, auf dem lange Tannenstämme lagen.

»Hey, ihr zwei. Wollt ihr aufsitzen?« Der Mann in dem grauen alten Militärmantel, an dem er die Rangabzeichen abgeschnitten hatte, zügelte die Pferde und sah die Kinder auffordernd an. Den breitkrempigen Hut hatte er tief ins Gesicht gezogen, um die Augen gegen den Schnee zu schützen.

»Danke. Ja!«

»Dann nichts wie hoch mit euch.« Forschend sah er von Christina zu Jakob. »Ihr gehört zum Graber-Bäcker, gell?«

»Das ist mein Opa.«

»Aha. Ich hab gehört, er ist gestürzt.«

»Ja. Aber wir backen trotzdem jeden Tag Brot. Und der Großvater kommt sicher noch vor Weihnachten heim.«

»Das ist gut.« Mehr sagte der Kutscher nicht. Er schwieg, bis sie vor dem Haus der Grabers angekommen waren. Dort zügelte er kurz die beiden Braunen und wartete, bis Christina und Jakob heruntergeklettert waren, dann fuhr er weiter.

»Wer war das? Kennst du den?«

Christina schüttelte den Kopf. »Nein. Aber es war nett von ihm, uns mitzunehmen.« Sie gingen auf dem schmalen Plattenweg, der links ums Haus herumführte, zur Hintertür und luden dort unter einem kleinen Dachvorsprung das Holz ab.

»Das reicht sicher für ein paar Tage«, meinte Christina, doch Jakob schüttelte den Kopf.

»Wenn wir nicht bald neue Kohlen und Holz zugeteilt bekommen, kann deine Mutter nicht mehr backen. Das hier …« Er wies auf das gesammelte Holz, »reicht nicht mal dazu, den Backofen zwei Tage lang zu heizen.«

»Und dann?«

Ehe Jakob antworten konnte, öffnete sich die Hoftür, und Katharina Graber winkte die Kinder ins Haus. »Schnell, kommt rein! Es gibt Bratkartoffeln mit Speck und Eiern!«

Für einen Moment hielten die beiden inne.

»Bratkartoffeln mit Speck?« Jakob sah ungläubig drein.

»Und mit Eiern.« Katharina nickte lächelnd. »Glaub’s mir ruhig, Jakob.«

»Das ist ja wie Weihnachten und Hanukkah zusammen!«

Christina flitzte an ihm vorbei ins Haus. Noch im Laufen zog sie sich Handschuhe und Mantel aus. Bratkartoffeln mit Speck und Eiern … das war unglaublich. Sie konnte es kaum erwarten, sich mit eigenen Augen davon zu überzeugen, dass sie heute Abend ein Festessen haben würden!

*

Noch bevor der Wecker im Zimmer ihrer Mutter klingelte, war Christina wach, stand auf und zog sich an. Die neue Bäckerhose passte wie angegossen. Dass sie nicht mehr neu war, störte das Mädchen nicht im Geringsten. Auch die Jacke passte. Und die war tatsächlich nagelneu. Und für den Kopf hatte sie sich noch gestern Abend eine weiße Papierhaube gebastelt.

Hastig steckte sie die nur flüchtig geflochtenen Zöpfe unter das dicke Papier, dann huschte sie aus dem Zimmer. Genau in dem Moment, in dem auch ihre Mutter aus dem schräg gegenüber liegenden Elternschlafzimmer kam.

»Christina? Was machst du denn jetzt schon?«

»Ich geh mit in die Backstube!« Die großen blauen Augen blitzten erwartungsfreudig.

»Aber … der Großvater würde das nicht wollen!« Eva-Maria zog ihre Tochter kurz an sich. »Du weißt doch, dass er es schon kaum erträgt, dass ich mitarbeite. In der Backstube haben Frauen nichts zu suchen, das sagt er doch immer wieder.« Ein kleiner Seufzer folgte diesen Worten.

»Aber er kann doch gar nicht richtig arbeiten. Nicht mal stehen kann er mit dem dicken Gipsbein, und mit der gebrochenen Hand kann er keinen Teig formen. Da kann er gar nicht böse sein mit uns.«

Eva-Maria antwortete nicht. Seit vorgestern war der Vater aus dem Spital zurück. Er hatte es in der Klinik einfach nicht mehr ausgehalten und war – gegen den Rat der Ärzte – heimgegangen. Einen alten Rollstuhl hatte ihm der Chefarzt mitgegeben und dafür das Versprechen bekommen, dass ihm Martin Graber zu Weihnachten eine Schachtel Gebäck schickte.

Wie er dieses Versprechen einhalten sollte, wusste der alte Bäckermeister noch nicht, aber es drängte ihn heim. Und so rollte er, so gut es eben ging, durch die Wohnung.

Als Christina und ihre Mutter die Backstube betraten, waren Martin Graber und Jakob schon da. Der Junge hatte den Backofen angeheizt, und in der alten Teigmaschine, die den Krieg überdauert hatte, lag bereits der erste Klumpen Sauerteig.

»Vater! Was soll das? Du darfst doch nicht arbeiten! Wenn du noch mal fällst, wächst das Bein vielleicht nicht mehr richtig zusammen. Und was dann?«

»Und was ist, wenn wir nicht backen können, ha?« Der alte Mann schüttelte den Kopf. »Ich bleibe hier. Der Jakob kann alles das machen, was ich nicht kann.« Er wies auf Christina. »Aber die Kleine geht raus. Was will sie hier? Sie stört nur. Die Backstube ist kein Spielplatz.« Nur kurz sah der alte Bäckermeister seine Enkelin an. »Raus. Ich hab gesagt, ich will nicht noch ein Weibsbild in meiner Backstube!«

»Aber Opa! Ich kann euch doch helfen! Und ich hab doch schon meine Sachen an!«

»Nix da! Ich leid’s einfach nicht. Schlimm genug, dass deine Mutter hier mitschuften muss, aber das geht nun mal nicht anders. Du aber gehörst ins Bett. Und hinterher auf die Schulbank!«

»In die Schule geh ich schon noch.« Christina trat dicht neben den Großvater und streichelte seinen Arm. »Bitte, lass mich wenigstens heute bleiben. Es ist auch so schön warm hier …« Sie rieb sich die Hände.

Martin Graber seufzte auf. »Du weißt, dass es mir missfällt, aber wenn du unbedingt willst … gut, aber nur heute!« Er wies hinüber zu einer breiten Holzpalette. »Kannst die ersten Brote da drüben hinlegen. Aber pass auf, dass du dich nicht verbrennst.« Er wandte sich an Eva-Maria. »Die Kohlen gehen zur Neige. Wir müssen Holz nachlegen.« Ein tiefer Seufzer folgte. »Wie stellen die Herren von der Militärregierung sich das eigentlich vor? Nur dreißig Kilo Kohle gibt’s noch für uns. Damit soll ich über hundert Kilogramm Mehl verbacken. Ein Unding ist das!«

»Zum Glück haben wir wenigstens jetzt, vor Weihnachten, genügend Eier. Und die Mutter hat ja auch noch Maismehl organisieren können.« Sie nahm den ersten großen Klumpen Mehl aus der Mischmaschine und begann, Brotlaibe zu formen. »Irgendwie geht’s doch immer weiter, Vater.«

»Aber wie! Es ist zum Verzweifeln. Die Brotmarken werden auch immer stärker rationiert. Wir haben schlimmere Zustände als im Krieg.« Müde strich er sich mit der Hand übers Gesicht mit den grauen Bartstoppeln, und seine Wangen wirkten noch eingefallener als normalerweise.

Eine Weile arbeiteten alle schweigend, doch nach einer halben Stunde musste Martin Graber sich hinsetzen. Es ging ihm schlecht, das Bein schmerzte, und ihm wurde schwarz vor Augen, auch wenn er das nicht laut sagte.

Kurz sah er zu seiner Enkelin hinüber, die mit hochroten Wangen neben ihrer Mutter stand. Wenn sie auch noch nicht viel schaffte, die Kleine, sie stellte sich sehr geschickt an, das musste er zugeben.

Christina half der Mutter, die Laibe zu formen und sie in den Backofen zu schieben. Zwischendurch musste der alte Ofen immer wieder mit Holz bestückt werden, und auch diese Arbeit übernahm das Mädchen.

Nach einer Stunde sah Eva-Maria auf die runde Uhr an der schmalen Wand der Backstube. »Zeit, dass du in die Schule kommst, Christina. Der Hannes wartet nicht.«

Hannes Brakmeier war einer der Männer, die in Baden-Baden Arbeit gefunden hatten. Er arbeitete als Dolmetscher für die französischen Besatzer und hatte sich bereit erklärt, die drei Kinder des Ortes, die das Gymnasium besuchten, jeden Tag mit in die Stadt zu nehmen.

An diesem 21. Dezember 1946 war Christina die einzige Schülerin, die er mitnahm.

»Der Volker ist stark erkältet und muss das Bett hüten, und die Jette muss bei ihrer kranken Oma bleiben und sie versorgen«, sagte er, als Christina in den Volkswagen kletterte, der Hannes’ ganzer Stolz war. »Darfst heute vorne sitzen.«

»Und die Hand rausstrecken, wenn’s der Winker wieder nicht tut«, lachte Christina. Der Winker des Wagens funktionierte bei Kälte nicht immer, und die Kinder hatten Spaß dran, beim Abbiegen Handzeichen geben zu können.

»Du riechst nach frischem Brot.« Der Hannes schnupperte. »Habt ihr heute gebacken?«

»Ja. Und ich durfte helfen, weil der Großvater sich doch das Bein und die Hand gebrochen hat. Damit kann er nicht richtig arbeiten. Warte. Ich hab was für dich.« Vorsichtig holte Christina eine kleine Schachtel aus ihrer Schultasche. Genau genommen war es immer noch ihr kleiner Ranzen, den sie als Erstklässlerin schon bekommen hatte. Doch etwas Besseres besaß sie nicht, und der Ranzen war gerade richtig, die wenigen Schulbücher und das karge Frühstücksbrot, das sie mitnahm, zu transportieren. »Zu Weihnachten für dich. Hab ich selber gebacken. Vorgestern. Ganz heimlich. Keiner hat was gemerkt.«

Hannes, gerade mal siebenundzwanzig Jahre alt, fuhr etwas langsamer und öffnete die Schachtel mit einer Hand.

»Das sind ja richtige Weihnachtsplätzchen!«

»Nur für dich.« Christina lächelte ihn an. »Weil du mich immer mitnimmst. Und vielleicht auch bald den Jakob.«

»Warum geht der eigentlich nicht zur Schule?«

»Tut er ja. Aber im Nachbarort, bei Doktor Heusstamm. Der hat im Krieg beide Beine verloren und kann nicht mehr unterrichten. Nur den Jakob.«

»Und warum den?«

»Weil …« Christina zögerte. »Der Jakob ist doch lange nicht zur Schule gegangen und hat einiges versäumt. Das lernt er mit Doktor Heusstamm nach, damit er nach Ostern mit aufs Gymnasium kann.«

»Ach so.« Hannes zögerte, aber dann fragte er doch: »Und … was ist mit Verwandten? Hat er niemanden außer euch?«

Christina schüttelte den Kopf. »Die sind alle tot.«

»Traurig. Aber das war nun mal so in diesem verdammten Krieg.«

Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Meine Mutter sagt, das mit den Juden, das wäre die größte Sünde überhaupt gewesen. Und das hätte nicht passieren dürfen.«

Hannes schwieg. Er war, so wie viele, Parteimitglied gewesen. Im Krieg hatte er an der russischen Front gekämpft und war froh, schon wieder daheim zu sein. Über den Krieg sprach er nie, erst recht nicht mit Christina, die ja viel zu klein war, um all die Grausamkeiten, die er gesehen und erlebt hatte, verstehen zu können. Es war sicher auch besser so, wenn sie nicht ahnte, wie entsetzlich die Schreie der Verwundeten über das Schlachtfeld hallten, wie schrecklich es war, in die gebrochenen Augen von Kameraden sehen zu müssen.

Er roch noch einmal an den Weihnachtsplätzchen. »Die sind, das weiß ich jetzt schon, mein schönstes Weihnachtsgeschenk.«

»Ich muss sie dir heute schon geben. Es ist ja der letzte Schultag.«

»Danke. Die werde ich aber erst am Heiligen Abend essen.«

Auf einem kleinen roten Papierstreifen lagen fünf perfekt gebackene Tannenbäume. Drei, vier Tupfer Eigelb prangten darauf und ein paar kleine Nusssplitter. Auf einem von ihnen war sogar etwas Kirschgelee verteilt. Der war zwar noch immer weich, aber das störte weder Christina noch Hannes.

»So, wir sind da. Aussteigen, junge Dame.« Hannes lenkte den Brezelkäfer an den Straßenrand. »Und – danke für die Plätzchen.«

»Danke fürs Mitnehmen.« Christina stieg aus und hastete über die schneebedeckte Straße. Das Schulgebäude wies noch etliche Schäden auf, Granatsplitter hatten Spuren an der Vorderfassade hinterlassen, und ein Teil des linken Gebäudeflügels war so zerstört, dass man darin nicht unterrichten konnte. Auch die breite, mit schmalen Eisenornamenten verzierte Eingangstür, durch die Christina an jedem Schultag ging, war von Bomben beschädigt und wies drei große Löcher auf, die der Hausmeister der Schule mit groben Brettern zugenagelt hatte. Doch die meisten der Klassenzimmer waren so weit wiederhergestellt, dass normaler Unterricht abgehalten werden konnte.

Christina sah nicht nach rechts und links, sie hatten heute für die Strecke etwas länger gebraucht als normalerweise, und sie wollte nicht zu spät kommen. Daher bemerkte sie das kleine schwarze Mäppchen im Schnee erst im letzten Augenblick, gerade, als sie das Schultor passieren wollte. Sie bückte sich und schlug das Lederetui auf. Ein französischer Pass! Auf dem Foto war ein junger Offizier zu sehen. Mit lockigen Haaren und freundlich dreinblickenden dunklen Augen unter etwas zu buschigen Augenbrauen. Und noch drei weitere Blätter fand sie, die wie Ausweise und irgendwelche Urkunden aussahen. Es gab kein Bild, doch etliche Stempel und verschiedene Unterschriften, die sie aber nicht lesen konnte.

Rasch drehte sich Christina nach Hannes um – aber er war schon fort! Sie sah nur noch die Rücklichter des Wagens, der um die Straßenecke bog.

Sie zögerte. Auf dem Schulhof erklang soeben die Glocke, die zum Unterricht rief. Aber da waren die Papiere, die bestimmt einem der französischen Besatzungsoffiziere gehörten und vielleicht wichtig waren. Noch einen Augenblick lang zögerte Christina, dann rannte sie los.

Bis zur Kommandantur war es nicht weit. Das schmale schwarze Etui fest in der rechten Hand, hastete sie durch die vereisten Straßen, bis das große Gebäude, vor dem die französische Fahne wehte, vor ihr auftauchte. Christina blieb stehen und sah zögernd auf die vier Soldaten, die davor patrouillierten.

»Nein, lieber nicht«, murmelte sie und machte Anstalten, wieder umzukehren. Von einer Sekunde zur anderen hatte sie der Mut verlassen.

»Hallo, petite Mademoiselle, was hast du da?« Einer der Soldaten kam auf sie zu.

»Das hier hab ich gefunden.« Christinas Stimme war vor Aufregung kaum zu verstehen.

»Gefunden. Aha. Zeig her.«

»Ja. Gefunden hab ich’s. Vor meiner Schule lag es im Schnee.« Jetzt wurde sie mutiger. Der Soldat hielt sie ja wohl nicht für eine Diebin! »Sehen Sie … es ist ganz nass.«

»Warte hier.« Er ging ins Haus, kam aber schon ein paar Minuten später in Begleitung eines älteren Mannes zurück, der eine Uniform mit vielen Abzeichen trug.

»Mademoiselle, ich danke dir.« Er sprach sehr gut Deutsch, und das Lächeln, mit dem er Christina ansah, war beinahe väterlich. »Das sind ganz wichtige Papiere. Ich habe sie schon vermisst.« Er biss sich kurz auf die Lippen. »Gestern bin ich bestohlen worden.«

»Aber nicht von mir!« Das klang ebenso empört wie trotzig.

»Nein, nein, es war ein Mann. Wir haben versucht, ihn und ein paar andere auf dem Schwarzmarkt zu verhaften. Er konnte entkommen, der Mistkerl!« Eine Ader schwoll auf seiner Stirn, aber rasch hatte er sich wieder in der Gewalt. »Er hat das Geld genommen, das in dem Etui steckte, aber mit den Papieren konnte er wohl nicht viel anfangen. Doch gerade die sind für mich am wichtigsten.« Er streckte Christina die Hand entgegen. »Sag mir deinen Namen und wo du wohnst. Wenn ich in der Gegend bin, komme ich vorbei. Ich möchte mich dann noch richtig bei dir bedanken.«

Christina zögerte, dann nannte sie ihre Anschrift. »Wir haben da eine Bäckerei.« Verlegen zog sie an ihrem linken Zopf und zwirbelte die Enden um die Finger.

»Alors, meine Kleine, ich muss wieder hinein. Merci noch einmal. Und ein schönes Weihnachtsfest.«

»Danke. Ihnen auch.« Sie biss sich auf die Lippen. Am liebsten hätte sie dem Soldaten gesagt, dass sie in diesem Jahr sicher kein so schönes Fest wie er haben würden. Es gab nicht genug zu essen, keine Kohlen, und ob sie ein Weihnachtsgeschenk bekommen würde, wusste sie nicht. Dennoch freute sie sich darauf, dass sie alle beisammen sein konnten. Denn das war ja auch ein Geschenk, nicht wahr?

Sie sah dem Offizier nach, der hinter der breiten Eingangstür verschwand, ohne sich noch einmal umzusehen. Christina biss sich auf die Lippen und rannte davon.

*

Die vier Schachteln Lucky Strike wogen schwer in seiner Jackentasche. Lauernd sah er sich nach allen Seiten um, ehe er den dämmrigen Hinterhof verließ. Seit Wochen kam Wolfgang Graber regelmäßig hierher. Das war einer der besten Orte der Gegend, um lukrative Schwarzmarktgeschäfte zu tätigen.

Gestern hatte er seit Monaten mal wieder Glück gehabt: Einer der wichtigsten französischen Offiziere war bei einer Kontrolle dabei gewesen, und Bernie, der kleine, verwachsene Bengel aus Freiburg, hatte ihm tatsächlich die Brieftasche entwendet.

Aber dann hatte Bernie, wohl aus Angst vor den beiden Soldaten, die hinter ihm herrannten, die Brieftasche in einen Graben geworfen. Und er, Wolfgang, war zum Glück ganz in der Nähe gewesen und hatte in einem unbeobachteten Moment das schwarze Etui an sich nehmen können.

Himmel noch mal, diesen Tag konnte er sich im Kalender rot anstreichen! Ein ganzes Bündel Geld gehörte jetzt ihm! Zwar wurde Geld fast täglich weniger wert, aber mit den französischen Banknoten ließ sich doch einiges erreichen. Vorsichtshalber warf er das Etui auf dem Weg nach Hause irgendwo in den Schnee. Die Papiere waren für ihn wertlos, das Geld hingegen ermöglichte es ihm, ein paar lukrative Tauschgeschäfte zu machen.

Am wertvollsten waren die Zigaretten. Sie waren bares Gold wert!

Hastig ging er zu einer der Oos-Brücken, ein weiterer Platz, wo sich Schwarzhändler trafen.

Die Versuchung, sich eine der Zigaretten anzustecken, war groß, doch Wolfgang beherrschte sich. Er brauchte etwas ganz anderes!

»Dopamin? Kokain?« Er flüsterte es in die Dämmerung, die unter der Brücke herrschte.

»Eine halbe Flasche Cognac hab ich. Französischer Cognac bester Güte«, kam es aus einer Ecke zurück.

»Wie viel?«

»Sechs Zigaretten.«

»Drei.«

»Fünf.«

Sie einigten sich auf vier. Langsam schlenderte Wolfgang weiter, tauschte an der nächsten Brücke wieder ein paar Zigaretten gegen ein paar feste Schuhe.

Seine Finger zitterten, die Schmerzen in seinem Kopf wurden von Minute zu Minute stärker. Vor seinen Augen begann es zu flimmern, und er steckte sich nun doch eine Zigarette an. Nikotin war zwar kein Dopamin, aber besser als gar nichts.

Seine Stimmung, vor drei Stunden noch euphorisch, sank immer mehr. Erst als er in einer Kneipe am Stadtrand ein paar Gläser Wein getrunken hatte, fühlte er sich besser, der Schmerz im Kopf ließ nach.

Einer seiner ehemaligen Kriegskameraden wohnte im Nachbardorf. Er besaß ein altes Motorrad und nahm ihn mit heim.

»Umsonst ist das nicht«, sagte er, als Wolfgang vor der Bäckerei abstieg. »Vergiss nicht – ich brauche Weihnachten ein zusätzliches Brot.«

»Die sind abgezählt, das weißt du doch.«

»Nicht mein Problem.« Sein Kumpan zuckte mit den Schultern. »Wir sehen uns. Morgen um die gleiche Zeit.« Und schon fuhr er davon.

Langsam ging Wolfgang ins Haus. Er wohnte bei den Großeltern im vorderen Haustrakt, hatte dort ein kleines Reich für sich. Seine zwei kleinen Zimmer lagen am Ende des Korridors, und er hoffte, ungesehen ins Haus zu kommen. Sein ehemaliges Zimmer im Seitentrakt hatte der Judenjunge eingenommen. Wolfgang hätte ihn am liebsten rausgeprügelt, als er aus der kurzen Gefangenschaft heimgekommen war, doch das wäre wohl mehr als gefährlich gewesen. Noch sprach niemand darüber, dass er in der SS gewesen war. Und es war sicher klug, nicht aufzufallen.

Doch gerade, als er leise die Haustür schließen wollte, kam ihm seine Mutter entgegen.

»Wo warst du nur wieder, Junge? Hast du was gegessen? Es ist noch Graupensuppe da. Und ein paar Bratkartoffeln mit Speck. Die Großmutter hat einiges organisieren können.«

»Hab keinen Hunger.«

»Aber du musst doch was essen!«

»Hör auf mit deiner elenden Bemutterung! Ich bin kein Kleinkind mehr! Lass mir endlich meine Ruhe!« Hart fiel die Tür hinter ihm zu.

Eva-Marias Augen schwammen in Tränen, als sie ihm nachblickte. Der junge Mann, der so wirkte, als hätte er einen Eisenwall um sich herum errichtet, hatte nichts mehr mit dem liebenswerten Jungen gemein, der als Siebzehnjähriger in den Krieg hatte gehen müssen.

Zurückgekehrt war ein mürrischer, unnahbarer, verbitterter junger Mensch, der seiner eigenen Wege ging und das Zusammentreffen mit der Familie mied, wo immer es ging.

»Wie kann ich dir nur helfen, Junge?«, flüsterte sie und sah auf das dunkle Holz der Zimmertür. »Was kann ich tun, um dich all das Grauen, das du erlebt hast und das dich so verändert hat, vergessen zu lassen?

Sie wusste keine Antwort.

*

»So einen schönen Baum hatten wir seit Jahren nicht mehr.« Katharina Graber holte noch eine der glänzenden roten Kugeln aus dem alten Karton und hängte sie in die dichten grünen Zweige. »Schau nur, Christina, sogar die Tannenbaumspitze ist noch heil. All die Jahre hindurch hab ich sie nicht rausgeholt, aber jetzt …« Ein Lächeln glitt über ihr Gesicht. »Bei diesem wunderschönen Baum kommt sie wieder zu Ehren, nicht wahr?«

Christina nickte nur. Mit angespannter Miene hockte sie auf dem grauroten Wollteppich und verschnürte ein Päckchen mit einer schmalen roten Kordel. Statt einer Schleife legte sie zur Dekoration einen kleinen Tannenzweig darauf.

»Ob mein Geschenk dem Jakob gefallen wird?«

»Aber sicher doch!« Katharina lächelte ihrer Enkelin beruhigend zu. »Die Wolle ist ganz weich, und so einen warmen Schal kann er sehr gut brauchen, wenn er früh am Morgen unterwegs ist.«

»Für Handschuhe hat die Wolle aber nicht gereicht.« Christina senkte den Kopf. Bedauern schwang in ihrer Stimme mit.

»Wart’s nur ab, vielleicht bringt ihm das Christkind die passenden Handschuhe.«

»Das Christkind!« Mit nachsichtigem Lächeln sah Christina zu ihrer Großmutter auf. »So eine schöne Geschichte ist das! Aber daran glaub ich doch schon seit ein paar Jahren nicht mehr. Das weißt du doch.«

Noch zwei Kugeln hängte Katharina in den kleinen Baum, dann kletterte sie vom Stuhl und setzte sich für einen Moment hin. Das graue Haar hatte sie im Nacken zu einem Knoten zusammengebunden. Ein paar Strähnen hatten sich gelockert, und sie strich sie sich zurück hinter die Ohren. Sie hatte sich schon umgezogen, trug ihr bestes Kleid, das sie über all die Jahre hinweg geschont hatte, so gut es eben ging. Es war aus einem weichen dunkelblauen Wollstoff, ein weißer Spitzenkragen war ebenso Schmuck wie die neun kleinen Perlmuttknöpfe, die bis zur Taille reichten. Im spitzen Ausschnitt hing eine dünne Perlenkette.

Auch Martin hatte sein bestes weißes Hemd schon angezogen, dazu eine dunkelrote Krawatte, die Einzige, die er besaß.

Der Tannenbaum, den Eva-Maria und Jakob am vorhergehenden Abend aus dem Wald geholt hatten, stand auf einem kleinen Tisch, darunter hatte die alte Krippe, die seit drei Generationen schon im Besitz der Familie war, ihren Platz gefunden.

»Vielleicht lernst du heute, doch wieder ans Christkind zu glauben«, lächelte Katharina und strich der Enkelin kurz übers blonde Haar. »Und jetzt sieh zu, dass du in die Küche kommst. Deine Mutter braucht noch Hilfe beim Kochen.«

Martin Graber saß in seinem Lieblingssessel, das bis übers Knie eingegipste Bein lag auf einem alten Hocker. Er las in der Badischen Illustrierten, die erst seit wenigen Monaten wieder regelmäßig gedruckt werden konnte.

»Ich bin gespannt, was es gibt«, murmelte er. »Ihr macht so ein großes Geheimnis draus.«

Seine Frau lächelte. »So ist das nun mal zu Weihnachten.«

Eine gute Stunde später war es so weit: Ein kleines Glöckchen ertönte, die fünf Kerzen am Baum waren angezündet, die Bescherung konnte beginnen!

Für Christina hatten Mutter und Großeltern einen neuen Wintermantel besorgt. Den Stoff hatte eine Nachbarin über die schlechte Zeit hinweggerettet. Sie war gelernte Schneiderin und besaß das Geschick, aus wenigem etwas Schönes zu machen. Vor einigen Monaten war ihr einziger Sohn aus amerikanischer Gefangenschaft heimgekehrt. Um ihm etwas Gutes zu essen geben zu können, hatte sie ein paar ihrer Stoffe eingetauscht. Katharina hatte ihr von ihren wenigen eigenen Bezugsscheinen etliche abgegeben, denn sie hatte, dank der Freundin mit dem großen Bauernhof, genug zu essen gehabt.

Jakob bekam Handschuhe, sie hatten zwar eine andere Farbe als Christinas Schal, doch er freute sich über beide Geschenke.

Die Erwachsenen beschenkten sich nicht, ihnen war die Freude der Kinder genug.

»Und jetzt gibt’s was Gutes zu essen.« Eva-Maria löschte die Kerzen und ging hinüber in die Küche, um nach den Kartoffeln zu schauen.

»Warten wir nicht auf Wolfgang?«, fragte Christina.

Über das Gesicht ihrer Mutter huschte ein Schatten. »Nein. Wer weiß, wann er heimkommt.«

»Ob er überhaupt kommt«, warf Martin bitter ein.

»Aber es ist doch Weihnachten!« Christinas Augen füllten sich mit Tränen. »Da müssen wir doch alle zusammen sein!«

Ihre Großmutter biss sich kurz auf die Lippen, sagte aber nichts.

Martin Graber streckte die Hand nach Jakob aus. »Hilf mir, Junge«, bat er, und Jakob schob den Rollstuhl an den Esstisch.

Ausnahmsweise hatten sie heute in der Wohnstube geheizt, und auf der Anrichte aus dunklem Eichenholz stand ein Kerzenleuchter mit drei roten Kerzen. Auf dem Tisch lag ein blütenweißes Tischtuch, Tannenzweige steckten als Dekoration in bunten Gläsern, und Katharina hatte sowohl das gute Porzellan mit dem breiten Goldrand hervorgeholt wie auch das Silberbesteck mit dem Monogramm KG. Oft schon war sie versucht gewesen, es auf dem Schwarzmarkt einzutauschen, doch ihre Not war glücklicherweise nie so groß gewesen, dass sie sich davon hatte trennen müssen. Stattdessen hatte sie die schönen Ohrringe mit Aquamarintropfen fortgegeben, ebenso den weichen Silberfuchskragen, den sich jetzt ihre Freundin um den Hals legte, wenn sie zur Dorfkirche ging. Aber was sollte man mit Fuchspelz, wenn man Hunger hatte? Speck und Eier waren ihr wertvoller erschienen!

Das Essen war so reichhaltig wie seit Monaten nicht mehr. Nach einer würzigen Lauchsuppe gab es Kartoffeln so viel jeder wollte, Rosenkohl und ein Stück Fleisch für jeden. Sogar Jakob aß alles mit, es war nicht die Zeit, auf koscheres Essen Wert zu legen. Das hatten sie damals, zu Hause, stets getan. Doch jetzt hatte der heranwachsende Junge fast immer Hunger, und die Hauptsache war, dass er etwas in den Magen bekam.

»Was ist das?«, fragte Christina und zerdrückte ein Stück Kartoffel in der Soße.

»Kaninchenbraten. Iss, es ist noch für jeden ein Stück da.«

Die drei Erwachsenen tranken Rotwein zum Essen; noch zwei Flaschen lagerten im Keller, denn Martin hatte sie gehütet wie einen Schatz. Christina und Jakob bekamen in ihr Wasser auch einen kleinen Schluck Wein – zur Feier des Tages.

Nach dem Essen setzten sie sich noch einmal an den Weihnachtsbaum, sangen Stille Nacht, heilige Nacht und Ihr Kinderlein kommet. Auch Jakob sang mit, er fand, dass Weihnachten ein schönes Fest war, auch wenn es nichts mit dem jüdischen Glauben zu tun hatte. Doch wann und wo hätte er seinen Glauben in dieser Zeit schon leben können?

Die Kerzen waren schon fast ganz herabgebrannt, als Jakob aufstand, ans Fenster ging und leise zu singen begann: Ein Stern fällt vom Himmel, ein funkelnder Stern …« Seine Stimme war dunkler geworden, samtweich und klar. Den Stimmbruch hatte er hinter sich, mittlerweile war aus dem hellen Sopran, mit dem er das Lied damals im Schuppen gesungen hatte, eine Tenorstimme geworden.

Katharina hatte Tränen in den Augen, als sie aufstand und den Jungen, der sie schon um einen halben Kopf überragte, umarmte.

»Wie wunderschön, Jakob. Das Lied hab ich eine Ewigkeit lang nicht mehr gehört.«

Jakob biss sich auf die Lippen. »Mutter hat es sehr gemocht, daran erinnere ich mich. Sie hatte eine Schallplatte, da war es drauf.«