Mord am Walberla (eBook) - Johannes Wilkes - E-Book

Mord am Walberla (eBook) E-Book

Johannes Wilkes

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Beschreibung

Walpurgisnacht am Walberla: Als zur nächtlichen Stunde zwei Studentinnen im Hexenkostüm den Berg hinabsteigen, sehen sie einen toten Teufel am Fuß des Felsens liegen. Kriminalkommissar Mütze beginnt zu ermitteln, und wie so oft mischt sich sein Lebenspartner Karl-Dieter ungefragt ein. Das Opfer ist Georg Regenfuß, ein einsamer Mann aus Möhrendorf, der als Lastwagenfahrer arbeitete und als "Gerchla" im Internet auf der Suche nach Frauenbekanntschaften war. Die Spuren führen den Kommissar nach Tschechien sowie zum berüchtigten Karpfen-König aus dem Aischgrund. Schließlich begibt sich Karl-Dieter in höchste Gefahr, um diesem verzwickten Fall die entscheidende Wendung zu geben ...

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Johannes Wilkes

 

Mord am Walberla

 

Kriminalroman

 

 

 

 

ars vivendi

 

Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Originalausgabe (Erste Auflage Januar 2018)

 

© 2018 by ars vivendi verlag GmbH & Co. KG, Bauhof 1, 90556 Cadolzburg

Alle Rechte vorbehalten

www.arsvivendi.com

 

Umschlaggestaltung: FYFF, Nürnberg

Motivauswahl: ars vivendi

Umschlagfoto: © istock/subwaytree

 

Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag

 

eISBN 978-3-86913-869-5

 

Ähnlichkeiten mit ermordeten Personen sind rein zufällig.

 

 

Inhalt

Mittwoch, 1. Mai

Donnerstag, 2. Mai

Freitag, 3. Mai

Samstag, 4. Mai

Sonntag, 5. Mai

Der Autor

 

When shall we three meet again?

In thunder, lightning, or in rain?

 

William Shakespeare, Macbeth

 

Mittwoch, 1. Mai

»Wenn sein Phallus nicht geblinkt hätte, hätten wir ihn erst im Stadium der Verwesung gefunden.«

»Die moderne Technik sei gepriesen!«

Mütze beugte sich über das Geländer. Verdammt steil ging es hier den Felsen hinab. Der Kommissar schob seinen Oberkörper noch weiter nach vorne, gefährlich weit, erst dann konnte er ihn erkennen: den Teufel. Schwarz und rot leuchtete es von einem kleinen Vorsprung gute zehn Meter tiefer, ein dürftiger Krüppelbaum, der aus einer Spalte kroch, hatte Luzifers Höllensturz gestoppt. Regungslos hing der Teufel im Fels, sein Phallus aber blinkte fröhlich weiter.

»Muss ne gute Batterie haben«, bemerkte Mütze trocken.

»Soll ich die Leiche raufholen lassen?«

»Nur zu!«

Gößwein, der Leiter der Spusi, winkte zwei junge Helmträger herbei, die um ihren Leib ein Netz von Klettergurten trugen. Zwei kräftige Karabinerhaken schlossen sich um das massive Stahlgeländer, dann begannen die beiden sich abzuseilen.

»Wer hat ihn gefunden?«

»Zwei Hexen«, sagte Gößwein.

»Natürlich«, grinste Mütze, »wer sonst?«

»Kein Witz, gestern war doch Walpurgisnacht.«

 

Die beiden Hexen sahen erbarmungswürdig aus, blass, frierend, übernächtigt. Sie saßen auf der Rückbank eines Streifenwagens, der neben der kleinen Kapelle parkte, und wärmten sich mit Aludecken und heißem Tee, den ihnen ein guter Geist in zwei Plastiktassen gegossen hatte. Die eine Hexe trug einen blauen Glitzerfummel, die andere braunen Lumpenlook.

»Mütze, Kriminalpolizei. Ich würde Ihnen gerne ein paar Fragen stellen.«

Viel wussten die Hexen nicht zu berichten. Beide studierten sie Medizin in Erlangen, am gestrigen Abend seien sie zusammen mit Freunden aufs Walberla gestiegen, um in den Mai zu tanzen, alle in Blocksbergkostümen. Auf dem Berg seien schon etliche Feuer zu sehen gewesen, auf dem ganzen Hochplateau hätten verkleidete Leute gefeiert, Hexen die meisten, aber auch Vampire, Teufel und andere Unterweltsgestalten. Auch sie selbst hätten aus mitgeschleppten Holzscheiten einen Stoß errichtet und ein Feuer angezündet. Dann hätten sie getrunken und gefeiert und seien auf ihren Besen durch die Flammen gesprungen. So sei das die ganze Nacht gegangen, bis zum Morgengrauen. Ihre Freunde seien schließlich müde geworden und schon vor ihnen aufgebrochen, sie seien die Letzten gewesen.

»Irgendwann sind dann auch wir hinunter«, sagte die Glitzerhexe bibbernd.

»Und weiter?«

»Als wir aus dem Wäldchen traten, auf der halben Höhe des Berges, da haben wir es blinken sehen.«

»Wo genau hat es denn geblinkt?«

»Oben im Fels«, sagte die Lumpenhexe. »Wir dachten zuerst, da hat einer was weggeworfen. Ein Rücklicht vom Fahrrad oder so was. Aber dann sind wir nachschauen gegangen.«

Die Glitzerhexe fing an zu würgen, während sie zitternd ihre Teetasse umfasst hielt.

Sie hätten sich den Weg durch das Unterholz gebahnt, ohne die Taschenlampe einzuschalten, es habe ja schon angefangen zu dämmern. Nachdem sie sich durch das Gestrüpp gekämpft hatten, seien sie auf einen Felsen gestoßen; auf den seien sie geklettert.

»Und dann?«

»Dann haben wir ihn gefunden.«

»Wen?«

»Den Teufel mit seinem Blinkeding.«

»Hat er sich noch bewegt?«

»Nein, so wie er da hing, muss er bereits mausetot gewesen sein.«

»Ist er auf dem Fest gewesen?«

Auf dem Fest? Keine Ahnung. Jedenfalls konnten sie sich nicht erinnern. Beide Hexen beteuerten, den Mann nie zuvor gesehen zu haben. Während des ganzen nächtlichen Spuks sei ihnen kein solcher Teufel aufgefallen, keiner mit so einem blinkenden Teil. Das hätten sie nicht vergessen, ganz bestimmt nicht. Mütze glaubte ihnen sofort. Er hatte Mitleid mit den beiden, trotz der Decken froren sie zum Gotterbarmen. Bevor er sie jedoch nach Hause fahren ließ, bat er sie noch darum, sich weiter zur Verfügung zu halten. Außerdem brauche er eine Liste aller ihrer Freunde, die auf dem Walberla mit ihnen gefeiert hatten, inklusive Handynummern.

 

Mittlerweile hatten die beiden Polizeikraxler die Leiche geborgen und neben dem Geländer auf den Rücken gelegt. In unwirklichem Kontrast zu dem schlaffen Leichnam stand der Plastikphallus. Vital strebte er nach oben und hörte nicht auf zu blinken.

»Dürfen wir das Ding ausschalten?«, fragte Gößwein degoutiert.

»Mooooment«, protestierte Mütze und hob die Hände.

Er wollte sich zunächst einen Gesamteindruck von der Leiche verschaffen und schritt dreimal konzentriert um den Teufel herum. Am Kopf, direkt über der Stirn, klaffte eine Wunde. Das Teufelshorn daneben sah ungesund verbogen aus. Sonst gab es, von den zahlreichen Schürfwunden abgesehen, keine auffälligen Verletzungszeichen. Wie alt mochte der Mann sein? Dreißig? Vierzig vielleicht? Er war deutlich adipös, selbst für einen gestandenen Franken. Wenn es denn ein fränkischer Teufel war.

»Ist okay«, sagte Mütze. »Ihr könnt ihm jetzt den Saft abdrehen.«

Die drei Männer von der Spusi sahen sich gegenseitig an und zögerten. Ein jeder schien dem anderen den Vortritt lassen zu wollen. Die beiden Kraxler waren plötzlich sehr beschäftigt, sich von ihren Gurten zu befreien. Gößwein seufzte, zog Plastikhandschuhe über und kniete sich zur Leiche nieder. Kaum aber hatte er den Phallus berührt, begann das Plastikding laut zu vibrieren. Gößwein fuhr erschrocken zurück, Mütze und die Kraxler bogen sich vor Lachen.

»Na, das ist wirklich ein starkes Stück«, bemerkte Mütze trocken, worauf die beiden Kraxler erneut losprusteten.

Keiner hatte mehr Lust, einen neuen Abstellversuch zu wagen. Egal, sollte das Ding nur weiterblinken, irgendwann würde es seinen letzten Blinker getan haben. Bei der Leiche fanden sie keinerlei Papiere, auch kein Smartphone oder einen anderen Gegenstand, der ihnen bei der Identifizierung des Toten geholfen hätte.

Mütze griff zu seinem Handy und rief Big-Chip an.

»Gibt es schon eine Vermisstenmeldung?«

»Bislang noch nicht.«

»Okay, halt mich auf dem Laufenden.«

Big-Chip war sein Partner. Also beruflich. Gab’s einen Mord, bildeten sie das Ermittlerteam. Mütze war glücklich, Big-Chip zu haben. In seiner nüchternen, stets äußerst gründlichen Art war er unbezahlbar. Zudem hatte er meist gute Laune, außer der Club hatte mal wieder eine Partie vergeigt, was gelegentlich vorkam. »Big-Chip« wurde er wegen seiner phänomenalen Computerkenntnisse genannt, er beherrschte alle Tricks und kletterte wie eine Spinne durch das virtuelle Netz. Er hätte glatt bei der NSA anheuern können.

Mütze sah sich um. Eine fantastische Sicht hatte man vom Plateau des Tafelbergs, ungehindert ging der Blick über einen fröhlich-bunten Flickenteppich von Feldern und Blumenwiesen. Ringsherum blühten Kirschbäume und Weißdornhecken, kleine, malerische Dörfer schmiegten sich in die Täler, ein Flüsschen mäanderte silbern durch die frühlingsfrischen Wiesen, flankiert von einer einspurigen Bahnstrecke, die von hier oben aussah, als stamme sie aus der Produktion der Firma Märklin. Im Norden schoben sich grüne Hügelketten übereinander, und ganz hinten in der Ferne, dicht über dem Horizont, sah man vier Turmspitzen aus dem Morgendunst ragen.

»Der Bamberger Dom«, sagte Gößwein, der aus der Gegend stammte. »Und da hinten im Süden liegt Erlangen. Siehst du das hohe, blasse Kästchen? Das ist der Lange Johann, das höchste Wohnhaus Bayerns. Gewerkschaftsbau, ehemals Neue Heimat, der ganze Laden ist für eine D-Mark verscherbelt worden.«

Mütze nickte. Er kannte den Wolkenkratzer gut. Dann wandte er sich um und schaute über die Hochfläche, die den Zeugenberg krönte. In sanftem Schwung zogen sich sattgrüne Wiesen von der einen Seite des Plateaus zur gegenüberliegenden, eine Fläche von fünf, sechs Fußballfeldern vielleicht, in deren Mitte die kleine steinerne Kapelle stand, mit einer seltsamen Bronzedame vor dem Eingang. Überall verteilt waren schwarze Aschehaufen zu sehen, aus denen noch ein dünner, bläulicher Rauch in den kühlen Maihimmel stieg. Die verloschenen Hexenfeuer.

»Jedes Jahr das Gleiche, Sie müssen mal am nächsten Wochenende kommen. Am ersten Maiwochenende wird hier oben immer eine Kirchweih gefeiert, die müssen Sie erleben, die ist wirklich speziell. Aber schon gestern hat auf dem Berg der Bär getobt, 30. April, Walpurgisnacht, Sie wissen schon. Das Walberla ist unser heiliger Berg, der fränkische Blocksberg«, meinte Gößwein.

»Walberla?«

»Die Kapelle ist der heiligen Walburga geweiht, daher der Name. Hochdeutsch ›Walburgisberglein‹, fränkisch ›Walberla‹. Walburga war eine frühe Missionarin aus England, die uns Franken zum christlichen Glauben bekehren wollte, was ihr zum Teil sogar gelungen sein soll. Dennoch halten viele Menschen an manch heidnischen Bräuchen fest, so auch in der Walpurgisnacht. Vor allem junge Leute kommen dann hierher, haben einen Spaß daran, sich zu verkleiden und durch die Feuer zu springen.«

»Und sich vom Felsen zu schubsen.«

»Kann mich nicht entsinnen, dass hier vorher jemals was Ernsthaftes passiert ist.«

Mütze kniete sich neben dem Toten nieder. Der Kopf sah wirklich übel aus. Wahrscheinlich hatte der Schädelbruch den Tod herbeigeführt. Aber ob es sich um einen Mord handelte? Vielleicht war es auch nur ein Unfall gewesen. Der Mann hatte kräftig gebechert, ihn hatte die Blase gedrückt, und er hatte sich etwas Erleichterung verschaffen wollen. Zu diesem Zweck war er an die Felskante getreten und hatte das Gleichgewicht verloren. Sein Hosenstall unterhalb des umgebundenen Leuchtturms jedenfalls stand noch offen, das könnte passen.

»Es hat auch schon Selbstmorde an dieser Stelle gegeben«, sagte Gößwein. »Einmal ist ein Oberarzt von der Erlanger Uniklinik hier rauf und hat sich runtergestürzt. War sofort tot.«

Mütze schüttelte den Kopf. Selbstmord? Unwahrscheinlich.

»Würdest du dir ein Teufelsgewand überziehen und dir solch ein Spielzeug umbinden, wenn du dich umbringen willst?«

Gößwein bemühte sich, seine Bemerkung zu rechtfertigen: »Vielleicht war es kein geplanter Suizid, vielleicht war es ein spontaner Akt. Vielleicht hat ihn seine Freundin ausgelacht und sich einen anderen geschnappt.«

»Hm«, brummte Mütze.

Er glaubte nicht daran. Er wollte einfach nicht daran glauben. Nicht an Selbstmord, nein, und auch nicht an einen Unfall. Mordfälle waren in diesen friedlichen Gegenden einfach zu selten. Wie hatte Big-Chip ihm das Lebensmotto der Franken beschrieben? »Leben und leben lassen!« Klang hübsch, war aber für einen leidenschaftlichen Ermittler einfach nur deprimierend. Wenn alle so dächten. »Leben lassen!« Nein, Mütze wollte seinen Mordfall haben und war überzeugt: Diesen Teufel hatte ihm der Himmel geschickt.

 

Es dauerte quälend lange, bis er mit seinem Manta endlich die Polizeinspektion erreichte. Ganz Erlangen schien sich aufs Rad geschwungen zu haben und war in der Stadt unterwegs. »Rädli« nannte sich die Aktion am Tag der Arbeit. Konnten die Erlanger nicht wenigstens an einem Feiertag vom Sattel steigen? Jede Sekunde tauchte irgendwo ein Drahtesel vor dem Auto auf, man musste höllisch aufpassen, sie fuhren kreuz und quer, egal in welcher Richtung, im Pulk, sich dabei unterhaltend, mit dem Smartphone am Ohr oder gar auf ihm herumwischend. Manche fuhren zu allem Überfluss auf tiefergelegten Liegerädern, was äußerst seltsam aussah. Karl-Dieter hatte ihn überreden wollen, ebenfalls aufs Rad umzusteigen, das sei doch so gesund und zudem ein Beitrag für die Umwelt. – »Radfahren? Nie im Leben!«, hatte Mütze protestiert. Wie sah denn das aus, ein Bulle auf einem klapprigen Fahrrad? Ein Dienstrad nahm er nur im äußersten Notfall.

Mütze parkte den Manta neben dem Eingang der Inspektion, eines nüchternen Zweckbaus, den sie nur »den Kasten« nannten, und sprang die Treppen hoch zur Kripoetage.

 

»Georg Regenfuß«, sagte Big-Chip, »wohnt nicht weit weg, in Möhrendorf. Die Ruudslöffl haben angerufen und ihren Freund als vermisst gemeldet. Klangen ziemlich aufgeregt.«

»Die Ruudslöffl?«

»Die Stammtischbrüder des Opfers. Waren wie immer um zwölf Uhr beim Reck in Karottenvillage verabredet, sie klopfen dort jeden Sonn- und Feiertag die Karten. Als ihr ›Gerchla‹ nicht gekommen ist, haben sie versucht, ihn anzurufen. Vergeblich, er ging nicht an sein Handy. Daraufhin haben sie eine Vermisstenmeldung aufgegeben.«

Mütze blickte skeptisch.

»Weil jemand nicht zum Schafkopfspielen kommt, ruft man doch nicht die Polizei an.«

»Du kennst uns Franken schlecht«, lachte Big-Chip, »eher vergisst ein fränkisches Urgestein seinen Hochzeitstag als eine Schafkopfpartie.«

»Personenbeschreibung?«

»Dreiundvierzig. Gestandenes Mannsbild.«

»Könnte passen. Haben wir ein Foto?«

»Schon unterwegs.«

Big-Chip deutete auf den Bildschirm seines Computers, neben dem ein Fähnchen des 1. FC Nürnberg hing. Auf Halbmast, was nichts Gutes verhieß.

»Aha, hier haben wir ihn schon! Von der Schafkopfrunde beim Reck frisch auf den Schirm.«

Mütze trat hinter Big-Chip und betrachtete das leicht unscharfe Bild. Wahrscheinlich mit einem Handy aufgenommen. Die Qualität war hundsmiserabel, dennoch gab es für Mütze keine Zweifel: Der Mann in der Mitte war der tote Teufel! Irrtum ausgeschlossen. Mit breitem Lachen saß er zwischen zwei anderen Männern am Wirtshaustisch, offensichtlich beim Kartenspiel.

»Ruf die Herren an. Sie sollen warten. Der vierte Mann kommt sofort!«

 

Keine Viertelstunde später rollte der Manta beim Reck vor. Der Möhrendorfer Gasthof lag idyllisch an einem baumbestandenen Karpfenweiher, das Wetter war freundlich, man hatte bereits draußen bestuhlt und warb mit frischem Morgenthauer Spargel. An einigen Tischen saßen junge Männer, die altmodische Schirmmützen und farbige Schärpen trugen, wohl Studenten einer Verbindung. Mütze eilte in die Wirtsstube.

»Die Ruudslöffl?«

Die etwas verwirrt dreinblickende und auffallend blasse Kellnerin deutete zu einem Ecktisch, an dem drei wunderbar gerundete Männer schweigend vor ihren Krügen hockten. Mütze bedankte sich und ging zu den Herren hinüber. Die drei mochten allesamt Ende dreißig sein, wirkten aber deutlich jünger. Ob das an den vollen Gesichtern lag? Einer trug ein schwarzes T-Shirt mit dem kryptischen Aufdruck »Also su wos!«, die beiden anderen Sweatshirts in verblichenem Grau, auf denen »Ruudslöffl 2003« zu lesen war. Der Rechte hatte eine Brille auf der Nase, deren Bügel aussahen, als hätte sie eine Hamsterfamilie bearbeitet.

»Mütze, Kriminalpolizei. Darf ich mich setzen?«

»Die Gribbo«, entfuhr es dem Mann mit dem schwarzen T-Shirt.

»Die Gribbo«, entfuhr es auch seinen Freunden.

»Ja, natürlich, weshalb erstaunt Sie das, meine Herren? Sie haben uns doch gerufen.«

»Aber doch nedd die Gribbo, nur die normale Bolizei.«

»Meine Herren, leider ist tatsächlich eine ernste Angelegenheit daraus geworden.«

»Allmächd! Dem Gerch wird doch nix bassierdd sein?«, stammelte der Mann im schwarzen T-Shirt und wurde blass.

»Meine Herren, können Sie mir sagen, mit wem ich es zu tun habe?«

»Ich bin der Robert«, antwortete der T-Shirt-Träger.

»Und ich der Hermann.«

»Und ich der Josef«, sagte der Mann mit der abgenagten Brille.

Mütze ließ sich noch die Familiennamen nennen und schrieb alles in sein Notizbuch.

»Können Sie mir sagen, wie ich die Angehörigen von Herrn Regenfuß erreiche?«

Verlegen sahen sich die Männer an, kratzten sich am Kopf und schienen überlegen zu müssen. Dann zuckten sie mit den Schultern.

»Ang’öriche? Also, Ang’öriche hat der Gerch nedd«, bemerkte Robert vorsichtig und wandte sich an seine Kumpane, »nedd woar?«

»Naa, Ang’öriche vom Georg sind uns nedd bekannt«, ergänzte Hermann.

»Naa«, stellte nun auch der Josef fest, »der Gerch hadd niemand.«

»Außer uns«, schluckte Robert.

»Keine Frau? Kinder? Eltern? Andere Verwandte?« Ungeduldig klopfte Mütze mit dem Kuli auf die Tischplatte. Die drei waren offenbar nicht die Schnellsten.

»Niemand auf dea ganzn Weldd. Der Gerch hadd nur uns«, sagte Hermann.

»Nur uns allaa«, bestätigten seine Kumpel und nickten betrübt dazu.

 

Keine Minute später fuhr der Manta weiter, mächtig ließ der Kommissar den Kies aufspritzen, auf der Rückbank die drei Ruudslöffl. Keine Angehörigen? Da hatte Mütze die drei Stammtischler kurzerhand ins Auto geladen. Wer kannte Regenfuß denn besser? Ab ging’s nach Erlangen zur Rechtsmedizin. Der Manta ächzte, ja er schleifte mit der hinteren chromblitzenden Stoßstange fast über den Asphalt. Brachte jeder der drei Ruudslöffl bereits ein hübsches Gewicht auf die Waage, brachen sie zusammen alle Rekorde. Wie blasse Riesenbabys hatten sie an ihrem Stammtisch gesessen, schüchtern hatten sie noch erfahren wollen, wohin es denn gehe. Mütze aber hatte sich lieber bedeckt gehalten. Lediglich eine kleine Auskunft würde man sich von den Herren erbitten, nichts weiter.

Die Erlanger Rechtsmedizin war ein imposantes Gebäude, stolzeste Gründerzeit. Ehemals hatte sich hier der Schlossgarten erstreckt; im Vernichten von Grünflächen waren schon frühere Generationen der Hugenottenstadt äußerst erfolgreich gewesen, auf diese Tradition setzte man weiter. Was sollte man auch machen? Die Stadt platzte aus allen Nähten.

Per Handy hatte Mütze Big-Chip noch hinzugebeten. Der tote Teufel lag bereits auf dem Seziertisch, als die Männer den hell ausgeleuchteten Kellerraum betraten, die Ruudslöffl folgten Mütze nur sehr zögerlich. Sie schienen zu ahnen, dass dies ein Besuch der unangenehmen Sorte war. Die Sektion hatte noch nicht begonnen, weil man auf den Professor wartete, der auf dem Galaball der Universität in den Mai getanzt war und sich erst verkatert aus dem Bett wälzen musste. Eilig hatte der alte Sektionsdiener noch ein Leichentuch über den Tisch geworfen, bevor Mütze, Big-Chip und die drei leichenblassen Ruudslöffl den Saal betraten. Mütze schritt zügig an das Ende des Stahltisches und warf das Tuch entschlossen wie ein Torero zurück, sodass man den Kopf des Toten sehen konnte. Die drei Stammtischbrüder aber bekamen das gar nicht richtig mit. Sie starrten wie gebannt auf die Mitte des Tuches, wo etwas verdächtig in die Höhe ragte und dabei rote Blinksignale von sich gab, die selbst durch das Leinen noch deutlich zu erkennen waren.

»Meine Herren, darf ich Ihre Aufmerksamkeit auf das Gesicht des Toten lenken?«

Nun erst wandten sich die Ruudslöffl dem Kopfende zu.

»Allmächd«, entfuhr es ihnen im Chor.

»Erkennen Sie den Mann?«

Das Trio nickte mit aufgerissenen Mündern.

»Ist das Ihr Freund Georg Regenfuß?«, fragte Mütze.

Erneut kollektives Nicken.

»Sind Sie sicher?«

»Des is der Gerch!«, stöhnte es. »Ganz sicher.«

Mütze schlug das Tuch wieder zurück.

»Pflegte sich Herr Regenfuß häufiger als Teufel zu verkleiden?«

Mit verängstigtem Blick hatten sich die Ruudslöffl wieder der blinkenden Erhöhung in der Körpermitte zugewandt und schienen die Frage nicht mitbekommen zu haben. Mütze beschloss, die Vernehmung lieber außerhalb des Seziersaals fortzusetzen, worüber die drei Schafkopfbrüder sichtlich erleichtert waren. Gemeinsam fuhren sie zur Inspektion.

 

Mütze rieb sich das Gesicht, als die drei wieder gegangen waren. Wie grausam unergiebig war die Vernehmung gewesen! Und zäh, verdammt zäh. Jedes Wort hatte man den Ruudslöffln aus der Nase ziehen müssen. Keiner hatte von nichts eine Ahnung gehabt. Keiner hatte gewusst, dass Regenfuß aufs Walberla wollte, keiner hatte auch nur die leiseste Idee, mit wem er sich da oben getroffen haben könnte. – A Maadla? Des Gerchla? Nicht dass sie wüssten. Warum denn auch? – Freunde? Außer ihnen keine. – Was sie in der Walpurgisnacht gemacht hätten? Zu dritt einen Kasten Kitzmann geleert und dabei FIFA-2000 gedaddelt, der Gerch habe darauf keine Lust gehabt. – Arbeitskollegen? Ebenfalls Fehlanzeige. Regenfuß sei selbstständiger Fuhrunternehmer, klassischer Ein-Mann-Betrieb. Mit seinem alten Laster »dransbordiere« er alles, was in seine Kiste passe, Spargelpaletten, leere Kartonagen, Dämmplatten und anderes Baumaterial. Was gerade so gefragt war. Dann und wann fahre er auch mal einen Umzug. Viel zu tun habe er nicht. Regenfuß wohne ganz allein in einem alten Haus am Rand von Möhrendorf. Seinen Laster habe er meist direkt vor seiner kleinen Hütte geparkt. Von seinen Touren erzähle er nicht viel. – Wie war’s? Bassd scho! – Meistens fahre er nicht weit. Ein paarmal sei er rüber nach Tschechien, ein einziges Mal bis nach Frankreich. Nie wieder, habe er gemeint und über das Bier geschimpft. Die Plörre dort könne man nicht trinken. Jeden Sonntagnachmittag treffe man sich zum Schafkopfen, immer beim Reck. Auch an Feiertagen wie heute. Ein echter Stammtisch eben. Den Gewinn stecke man stets in ein Sparschwein und gönne sich davon im Sommer ein Fässchen und ein Spanferkel. Bei der Vorstellung, das Schwein dieses Jahr ohne Georg Regenfuß verputzen zu müssen, schienen die drei den Tod des Freundes erstmals zu realisieren, jedenfalls fingen sie plötzlich an, sich mit ihren kräftigen Handrücken über die Augen zu wischen und zu schniefen, und stammelten dabei »Ach, Gerch, du arme Sau!« und was der Abschiedsworte mehr waren.

»Was ist mit dem Handy des Toten?«, wollte Mütze von Big-Chip wissen.

»Ausgeschaltet. Lässt sich nicht orten. Die Anfrage bei der Telefongesellschaft hat ergeben, dass er in den letzten zwei Tagen, die gespeichert worden sind, kein einziges Telefonat geführt hat.«

»Dann schauen wir uns jetzt seine Wohnung an!«, rief Mütze Big-Chip zu.

Schwungvoll warf er sich seine Schimanskijacke über, als sein Handy zu singen begann: »Olé, Be-Vau-Behe, olé-olé …«

»Mist, Karl-Dieter«, brummte Mütze beim Blick aufs Display und ging dran. »Mann, tut mir leid, wirklich leid … eine Leiche, du verstehst … nein, wird leider nichts mit dem Mittagessen … Oh Mann, wirklich schade … bestimmt schmeckt er auch später noch … ich muss jetzt hier weitermachen, ich meld mich … erzähl ich dir alles am Abend!«

»Gibt’s Ärger?«, fragte Big-Chip teilnahmsvoll.

»Au Backe, hab glatt vergessen, dass Karl-Dieter heute ein Mittagessen kocht.«

»Hoffentlich verpasst du kein Schäufele.«

»Nee, nur bleiche Spargelstangen«, grinste Mütze.