Mord auf Föhr - Cornelia Härtl - E-Book
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Mord auf Föhr E-Book

Cornelia Härtl

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Beschreibung

Ein düsteres Geheimnis und eine unerbittliche Suche nach der Wahrheit
Der packende dritte Teil der Nordseekrimi-Reihe

Vor rund eineinhalb Jahren wurde auf Föhr die 85-jährige Bertha Franzen ermordet. Der verurteilte Mörder, der noch vor Ort ein Geständnis abgelegt hat, behauptet nun, unschuldig zu sein. Kari Lürsen ist mittlerweile vollständig in den Dienst des BKA Berlins zurückgekehrt und wird mit dem Fall beauftragt. Während ihrer Ermittlungen stößt sie auf dunkle Geheimnisse aus Berthas Vergangenheit, die weit in die Kindheit der Verstorbenen zurückreichen. Als Kari selbst angegriffen wird, ist klar, dass jemand alles daran setzt, die Wahrheit zu verbergen …

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Tod auf Föhr (ISBN: 9783987780677)
Angst auf Föhr (ISBN: 9783987780684)

Erste Leser:innenstimmen
„Hochspannung bis zur letzten Seite!“
„Ich bin nun schon seit einer Weile Fan von Ermittlerin Kari Lürsen und auch dieser Fall hat mich nicht enttäuscht.“
„Ein packender Krimi an der unglaublich stimmungsvollen Nordseeküste.“
„Diesen Küstenkrimi möchte man gar nicht mehr aus der Hand legen – eine unvorhergesehene Wendung jagt die nächste. Großartig!“

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Über dieses E-Book

Vor rund eineinhalb Jahren wurde auf Föhr die 85-jährige Bertha Franzen ermordet. Der verurteilte Mörder, der noch vor Ort ein Geständnis abgelegt hat, behauptet nun, unschuldig zu sein. Kari Lürsen ist mittlerweile vollständig in den Dienst des BKA Berlins zurückgekehrt und wird mit dem Fall beauftragt. Während ihrer Ermittlungen stößt sie auf dunkle Geheimnisse aus Berthas Vergangenheit, die weit in die Kindheit der Verstorbenen zurückreichen. Als Kari selbst angegriffen wird, ist klar, dass jemand alles daran setzt, die Wahrheit zu verbergen …

Impressum

Erstausgabe Februar 2024

Copyright © 2024 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten

E-Book-ISBN: 978-3-98778-716-4 Hörbuch-ISBN: 978-3-98778-748-5 Taschenbuch-ISBN: 978-3-98778-765-2

Covergestaltung: Anne Gebhardt unter Verwendung von Motiven von shutterstock.com: © michaket, © Konstanttin, © Bernulius, © dugdax, © Traveller70 Lektorat: Mona Dertinger

E-Book-Version 09.10.2024, 11:41:38.

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.

Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

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Mord auf Föhr

Jetzt auch als Hörbuch verfügbar!

Mord auf Föhr
Cornelia Härtl
ISBN: 978-3-98778-748-5

Ein düsteres Geheimnis und eine unerbittliche Suche nach der Wahrheit Der packende dritte Teil der Nordseekrimi-Reihe

Das Hörbuch wird gesprochen von Anja Kalischke-Bäuerle.
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Prolog

6 Monate früher (München)

Das Erste, was sie spürte, war der kühle glatte Boden, auf dem sie lag. Zunächst verstand sie nicht. Ihre Lider waren schwer wie Blei. Ihr Kopf schmerzte. Langsam öffnete sie die Augen. Licht fiel in dünne Streifen gefächert auf das Fischgrätmuster des Parketts. Mühsam hob sie den Oberkörper an. Blickte an sich hinab. Das enge dunkelgrüne Cocktailkleid war hochgerutscht. Die farblich passenden High Heels lagen neben ihr. Gerade so, als habe sie sie nach einer langen Nacht müde von den Füßen geschleudert. Aber sie befand sich nicht zu Hause und die Erinnerungen an den Vorabend verbargen sich hinter einem dunklen Schleier. Schwankend stand sie auf, schob sich das überschulterlange platinblonde Haar aus dem Gesicht. Suchend glitt ihr Blick durch den kahlen Raum. Da war niemand außer ihr. Von draußen war kein Laut zu hören. Sie beugte sich zu ihren Schuhen, als ihr übel wurde. Tief durchatmend kam sie hoch, blinzelte. Die Kontaktlinsen scheuerten an ihren Augen. Sie waren trocken, so wie ihr Gaumen. Ein muffiger Geschmack klebte an ihrer Zunge. Und noch etwas. Rotwein. Aber den trank sie doch für gewöhnlich gar nicht! In diesem Moment setzte schlagartig ihre Erinnerung ein. Sie keuchte auf, presste die Hand auf den Mund. Drehte sich um sich selbst. Das flaue Gefühl in ihrem Magen nahm zu. Vlado! Wo war er? Wo waren überhaupt alle anderen? Der Butler, der sie am Abend zuvor in Empfang genommen hatte. Der Kellner, der ihr und ihrem Gastgeber das Essen serviert hatte. Ein fünfgängiges Menü. Dazu Champagner, Weißwein, Rotwein. Die Köchin, die das Lob ihres Arbeitgebers angenommen hatte und mit bescheidenem Lächeln in die Küche zurückgehuscht war. Der Kaffee. Das Wasser. Und dann – nichts mehr.

In ihrem Kopf drehte sich alles. Wie in einem Film, der viel zu schnell lief, spulte ihre Erinnerung plötzlich die letzten Monate ab. Wie sie sich in die blonde Xenia mit den grünen Augen verwandelt hatte. Wie behutsam sie ihrer Zielperson Vlado immer näher gekommen war. Bis sie kurz davorgestanden hatten, ihn und seinen Bruder und damit die Köpfe eines berüchtigten Clans der organisierten Kriminalität endlich zu fassen zu bekommen. Der gestrige Abend hatte der Einstieg in die nächste, die persönlichste Phase der ganzen Operation werden sollen. Sie hatte es sich gut überlegt. Es war die alte Geschichte – wie nahe durfte man einer Zielperson kommen? Sie schluckte schwer. Sie war bereit gewesen, diesen letzten Schritt zu tun. Vlado schien fasziniert von ihr, sie hatte geglaubt, das Spiel in der Hand zu haben. Jetzt musste sie sich eingestehen, dass das nicht der Fall gewesen war; sich fragen, was geschehen war.

Der Raum, in dem sie sich befand, war am Vorabend edel möbliert gewesen. Nun hingen nicht einmal mehr Gardinen an den Fenstern. Sie setzte einen Fuß vor den anderen. Öffnete die Tür. Befand sich im Eingangsbereich. Das schwarz-weiße Steinmosaik des Bodens war kühl unter ihren bloßen Füßen. Von der Decke hing ein Kristallleuchter. Sonst auch hier nichts. Musste sie an ihrem Verstand zweifeln? Wie konnte das sein?

Sie kehrte zurück ins Esszimmer. Ihre Handtasche, eine schmale Clutch, lag dort am Boden. Darin war nichts, was sie hätte enttarnen können. Das Handy war ihr abgenommen worden – nicht schlimm, es war auf ihre falsche Identität abgestimmt. Aber nun konnte sie nicht einmal telefonieren.

Jetzt erst wurde ihr die Tragweite der Ereignisse bewusst. Vlado war verschwunden. Quasi vor ihren Augen. Sie keuchte auf. Nahm endlich die Schuhe an sich, streifte sie über und rannte zum Eingang. Die Haustür war nicht verschlossen. Sie stürmte hinaus. Lief so schnell sie konnte die Auffahrt hinunter, riss das hohe schmiedeeiserne Tor auf und sah sich um. Kein Mensch zu sehen. Wie spät war es? Mittag, vermutete sie. Ein Porsche bog weiter vorne in die Straße ein und verschwand gleich darauf in der Zufahrt eines Anwesens ähnlich dem, vor dem sie stand. Sie musste dringend telefonieren. Ihr Blick fiel auf die Gründerzeitvilla nebenan. Was sollte sie sagen? Wie erklären, was geschehen war? Und wo zum Teufel befand sich eigentlich das Sicherungsteam? Doch die Frage, die alles überschattete, lautete: Wo war Vlado?

Kapitel 1

Heute (Berlin)

»… und damit bedanke ich mich bei euch allen. Ihr wart ein gutes Team.« Jo Weinheimer stand in einem der Besprechungsräume des BKA Berlin vor einem leeren Whiteboard. Mit den Fingerspitzen formte er ein Dreieck vor seiner Brust. Was er zu sagen hatte, brauchte nicht aufgeschrieben zu werden. Es würde sich auch so ins Gedächtnis seiner Leute einprägen. Im Raum standen und saßen in lockerer Runde knapp zwei Dutzend Beamtinnen und Beamte. Ihr Abteilungsleiter hatte ihnen gerade mitgeteilt, dass einer der meistgesuchten Kriminellen, ein Waffenschieber, an dem sie lange dran gewesen waren, endlich festgenommen worden war.

»Die Kollegen aus Bratislava konnten ihn, auch dank unserer Vorarbeit, gemeinsam mit seinem Bruder dingfest machen. Auf frischer Tat ertappen, sozusagen. Wir sehen gute Chancen, dass beiden der Prozess gemacht werden kann.«

Kari Lürsen lehnte an der gegenüberliegenden Wand. Die Hände in die Taschen ihrer Jeans geschoben hörte sie scheinbar unbewegt zu. Jo hatte sie bereits am Vorabend als Erste informiert, bevor er die morgendliche Besprechung einberufen hatte. Sie hatte längst gewusst, was jetzt gerade für Begeisterung, Abklatschen und befreites Lachen im Raum sorgte, konnte sich selbst aber noch nicht so richtig freuen. Dass Vlado, der einst ihre Zielperson gewesen und ihr auf so spektakuläre Weise entwischt war, jetzt endlich dingfest gemacht hatte werden können, nahm eine ungeheure Last von ihrer Seele. Dennoch gab es etwas, das sie weiterhin bedrückte. Jo wandte sich ihr in diesem Moment direkt zu.

»Kari. Dir möchte ich ausdrücklich dafür danken, dass du so viele Monate einen guten Job gemacht, dich erfolgreich an deine Zielperson herangepirscht und Informationen besorgt hast, ohne die eine Festnahme jetzt nicht möglich gewesen wäre.« Kari schluckte hart. Das Wesentliche war bisher nicht gesagt worden. Jo blickte über die Köpfe der anderen Anwesenden. Einige senkten den Blick, als würden sie bereits ahnen, was kam. »Es gab durchaus Stimmen, die Kari damals, als Vlado ihr in München praktisch vor den Augen entwischte, kritisiert haben.« Kritisiert war gut! Kari wusste, dass es Geflüster gegeben hatte, sie habe mit dem Feind kooperiert. »Inzwischen wissen wir, dass es eine Panne gab. Das Back-up-Team der bayerischen Kollegen war damals nicht zur Stelle.« Jo unterstrich diese Aussage mit einer vielsagenden Handbewegung. Schwamm drüber. Man würde nie wieder darüber sprechen, jedenfalls nicht im größeren Kreis. Wenn es eine Aufarbeitung geben würde, dann intern in einer sehr viel kleineren Runde.

Kurz danach war die Versammlung aufgehoben. Etliche Teammitglieder kamen zu Kari, um ihr zu bestätigen, es habe nie Misstrauen ihr gegenüber gegeben. Erst als der Raum sich geleert hatte, blickte Kari zu Jo. Ihr Chef lächelte grimmig. »Sollte noch mal jemand etwas gegen dich sagen, kriegt er es mit mir persönlich zu tun.«

Sie stieß sich von der Wand ab und schlenderte zu ihm hinüber.

»Danke dafür, dass du es ausgesprochen hast.«

»War mir ein Vergnügen.« Er blickte zur offen stehenden Tür.

»Ich bin enorm erleichtert, dass Vlado gefasst wurde. Aber was ich immer noch nicht verstehe: Warum hat er mich leben lassen?« Kari strich sich über die Stirn. Deutlich standen wieder die Bilder vor ihr. Wie sie zu sich gekommen war, in der leeren Villa, auf dem Boden liegend. Nun war klar, was damals geschehen war.

An dem Tag, an dem alles gekippt war, hatte sie mit Vlado zu Abend gegessen. Ein Fünf-Gänge-Menü, von einem Diener serviert. Klassische Musik hatte ihre leichte Unterhaltung untermalt. Als ihr Gegenüber begann, vor ihren Augen zu verschwimmen und sie das Glas in ihrer Hand anstarrte, war es zu spät gewesen. Sie war am nächsten Tag in einem leeren Raum, einem leeren Haus erwacht. Man hatte eine Scharade vor einer eigens für sie präparierten Bühne aufgeführt. Schlimmer noch: das Grab, das im Garten gefunden wurde. Sie hatte Champagner getrunken, während man einen von Vlados Widersachern im Keller gefoltert und danach in Einzelteilen begraben hatte.

Lange war eines nicht klar gewesen: Wie hatten Vlado und seine Leute es geschafft, praktisch über Nacht spurlos zu verschwinden? Dies zumindest war inzwischen geklärt.

»Komm mit in mein Büro«, bat Jo sie knapp. Dort ließ er sich hinter seinem Schreibtisch, für seine Position überraschend aufgeräumt, nieder. Kari nahm in dem bequemen Besucherstuhl davor Platz. »Wir wissen nicht, was die Panne verursacht hat. Das Team, das dir Rückendeckung geben sollte, stand vor einem anderen und weit entfernten Haus. Aber das weißt du ja.« Sein Blick ruhte nachdenklich auf ihr. »Unmöglich herauszufinden, wo sich da eine falsche Information eingeklinkt hat.«

Kari knibbelte an der Haut um ihren Daumennagel herum. »Wusste Vlado, für wen ich arbeite? Immerhin bin ich noch am Leben.«

Jo schob das Kinn nach vorn und blickte aus dem Fenster. Der Hochsommer hatte Berlin jetzt, Mitte August, fest im Griff. Ein blauer, wolkenloser Himmel spannte sich über die Stadt. Die Luft war erdrückend, sobald man sich im Freien aufhielt.

»Willst du meine persönliche Meinung hören?« Er wartete Karis Antwort nicht ab. »Selbst wenn er es wusste, hätte es keinen Sinn gemacht, dich zu töten. Deine Erkenntnisse hatten wir bereits. Dass man dich hat leben lassen, verstehe ich eher als Beweis dafür, dass sich Vlado und sein Bruder für unantastbar hielten. Außerdem war ihm wohl klar, dass man dir gemeinsame Sache mit dem Feind unterstellen könnte. Etwas, das deine Reputation schmälern und damit auch den Wert deiner Informationen beeinträchtigen würde.«

Sie blickten sich an. Karis Schuldgefühle und die anschließende Suspendierung hatten an ihr gezehrt. Seit Ende Mai war sie wieder im Einsatz, wenngleich bislang nur am Schreibtisch sitzend. Jetzt endlich war sie rehabilitiert. Auf diesen Moment hatte sie so lange gewartet.

»Gehst du der Sache nach? Fehlinformation?« Die Haut am Daumen hatte sich gelöst, ein Tropfen Blut erschien. Jo schüttelte bedauernd den Kopf.

»Keine Anweisung. Du weißt ja, wie das ist. Man hat die Akte geschlossen. Jetzt sind erst einmal die Kollegen in Bratislava dran. Und wer bei uns damals wann was nicht oder falsch weitergegeben hat, werden wir nie erfahren. Menschliches Versagen, wenn du so willst.« Er sah sie aufmerksam an. Kari drückte ein Taschentuch auf die kleine Wunde am Daumen.

»Viel wichtiger: Fühlst du dich wieder fit?«

Fit genug für einen Außeneinsatz in der Zielfahndung sollte das wohl heißen. Ihre letzte Aufgabe, die im Zeugenschutz, hatte ihr die Rückkehr an ihre Berliner Dienststelle ermöglicht. Sie nickte, war selbst erstaunt, wie zögerlich das kam.

»Es gibt nämlich etwas, über das ich mit dir sprechen möchte.« Er öffnete eine Schublade seines Schreibtischs und holte eine schmale Akte heraus. Legte sie vor sich auf den Tisch und sah Kari an. »Es geht um einen Mord. Eine ältere Dame wurde umgebracht. Der Täter war ein damals 22-Jähriger, der am Tatort erwischt und festgenommen wurde. Er gestand und wurde verurteilt.«

Kari blickte ihren Chef verwirrt an.

»Ein aktueller Fall. Abgeschlossen und auch keiner für das BKA.«

»Du hast recht. Ein, sagen wir mal, normaler Mord. Die Kripo hat ihre Arbeit gemacht. Der Täter befindet sich in Haft. Sein Geständnis und die Fakten sprechen gegen ihn.«

»Ja, und was soll ich jetzt mit dieser Sache anfangen?« Kari rückte nervös auf ihrem Stuhl herum. Sie hatte keine Ahnung, wohin das alles führen sollte.

»Nachdem der junge Mann seine Haftstrafe angetreten hat, hat er sein Geständnis widerrufen. Wenn auch nur im Familienkreis. Ich erhielt einen Anruf«, sprach Jo weiter. »Von einer alten und guten Freundin. Emma Winterfort.«

Kari hob erstaunt den Blick. »Du bist mit der Ministerpräsidentin befreundet?«

Jo nickte nachdrücklich. »Wir kennen uns seit Kindheitstagen.«

»Was hat sie mit der Sache zu tun?«

»Timo Knaup, so heißt der junge Mann, ist ihr Neffe. Nicht, dass die Beziehung eng ist. Aber jetzt hat sich Emmas Schwester, die Mutter des Verurteilten, bei ihr gemeldet. Es muss ein tränenreiches Gespräch gewesen sein.« Jo seufzte leicht. »Der Neffe besteht darauf, unschuldig zu sein.«

Kari verdrehte unwillkürlich die Augen. Wie oft schon hatte sie eine solche Geschichte gehört? Manchen Menschen wurde erst klar, welche Konsequenzen ihr Tun hatte, wenn sie bereits mittendrin in diesen waren. Das Knastleben war härter, als einige ahnten.

Jo fuhr unbeeindruckt fort. »Emma bat mich, ihr zu helfen. Jemanden zu schicken, der oder die, sie spricht tatsächlich so gendermäßig«, jetzt war es an ihm, leicht die Augen zu verdrehen, »sich der Sache annimmt. Alles überprüft. Mit frischem Blick drangeht. Ich glaube, das waren ihre Worte.«

»Wie soll das denn gehen?«, fragte Kari. »Wir bieten doch keine Leiharbeit an.«

Jo schaute auf die Akte vor sich. »Ich habe ihr gesagt, ich habe eine Beamtin, die bestens für den Job geeignet ist. Die noch ein bisschen Resturlaub übrig hat. Ich dachte dabei an dich.«

Kari sah ihn fragend an.

»Du kennst dich aus.«

»Hä?« Kari lachte lautlos. »Ich kenne mich aus? Sprich bitte Klartext mit mir.« So gut sie mit Jo auskam, diese nebulösen Andeutungen machten sie gerade ziemlich ungeduldig.

Ohne ein weiteres Wort schob er ihr die Akte zu. Kari öffnete sie, las. Dann hob sie den Kopf.

»In Oevenum?«

Jo nickte. »Auf deiner Heimatinsel Föhr. Ja. Darum dachte ich an dich.«

»Du hast doch nicht zugesagt?« Kari runzelte verärgert die Stirn.

»Nein. Habe ich nicht. Ich habe gesagt, ich frage dich. Was ich hiermit tue.«

Sie senkte erneut den Kopf über die Akte. »Ziemlich dünn«, sagte sie dann.

Jo nickte. »Ist mir auch aufgefallen.« Er schwieg, während sie ein bisschen darin blätterte. Schließlich hob sie den Kopf.

»Wirkt, als habe man sich nach dem Geständnis des jungen Mannes schnell auf ihn als Täter festgelegt. Es wurden keine weiteren Spuren verfolgt.«

Jo nickte bedächtig. »Genau so sehe ich das auch.«

»Nicht gut.«

»Gar nicht gut. Aber verständlich.«

»Und ich soll nur dahin fahren und mich ein bisschen umhören? Ganz … inoffiziell?«

»Inoffiziell ist der springende Punkt. Emma, die Ministerpräsidentin, kann nicht einfach die Arbeit der Polizei kritisieren. Daher musst du mit dem nötigen Fingerspitzengefühl vorgehen.«

»Du tust, als hätte ich bereits zugesagt«, brummte Kari und nahm die Akte an sich.

Jo lächelte verhalten.

»Nur mal so zur Info: Ab wann könnte ich denn Urlaub nehmen?«

Jo griff in seine Schreibtischschublade und zauberte einen Urlaubsantrag hervor. »Du musst nur noch hier unterschreiben.«

Kapitel 2

Nach ihrer Ankunft in Utersum stellte Kari ihr Gepäck in dem von ihrem Großvater Hein geerbten Haus ab, einer reetgedeckten Kate mit blauer Tür und ebensolchen Fenstern. Der Ort im Nordwesten der Insel war das kleinste staatlich anerkannte Nordseebad auf Föhr. Er war nicht nur bei ruhesuchenden Touristen, sondern aufgrund seines flach abfallenden Strandes und des langgestreckten Priels, in dem man sogar bei Ebbe baden konnte, auch bei Familien beliebt. Kari hatte, nach langen Jahren der Abwesenheit – ihr Lebensmittelpunkt lag inzwischen in Berlin – bei ihrer Rückkehr auf die Insel im vergangenen Februar fast schon erstaunt festgestellt, wie beschaulich es hier war. Nicht nur im Vergleich zu der lauten, hektischen Hauptstadt, die seit über zehn Jahren ihr Wohnort war. Jedenfalls dann, wenn sie nicht für ihren Arbeitgeber unter dem Deckmantel einer falschen Identität als Zielfahnderin irgendwo anders unterwegs war.

Heute führte ihr erster Weg Kari nach nebenan. Jette Beckum saß in ihrem Garten in einem etwas mitgenommen aussehenden Strandkorb. Neben ihr lag ein eingerolltes graues Fellknäuel, ihr Kater. Die ältere Frau wirkte erschöpf. Was angesichts des Wetters an diesem Tag kein Wunder war. Trotz der beständigen leichten Brise, die vom rund fünfhundert Meter entfernten Meer blies, war es selbst für August ungewöhnlich warm.

»Na, Lütte, wieder auf der Insel?«, begrüßte Jette ihren Gast, verscheuchte ein herumfliegendes Insekt und erhob sich ungewohnt ungelenk. »Warum hast du nicht angerufen? Ich hätte drüben bei dir durchgelüftet und dir eine Kleinigkeit zu essen hingestellt.« Jettes Garten gab so ziemlich alles her, was sie benötigte. Wenn Kari auf Föhr war, bekam sie immer wieder ein Schälchen Tomaten, Salat oder eine Handvoll Gemüse von der Nachbarin.

»Musste alles ganz schnell gehen. Hab erst gestern erfahren, dass ich heute hier bin. Bleib sitzen.« Kari zog sich einen der zwei wackligen Gartenstühle, die auf der Rasenfläche zwischen den Beeten standen, heran und setzte sich neben Jette, die sich zurück in den Strandkorb hatte plumpsen lassen.

»Hast du Urlaub?«

Kari schüttelte den Kopf. »Halb und halb. Etwas Berufliches, dem ich nachgehen soll.«

»Ach so. Ich dachte schon, du kommst wegen deinem Untermieter.« Der Blick aus Jettes klaren blauen Augen hatte etwas Listiges.

»Wegen Bent?« Schon allein die Erwähnung seines Namens führte bei Kari zu einer Beschleunigung ihres Herzschlags. »Nö.« Sie strich sich die halblangen haselnussbraunen Haare aus dem Gesicht. »Den habe ich schon ewig nicht mehr gesehen.« Genauer gesagt seit ihrer Abreise im Mai des Jahres.

»Er war ein paarmal hier.«

»Wahrscheinlich hat er nach seinem Wagen geschaut.« Ein Lamborghini, der aus guten Gründen nie ausgefahren wurde und in der früher von Hein, jetzt von Kari vermieteten Garage auf deren Grundstück stand. Direkt in Jettes Sichtfeld.

»Hat sich umgeschaut. Ich hatte das Gefühl, er wollte nachsehen, ob du zurück bist.« Die Ältere fuhr sich mit den Fingern durch den kurz geschnittenen schlohweißen Schopf. »Ist da was zwischen euch?«

Kari atmete hörbar aus. »Kann ich so nicht sagen«, antwortete sie langsam und ehrlich. »Er gefällt mir. Ich gefalle ihm.« Sie wäre gerne geblieben im Mai. Dann aber doch nicht.

»Was hält euch junge Leute denn davon ab, das Leben miteinander zu genießen?«

Kari lehnte sich zurück, legte den Knöchel ihres rechten Beines auf dem linken Knie ab und betrachtete versonnen Jettes Kater. Das Tier war erwacht. Es rekelte sich genüsslich, riss das Maul zu einem ausgiebigen Gähnen auf und zeigte einen zartrosa Gaumen und nadelspitze Zähne. Dann leckte es sich über die Schnauze und sah Kari an, als wolle es sie prüfen.

»Ich hatte Anfang des Jahres einen beruflichen Tiefschlag zu verkraften. War seelisch ziemlich angeknackst, mein Selbstbewusstsein ramponiert. Danach hatte ich immer das Gefühl, diese Sache müsse erst einmal beendet werden, bevor ich überhaupt auch nur darüber nachdenke, etwas zu beginnen, was mich vor Herausforderungen stellt.«

»So etwas wie eine Liaison?«

»Na ja, wir sagen heute eher Beziehung.« Kari lächelte schwach.

»Und was ist der berufliche Grund für dein Hiersein?«

»Hast du von dem Mord in Oevenum gehört? Eine 85-jährige Frau wurde überfallen, ausgeraubt und in ihrem Haus erdrosselt? Ist ungefähr eineinhalb Jahre her.«

Jette blinzelte beim Überlegen. »Ja«, sagte sie nach einer Weile des Nachdenkens. »Daran kann ich mich erinnern. Schlimme Geschichte.«

»Kanntest du das Opfer zufällig?«

Jette, die einstige Postbotin mit guten Verbindungen, schüttelte den Kopf. »Dort war ich nie eingesetzt.«

»Tja, dann werde ich mal hinfahren und mir ein Bild machen.«

»Brauchst du den Wagen?« Wann immer Kari sich auf Föhr aufhielt, konnte sie Jettes alten Volvo nutzen.

»Wenn es für dich in Ordnung ist?«

»Na klar, ich fahre nicht mehr. Der Schlüssel hängt sowieso bei dir drüben.«

Kari erhob sich und zupfte ihr T-Shirt zurecht. »Dann mache ich mich mal auf den Weg.«

»Kommst du heute Abend zum Essen? Ich koche uns was.« Jette war eine gute Köchin. Jedoch mit eigenen Regeln. Zucker und Salz suchte man bei ihr vergeblich.

Kari schüttelte lächelnd den Kopf.

»Heute nicht, dafür die Tage gerne.« Sie wusste nicht, wie lange sie überhaupt auf Föhr bleiben würde. Aber für ein Abendessen mit Jette würde auf jeden Fall Zeit sein. Jetzt musste sie erst einmal nach Oevenum.

Kapitel 3

Das Haus lag in einer der Querstraßen, die Dörpstrat und Buurnstrat verbanden. Kari stellte den Wagen auf dem Parkplatz an der Durchgangsstraße ab und ging, vorbei am Dorfplatz mit dem Brunnen, zu Fuß ein paar Meter zurück. Bertha Franzen, das Mordopfer, hatte in diesem Dorf ihr ganzes Leben verbracht. Der reetgedeckte, ockerfarbene Bau mit den weißen Sprossenfenstern und der graublauen Tür war von einem kaum kniehohen bepflanzten Friesenwall umgeben. Ein Natursteinweg führte vom offenen Zugang bis zur Haustür. Weder am Klingelschild noch am Briefkasten stand ein Name. Während Kari langsam an dem Gebäude entlangging, dabei in den umlaufenden Garten spähte, entdeckte sie ein Paar auf dem Nachbargrundstück. Die Frau brachte einen Korb Wäsche ins Haus. Der Mann bemerkte Kari und kam mit misstrauischer Miene näher. Er war groß, hager, grauhaarig und trug trotz des warmen Wetters eine hellbraune Strickjacke, die verkehrt geknöpft war, sodass ein Zipfel unten heraushing.

»Suchen Sie was?« Eine Altherrenstimme, etwas brüchig.

»Kannten Sie Frau Franzen?«, stellte sie eine Gegenfrage.

»Sind Sie von der Presse?« Das Gesicht des Mannes verschloss sich. Er wartete Karis Antwort nicht ab. »Der Fall ist abgeschlossen. Wir wissen nicht mehr, als wir damals der Polizei gesagt haben.«

»Wer wohnt denn jetzt hier?«, brachte Kari das Gespräch wieder in die richtige Richtung. Sie deutete auf Bertha Franzens Haus.

»Niemand«, lautete die kurze Antwort.

»Okay. Haben Sie vielleicht einen Schlüssel? Schauen Sie dort ab und zu nach dem Rechten?«

Der Mann schüttelte den Kopf. Er betrachtete sie voller Argwohn.

»Sonst jemand?« Der Rasen war gemäht, die Fenster waren sauber.

»Die Petersen. Wohnt auf der anderen Seite der Dörpstrat, Richtung Möhlenstieg.« Abrupt drehte er sich um und stapfte davon.

»Welche Hausnummer?«, rief Kari ihm hinterher.

»Da, wo die grässlichen Kunstwerke im Garten stehen.« Rumms. Die Tür war hinter ihm zugefallen. Kopfschüttelnd machte Kari sich auf den Weg.

Sie ging zur Hauptstraße zurück und folgte dem verwitterten Hinweisschild Fußweg zum Möhlenstieg, lief vorbei an gepflegten Häusern mit kurz geschorenem Rasen, niedrigen Obstbäumen und schmucken Gartenhütten. Sie erkannte das Haus von Frau Petersen sofort. Ein großzügiges Anwesen, umgeben von einem Staketenzaun, der von Wicken und anderen blühenden Pflanzen überwuchert war. Der ganze Garten war vollgestellt mit geschnitzten Holzfiguren. Kari betrachtete sie mit gemischten Gefühlen. Schön war anders. Auf einem Holzschild neben dem weit offen stehenden Tor stand in geschwungenen Buchstaben Göntje Petersen – Bildhauerin. Auf Karis Klingeln hin erschien eine ungewöhnlich kleine Frau an der Tür. Ihre hellblonden Locken bildeten einen Kranz um ein rundliches Gesicht mit zartrosa Wangen. Sie mochte um die sechzig sein und blickte Kari aus hellblauen, klaren Augen fragend an.

»Sind Sie Frau Petersen?«

Die andere nickte. Kari stellte sich vor und zeigte ihren Ausweis.

»BKA?« Die Künstlerin hob eine mollige, ziemlich verschrammte Hand an die feucht glänzenden Lippen. »Warum das denn?«

»Es geht um das Haus der verstorbenen Bertha Franzen. Ich möchte mich dort gerne einmal umsehen. Sie kümmern sich doch um das Anwesen?«

Göntje Petersen blinzelte einen Moment so erschrocken, als habe Kari ihr einen unsittlichen Antrag gemacht.

»Kommen Sie herein«, sagte sie dann. Während sie einen langen Flur entlang durch das ganze Haus vor Kari her watschelte, schaute die sich um. Alles hier war blitzblank, sauber und ordentlich. Bis sie in den hinteren Raum kamen. Ein großer Wintergarten. In einer Ecke eine Sitzgarnitur aus Rattanmöbeln. Überall sonst Holz, Werkzeuge, Schmirgelpapier und Skulpturen in unterschiedlichen Stadien der Fertigung.

»Setzen Sie sich. Möchten Sie etwas trinken? Wasser, Zitronenlimo?«

»Danke, ich nehme gerne ein Wasser.«

Die Hausherrin verschwand. Gleich darauf klapperte Geschirr. Kari blickte in den vollgestellten Garten hinaus. Sie fragte sich, wer sich derlei Kunstwerke in die eigene Wohnung stellte. Grässliche Fratzen waren das, die besser in eine Geisterbahn gepasst hätten mit ihren angstverzerrten Gesichtern. Göntje Petersen kam mit einem Tablett zurück, auf dem ein Krug und zwei Gläser standen. Sie schenkte sich und ihrem Gast ein, bevor sie Kari gegenüber in einem Sessel Platz nahm.

»Warum möchten Sie das Haus besichtigen?«, fragte sie.

»Ich will mir ein Bild machen.«

»Die Sache ist doch abgeschlossen«, gab Karis Gegenüber zu bedenken.

»Das ist richtig. Der Täter wurde verurteilt. Dennoch gibt es ein paar Dinge, die einen zweiten Blick wert sind«, fabulierte Kari ins Blaue hinein. Himmel! Sie konnte nur hoffen, dass diese Frau nicht weiter fragen und einfach ihre Autorität anerkennen würde.

»Ach so«, murmelte die tatsächlich, sichtlich überfordert mit der Situation.

»Haben Sie denn überhaupt einen Schlüssel?«, wollte Kari wissen.

»Ja. Ja, den habe ich.« Göntje Petersen richtete sich zu voller Größe von vermutlich einem Meter fünfzig auf.

»Weil Sie mit Frau Franzen bekannt waren? Befreundet?«

»Nein!« Die Petersen schüttelte vehement den Kopf, wobei ihre Locken heftig wippten. »Wir waren keine Freundinnen. Ich habe für sie gearbeitet.«

»Ich dachte, Sie sind Künstlerin?«

»Ja. Das bin ich. Hier auf der Insel überall bekannt.« Jetzt nickte Karis Gegenüber hoheitsvoll. Gerade so, als habe sie Kari eine Audienz gewährt. Doch kaum waren die Worte ausgesprochen, verdunkelte sich ihre Miene. Betrübt blickte sie in ihren verunstalteten Garten hinaus. »Leider wirft die Kunst nicht alles ab, was ich zum Leben benötige.«

Unwillkürlich blickte Kari sich um. Frau Petersens Heim war geräumig. Es wirkte gepflegt. Die Besitzerin hatte anscheinend ihre Gedanken gelesen.

»Das Haus habe ich von meinem Vater geerbt.« Nach dieser Aussage nahm sie ihr Glas auf und trank es in wenigen gierigen Schlucken leer.

»Welcher Art war denn Ihre berufliche Beziehung zu Frau Franzen?«

Göntje Petersen hob ihren Blick leicht. »Ich habe ihr den Haushalt geführt. Geputzt, manchmal gekocht. Mich um den Garten gekümmert.« Jetzt stahl sich ein Lächeln auf ihre Lippen. »Die arme Bertha konnte am Ende kaum noch etwas alleine machen. Sie war auf Hilfe angewiesen und so hat sich mein Arbeitsspektrum nach und nach erweitert.«

»Schön«, sagte Kari etwas lahm. »Wo arbeiten Sie jetzt?«

»Jetzt?«, fragte Frau Petersen, als sei sie plötzlich schwerhörig geworden.

»Ja, jetzt. Frau Franzen ist ja verstorben. Und wenn ich Sie richtig verstanden habe, brauchen Sie das Geld. Zusätzlich zu den Einnahmen aus Ihrer Kunst.« Kari schaffte es, den letzten Satz mit großem Ernst zu sagen.

Göntje Petersen zuckte dennoch zusammen und Kari fragte sich, ob sie zu direkt gewesen war. Aber ihr Gegenüber hatte sich bereits gefangen.

»Bin seit Anfang des Jahres in Rente«, erklärte sie. Im selben Moment erhob sie sich überraschend schnell und blickte jetzt auf die immer noch sitzende Kari herunter. »Wollen Sie, dass ich mitkomme? Ich kenne mich aus im Haus.«

Kari überlegte kurz, verneinte dann. »Ich will das erst einmal auf mich wirken lassen. Ich melde mich gerne, wenn ich Ihre Hilfe doch noch brauche.« Sie erhob sich ebenfalls.

»Wieso? Wie oft wollen Sie denn ins Haus?«

»Das weiß ich im Moment noch nicht.« Kari trat einen Schritt zurück und blickte Frau Petersen auffordernd an. Die seufzte tief, stiefelte dann aber hinaus und bedeutete Kari, ihr nachzukommen. Vom Schlüsselbrett, das hinter der Eingangstür im Flur hing, nahm sie einen Bund und hielt ihn in die Höhe.

»Hiermit deaktivieren Sie die Alarmanlage, hiermit schließt man die Haustür, der hier ist für den hinteren Eingang.« Zu jeder Ausführung tippte ihr Finger auf den entsprechenden Schlüssel. Dann drückte sie Kari den Bund in die Hand und öffnete schwungvoll die Tür. »Sie bringen mir alles zurück, sobald sie durch sind?«

»Natürlich«, versicherte ihr Kari und machte sich auf den Weg.

Das Haus war dunkel und kühl und roch schwach säuerlich. Etwas, das Kari nicht identifizieren konnte, das sie jedoch mit Alter und zu wenig frischer Luft in Verbindung brachte. Langsam ging sie durch die Räume im Erdgeschoss. Ein schmaler Flur, ein Abstellraum, in dem Putzutensilien samt Staubsauger untergebracht waren. Eine kleine längliche Küche mit völlig aus der Mode gekommener Einrichtung in dunkler Holzoptik. Ein Wohnzimmer in ähnlichem Stil eingerichtet mit einem Esstisch und vier Stühlen, einer hohen Vitrine, einer Couchgarnitur und einem Lowboard. Einer der Sessel war noch immer darauf ausgerichtet, daher nahm Kari an, dass dort mal ein Fernseher gestanden hatte. An den Wänden einfache Drucke mit so unterschiedlichen Motiven, als sei sich die Bewohnerin nicht sicher gewesen, was ihr wirklich gefiel. Im Obergeschoss zwei Schlafzimmer. Eines war komplett leer. Die ausgeblichene und teilweise abgefallene Tapete schien aus den Fünfzigerjahren zu stammen. Efeu rankte sich um eine rosa blühende Pflanze. Auf dem Holzboden lag eine dicke Staubschicht. Das zweite Zimmer erwies sich als wesentlich sauberer. Ein Bett, ein Nachttisch, ein Holzstuhl, ein massiver Kleiderschrank. Sie öffnete ihn. Ein schwacher Lavendelduft schlug ihr entgegen. Sie hatte sofort ein Bild vor sich: eine in die Jahre gekommene Frau, die ihre wenigen Kleidungsstücke sorgfältig aufbewahrte. Aufbewahrt hatte, denn hier hingen nur noch ein paar Kleiderbügel an einer Metallstange. Kari strich mit den Fingern darüber und genoss das klackernde Geräusch, als sie zusammenstießen. Es war so still in diesem Haus! Im Badezimmer ein Waschbecken, eine Dusche, ein einfacher Spiegel. Grüne Kacheln, schon etwas matt. Sämtliche Räume waren so niedrig, dass sie auf Kari mit ihren eins siebenundsiebzig erdrückend wirkten. Sie versuchte, sich ein Bild von der ehemaligen Bewohnerin zu machen. Karg war das erste Wort, das ihr dazu einfiel. Nichts von dem, was sich in den Räumen befand, konnte man auch nur annähernd gemütlich oder persönlich nennen. Dennoch wirkte alles, bis auf das eine Zimmer oben, als würde immer noch regelmäßig geputzt. Sie stieg ins Erdgeschoss hinab. Selbst der hölzerne Handlauf war staubfrei. Auf halber Treppe blieb sie stehen, blickte zurück zu der geschlossenen Tür des einen Schlafzimmers. Dort war offensichtlich seit dem Tod von Bertha Franzen nicht sauber gemacht worden. Eventuell auch in der Zeit vorher nicht? Merkwürdig. Andererseits – der Raum war komplett leer. Warum sich also die Mühe machen? Kari setzte ihren Rundgang im Wohnzimmer fort. Im oberen, verglasten Teil der Vitrine standen Bücher. Sagen des klassischen Altertums. Ein Bildband über Amrum. Zwei Biografien über Kaiserin Elisabeth, die alle als Sisi kannten. Ein Sachbuch über die Föhrer Tracht, an die Kari sich noch dunkel erinnerte. Keine Romane oder weitere Lektüre, die Auskunft über die Lesegewohnheiten der Verstorbenen geben konnte. Im unteren Teil fand sich endlich etwas, das persönlich war. Ein schmales Adressbuch, das wenige Einträge aufwies. Kari fotografierte jede Seite und legte das Buch zurück. Daneben stand ein Fotoalbum. Kari nahm es heraus und ließ sich damit vorsichtig auf das Sofa sinken. Das Album war schwer, der Einband aus geprägtem Kunstleder. Die einzelnen Seiten waren durch halb transparentes Spinnenpapier getrennt. Sie schlug das Buch auf. Die ersten Fotos zeigten ein kleines Mädchen auf dem Schoß einer Frau, sicher ihrer Mutter. Dahinter stand, die Hand auf die Schulter seiner Gattin gelegt, ein ernst dreinblickender Mann. Alle drei Personen schauten völlig unbewegt in die Kamera. Darunter hatte jemand geschrieben: 2. Geburtstag unserer Bertha. Die blaue Tinte war verblasst, die Schrift weich geschwungen. Auf den folgenden Seiten war das Aufwachsen von Bertha Franzen dokumentiert. Bis zu ihrem achtzehnten Lebensjahr gab es kein Foto von ihr, auf dem sie lächelte. Stets blickte eine schmale Gestalt mit eingefallenen Wangen und großen dunklen Augen in die Kamera. Dann brach die Fotodokumentation der Kindheit und Jugend von Bertha ab. Sie umfasste insgesamt erstaunlicherweise lediglich fünf Seiten. Nach einem Blatt, das leer gelassen worden war, ging es etliche Jahre später weiter. Bertha mochte nun Mitte zwanzig sein. Sie trug das Haar streng nach hinten gekämmt. Jetzt wirkte sie fast üppig, mit runden Wangen und ebensolchen Formen. Unverändert waren die dunklen Sachen, mit denen sie schon als Kind und Heranwachsende gekleidet gewesen war. Auf dem ersten Foto hatte sie eine blendend weiße Schürze darüber gezogen. Auf dem nächsten dazu eine Schutzhaube, wie man sie in Großküchen trug. Tatsächlich gaben dieses Bild und ein weiteres, ein Gruppenfoto inmitten anderer junger Frauen in ähnlicher Aufmachung, Auskunft über Bertha Franzens beruflichen Werdegang. Sie hatte eine Ausbildung zur Köchin absolviert. Es folgten einige Farbfotos aus den 1960er- und 1970er-Jahren, die inzwischen einen deutlichen Gelbstich hatten. Interessant waren nur zwei davon. Bertha mit einer Freundin auf einer Faschingsfeier. Köln, 1966 mit Margot stand darunter, mit Kuli in steiler Schrift geschrieben. Und Bertha in einem Liegestuhl, voll bekleidet, mit einem weißen Schlapphut auf dem Kopf. Aufgenommen 1970 in Rimini, ebenfalls mit Margot, die wesentlich unternehmungslustiger wirkte. Kari schüttelte leicht den Kopf. Vier Jahre lagen zwischen den beiden Aufnahmen. So, als habe sich zwischendurch nichts von Bedeutung ereignet. Kari blätterte weiter und zog die Brauen hoch. Erstaunlicherweise war das nächste Foto eines, auf dem die Verstorbene lächelte. Ja, sie schien sogar ein wenig fröhlich zu sein. Auf den beiden darauffolgenden Ablichtungen fehlte ein Teil. Als sei jemand abgeschnitten worden. Kari pfiff leicht durch die Zähne. Ein Mann? Ein Verehrer, von dem sich Bertha Franzen getrennt hatte? Warum hatte sie die Fotos dennoch aufgehoben? Kari starrte eine Weile darauf. Dann formte sich eine Vermutung. Bertha sah hier anders aus. Wieder schmaler im Gesicht und am Körper. Dabei ganz bei sich, mit einem selbstbewussten Blick. Fast schon herausfordernd. Irgendetwas hatte sich verändert. Bertha wirkte attraktiv auf den Bildern. Kari blätterte weiter. Zwei Fotos zeigten die Verstorbene Anfang der 1970er, glücklich lachend mit einem Kleinkind. Ich als Patentante stand unter einem. Danach, 1981, ein gestellt wirkendes Foto von Bertha mit einem Schlüssel in der Hand vor dem Haus. So, als nähme sie es jetzt in Besitz. Beim Umblättern entfuhr Kari unwillkürlich ein erstaunter Laut. Bertha Franzen, inzwischen in ihren späten Vierzigern, posierte in den Räumen und im Garten. Sie wirkte ernst und auf eine trotzige Art stolz und Kari fragte sich, wer die Aufnahmen gemacht hatte. Noch etwas fiel ihr auf. Bertha trug auf den Fotos eine Reihe teuer aussehender Schmuckstücke. Eine dreireihige Perlenkette. Eine Goldkette mit einem kirschkerngroßen Smaragd. Ein schweres Armband aus Gelbgold. Den Schmuck hatte sie nirgendwo im Haus gesehen. Sie würde Göntje Petersen danach fragen.

Kari war fast am Ende des Albums angelangt, als ein sanftes Dingdong von der Haustür erklang. Überrascht stellte sie die Fotos zurück und ging zur Tür. Draußen stand ein grauhaariger Mann mit akkurat geschnittenem Schnurrbart und einer gemütlichen Figur.

»Ja bitte?« Kari blickte ihn fragend an.

»Peter Hansen«, stellte er sich vor. »Polizei Wyk.«

Kapitel 4

Kari streckte den Kopf durch die Eingangstür nach draußen und blickte nach rechts. Der Nachbar in der falsch geknöpften Strickjacke versuchte vergeblich, schnell genug aus ihrem Sichtfeld zu verschwinden. Seine neben ihm stehende Frau hingegen blieb wie angewurzelt stehen und schaute mit großen Augen zu ihr herüber. Kari atmete tief durch.

»Kann ich mal Ihren Ausweis sehen?«

Herr Hansen hob amüsiert die Hände. »Habe ich nicht mehr. Bin seit einem Jahr pensioniert. Kann ich trotzdem kurz mit Ihnen sprechen?«

»Kommen Sie rein.« Sie unterstrich ihre Einladung mit einer entsprechenden Geste. »Anbieten kann ich Ihnen nichts. Ich bin selbst nur zu Besuch hier.« Sie schmunzelte bei ihren Worten. Er ebenso.

»Habe ich bereits gehört. Die Kahlenbergs nebenan«, er begleitete seine Worte mit einer leichten Kopfbewegung in Richtung des Nachbarhauses, »sind sehr aufmerksam. Besonders seit der Sache mit Bertha.« Er räusperte sich, bevor er fortfuhr. »Ich nehme an, Göntje hat Ihnen die Schlüssel zum Haus überlassen?«

»Stimmt.«

»Können Sie sich denn ausweisen?«

»Muss ich das?«

Er schüttelte den Kopf. »Selbstverständlich nicht. Ich bin ja nicht mehr im Dienst. Aber die Nachbarschaft wäre beruhigter, wenn ich ihnen sagen könnte, dass alles seine Ordnung hat mit Ihrem Besuch hier.« Kari nickte knapp und zückte ihren Dienstausweis. »BKA?« Herr Hansen trat beunruhigt einen halben Schritt zurück. »Was hat das denn zu bedeuten?«

Kari betrachtete den Mann. Sein offener Blick wirkte vertrauenerweckend, sein Auftreten seriös. Das konnte täuschen, wie sie sehr wohl wusste. Andererseits kannte man sich auf der Insel gut genug. Hätte er sie bezüglich seiner Identität angelogen, würde er in Nullkommanichts auffliegen.

»Nichts hat das zu bedeuten. Jedenfalls im Moment nicht. Ich beleuchte den Fall Bertha Franzen einfach noch einmal. Könnte sein, dass er mit einer anderen unserer Ermittlungen in Zusammenhang steht.« Das stimmte nicht, war aber mit Jo genau so abgesprochen. »Darum bitte ich Sie um höchste Diskretion.«

»Ach so. Natürlich.« Hansen wirkte erleichtert. »Es ist nämlich so, dass ich derjenige war, der damals als Erster gerufen wurde. Ich kannte das Opfer flüchtig und die Sache geht mir immer noch nach. Gut, dass wir den Mörder so schnell gefasst haben.«

»Kannten Sie ihn ebenfalls? Den Täter?«, wollte Kari wissen. In Hansens Augen trat ein wachsamer Ausdruck. »Der kam nicht von hier.«

»Verstehe«, antwortete Kari. »Er hat ja auch gleich gestanden.«

»Noch am Tatort. Ja.« Hansen rieb sich die Nasenwurzel, als würde ihm das beim Nachdenken helfen.

»Bei Ihnen also?«

»Bei mir und meinem damaligen Kollegen.«

»Wer hat Sie denn alarmiert?«

»Die Nachbarn.« Sein Kopf zeigte erneut in die Richtung des Mannes mit der Strickjacke. »Die Kahlenbergs hatten merkwürdige Geräusche gehört. Einen Schrei.«

»Und da ruft man gleich die Polizei?« In Berlin würde sich kein Mensch darum scheren.

»Tja. Ältere Herrschaften. Hier ist man wachsam.«

»Als Sie kamen, war die Frau tot und der mutmaßliche Mörder noch im Haus?«

»Was heißt denn mutmaßlich? Der wurde doch verurteilt.«

»Stimmt. Er war also noch da?«

»Als wir ankamen, hockte er im Flur direkt bei der Leiche. In der Diele herrschte Unordnung. Die Handtasche von Bertha lag neben dem Täter, das offene Portemonnaie ebenso. Das Geld fanden wir in seinen Taschen. Es waren nicht mehr als hundert Euro.« Sein Blick trübte sich. »Ein Menschenleben für ein bisschen Kohle. Ich habe mich nie dran gewöhnt. Der junge Mann war dann sofort geständig.«

Er hob die Hände, als wollte er sagen, dass da keine Fragen mehr offengeblieben waren.

»Hatte er auch Schmuck gestohlen?«

»Schmuck?« Hansen schüttelte den Kopf. »Wie kommen Sie denn darauf?«

»Ach, nur so. Frauen haben ja meistens etwas im Haus.«

»Frau Franzen eher nicht. War nicht wirklich betucht. Kam vermutlich gerade so über die Runden mit ihrer Rente. Das Anwesen hatte sie von ihren Eltern geerbt. Wie so viele hier. Es kann sich ja kaum noch einer von uns hier leisten, eines zu kaufen oder zu bauen. Die Immobilienpreise schnellen stetig in die Höhe.« Er schniefte kurz. »Aber noch mal zu Ihnen, junge Frau.« Er musterte Kari streng. »Wenn Sie etwas suchen, das unsere Arbeit damals in ein schlechtes Licht rückt, wäre ich nicht erfreut.«

Das war jetzt genau die Situation, in die sie auf keinen Fall hatte kommen wollen.

»Nein«, erklärte Kari daher hastig. »Wie gesagt, es geht um etwas anderes.« Sie musterten sich schweigend gegenseitig. Dann seufzte der pensionierte Polizist.

»Gut. Ich sage jetzt dem Nachbarn zur Linken Bescheid, dass Sie keine Einbrecherin sind. Und auch keiner von diesen Immobilienhaien, die auf unserer schönen Insel nach Schnäppchen suchen.«

»Wo Sie das gerade sagen: Wer hat denn das Haus geerbt? Ich meine, es ist ja doch ungewöhnlich, dass es seit eineinhalb Jahren leer steht.«

»Geerbt? Das weiß ich nicht. Da müssten Sie beim Nachlassgericht nachfragen. Falls die Ihnen Auskunft geben. Sie sind ja nicht direkt mit dem Fall betraut.« Ein listiger Ausdruck war in seine Augen getreten. »Aber wenn Sie mich fragen: Frau Franzen hatte keine Angehörigen. War ein Einzelkind. Nie verheiratet. Wenn, dann müsste es eine ganz entfernte Verwandtschaft sein. Kann schon sein, dass man noch nach jemandem sucht.« Seine Handbewegung zeigte, was er davon hielt. Nichts. Man würde niemanden finden, der erbberechtigt war. Eine der Familien, deren Stammbaum einfach endete.

»Danke«, sagte Kari und drückte dem Mann kräftig die Hand. Dann fiel ihr noch etwas ein.

»Die Nachbarn auf der anderen Seite, haben die damals auch etwas mitbekommen?« Es war unwahrscheinlich, weil das Haus weiter entfernt lag als das der Kahlenbergs, aber fragen musste sie.

Hansen schüttelte den Kopf. »Die Familie war zum Tatzeitpunkt im Urlaub.«

»Danke«, sagte Kari.

»Sollten Sie an einem weiteren Gespräch mit mir Interesse haben, rufen Sie mich an.« Er diktierte ihr eine vierstellige Telefonnummer und verabschiedete sich. Als er gegangen war, drehte Kari sich nachdenklich um sich selbst. Für heute hatte sie genug gesehen. Sie beschloss, das Fotoalbum mit ihrem Handy abzulichten. Und danach würde sie Jo eine Nachricht schicken. Sie brauchte das Testament von Bertha Franzen und das möglichst, ohne Aufsehen zu erregen.

Nach ihrer Rückkehr aus Oevenum erledigte Kari ein paar Einkäufe im Supermarkt in Utersum und machte sich danach daran, die Kate sauberzumachen. Sie lüftete ausgiebig, wischte die dünne Staubschicht von den Möbeln, ließ das Wasser laufen, bis es klar war, und schaltete den Kühlschrank ein. Sinnend blieb sie einen Moment lang vor dem leise summenden Gerät stehen. Bei ihrem letzten Aufenthalt auf Föhr waren so viele Dinge geschehen, die sie während der vergangenen Monate so gut es ging aus ihrem Gedächtnis verbannt hatte. Es war eine gefährliche Mission im Zeugenschutz gewesen, die sie erledigt hatte. Auch für sie persönlich riskant. Sie dachte an den Killer, der ihr hier, in diesem Haus, aufgelauert hatte. Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken. Gerade beim Gedanken daran, was diese Begegnung ausgelöst hatte, kochten widerstreitende Gefühle in ihr auf. Die Gespräche mit ihrer Mutter Trine, die völlig überraschend aufgetaucht war, stellten dabei den erfreulichen Teil dieser Erinnerungen dar. Den Rest musste sie abhaken. Schließlich wollte sie es nicht von anderen Menschen oder Ereignissen abhängig machen, ob sie sich weiterhin in diesem Haus wohlfühlen konnte.

Nachdem die Arbeit getan war und sie sich einen Kaffee gekocht hatte, ging Kari durch den Hintereingang der Küche hinaus in den Garten. Die Akte von Timo Knaup, dem Mann, der für Bertha Franzens Tod verantwortlich sein sollte, nahm sie mit. Das Gras war akkurat geschnitten, was ihrer Nachbarin Jette Beckum zu verdanken war. Es war erstaunlich, was die inzwischen über Siebzigjährige für eine Energie an den Tag legte. Nicht nur bei der Bewirtschaftung ihres eigenen Obst- und Gemüsegartens. Sie schien unermüdlich. Hätte Kari sie gebeten, sich nicht mehr um ihr Haus und den Garten zu kümmern, wäre ihre Nachbarin zutiefst gekränkt gewesen. Kari warf einen Blick nach nebenan. Aber ausnahmsweise war von Jette nichts zu sehen. Sie wischte Blätter und Sand von der Platte eines Kunststofftisches und ließ sich in einen etwas wackligen Gartenstuhl fallen. Dann nippte sie an ihrem Kaffee und zog sich die Akte heran. Timo Knaup war zum Zeitpunkt der Tat zweiundzwanzig Jahre alt gewesen. Er hatte einen Wohnsitz in Hamburg. Bereits vor dem Mord an Bertha Franzen war der junge Mann mehrfach straffällig geworden. Ladendiebstahl. Einbruch. Eine Kneipenschlägerei. Alles war lange vor der Tat auf Föhr geschehen und jedes Mal war Timo mit einer Verwarnung oder einer geringen Bewährungsstrafe davongekommen. Die Sozialprognose schien immer positiv, die Reue stets groß. Was hatte Timo nach Föhr verschlagen? Wann war er auf die Insel gekommen, wo hatte er gewohnt? Wie sein späteres Opfer getroffen? Sie würde all das herausfinden und auch mit Timo Knaup persönlich sprechen müssen. Sobald das möglich war, denn zurzeit lag er nach einem Selbstmordversuch auf der Krankenstation einer Justizvollzugsanstalt – welcher, hatte man ihr noch nicht gesagt – und war nicht ansprechbar. Kari zog ihren Notizblock heran und notierte sich die ersten Fragen. Dann blätterte sie weiter. Und wurde immer ratloser. Schließlich klappte sie die Akte zu, ging ins Haus zurück, bereitete sich einen Toast mit Käse, trank dazu ein Glas Wasser und beschloss, früh schlafen zu gehen. Obwohl der Drang in ihr, eine bestimmte Kneipe aufzusuchen, schier übermächtig war. Gleichzeitig wusste sie, dass viel Arbeit vor ihr lag. Sie betrachtete ihren vollgeschriebenen Notizzettel. Öffnete die Fotos auf ihrem Handy, die sie im Haus von Bertha Franzen gemacht hatte. Was war die Tote für ein Mensch?, fragte sie sich unwillkürlich. Sie scrollte zu den wenigen Notizen, die im Adressbuch der Verstorbenen gestanden hatten. Das schien über Jahre, vielleicht sogar über Jahrzehnte hinweg geführt worden zu sein. Etliche Einträge waren dick durchgestrichen. Übrig geblieben waren lediglich wenige Nummern, darunter die ihres Hausarztes und die von Göntje Petersen. Und die eines Notars. Kari hatte kaum Hoffnung, dass der ihr etwas über das Testament verraten würde. Sie brauchte nicht auf die Uhr zu sehen, um zu wissen, dass es für einen Anruf in der Kanzlei zu spät war. Erfahrungsgemäß erwies es sich sowieso als besser, direkt vorzusprechen. Das war erst der Anfang. Es gab Fragen, die selbst nach zweimaliger Durchsicht der Akte offengeblieben waren.

Kapitel 5

Der Mann, der an diesem frühen Morgen am Strand von Utersum direkt am Wasser stand, hatte die Hände in die Hosentaschen geschoben und schaute regungslos zum Horizont. Der braun gescheckte Deutsch-Drahthaar neben ihm tat es ihm gleich.

Als Kari neben die beiden trat, fiepte der Hund.

»Moin Olga«, sagte Kari leise und kraulte das Tier am Kopf. Olgas Schwanz wedelte den leicht morgenfeuchten Sand auf. »Moin Ove«, fuhr sie fort. Der Angesprochene blickte lediglich kurz aus den Augenwinkeln zu ihr. Er sagte nichts, aber das war nicht ungewöhnlich. Ove war Autist. Sehr begabt in allen Dingen, die mit Elektronik und der virtuellen Welt zu tun hatten. Mehr wusste Kari nicht über ihn. Olga hatte sich beruhigt. Sie schaute fragend zwischen Kari und Ove hin und her, bevor sie sich wieder der Betrachtung des Horizonts widmete. Kari wusste nicht, was Ove dazu bewog, jeden Morgen am Meer zu stehen. Er wirkte, als warte er auf etwas. Worauf, das wusste wohl niemand.

Ein Dunstschleier verlieh dem Himmel ein milchiges Aussehen. Der leichte Wind trug den Geruch von See und Salz mit sich. Auf den dunkel glitzernden Wellen tanzte der Kopf eines Schwimmers. Der kam schnell näher. Einer der wenigen, die hier bereits am frühen Morgen sportlich unterwegs waren. Bewundernd glitt ihr Blick über die sich geschmeidig bewegenden Arme, die in einem gleichmäßigen Takt das Wasser durchpflügten. Erst als der Mann das Ufer fast erreicht hatte und sich aufrichtete, erkannte sie ihn. Unwillkürlich entfuhr ihr ein überraschter Ton. Bent Sörensen stieg aus dem Wasser. Mit einer lässigen Bewegung strich er sich die schwarzen Haare aus dem Gesicht. Sie waren länger geworden während der Zeit, in der sie sich nicht gesehen hatten. Oder wirkte es nur so, weil sie nass waren? Kari konnte den Blick nicht abwenden. Er hatte sie bisher nicht bemerkt. Ging zu einem Strandkorb, griff nach dem dort liegenden Badetuch und begann sich trockenzurubbeln. Jede Bewegung brachte die schlanken Muskeln seines Körpers zur Geltung. Er sah aus wie jemand, der regelmäßig Sport trieb. Rudern, Tennis, Schwimmen. So etwas in der Art. Kari wurde sich bewusst, dass sie keine Ahnung hatte, ob das zutraf. Bent war einer der rätselhaftesten Menschen, die sie kannte. Als der letzte Tropfen Wasser abgetrocknet war, schlüpfte er in eine Jeans, zog sich ein kurzärmeliges, kariertes Hemd über und rollte das Handtuch zusammen. Der Impuls, zu ihm hinüberzugehen war so stark, dass Kari bereits einen Schritt in seine Richtung getan hatte. Da blickte er auf. Über eine Distanz von vielleicht zehn Metern hinweg sahen sie sich an. Karis Herz pochte heftig, als ihre Blicke sich trafen. Sie wollte etwas sagen, zu ihm rufen. Da drehte er sich abrupt um und ging davon. Ihr war, als habe man sie mit Eiswasser übergossen.

»Aber«, entfuhr es ihr und sie hob die Hand. Er konnte es nicht mehr sehen, schaute nicht ein einziges Mal zurück. Im Gegensatz zu Olga. Ove war, wie üblich ohne Gruß, ebenfalls davon gegangen. Er stapfte am Meeressaum entlang, sein Hund folgte ihm, nicht ohne einen Blick zurück auf Kari zu werfen – als habe das Tier Mitleid mit ihr.