Muckefuck / Molle mit Korn / Weiße mit Schuss - Georg Lentz - E-Book

Muckefuck / Molle mit Korn / Weiße mit Schuss E-Book

Georg Lentz

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Beschreibung

Die bekannte Berlin-Trilogie von Georg Lentz erstmals in einem Band! Muckefuck Der erste Roman der grandiosen Berlin-Trilogie! Eine Jugend im Berlin der Nazi-Zeit: Karl Kaiser, von seiner Mutter liebevoll "Menschlein" genannt, wächst in der Berliner Laubenkolonie "Tausendschön" auf. Statt in Pfützen oder bei den Kaninchenställen zu spielen, sollen er und seine Freunde als Pimpfe Wichtiges für kriegerische Zeiten lernen, die angeblich bevorstehen. Zum Glück gibt es da den nicht ganz so linientreuen Vater von Karl, der ihn von den NS-Aktivitäten fernhält... Molle mit Korn Der zweite Roman der grandiosen Berlin-Trilogie! Die Schrecken des Zweiten Weltkriegs sind zwar überstanden, doch Berlin liegt in Trümmern. Trotzdem pulsiert in der Laubenkolonie "Tausendschön" das Leben. Denn mit viel Witz und Fantasie kann das "Menschlein" Karl Kaiser den schweren Zeiten entkommen. Freundschaften, Liebesgeschichten und rauschende Feste bescheren ihm eine glückliche Zeit. Er weiß eben zu leben - und nicht bloß zu überleben... Weiße mit Schuss Auch dieser dritte Roman der grandiosen Berlin-Trilogie ist herrlich witzig und ein ganz klein wenig melancholisch! Die wilden Fünfziger haben endlich auch Berlin erreicht. Karl Kaiser und seine Kumpels aus der Laubenkolonie "Tausendschön" genießen nun die "Segnungen" des Wirtschaftswunders. Doch der Mauerbau, die Teilung Berlins gehört ebenso zu dieser Zeit ....

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Kurzbeschreibung:

Die bekannte Berlin-Trilogie von Georg Lentz erstmals in einem Band!

Muckefuck

Der erste Roman der grandiosen Berlin-Trilogie! Eine Jugend im Berlin der Nazi-Zeit: Karl Kaiser, von seiner Mutter liebevoll "Menschlein" genannt, wächst in der Berliner Laubenkolonie "Tausendschön" auf. Statt in Pfützen oder bei den Kaninchenställen zu spielen, sollen er und seine Freunde als Pimpfe Wichtiges für kriegerische Zeiten lernen, die angeblich bevorstehen. Zum Glück gibt es da den nicht ganz so linientreuen Vater von Karl, der ihn von den NS-Aktivitäten fernhält...

Molle mit Korn

Der zweite Roman der grandiosen Berlin-Trilogie! Die Schrecken des Zweiten Weltkriegs sind zwar überstanden, doch Berlin liegt in Trümmern. Trotzdem pulsiert in der Laubenkolonie "Tausendschön" das Leben. Denn mit viel Witz und Fantasie kann das "Menschlein" Karl Kaiser den schweren Zeiten entkommen. Freundschaften, Liebesgeschichten und rauschende Feste bescheren ihm eine glückliche Zeit. Er weiß eben zu leben - und nicht bloß zu überleben...

Weiße mit Schuss

Auch dieser dritte Roman der grandiosen Berlin-Trilogie ist herrlich witzig und ein ganz klein wenig melancholisch! Die wilden Fünfziger haben endlich auch Berlin erreicht. Karl Kaiser und seine Kumpels aus der Laubenkolonie "Tausendschön" genießen nun die "Segnungen" des Wirtschaftswunders. Doch der Mauerbau, die Teilung Berlins gehört ebenso zu dieser Zeit ....

Georg Lentz

Muckefuck / Molle mit Korn / Weiße mit Schuss

Die komplette Berlin-Trilogie

Edel Elements

Edel Elements

Ein Verlag der Edel Germany GmbH

© 2017 Edel Germany GmbHNeumühlen 17, 22763 Hamburg

www.edel.com

Copyright © 2018 by Georg Lentz

Covergestaltung: Anke Koopmann, Designomicon, München

Konvertierung: Datagrafix

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.

ISBN: 978-3-95530-922-0

www.facebook.com/EdelElements/

www.edelelements.de/

Inhalt

Muckefuck

Molle mit Korn

Weiße mit Schuss

Georg Lentz

Muckefuck

Roman

Edel Elements

Copyright dieser Ausgabe © 2012 by Edel:eBooks, einem Verlag der Edel Germany GmbH, Hamburg. www.edel.com Copyright der Originalausgabe © 1976 by Georg Lentz

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München

Covergestaltung: Agentur bürosüd°, München

Konvertierung: Datagrafix

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.

ISBN: 978-3-95530-027-2

Inhalt

Teil1

Teil2

Teil 1

Ich wohne in einer Laube der Kolonie Tausendschön. Am Gartentor ist das Schild mit dem Namen meines Vaters fast unleserlich geworden: E. Kaiser. Mit Lochverfahren gestanzte Schnörkelschrift, von Grünspan verwischt. Das E. steht für Eduard. Genannt wurde mein Vater Ede. Mir haben meine Eltern den schlichten Vornamen Karl gegeben. Karl Kaiser. Meine Mutter, Minnamartha, rief mich »Menschlein«, was ich hasste. Trotz aller Ereignisse, die mein Leben immer wieder in neue Richtungen drängten, hause ich immer noch in dieser Laube. Sie ist winterfest, besitzt massive Wände. Ich bin glücklich hier. Aber wenn ich den sozialen Aufstieg um mich herum sehe – am Rand der Kolonie entstand inzwischen ein Bungalowdorf -, so keimt manchmal die Hoffnung in mir, dass ich aus meiner Laube eines Tages in eine Sozialwohnung ziehen kann. Manchmal scheint es, als würde sich ein Weg zeigen für meine Flucht aus der Armseligkeit. Denn die Stadtverwaltung plant, auf dem Koloniegelände Hochhäuser zu errichten. Alle paar Monate kommen Leute mit rotweißen Messlatten, rammen sie ein. Aber ein paar Tage später nehmen andere die Messlatten wieder fort.

Vielleicht wird es also nichts, vorläufig, mit den Hochhäusern. Und eigentlich ist auch eine Laubenkolonie viel schöner als das großartigste Hochhaus mit Marmorvestibül und Müllschlucker. Mein Nachbar rechts hat über dem Gartentor Bogen aus grün gestrichenen Gasrohren angebracht. Im Sommer ranken dort Kletterrosen. Wie ich inzwischen weiß, sind es Crimson Rambler. (Die Sorte hat sich leider als anfällig gegen Mehltau erwiesen.) Wir alle haben in den Wintergärten ausrangierte Badewannen oder Tonnen aufgestellt, in die wir das Regenwasser vom Dach leiten, zur Bewässerung der Pflanzen. Im Mai ernten wir die ersten Radieschen, rot und frisch. Sie knacken, wenn man hineinbeißt, und brennen die Zunge. Und im Sommer sitzen alle draußen, die Frauen kühlen Bierflaschen in Emailleeimern und bringen selbst gebackenen Bienenstich.

Heute benutzen die meisten Kühlschränke. Ich nicht. Denn als Ede, mein Vater, von Beruf erst Taxifahrer, dann Taxenbesitzer, die Laube baute, sorgte er für einen großen, kühlen Keller. Im Fußboden der Veranda ist eine Falltür eingelassen, und eine hölzerne, etwas wackelige Stiege führt hinunter.

Mit diesem Keller hängt eine meiner frühesten Erinnerungen zusammen. Fünf Jahre alt mag ich gewesen sein, als ich meine erste Expedition in den kramgefüllten Keller unternahm, auf der Suche nach zwei schwarzen, gelb gebordelten Kavalleriestiefeln, deren genaues Aussehen mir längst bekannt war. Durch ein Bild. In meinem Zimmer nämlich hing ein ziemlich großer Vierfarbdruck, Reminiszenz an die aktive Dienstzeit meines Vaters als Kavallerist. Es zeigte Ede in dunkelblauer Paradeuniform, zu der eben die gelb gebordelten Stiefel, hier augenscheinlich auf Hochglanz poliert, gehörten. Im Hintergrund unterstrich ein tänzelnder Apfelschimmel die hippologische Beziehung. Nur Edes Gesicht war schwarz-weiß. Ein aufgeklebtes Foto. An den Rändern löste es sich.

Die Stiefel also, vom Vater auf dem Erinnerungsbild getragen, wollte ich im Gerümpelverlies unter der Veranda finden. Auf den unteren Stufen, die auch bei eingeschaltetem Licht im Schatten bleiben, versperrten leere Pappschachteln, eine ausrangierte Teppichkehrmaschine und ungefüge Fahrradteile den Weg. Hier arbeitete ich, fünfjährig, muskelarm, und behindert durch eine Haarsträhne, die mir immer wieder über die Augen fiel. Schwitzend räumte ich, um durch Halden unnützer Gegenstände zu den Langschäftern vorzudringen, ein Kind auf der Suche nach zwei Kavalleriestiefeln, schwarz mit gelber Bordelung.

»Menschlein«, rief Minnamartha spitz von der Küche her, weil eine Pyramide aufgetürmter leerer Marmeladeneimer scheppernd zusammenbrach, »Menschlein, bist du da unten?«

Ich antwortete nicht. Eine Minute lang, bis es der Fragerin da oben zu langweilig wurde und ihre Schritte sich zum Wohnzimmer hin entfernten.

Weiter schürfte ich im Müll, unter möglichster Vermeidung von Geräuschen nun, und fand das Stiefelpaar, in einer Kellergasse, die eigentlich städtischen Ablesebeamten Passage zur Gasuhr gewähren sollte. Ich zerrte und zog. Der eine Stiefel trug noch einen Ziersporn mit zackenlosem Rädchen, das sich in den Fugen der Gasuhrabdeckung verfing. Aber ich rettete ihn. Rasch trug ich meine Beute ans Tageslicht. Die Schäfte waren knochenhart und brüchig und ohne allen Glanz. Die Zierborte hing zerrissen, beide Stiefelspitzen ragten schräg in die Höhe. Ich streifte meine Hausschuhe ab, fuhr in die schmutzigen Rohre, stapfte zum Konsolspiegel im Korridor. Hart schnitten die Schäfte zwischen den Beinen ins Fleisch. Das Menschlein, verdreckt, mit schiefem Mund, lächelte ins Spiegelglas. Seine Waden ertranken im doppelten Lederschlund.

»Was willst du«, fragte Minnamartha, »mit den alten Stiefeln?« Ich wusste es nicht. Ede war gerührt. Seine aktive Dienstzeit, 1905-08, manifestierte sich in den wiedergefundenen Ausrüstungsstücken.

Schuhputz, makelloser Glanz. Terpentingeruch. Ich wienerte, nahm den Kampf auf gegen Brüchiges und Stumpfes. Die gelbe Lackborte klebte ich an, und meine Einreibbürste zerstörte schwarz glänzende Oberflächen in Blechdosen. U-Bahn-Lyrik hatte zum Kauf der Wichse angereizt. Denn in den Zügen zwischen Hausvogteiplatz und Krumme Lanke schrieben auf Plakaten hoch über den Fahrgastköpfen die Schuhputzhersteller kategorisch vor:

»Es urbiniert der feine Mann – erst seinen Schuh. Dann zieht er’n an.«

Urbin benutzten wir, trotz fleißiger Konkurrenz von Erdal, die damals Jungkunden mit blechernen Knackfröschen zu ködern suchten. Bald glänzten beide Stiefelschäfte wie auf Edes Paradebild.

Aber die Schnäbel? Die hochgerichteten Stiefelspitzen? »Du musst sie walken«, schlug Ede vor. »Mit Lederfett.« Es wurde angeschafft, und auch hier weiß ich noch die Marke, Schmierwachs Fake, hergestellt, wie auf der Pappschachtel zu lesen war, aus Paraffin, Unschlitt, Nigrosin und Terpentinöl. Ich strich es auf Schnäbel und walkte mit schmerzenden Handballen. Ärger gab es wegen der schwarzen Fingernägel, und bald entdeckte Minnamartha, meine Mutter, überall Schmutz. Arbeit am Leder hinterlässt Spuren. Seife hilft da nicht und nicht Bimsstein, auch nicht die harte Wurzelbürste in der Waschküche.

Ich betrat das Waschhaus der penetranten Waschmittelgerüche wegen überhaupt nur ungern: Es war in einem Schuppen hinter der Wohnlaube untergebracht. Zwar drängte auch dort ein Geheimnis auf Lösung. Denn in den Zementfußboden eingelassen war eine gusseiserne Platte mit der Aufschrift: Verschluss gegen Überschwemmung. Doch verdarb der Zusatz bei Hochwasser öffnen jede Chance, das Geheimnis eines Tages zu lüften. Denn zu einer lohnenden Überschwemmung kam es hier nie.

Dabei wäre Hochwasser jetzt willkommen gewesen. Denn ich besaß geschmierte Riesenstiefel, eine Waffe gegen Flutkatastrophen, die ich ausprobieren wollte.

Damals zogen die Gewitter von Südosten auf. Tintenblau verdunkelte sich der Himmel hinter den schlanken Gitterfunkmasten der nahen Funkstation, die rot und weiß leuchteten. Ein Sturm wirbelte Blätter und Papier auf, knallte offen stehende Fenster zu, warf Wassertonnen und Gartenstühle um. Dann erst donnerte und blitzte es. Erste Tropfen klatschten in den Staub, Vorboten einer Flut, die dann fünf Viertelstunden lang herabstürzte. Schließlich konstatierte Ede (oder meine Mutter): »Hinten wird es schon hell.« Ich gewöhnte mir an, ihnen mit diesem Satz zuvorzukommen und spähte deshalb in Richtung der Funktürme, um vor Ede und Minnamartha den ersten hellen Fleck in den Wolken zu entdecken. Jedenfalls kündigte sich mit der Aufhellung im Südosten das Ende des Gewitters an, falls es uns nicht einen Streich spielte und sich von Nordwesten, wohin es gezogen war, noch einmal zurückwälzte.

Hörte es zu regnen auf, so wusste ich, dass sich draußen auf der Sandstraße eine riesige Lache gebildet hatte.

Die Stiefel! Noch während die letzten Bäche vom Pappdach vor den Fenstern niederrannen, legte ich die blanken Rohre an. Wie mit Siebenmeilenstiefeln schritt ich durch den neu erstandenen Binnensee.

Ich schritt.Denn andere Fortbewegungsarten erlaubten Edes Botten nicht. Sie schnitten oben ein. Manchmal dachte ich, sie würden mich mitten auseinanderreißen, wie Rumpelstilzchen. Größere Wogen stampfend zu verursachen, schien mir jedoch ein erstrebenswertes Ziel. Deshalb rief ich Gustav, meinen Freund. Er war ein Jahr älter. Besaß längere Beine. »Gustaav?«

Gustav kam, wie im Hochsommer bei ihm üblich, splitternackt, mit kahl geschorenem Schädel. Er legte Edes Kavalleriestiefel an, weiße Schenkel endeten in blankschwarzem Leder. Und auf mein Kommando marschierte Gustav mit geschlossenen Augen im Stechschritt durch das Wasser.

Es gab Wellen! Fontänen. Spritzer. Eine Wasserhose schien sich über die Lache zu bewegen, in der Gustav unsichtbar stampfte, williges Opfer fast selbstloser Stiefelfreuden in Wirbeln und Kaskaden. Gustav erreichte das andere Ufer, nun wieder heller Körper mit schwarzen Enden. Das Wasser rann an ihm herunter.

»Her damit!«, befahl ich, hier wagte ich, herrisch zu sein. Ich zog Gustav die Stiefel aus, legte sie selbst wieder an. Setzte dann mein gravitätisches Schreiten durch die Lache fort. Dem Nackten am Strand schenkte ich keine Beachtung mehr. Im Wasser schritt ich, vorschulaltrig, fast analphabetisch (bis auf die Fähigkeit, Gullyinschriften zu entziffern). Ich, Karl, Laubenkarl. Sieger. Besitzer der Stiefel. Selten dauerte der nasse Spaß länger als eine Stunde.

Ich hatte das Zeitmaß im Kopf. Minnamartha nämlich besaß einen Küchenwecker, eine etwas dicker geratene Taschenuhr, auf der man bis zu einer Stunde beliebige Zeitabschnitte einstellen konnte. Nach Ablauf dieses Zeitabschnittes klingelte es. Solche Uhren gab es damals noch gar nicht im alten Europa, Tante Mieze, nach den Vereinigten Staaten verheiratet, hatte sie einst mitgebracht, während ihres Besuches. Aus Philadelphia, hergestellt von M. Wilson, watchmaker.

Mithilfe solcher Uhren kann man Eier genau dreieinhalb Minuten kochen. Oder, wenn man die Uhr nach Ablauf einer Stunde – länger ging sie ja nicht – wieder aufzog, und neu auf dreißig Minuten einstellte, einen Schweinsbraten neunzig Minuten lang im Rohr schmoren lassen. Minnamartha, damals einzige Besitzerin so eines Apparates, hatte sich angewöhnt, den größten Teil ihres Tageslaufs in Eieruhrabschnitte zu zerlegen, in kleinere oder größere, willkürlich für ihre Familienmitglieder, für sie selbst aber nach einem anscheinend festen System.

»Ich will mal eben«, sagte sie, »noch ein Stündchen ruhen. Ach, was bin ich heute wieder müde.« Knarz, zog sie die Uhr auf, stellte sechzig Minuten ein, legte sich auf die Chaiselongue. Präzise nach einer Stunde klingelte es, und je nach gesättigtem oder ungesättigtem Schlafbedürfnis wälzte meine Mutter sich von ihrem Lager oder – ratsch -verlängerte ihre Siesta um einen weiteren, der Eieruhrskala angemessenen Zeitabschnitt.

Wenn Minnamartha herumging, tickte sie. Denn die Philadelphia-Uhr begleitete sie in der Schürzentasche. Sie tickte, und gelegentlich klingelte es, wo sie ging, saß oder lag. Es klingelte bei uns auf dem Klo, Nachbarn beugten sich erstaunt nach links und rechts über die Zäune, weil sie wissen wollten, weshalb in Edes Garten zwischen den Rabatten Läutwerke rasselten, des Milchmanns Pferd ging durch, Hunde zwängten sich bellend durchs Gitter des Gartentores. (Bis Ede Kaninchendraht zog.)

Minnamartha klingelte. Oder tickte wenigstens.

Erst gegen neun Uhr abends ließ sie das Werk endgültig für den jeweiligen Tag ablaufen, im Sommer manchmal noch später.

Ein Jahr später erlöste mich die gesetzliche Schulpflicht aus meinem Leben zwischen kavalleristischen Andenken und Eieruhr. Ein Foto zeigt mich gerüstet für den ersten Schulweg an einem kalten Apriltag: Schwarz verhüllt eine übergroße Baskenmütze meine Ohren, die wir uns sonst an so einem Raureifmorgen gerötet vorzustellen hätten. Mein Mantel mit Fischgrätmuster stammte aus der bewährten Kollektion von Brenninkmeyer formtreu. Auch dieses Kleidungsstück war selbstverständlich etwas zu groß gekauft, auf Zuwachs.

Mein Lächeln – das Bild beweist es – blieb verkniffen. Auch in der neuen Umgebung übrigens, die Kontakte vermittelte mit interessanten Schulkameraden, abenteuerlich gekleideten Knaben vornehmlich aus unserer Kolonie, vom Lehrer witzig Tausendschönchen genannt. Ich war ein Tausendschönchen, trotz Brenninkmeyer formtreu.

Die anderen Tausendschönchen, jene Buben, die am Sparhaarschnitt Glatze mit Vorgarten zu erkennen waren – Hinterkopf kahl, vorn spärliche Ponys – vermittelten mir Lebensweisheiten. Harald Buseberg war einer von ihnen.

Haralds hellblaue, fast weiß bewimperte Augen zwinkerten unterm Blondpony. Es handelte sich um einen nervösen Tick. Seine Hände schwitzten. Legte er sie flach auf das schwarz lackierte Schulpult, so hinterließen sie feuchte, sich langsam verflüchtigende Spuren, sobald er sie von der Tischplatte löste. Ich vermied es, ihm die Hand zu geben. Dennoch ergaben sich zwischen Harald Buseberg und mir bald nähere Beziehungen, die hinausgingen über die üblichen Kontakte zwischen Mitschülern in der dreißig Köpfe zählenden Volksschulklasse. Denn bereits am neunten Schultag köderte Harald mich mit der Behauptung, sein Vater, ein Marineveteran, besitze eine hölzerne Hand. Eine Prothese, sagte Harald, die mittels langer, schnürbarer Ledermanschette am Armstumpf zu befestigen sei.

Den Versucher lehnte ich zuerst ab, wollte Haralds Vorschlag, ihm in seine Wohnlaube zu folgen, ausweichen, war aber nicht stark genug. Meldete nur Zweifel an.

»Du spinnst ja, hast ja ’ne Meise«, lauteten meine Kommentare. Harald ließ nicht locker. Er wischte seine Finger an der maschinengewirkten Bleylehose ab; schlug ein Geschäft vor:

»Gib mir fünf Pfennig. Dann darfst du die Manschette zuschnüren. Sonntagvormittag. Da zieht mein Vater seine Sonntagshand an.«

Seine Sonntagshand! Wenig glaubwürdig klang das alles. Andererseits schien die geschäftliche Basis real, auf die Harald nun, durch Forderung von fünf Pfennigen, die Angelegenheit gestellt hatte. Wie groß, rechnete ich fieberhaft und mit herabgezerrtem linken Mundwinkel, wie groß war das Risiko? Fünf Pfennige bedeuteten zwanzig Vanillekugeln, oder einen Nappo mit Kokosfüllung, zehn mehlbepuderte Gummibärchen, zwei Lakritzerollen. (Diese liebte ich weniger.)

Und dagegen stand?

Harald streckte bereits seine schwitzende Hand aus.

Ich fasste in die Tasche, förderte aus einem Gewirr von Strippenknäueln, Radiergummi, Tintenwischer und abgebrochenen Posthornbuntstiften fünf einzelne, fast blanke Deutsche Reichspfennige zutage und ließ sie, jede Berührung vermeidend, aus angemessener Höhe in Haralds gierig gekrümmte Handflächen fallen. Sofort schlossen seine Finger sich um den Schatz. Er drehte sich auf dem Absatz um und rannte fort. »Sonntag um zehn. Laube vierzehn«, rief er, mit einer Halsdrehung, die noch einmal sein Albinogesicht im Profil zeigte.

Diese Lust nun, nachdem bezahlt war, und es war erst Donnerstag! Stimmte es denn, dass Kunsthände mit Ledermanschetten …? Heikel schien die neue Wissenschaft. Jemand fragen? Ede, den Vater? Ich zupfte an meiner Warze, die seit einigen Wochen zwischen Daumen und Zeigefingerwurzel spross. Orakel blieben jedoch aus. Es hieß, zu warten.

»Ich übe Geduld«, dachte ich. Aber auf dieses Abenteuer lauern, wie zermürbte das! Wie zerrte es! Noch drei Schultage.

Wir wichen einander aus. Ich, der Unbestimmtes mit fünf Kupfermünzen eingekauft, und Harald, der vielleicht Glück und Erfahrung verkauft hatte. Warm und klebrig ruhten die Geldstücke wahrscheinlich zwischen Wollfusseln in Haralds Tasche. Seine Augen waren unsteter denn je, und er rückte ab von mir, wenn wir in der Klasse an unseren winzigen Pulten saßen, obgleich ein Gang, vom Lehrer autoritär durchschritten, uns Geschäftspartner ohnehin trennte.

Nachmittags dann, hinter der mächtigsten Philodendron pertusum, die ihren lichtraubenden Platz am Rande der Tischplatte behauptete und Händeschatten übers linierte Papier warf, spitzte ich Posthornstifte. Malte E-s und A-s in Achtklässlerblockschrift aufs Papier, – damals zählte man die Klassen 8 bis 1 und nicht umgekehrt wie heute. Meine Gedanken eilten bereits dem Freitag, dem Sonnabend voran, hin zu jenem Sonntag im April, der Erlebnisse verhieß.

Die Zunge zwängte ich in eine Milchzahnlücke, malte Buchstabenreihen flink und folglich wackelig. Warf dann Heft und Stifte in den neuen Tornister und stürzte davon, um jenen entfernten Teil der Kolonie Tausendschön näher zu erforschen, in dem das Abenteuer stattfinden sollte.

In Schauplatzmitte verlief die zweigleisige Bahnlinie nach Lehrte, auf deren Gleisen in bestimmten Abständen D-Züge vorbeidonnerten. Speziell interessierte mich der Streckenabschnitt zwischen Bude siebzehn und Bude achtzehn, vielleicht noch Bude neunzehn. Dies die Bezeichnungen von drei beschrankten – mit Wärterbuden versehenen – Bahnübergängen gerade außerhalb des Weichbildes der großen Stadt. Hier öffneten alle Dampflokheizer die Kesselklappen, um ihre Feuerrösser mit frischer Kohle zu füttern. In der Dämmerung und nachts oder bei niedriger Wolkendecke glühte der Himmel. Parallel zur Bahn, dem Rückgrat des Schauplatzes, zog sich ein Sandweg durch Kiefernschonungen, unordentliche Wagenspuren hatten den Sand zerfurcht. Er hieß Königsweg und stellte vor Zeiten die kürzeste Verbindung zwischen Sommerresidenz und Stadtschloss der preußischen Herrscher dar. Königliche Kutschen fuhren hier, der Pasewalk’sche Ausspann am Beginn des Königswegs stellte frische Pferde. Majestäten, Prinzen, Kuriere, Minister und Mätressen rollten über Sand und Wurzeln, aber auch ein berühmter Philosoph, der seine Werke (etwa ab 1715) unter dem Pseudonym Voltaire veröffentlichte: Beim Pasewalk’schen Gasthof bezeichneten märkische Landmänner den ausländischen Perückenträger als Affen. Auf Plattdeutsch übrigens, sie sagten »Aap«.

Jetzt links von der Bahn – immer stadtauswärts gesehen – die auch schnurgerade verlaufende, kopfsteingepflasterte Bärlappstraße, mit schönem alten Lindenbestand, gesäumt von mietgünstigen Beamtenwohnblocks und Siedlungshäusern. Die Bärlappstraße endete bei der Kolonie Tausendschön in einem Schotterweg, und hier hinten entstanden immer wieder die mir so willkommenen Gewitterlachen.

Hinten lief die Straße ins Nichts, soweit man ein dörrgrasbestandenes Feld als Nichts bezeichnen kann. Für die Tausendschönchen, für mich also auch, war es Niemandsland, einen halben Kilometer breit von der Bahnlinie gemessen. Am anderen Ende des Felds galt der Platz einer Zimmerei als ergiebiger Fundort für Zigarettenbildchen in Buntdruck, Unsere Kolonien oder Das Deutsche Heer im Manöver.

Hinter den geduckten schwarzen Teerpappdächern der Lauben lag dieses Nichts, dieses Paradies, dieses Schlachtfeld. Das Feld. Aber wir kehren zurück, mitten in den Klumpen notdürftiger Behausungen. Laube Nummer vierzehn! Sie war die Wohnung Johann Busebergs, des kaiserlichen Ex-Matrosen, Vater von Harald. Einhändig half er sich durchs Leben seit Skagerak.

Ein Stern mit Klammer wäre eigentlich nötig, auf eine kleingedruckte Fußnote unten verweisend, denn schon verblasst die Erinnerung an bedeutende Seeschlachten des Ersten Weltkrieges, vierzehn-achtzehn. Damals war Kommandant Graf Dohna-Schlodien mit dem Hilfskreuzer Möwe ausgelaufen. Stolz wehte die Flagge schwarz-weißrot vom Mast, und der bisher kasinoisolierte Commander wundert sich in seinen Memoiren, dass seine Blaujacken sich beim Einnehmen gemeinsamer Mahlzeiten von Menschenaffen unterscheiden.

Damals befahl Admiral Tirpitz den uneingeschränkten U-Boot-Krieg. Und damals kämpften unsere Marineartilleristen im Skagerak gegen Albions Hochseeflotte, und kernig klang das Lied von der stolzen Kaiserjacht Meteor.

Am 31. Mai 1916, kurz vor dreizehn Uhr, wurde hier im Skagerak dem Marineartilleristen Johann Buseberg die rechte Hand durch einen englischen Granatsplitter abgerissen. Deutschland siegte mit einem Versenkungsplus von 56000 Tonnen Wasserverdrängung, wie sich nach dem Vergleichen der Totalverluste ergab. Niemand konnte Artillerist Johann Buseberg die verlorene Hand ersetzen. Aber alles ist eine Frage der Perspektive. Und hier, auf das Kind Karl Kaiser angewendet, ergibt sie: Skagerak war nötig, wegen Vater Busebergs Schnürmanschette, aus Pfundleder, das man mit Weißbeize schwellt und mit Knoppern gerbt. Ein festes Leder, mittelbraun, steif, geeignet, eine Holzhand am natürlichen Armstumpf zu halten.

Und immer noch war es nicht Sonntag. Zwei Tage noch. Und zwei Nächte, in denen dick geschwollene Hände, im grünen Meer schwimmend und Gallerte absondernd, oder wogende Schatten von Pflanzenblättern durch Karls Träume gaukelten. Der späte Nachmittag, wenn die roten und blauen A-s und E-s schon im Ranzen ruhten, brachte mich Laube vierzehn näher. Ich umrundete, eng an die Zäune aus verzinktem Maschendraht oder Holzlatten gedrückt, das engere Areal in der Kolonie, zu dem Laube vierzehn gehörte. Ich spähte hinüber, ob nicht der Mann mit der hölzernen Hand, der große Buseberg, vor eine der Türen trete. Vielleicht würde er mir winken, obwohl es noch nicht Sonntag war.

Aber ich begegnete Buseberg nicht. Auch nicht am Freitag, und nicht am Samstag.

Doch endlich: Ein Sonntagmorgen im April, zwischen Frost und krokusträchtigen Ostern. Der Tag ist besonders, auch ohne geheime Vorhaben. Die länger im Bett verbrachte Stunde schärft alle Sinne. Das Laubenkind hört durchs offene Fenster die Hühner, wie sie gackern, zu verkünden, dass sie ein Ei gelegt haben. Die erste Fliege des Jahres summt so laut, dass man sich die Ohren zuhalten möchte. Und aus den Augenwinkeln sehe ich die schwarze Katze mit nur drei Beinen, wie sie übers Garagendach auf ein paar Spatzen anschleicht, und ich höre ihre drei Pfoten über die froststeife Pappe trappen. Die Spatzen hören es auch und fliegen davon. Hinten in der Küche aber klappt die Speisekammertür. Die Mutter macht Frühstück. Gleich wird es klingeln. Gas- und Elektroherde gibt es noch wenige in der Kolonie. Und so hängen um diese Stunde duftende Rauchfahnen von vielen Holzfeuern über den Dächern. Kühl streicht Morgenluft über meine Schultern. Es gilt, Entscheidungen zu treffen. Soll ich noch einmal, für ein paar Minuten, das dicke Federbett um mich stopfen? Oder wage ich lieber den Sprung auf rutschende Bettvorleger und kühle Dielen?

An diesem Sonntag war keine Entscheidung nötig. Neun Uhr. Eine Stunde vor dem Abenteuer. Oder vor der Enttäuschung? Wer sechs Jahre alt ist, stellt diese Frage nicht. Das Geheimnis der hölzernen Hand in der Brust, putzte ich die Zähne, zog mich an, frühstückte ein Dreieinhalbminutenei, sehr unbeteiligt, sehr konzentriert. »Was ist heute mit dir?«, fragten selbstverständlich Minnamartha und Ede. Genau so selbstverständlich murmelte ich: »Ooch, nichts.« Und den letzten Bissen sonntäglichen Eigelbs im Mund, schlich ich aus der Laube, Skageraks schnürbaren Folgen entgegen.

Auf den Zäunen lag noch dünner Raureif. Aber die Sonne schmolz das pelzige Weiß. Es tropfte. Rosenkohlstrünke rochen aus brachen Gärten.

Der Weg war schmal zwischen den Zäunen, gerade eine Fahrspur breit. Fahrradbesitzende Anlieger hatten die Löcher immer wieder aufgefüllt, mit Schutt, Müll und Kohlenschlacke. Zaun an Zaun lebten sie hier, der Gladiolen züchtende Alfons Reh, Altkommunist und durch einen unheilbaren Kehlkopfschaden (wahrscheinlich Krebs) konstant heiser, – eine Tonart, die seine zahme Dohle Jakob notentreu wiederholte –, und der neunationale Sturmabteilungsführer Gallert. Er, Gallert, elegant braungestiefelt und immer in Breeches und Bluse, hisste bei größeren, aber auch minimaleren neudeutschen Gelegenheiten ein nagelneues Symbolfahnentuch an seinem selbst gezimmerten Fahnenmasten. Vier Meter über Kolonie Tausendschöns Normalnull, vorstädtischer Nivellementshöhe, knatterte die Flagge im Wind. Heute flog Gallerts glühend rote Fahne mit runischen Zeichen, vom Vorfrühlingssturm gebläht. Er fürchtete noch nicht die Konkurrenz rot blühender stark duftender Nelken, wie Alfons Reh sie zwei Monate später gegen die flatternde Textilie anblühen ließ, hunderte und aberhunderte von Nelken auf üppigen Beeten im Laubenvorgarten der Kolonie Tausendschön.

Die früheste rote Nelke seines Gartens trug Alfons Reh am ersten Mai, dem Tag der Arbeit, im Knopfloch, so lange er es noch durfte.

Karl schritt wieder. Gefroren lagen die Wagenspuren, empfindliche dünne Schlammkanten, aufgesteilt von rollenden und mahlenden Auto-, Motorrad- oder Fahrradreifen. Pneumuster. Hart geprägt. Davon brachen zentimeterlange Stücke ab unter dem Tritt meiner Sonntagsschuhe.

Hier links! Hinter Kohlstrunkbeeten lag Laube vierzehn. Eine durch vielfache Anbauten erweiterte Wohnbastion für drei Busebergs. Ich drückte die verblichen blaue Staketenpforte, durchmaß den perspektivisch sich zur Laube verengenden Mittelweg, dessen Kanten durch Hunderte von leeren, mit dem Hals im Boden vergrabene grüne Weinflaschen eingefasst waren.

Am Ende war Skagerak. War Buseberg, der Vater-Mann, durch Feindgranate amputiert. War Mutter Buseberg, die zwar erwähnt wird, aber kaum eine Rolle spielt. Auffällig sind nur ihre blumendrahtsteifen Locken sowie, das stellt sich heraus, ihre Geduld.

In der Tür stand Harald mit gesträubten Albinoponys, kniff die Augen, zwinkerte. Alles schien aufs Beste arrangiert, falls es nicht wieder dieser nervöse Tick war. Nein: »Komm!«, sagte Harald, befahl er, und seine sehr kleine Hand lag, augenblicklich an den Umrissen sichtbaren Schweißtau erzeugend, auf dem kupfernen Türknopf.

Linkes Bein, rechtes Bein hob ich über die hochragende Schwelle, schrägte an Mutter Buseberg vorbei mitten in die Küche. Dort stand Vater Buseberg breitbeinig über einen eisernen Waschschemel mit Schüssel gebeugt, ohne Hemd. Mittelfett und unbehaart strotzte sein Oberkörper, der in Wülsten aus dem Hosenbund stieg. Kaskaden von weißblauem Seifenwasser rannen in die Schüssel zurück, während er neues Wasser mit seiner heilen Hand über die Schultern schleuderte, füllte, schaufelte und baggerte.

Der Armstumpf schlenkerte unbeteiligt an seiner rechten Seite. Nur manchmal beschrieb er im Raum eine rasche Kreisbahn, wenn Gleichgewichtsprobleme es erforderten.

Ich trat näher. Buseberg Vater grinste durch Seifenschaum. Sohn Harald, ungewaschen, zwinkerte doppelt schnell, als wollte er sagen: Dies, Kunde Karl, ist nur der Anfang.

Die Mutter klapperte am Herd mit Töpfen.

Ich starrte ihn an. Der Waschende beendete sein Flutspiel. Die Seife biss, auch Vater Buseberg, sah ich, kniff seine Augen zu, wodurch er einen Augenblick lang seinem Sohn Harald ähnlich wurde. Geschickt ergriff Johann Busebergs einzige Hand ein Frottiertuch, das über der Lehne eines Küchenstuhls in der Nähe hing. Er rieb Gesicht, Oberkörper und Armstumpf. Ich stellte fest, dass die Wunde säuberlich vernäht war. Nur im Zentrum des Armquerschnitts, dort, wo der Knochen sein musste, zeigte sich eine deutliche Rötung.

Der Vater, sich frottierend, grinste.

Harald zwinkerte.

Frau Buseberg rasselte mit dem Schüreisen.

»Du willst«, sagte Buseberg, mich durchdringend musternd, »die Hand schnüren?«

Ich wechselte Stand- und Spielbein, sagte fest: »Ich will die Hand schnüren. Schnüren, ja.«

»Frau, das Hemd«, forderte Buseberg.

Die Frau ließ den Herd, brachte das Sonntagsoberhemd, hellblau mit schmalen dunklen Streifen. Buseberg fuhr hinein. Sein wolliger Schädel stieß durch den Hemdschlauch, tauchte in der Kragenöffnung auf, die heile Hand suchte und fand sofort den einen Ärmel, und dann, rechts, glitt auch der Armstumpf ins obere Ärmelteil, stieß ein paarmal nach oben und rechts seitwärts, wie um zu erreichen, dass ein paar Zentimeter Stoff mehr in Anspruch genommen werden möchten:

Vergebens, denn ein Drittel Textilrohr baumelte ungenutzt hin und her, die gestärkte Manschette unten dran. Nun aber befahl Buseberg, aufzukrempeln. Ich kam Harald und Mutter Buseberg zuvor und rollte den leeren Ärmel zurück, bis vom Stumpf ein gutes Stück sichtbar wurde, übrigens mit einem tintenblau eintätowierten Anker ganz in Nähe des Abrisses, um den rings herum die Inschrift sich ringelte: »Navigare necesse est!« Latein, davon hatte ich erst recht keine Ahnung, aber, meinem neugierigen Blick nachgebend, der ohnehin nur Wortteile entzifferte, entschloss Buseberg – jetzt immer Vater – sich, zu erklären: »Das heißt Seefahrt tut not.«

Vom Herd her, wohin sie zurückgekehrt war, macht Mutter Buseberg: »Phh …!«

Genügend hochgerollt? Nun her mit Busebergs Kunsthand! Der Mann, Hemdschöße noch über der Hose, wendete sich zum Fensterbrett. Dort lagen zwei Holzhände mit Lederbefestigung, lagen zwei Prothesen!

Es stellte sich heraus, dass die Prothese mit dunklem Glacéhandschuh über der wie natürlich geformten Holzhand alltäglichem Gebrauch diente. Sonntags aber benutzte Buseberg eine Extrahand, mit hellfarbenem Glacéhandschuh!

Damit war nicht zu rechnen gewesen, für fünf Kupferpfennige! Ich folgte Gesten des Amputierten, nahm die helle Hand vom Fensterbrett. Und ließ mir erklären: Hier handelte es sich um einen ausgeklügelten Mechanismus. Indem nun Buseberg den Glacéhandschuh abstreifte, mit einer äußerst gekonnten Bewegung seiner linken Hand übrigens, während ich – weniger geschickt – die Prothese hielt, enthüllte sich ein kompliziertes Werk aus Holz- und Metallteilen. Spiralen, blau schimmernde Blattfedern und überlappende eloxierte Aluminiumplatten hielten die einzelnen Fingerglieder zusammen und sorgten für deren Beweglichkeit. Auch führten Darmsaiten von den Fingerspitzen zur Handwurzel, von wo sie gebündelt in die Manschette weiterliefen. Buseberg demonstrierte: »Ich beuge das Ellbogengelenk.« Er beugte, was in diesem Fall, da die Hand ja nicht angelegt war, frei gedacht werden musste. »Pass auf«, befahl Buseberg, »was geschieht.«

Frau Buseberg murmelte: »Oh, Mann …« Aber niemand achtete auf sie, denn auch Harald beäugte die Hand, an der sich nun, bei Beugung, die Finger schlossen. Jetzt Streckung: Die Finger öffneten sich wieder. Ein paarmal hin und her. Zum Schluss, Buseberg bewältigte auch dies, ließ er durch Druck auf ein verborgenes Knöpfchen an der Handwurzel den Daumen – der Kunsthand! – hin und her schnellen, wobei jedes Mal ein feines, scharfes Knacken hörbar wurde.

»Ganz anders jedoch ist es« – Buseberg legte, nachdem er mit meiner Hilfe sorgfältig den Handschuh wieder über das Wunderwerk gestreift hatte, die Sonntagshand beiseite und ergriff die dunkle Alltagshand, – »Ganz anders ist es mit diesem Modell bestellt.« Und indem Buseberg mir nun die andere Prothese zum Halten gab, meinte er, ich sähe ja, dass hier die Hand aus einem Stück gefertigt sei, nicht wörtlich zu nehmen zwar, denn die Finger seien mit Zargen oder Dornen eingepasst wie Stuhl- oder Tischbeine, und Hand sowie Finger bestünden aus mehreren Lagen Holz, dessen Fasern in verschiedene Richtungen verliefen, aber sie präsentiere sich doch wie aus einem Stück. Eben. Man könne, Drehung nach links, die Hand abschrauben, sie ersetzen durch einen praktischen eisernen Arbeitshaken, ähnlich geformt wie ein Bootshaken: »Das weiß ich als Mariner«, bekräftigte Johann Buseberg. Und: »Frau, hol doch mal den Haken.«

Sie fand ihn, poliert und mit kräftigem Schraubgewinde versehen, das, so weit ließ sich technisch vorausdenken, dem Gewinde an der Hand entsprechen musste. So war es, ich durfte die Arbeitsklaue nicht nur besichtigen, sondern auch an- und wieder abschrauben, wobei ich noch erfuhr, dass es sich hier um das weltweit bewährte System Masters handelte.

Lehrreich war das und hochinteressant. Und mit fünf Pfennigen vorteilhaft abgegolten. Doch jetzt kam ja noch das Hauptstück, die Befestigung seiner mechanischen Sonntagshand, System Mathieu, wenn ich die entsprechenden Aufklärungen Busebergs richtig behalten habe, das Anbringen am lebenden Armstumpf. Ich hob den Apparat, und Busebergs Stumpf glitt routiniert in die feste Manschette. Dann wies er mich an, das baumwollene Schnürband in hohlgenietete Löcher zu fädeln, die sich in zwei Reihen die gesamte Manschette hinaufzogen. Kraft war nun nötig für den Zug zu guter Letzt, damit die Manschette auch fest saß. Aber es gelang. Bei der Schleife musste ich kapitulieren. Frau Buseberg übernahm es, in gewohnter Weise, wie sich aus ihren schnellen Bewegungen schließen ließ. Eigenhändig rollte Buseberg den knisternden Hemdsärmel über die lederne Prothesenhalterung.

Für fünf Pfennige! Harald Buseberg zwinkerte und produzierte handflächenreibend Schweiß. Seine Ehrlichkeit stand außer Zweifel. Ich, Karl, begriff wenig über das mechanische Prinzip hinaus, brütete aber über einer bisher unbekannten Glückseligkeit, die ich wie einen warmen Kloß in meinem Bauch spürte.

Frau Buseberg trug Vanillepudding mit Schokoladensauce auf. Erstaunlicherweise aß auch Vater Buseberg, führte mit heiler linker Hand den Alpakkalöffel. Als Dreingabe oder Geschenk: Er zeigte den Tischgenossen, den Knaben, wie ein Großvater Pudding isst. Dazu wurde von ihm ein riesiger Vanillewackel auf schmalem Löffel mit absichtlich zitteriger Hand zum Mund geführt. Doch bevor der gelbe Steifbrei in Vater Busebergs lachend aufgerissenem roten Schlund verschwand, durfte die Masse verunglücken, zurückplumpsen in die Schokoladensauce, die aufspritzte.

Die Knaben lachten.

Frau Buseberg rügte: »Aber, Mann …«

Es war zwölf, als ich heimging, satt von Pudding und Erlebnissen. »In Zukunft kostet es zehn Pfennige«, rief Harald mir nach, als ich durchs Gartentor schlüpfte.

Ich rannte heim, schlich mich durch die Veranda, hinten herum. Doch in der Laube klappte eine Tür. »Wo warst du?«, fragte Mutter Minnamartha. »Ooch …«, murmelte ich, »nur bei Harald.«

Minnamartha hatte BZ am Mittag, Lokalanzeiger und Morgenpost mit bunter Donnerstagbeilage Brummbär abonniert. Als aufmerksame Leserin entdeckte sie bald eine Notiz, die, je nach Blatt in verschiedener Länge und unterschiedlichem Stil abgedruckt, Johann Buseberg betraf. »Einen gewissen Johann Buseberg«, sagte Minnamartha, aber sie schloss ganz richtig, dass es sich um Haralds Vater handeln müsse. Der Pressebericht lautete in seiner ausführlichsten Form, wie ihn der Lokalanzeiger abdruckte:

INVALIDER SKAGERAK-VETERAN STRECKT RÄUBER NIEDER

Berlin. Eigener Bericht.

Dem ehemaligen Marineartilleristen Johann Buseberg, 40, gelang es auf verblüffende Weise, einen gefährlichen Räuber unschädlich zu machen. Infolge einer schweren Verwundung während der Schlacht von Skagerak trägt B. eine hölzerne Unterarmprothese.

Am Donnerstag in den Abendstunden, als B. sich, wie üblich radelnd, von seinem Arbeitsplatz auf den Heimweg begab, stellte sich ihm im sogenannten Zehlendorfer Haselhölzchen ein Individuum in den Weg. Die Person, inzwischen als der 20-jährige Schleifer Günther H. identifiziert, zwang den Heimkehrenden zum Absteigen und forderte ihn auf, seinen Geldbeutel zu übergeben.

Buseberg, vom Krieg her an Gefahren gewöhnt, zögerte nicht. Er hielt zwar an und stieg ab. Blitzschnell erhob er jedoch dann seine Holzhand und ließ sie auf den Kopf des Räubers niedersausen. Dieser brach besinnungslos zusammen.

Seelenruhig wartete Buseberg, neben dem Niedergestreckten Wache haltend, das Hinzukommen anderer Passanten ab. Er bat, einen Polizisten herbeizuholen.

Dies geschah. Günther H. sah sich bereits mit Handschellen gefesselt, als er aus seiner Bewusstlosigkeit erwachte. Er wurde in polizeilichen Gewahrsam überführt und wird sich wegen Überfalls und versuchten Straßenraubes zu verantworten haben.

Ich malte hinter der Hybride von Coleus schwierig zu meisternde B-s ins Schreibheft, da sah ich mich aus knisternden Zeitungsvorhängen von spitzer Mutterstimme zur Rede gestellt. Minnamarthas Augen, brillenbewehrt, blitzeschleudernd durch Linsenschliff für drei Dioptrien links und zwei rechts, richteten sich auf mich, wozu die Zeitungsblätter mittels halbem Armstreck gesenkt wurden. Dann appellierte Minnamartha scharf:

»Menschlein!«

Das Kind wand sich auf der glattledernen Sitzfläche eines zu großen Armstuhls. Zog seine während der Schreibarbeit vorgestreckte Zungenspitze ein. Zögerte, ob er seine Selbstständigkeit noch drei Sekunden lang ertrotzen sollte, indem er das soeben durch Senkrechtstrich begonnene B vollendete, und zwar durch Anfügung des oberen und unteren Rechtshalbbogens. Entschloss sich dann aber doch, zu antworten:

»Ja Mami?«

»Menschlein, ist nicht Harald Buseberg dein Freund?«

»Och, nein. Er geht nur in meine Klasse.«

»Aber gehst du nicht manchmal zu ihm? Hinten in die Kolonie?«

Ich erwog blitzschnell alle infrage kommenden Möglichkeiten, auf die mütterliches Verhör vielleicht zielte. Hatte Minnamartha von der Holzhand erfahren? Vom Pudding, der in Schokoladentunke platschte? Oder wusste sie etwa, dass ich Harald Geld gab? Wollte sie meine Besuche in der Laube vierzehn unterbinden?

Ich entschloss mich, ungefähr zu bleiben:

»Nur manchmal«, sagte ich »gehe ich hin. Wenn mir langweilig ist.«

»Hier steht etwas in der Zeitung über seinen Vater.« Mutter legte eine Pause ein und funkelte wieder mit Augen und optischen Gläsern. Aber ich schwieg.

»Er hat einen Räuber niedergeschlagen. Im Haselhölzchen. Wusstest du das denn nicht?«

»Doch«, sagte ich. »Harald hat es erzählt.«

Minnamartha schüttelte den Kopf. »Menschlein, ich verstehe dich nicht. So etwas berichtet man doch!« Staunen und Entrüstung lösten bei ihr einen Armreflex aus, die raschelnde Zeitungsbarrikade fuhr wieder bis auf Leseabstand vor ihr Gesicht, verdeckte es mit Ausnahme der Stirn und der oberen Lesebrillenränder. Ich, übers »Menschlein« erbost, nervös wegen gewaltiger, soeben überstandener Gefahren, hatte mich gerade wieder der Vollendung meines B-s zugewendet, als ich Minnamarthas Schlusskommentar hörte, mit dem ich sonst gewohnheitsmäßig rechnete:

»Ich möchte wissen, ob du mir überhaupt etwas erzählst!«

Ich tat es nie.

Patzig stach ich die zweite, untere B-Schleife ins Heft. Dann tat ich nur noch so, als ob ich schriebe.

Denn übrigens wurmte es mich, dass Harald den Handschnürpreis auf zehn Pfennige erhöht, also verdoppelt hatte! Und es war schwierig, diese Summe aufzubringen. Der Buseberg-Etat war bisher von mir aus Quellen geschöpft worden, für die einigermaßen nervöse Mütter unbewusst sorgen. Kleine Münze zeigt sich bekanntlich an manchen Orten eher lästig, genau so, wie sie woanders durch ihr Fehlen Peinliches verursachen kann, etwa in öffentlichen Bedürfnisanstalten. Lästig ist sie jedoch in den Jackentaschen der Männer, in Handtaschen, Brillenetuis oder Kammhülsen. Manche Frauen horten hier gehobene Geldfunde in Sparschweinen oder Sammeltassen. Nervöse Frauen jedoch, und dazu gehören fast immer Mütter, neigen dazu, so gefundene Kupfermünzen an mehreren, manchmal überraschenden Stellen zu sammeln, in Nähmaschinenschubladen etwa, oder in Knopfschachteln. So fällt es gewöhnlich nicht auf, wenn Kinder kleinere Nebenausgaben aus solchen Nestern bestreken.

Nun aber vierzig Pfennige im Monat!

Wütend warf ich die dicken Posthornstifte in ihren Holzkasten. »Ich bin fertig«, meldete ich, indem ich vom Stuhl rutschte. Die Mutter reagierte nicht. Brillenbewehrt nährte sie ihren Geist mit Tausenden von klitzekleinen Frakturbuchstaben.

Jetzt konnte ich mich wieder mit Johann Buseberg, mit der Ledermanschette an hölzerner Hand und den damit zusammenhängenden Finanzierungsfragen beschäftigen. Haralds weiße Hände lauerten klebrig, den Obolus jeweils einzukassieren, ein kleines Säulchen Münzen meistens, bestehend aus Ein- und Zweipfennigstücken, zusammengeklaubt aus Minnamarthas Nestern. Doch, wie ich vorausgesehen hatte, wurde es immer schwieriger, die Woche für Woche geforderten zehn Pfennige zu finden. So besuchte ich schließlich die Laube des Prothesenträgers seltener, bis ich nur noch gelegentlich bei Busebergs zu Gast war, Schnürbänder einfädelnd, angesichts gelber Puddinghügel, die, unter Johann Busebergs meckerndem Lachen, nach wie vor in braune Schokoladensauce plumpsten. Dem Vermittler Harald sagte ich: »Ich hab’ einfach kein Geld.«

Übers Jahr, als der Sommer wiederkehrte mit seinen fröhlichen tiefblauen Gewittern, stellte ich fest, dass ich Busebergs Manschette und auch Vater Edes Kavalleriestiefel vernachlässigte. Nicht mehr zahlte ich gestohlenes Geld in Haralds gekrümmten Handteller, nicht mehr rief ich Gustav, damit der geschorene Tölpel Wasserlachen im Stechschritt durchmesse. Ich legte nicht einmal mehr die herrlichen schwarzen Stiefel selbst an. Das Lederfett Marke Fake roch ranzig, und Urbin, den guten Schuhputz schmierten andere sich aufs Schuhwerk, soweit es schwarz war: Ich selbst trug braun.

Braun gebrannte Beine, grätige Arme von sieben, acht, neun kleinen Mädchen interessierten mich nun. In Laube elf wohnten sie und an der Stammbahn beim Bierladen und im spitzen Siedlungshaus, und in Laube vierundvierzig und einundneunzig. Wanda hieß eine, dann gab es Ingrid, Gigi, Häschen, Marie, Anneliese und noch ein paar. Wanda fiel auf, weil sie dick und riesig war, sich gerne abseits hielt. Sonst konnte ich sie kaum voneinander unterscheiden mit ihren blitzenden frechen Mündern. Halt, noch eine Ausnahme: Irmchen, bisher gar nicht erwähnt, fürchtete sich, wenn es donnerte.

Wanda aber, Wanda Puvogel, Tochter des Kolonialwarenhändlers Ernie Puvogel aus der Kolonie Tausendschön glich, massig und mit lieblich-blödem Lächeln, einem bekloppten Erzengel, der den Eingang zum Paradies bewachte.

Beispiel: Ede sagt zum ahnungslos sandspielenden Karl: Geh mal Persil holen. Als ich Kind war, leuchteten strahlend weiß gekleidete Riesendamen auf dunkelgrün (»Persilgrün«) von vielen Häuserwänden, an Stadtbahnstationen besonders, um durch ihr makelloses Beispiel darauf hinzuweisen: Persil bleibt Persil. Ohne Persil geht es nicht. Auch bei vielen Kaufleuten, Krämern, Kolonialwarenhändlern hingen entsprechend verkleinerte Plakate an der Ladentür, oft neben einer Plakette mit der Aufforderung:

»Trittst du hier als Deutscher ein – soll dein Gruß Heil Hitler! sein.«

Da es schwierig war, auf den Schwellen dieser Ladeninhaber, die mit der Zeit gingen, seine Staatsangehörigkeit zu ändern, verloren solche Läden manchen guten Kunden. Unsere Gegend war nicht ausgenommen. Manche wechselten, verschreckt oder peinlich berührt, zu Ernie Puvogel über. Denn an seiner Ladentür fehlten Hinweise auf neue Grußpflichten. Aus gutem Grund. Puvogel war Kommunist von reinstem Schrot und Korn. Grünweiße Persilplakate hingegen hatte Ernie in Hülle und Fülle verwendet, um Ritzen abzudichten, die fingerbreit allenthalben in seiner baufälligen Verkaufsbaracke am Rand des Koloniefestplatzes klafften. Puvogels Kunden lasen hundertmal: Persil. Wer in der Kolonie also an Persil dachte, musste zugleich auch an Puvogel denken. Mindestens an seinen Laden, in dem es, neben Kaiserauszugmehl, Dauerwürsten und sauren Gurken tatsächlich auch Persil gab. In großen und kleinen (grünweißen) Paketen.

Ede sagte also, ich sollte Persil holen. Da ein Mann Persil selten als notwendig erachtet, ja, einen Persilmangel im Haus überhaupt nicht bemerkt, schloss ich, dass der Auftrag ursprünglich von Minnamartha, meiner Mutter, ausging, an ihren Mann nur weitergegeben, damit dieser den Waschpulvereinkauf finanzierte. Er klaubte, in Unkenntnis der augenblicklichen Persilpreise, ein Zweimarkstück mit Hindenburg vorn drauf aus der Geldkatze, und befahl oder schlug vor, suggerierte oder schaffte an, dass ich Persil holen sollte.

Ich stellte den Bau eines Verbindungstunnels durch den mittleren von drei künstlich errichteten Sandbergen ein, reinigte die erdbekrümelte Hand am Hosenboden und nahm den runden Hindenburg, Wert zwei Mark, in Empfang. Großes Persil, dachte ich, oder kleines Persil? Aber ich beschloss, meinen Vater nicht mit dieser kniffligen Frage zu konfrontieren, denn sicher ahnte Ede nichts von der Existenz zweier verschiedener Paketgrößen. Ich beschloss, entsprechend der reichlichen Summe, die zur Vergügung stand, ein großes Paket von Puvogel zu fordern, oder, falls dies gerade nicht am Lager sein sollte, zwei kleine oder sogenannte Normalpakete zu kaufen.

Auf jeden Fall musste, um eine Wiederholung von Puvogel-Aufträgen in absehbarer Zeit zu vermeiden, möglichst viel Persil ins Haus geschafft werden. Und warum? Weil Puvogels Tochter Wanda den Erzengel oder Zerberus mimte, am Zugang zum Festplatz der Laubenkolonie.

Es gab hier eine Art Tor, mehr ein Triumphbogen, im Halbrund über Kopfhöhe gekrönt von den blechgestanzten Worten: Festplatz Kolonie Tausendschön. Unmittelbar vor diesem Tor verengte sich der ursprünglich gut wagenbreit angelegte Weg, der als Einziger zum Festplatz und zu Puvogels Laden führte, durch eine im Sommer fast nie eintrocknende Wasserlache auf knapp Meterbreite. Auf diesem schmalen Damm stand Wanda Puvogel.

Stand Ernie Puvogels dumme Tochter, säulenbeinig, mit Armmuskeln, die unter der Haut spielten wie bei einem Athleten, und riesigem, gierig mahlendem Unterkiefer.

Sabberte sie sogar? Ich glaube ja.

Nun näherte ich mich der Ungetümen, meine Hand umklammerte den runden Hindenburg, Wanda drohte riesig und ich dachte: Wird sie mich oder wird sie mich nicht?

In die Pfütze stoßen, nämlich. Denn das war ihre Spezialität. Diesmal tat sie es nicht.

Wanda Puvogel trat einen Schritt zur Seite, was etwa den Eindruck machte, als ob ein Elefant sein Gewicht verlagert. So wurde zwar nicht der Weg, aber zumindest ein Streifen Schlamm notdürftig begehbar. Ich schmatzte am Rand der Pfütze unter Wandas Idiotinnenblick vorbei, gewann zwei Meter hinter ihr wieder feste, hellgelbe märkische Erde und eilte, ohne mich umzusehen, in Puvogels Baracke.

Jener Mann, der Jahrzehnte später den Reklameigel Mecki erfand, muss Ernie Puvogel gekannt haben. Überflüssig zu erwähnen, dass Puvogels Haarschnitt exakt an Igelstacheln erinnerte. In Vollendung eines Vorbildes, das der Krämer ja gar nicht kennen konnte, rollten Ernie Puvogels stechende, kleine Augen in Fettpolstern. Spitzten sich Mund und Nase zur Schnüffeltülle, als wolle er unter Hecken Feldmäuse, Bucheckern oder Haselnüsse aufspüren. Wölbte sich sein Bauch, trotz einschneidendem Hosenriemen, in makelloser Rundung.

Puvogels Beine waren kurz, selbstverständlich. Und es war ein Scherz der Natur, ein Webfehler in den Chromosomen, der seine Tochter mit plumpen Säulenbeinen ausgestattet hatte.

Puvogel Vater stellte den emsigen Igel dar. Als solchen benutzte seine Partei ihn gern bei illegalen Plakataktionen, wo Puvogel, bei Nacht und Dunkelheit blitzschnell die Kleisterquaste auf und ab schwingend, Beachtliches – wenn auch wenig Wirkungsvolles – geleistet hatte.

Flink bediente der Igel auch. Zwischen Ladentisch und Regalen, zwischen Gurkenfass und minimal zu seinen Gunsten falsch gestellter Präzisionswaage eilte er hin und her.

Puvogels Igel-Eigenschaften halfen ihm, zu überleben.

Puvogel reicht jetzt dem Kunden Karl Kaiser ein großes Paket Persil (es ist am Lager), nimmt den Hindenburg entgegen, den er, als einfachste Falschgeldprobe, auf einer Marmorplatte klingen lässt, die er sonst benutzt, um Wurst zu schneiden. Oder Schinken. Er gibt Wechselgeld heraus. Karl sagt »Auf Wiedersehen«, der neue deutsche Gruß musste ja hier nicht angewendet werden, und verlässt mit Persil Puvogels Laden.

Auf der Landenge waberte, wabbelte und wurzelte Wanda Puvogel. Doch sie drehte mir den Rücken zu, und so gab es eine gewisse Chance, wiederum den Schlammpfad benutzend unbehelligt an ihr vorbeizukommen. Ich presste das Persilpaket an meinen Leib. Schon klatschte mein rechter Fuß in den Schlamm, da drehte der Mädchenkoloss sich um. Nur halb. Aber eine einzige Bewegung ihres massigen, muskulösen Armes genügte, um mich und Persil in die Lache zu stoßen. Matsch auf Anzug und Leib. Gefühl des brackigen Wassers, das sich in Hose und Hemd sog. Nicht so schlimm! Die Katastrophe war, dass jenes große Persil-Normalpaket ins Wasser fiel. Schnell weichten grünweißes Reklamepapier und brauner Karton. Der weiße, kleinkörnige Inhalt verwandelte sich im Nu zu Brei und Schaum. Während ich auf allen vieren, das labberige Paket unnötig hochhaltend, an Land kroch, wusste ich, dass ich Unbrauchbares heimbringen würde.

Persil bleibt Persil. Aber nicht, wenn es in eine Pfütze fällt.

Auf der Landzunge trotzte Wanda Puvogel breitbeinig. Lächelte unirdisch. Ich hinterließ eine dunkle Tropfspur im hellen Sand.

Ingrid liebte ich. Ingrid wusste, weshalb Persil sich auflöste, weshalb Ede einen triefnassen Jungenhintern verbläute, denn Wanda Puvogel hatte die Schmach allen Mädchen gepetzt. Und Ingrid, breitwangig mit Spitzmund, viel Weiß in den Augen, weil sie nie geradeaus schaute, die hinterlistige, grätschbeinige, geschlechtduftende Ingrid machte von ihrem Wissen Gebrauch. Harry Piel, sang sie, sobald ich mich zeigte und bohrte den Finger untern Rock, Harry Piel steht am Nil, wäscht den Piepel mit Persil. Zwei Idole jener Zeit waren in einem Vers vereint: das Idealwaschmittel und ein trefflicher Filmdarsteller, der mittels bravem deutschem Schäferhund Räuber fing (Sein Freund Berry), sich jedoch auch selbst vom Tiger von Eschnapur den Rücken zerfleischen ließ. Mit viel Watte in der blutigen Wunde spielte Harry Piel weiter, um das exotische Zelluloidepos zu vollenden. Eine Freude der Produzenten. Aber das mit dem Nil und Persil war Erfindung des Reimes wegen, ein Vers, der nun auf den gesprungenen, schorfbedeckten Lippen Ingrids blühte.

Der frühgeilen Ingrid. Ihren Finger stets spielerisch im nacktstrotzenden Schlitz, gelb bepinkeltes Höschen beiseite schiebend, floss Obszönes aus ihrem Spucke spritzenden Mundwinkel.

Was sagte, geiferte, bellte sie?

Zitrone, Banane, an der Ecke steht ein Mann Zitrone, Banane, er lockt die Weiber an Zitrone, Banane, er nimmt sie mit nach Haus er zieht sie nackend aus er holt sein Dingsbums raus er nimmt sie mit ins Bett Zitrone, Banane, er fickt sie dick und fett.

Da lachte Ingrid und puhlte wild in ihrer Zitrone, dass Rock und Schürze sich bauschten.

Ich schämte mich. Mein neuestes Hosenmodell, von Minnamartha selbst geschneidert, war zu kurz ausgefallen. Fingerbreit zeigte es – im Stehen – weiße Unterhosenränder, und im Sitzen sogar etwas, was Ingrid frech und lüstern sofort mit »Banane, Banane« ansang. »Komm mit«, lockte sie, »komm mit«, zog hüpfend, Weiß im Auge, Zunge im Mundwinkel, Gigi die Freundin fort. Und bevor ich folgen konnte, kuschelten beide im Heuboden überm Kaninchenstall.

Mutig erklomm ich die Leiter, durch die angelehnte Klappe oben linsten Mädchenaugen, und Ingrid wisperte: »Nicht… du nicht. Wir… poussieren nämlich!« – Klapp, die Tür zu, und Kichern.

Rückwärts stieg ich die Leiter wieder hinab und trollte mich, Menschleins kleine Banane baumelte, wie sollte sie auch anders, mit sieben. Aber der Wunsch keimte, bei Minnamartha andere Hosen zu fordern.

Gigi aber nannten alle Stacks. Denn Gigi hatte dürre lange Beine, dürre lange Arme, und ein dürres langes Kinn. Gigi schüttelte eine rote, wilde, volle Mähne. Sie linste durch Fransen. Einmal schlug sie vor: »Wir spielen Puppentaufe!« Mutter mochte sie selbst nicht sein bei diesem Spiel, eher Pfarrer oder Patentante, aber Ingrid wollte auch nicht Mutter sein, und so holten sie Häschen, den Pummel mit den fetten Handgelenken. Häschen malte sich mit Bonbonrot die Lippen, trug Ohrringe von Dauerlutschern in durchstochenen käsebleichen Läppchen, besaß viele Puppen, eine sogar mit Schlafaugen. Ich wusste wie jeder Junge, dass Puppenköpfe mit gelindem Ruck aus ihrem Halsgelenk zu ziehen sind. Du hältst dann den Zelluloidtorso vor die Augen, und du schaust in eine Höhle, einen Dom, der von rosa Licht erfüllt ist. Hier wölbt sich oben der Bauch, mit winziger Rosette, eingestanztem Bauchnabel – das Ende rundet sich. Dass rosig in der Mitte ein Dorn von Fleisch klafft, die Lippen auseinanderdrängend und noch nicht vom Gebüsch sprießender Haare getarnt, verschweigen sie. Links und rechts, wie runde Türen zu Tresoren, blinken metallene Scheiben, runde Drehgelenke, mit denen die Puppenbeine in der Höhle befestigt werden, gehalten durch einen Dorn, dessen Enden gebogen sind. Und wir wissen wieder, welch ungleich größere Schwierigkeiten es wegen dieser Technik macht, einer Puppe die Beine auszureißen.

Weil ich aber so viel wusste über die Puppe, nicht mehr neugierig war, wurde sie ungefährdet getauft.

Wir tauften Häschens Schlafaugenpuppe, die längst Agathe hieß. Ich war der Vater, und Gigi, im eilends aus einer schwarzen Kalikoschürze improvisierten Talar, tatsächlich der Pfarrer. Wasser plemperte sie auf die Puppe. Und Häschen, Arm in Arm mit mir, der ich an rosa Höhlungen dachte, Häschen schrie: »Nicht so viel!« Denn durch die Augenhöhlen floss einiges in den Puppenkopf. Ingrid wiegte als Patin »Agathe vorher und Agathe nachher« im Arm und warf Blicke auf mich und die rothaarige Gigi und übersah einfach Häschen. Aber Häschen machte das nichts. Häschen glühte selbstzufrieden. Achtete auf Agathe. Gigi rief: »Ich taufe dich auf den Namen Agathe!« Ingrid tippte mit der Fingerspitze auf Agathes mechanische Augenlider. Gurgelnd schoss das Wasser in die Kopfhöhle, etwa eine halbe Tasse.

Dann, während alle Sandkuchen buken zum Festmahl und Häschen die Puppe, in deren Kopf das Wasser laut schülperte, zwischen duftigen Paradekissen in einem hochbeinigen Puppenwagen versorgte, meinte Ingrid, Taufe ist ein blödes Spiel. Sie meinte damit nicht etwa, dass man zeitnah nun auch im Spiel die Taufe durch Deutsche Weihe ersetzen müsse. Nein. So weit ging nicht einmal Ingrid. Hier im Vorort, links und rechts der schnurgeraden Lehrter Bahn, entlang am preußischen Königsweg, wurde weitergetauft.

Aber Ingrid fand es blöd. Mindestens diesen Teil jetzt mit gemütlichem Familienbeisammensein und Sandkuchenbacken. Das Luder, voll schlüpfriger Gedanken, fiel kichernd mit neuem Vorschlag mitten in die aufgereihten Sandkuchen, hintenüber, die Beine hoch, und enthüllte wieder ihr Höschen. »Wir spielen«, befahl sie, »Anatomie«. Dann stand sie auf. Ihr kleiner Hintern hatte die Sandkuchen zertrümmert und zwei halbkugelige Abdrücke hinterlassen, auf die ich starrte.

Anatomie? Auch wieder ein Wort, das ich nicht verstand. Wie poussieren. Heute würde ich in meinem Lexikon nachschlagen, würde lesen, dass Anatomie aus dem Griechischen kommt und Aufschneidung bedeutet oder Zergliederung. Würde mit Erstaunen feststellen, dass Anatomie in sechs Teile zerfällt, nämlich in… aber ich gehe zu weit, viel weiter als Ingrid, die nicht an Aufschneiden dachte und nicht an Zergliederung, und die keine Ahnung davon hatte (und, wenn sie noch lebt, auch heute noch nicht hat), dass Wissenschaften existieren, die in sechs Teile zerfallen. Ich werde demnächst das Lexikon daraufhin prüfen, ob nicht andere Wissenschaften in noch mehr Teile zerfallen. Ich bin überzeugt, man findet eine Menge.

Woher nahm Ingrid diese Bezeichnungen, die fremd und geheimnisvoll klingenden Wörter? Was wusste sie? Ich, den Blick noch immer auf die beiden halbrunden Vertiefungen im Sand gerichtet, ich wusste, dass ich nichts wusste.

»Anatomie«, riefen alle, riefen Gigi und Häschen, riefen Anneliese und Marie, die hinzugekommen waren. Hinter Ingrid stürzten alle in den unteren Schuppenraum, der scharf riechende Stallhasen beherbergte. Auf und zu klappte die mit Teerpappe benagelte Tür. Verschwunden waren sie. Nur Häschen blieb mit mir draußen, zurückgewiesen wie ich, aber pummelig zufrieden.

Bis dreiundvierzig sollten wir zählen: Wer mag das? So lange dauerte es. Dann riefen sie Häschen hinein, und ich stand allein vorm Karnickelstall, langsam ahnend, was Anatomie da drin bedeutete. Aber es war noch nicht so weit. Kein Laut drang aus dem Hasenverlies, auch keiner vom Anatomieopfer Häschen, dem dicklichen Nichtlangohr, das nur zufällig auf ihre Namensgeber stieß, dort drin. Im Halbdunkel. Ich dachte an kleine Finger, die Bohnen klaubten, Erbsen aus saftigen grünen Hülsen streiften. Kribbelige kleine Hände mit kurzen Fingern, benagten Nägeln. Wächserne Hülsen und weiße trockene Hülsen, die knallten, wenn der Finger sie drückte.

Wumm! Das war die Tür. Eine Hand winkte. Ich betrat den Karnickelstall. Einen Augenblick stand ich, bis meine Augen sich an die Dämmerung gewöhnten. Kein Laut. Nur das Rammeln der Karnickel in ihren Drahtkäfigen. Dann sah ich, unbeweglich in einer Reihe, die Mädchen. Links stand Häschen, und besonders deutlich sah ich Häschens untere Hälfte, denn Rock und Schürze hatte sie hochgeklappt bis übers Kinn. Beide Hände hielten mit gespreizten Fingern die leichten Kleidungsstücke. Das Untere verhüllte nichts, und ich sah, was ich an Zelluloidpuppen vermisste, und mitten drin ein Böhnchen oder eine kleine Erbse, zum Puhlen. Es ist ja zum Puhlen, zum Puhlen, dachte ich, sonst nichts. Nicht einmal ungebührliche Neugier.

Starr standen alle. Der Vorhang blieb geöffnet. Wachsbleich leuchtete Häschens Haut im Halbdunkel. Ingrid flüsterte: »Sie zeigt uns alles.« Und dann ihr Befehl: »Zeig’ uns auch was!« Ich reagierte nicht. Denn es kam mir nicht in den Sinn, dass sie meinten, was Ingrid schnauzig mit »Banane, Banane« anzusingen beliebte. Doch dann traten Ingrid und Gigi auf mich zu. Auf einmal roch es nach Haar und Haut, nicht mehr nach Kaninchen. Krabbelhände suchten nach Knöpfen, öffneten sie, und dann spürte ich, was puhlen hieß, Wohltat fremder Hände am anatomisch aus Schwellkörpern Bestehenden. Sie zerrten zart und holten das Wenige heraus, hielten es schonend fest, indem sie beiseitetraten, um den Freundinnen diesen Anblick zu gewähren. Alle Augen funkelten. Und schwer stießen die Mädchen süßen Atem in die dämmerige, heustauberfüllte Luft.

Doch, da: Begann der Stall zu schwanken? Es bebte und toste, und nun jagte auf nahen Schienen der D-Zug nach Lehrte vorüber, zwischen Bude siebzehn und achtzehn, donnernd, metallen, und schüttelte das Wenige aus feuchtwarmen Fingern. Es zog sich zurück wie die Schnecke ins Haus. Ich knöpfte zu. Häschen ließ die Röcke fallen. Der Zug donnerte westwärts. Als wieder Stille eintrat, hörten wir draußen von weither einen Pfiff: »Mariechenkommrunter-die Haustüristzu.« Es war Ede, mein Vater, der mich so zum Abendessen rief.

Karl geht den weißsandigen Gartenweg entlang, den rote und braune Klinker einfassen. Hinter ihm liegt teerpappeschwarz das Kaninchenhaus mit scharf riechenden westfälischen Rammlern und albinohaften Weißen Wienern -, er weiß das von früheren Besuchen – heute hat er nichts wahrgenommen – liegt die Anatomieburg, voll von süß duftenden, klebrigen Mädchen, deren Hände tasteten.

Karl spürt noch zartknochige Finger am Fleisch, am Bauch. Das wundert ihn. Er geht den Weg entlang, über den heute Nachmittag er, Gigi, Ingrid, Häschen in kindlicher, feierlicher Taufprozession zogen, eine mit Wasser bekleckerte Zelluloidpuppe zwischen sich. Um Häschens dicke Handgelenke zogen sich schmale Falten, bläulich eingebettet in orangenes Fett.

Karl sieht den bedeckten, milchigen Himmel und weiß, es ist achtzehn Uhr sechsundvierzig, und hinter ihm, hinter dem Hasenstall, auf den blanken Gleisen ist der Gegenzug fällig. Von Lehrte her, also in östlicher Richtung, zum Kopfbahnhof in der Stadt hin, wo ein fester Prellbock und vorher schon Vor- und Hauptsignale dem Ungetüm einer 2-C-2-Lokomotive von Kraus-Maffey ein vorläufiges, nach Osten hin sogar endgültiges Ende setzen. Jene Reisenden, die weiter wollen, nehmen Droschke, Stadtbahn oder Bus zu einem der anderen Kopfbahnhöfe, von denen aus Züge in die übrigen Himmelsrichtungen abgehen.

Karl bleibt stehen auf dem Gartenweg und dreht sich um, und da ist der Zug auch schon heran, tost vorbei hinterm Kaninchenhaus auf den blanken Gleisen. Karl freut sich. Bei Bude siebzehn oder achtzehn, wenn er die Strecke überschreitet, freut er sich jedes Mal, wie blank die Oberfläche der Gleise leuchtet, ein silbernes Doppelband, von rollenden und drückenden Rädern ins Rostrot hineingeschliffen.

Der Zug ist vorüber. Noch immer kein Anzeichen, dass die Mädchen ihr durchgeschütteltes Karnickel- und Anatomieheim verlassen möchten.

Karl sieht noch, dass der Heizer auf der 2-C-2 das Kesselluk aufreißt. Rote Lohe wabert zum niedrigen, zugestrichenen Himmel. Wird unter den Wolken fortgezerrt von der dahinfliegenden Lokomotive. Gegenzug. Das Wolkendach, so scheint es Karl, ist aufgerissen. Menschlein sieht ein brandrotes, in den Himmel gesengtes Loch, einen glühenden Schlitz. Und möchte der Heizer sein auf der 2-C-2, der schwarz glänzende Kohlenbrocken ins Kesselfeuer füttert.

Der Gegenzug war vorbei, der Flammenschein seines Kesselfeuers erloschen. Wiederum klang Edes Pfiff: »Mariechenkommrunter-dieHaustüristzu.«

Ich ging.

Minnamartha stand am Küchenherd. In schwerer Bratpfanne schleuderte sie die letzten Kartoffelpuffer, um damit einen Turm röscher Pfannenprodukte zu vollenden, der neben dem Herd auf einem Steingutteller gewachsen war. Ede las die Abendzeitung, essbereit am Tisch lümmelnd, und sagte: »Wo bleibst du denn nur?«

Auch er, das war mir bekannt, erwartete keine Antwort auf solche Fragen. Ich nahm Platz. Ede legte die Zeitung fort, und Minnamartha trug den Pufferturm auf. Groben Zucker darüber! Und aus der braunen Tasse Muckefuck Marke Kathreiner mit viel, viel Milch.

Ede zeigte sich im Puffervertilgen selbst mir überlegen, er brachte es in kürzester Zeit auf vier große, ich nur auf drei. Minnamartha lag, mit nur einem, um Runden zurück. Der halbe Turm blieb übrig. Zum kalt Essen.

In den Zwanziguhrnachrichten sagte der Sprecher, dass die Saar wieder einmal heimkehrte ins Reich. Abgesehen von einer kurzen Feier, war am nächsten Tag schulfrei.

Es war nötig, auf dem Weg zur Schule an Sturmführer Gallerts Fahnenmast vorbeizugehen, der am Tag der Saarbefreiung mit dem neudeutschen roten Tuch beflaggt war. Auf rundem weißen Feld trug es in der Mitte sein schwarzes Runenzeichen. Gallert hielt Wache in bedenklicher Umgebung, am Rand der soziverseuchten Kolonie Tausendschön. Sturmriemen unterm Kinn, achtete er darauf, dass Passanten dem Flaggentuch durch Armvorstrecken gebührend Ehre erwiesen, gleich, ob es sich im Wind entfaltete, in einer frischen Brise knatterte, oder nur lasch an der weißen Stange klebte.

Diesmal versäumte ich es beinahe, die Flagge zu grüßen. Erstaunlich. Denn sonst an Feiertagen mit Beflaggung bereitete es mir Vergnügen, sogar Umwege zu machen, um an Gallerts Gartenzaun vorbeizumarschieren und den Gruß anzubringen. Zu Gallerts Befriedigung. Zackig erwiderte er meine Ehrenbezeigung. Aber heute, an dem so hohen Tag, der auch Gallerts Erwartungen, Grußausübung der Passanten betreffend, ins Unermessliche steigerte, versäumte ich fast das Anheben des rechten Armes. Mäßig grüßend im letzten Augenblick in miserabler Haltung, stolperte ich an Gallert und Fahne vorbei. Den braununiformierten Symbolwächter ließ ich mit erstaunten Augen zurück.

Ich dachte nach. Weibliches? Gestern im Karnickelstall hatte ich es neu erfahren. Flinkgliederige Ingrid, knöpfende Gigi, auch Stacks genannt. Schwerer aber wog das andere Symbol für Weiblichkeit in meinem Leben, schwerer körperlich und schwerer seelisch:

Minnamartha, Menschleins Mutter. Meine Mutter.

Mutter. Oder Mami, letzteres verschämt, meist in Frageform benutzt: Mahmieee? Oder, fordernd, Mami! Vierjährig, stand ich heulend, brüllend am Gartentor, fragte Passanten: Haben Sie nicht meine Mutter gesehen? Versuchte, Minnamartha zu beschreiben, wenn Hilfreiche fragten: Wie sieht sie denn aus, deine Mutter? Aber ich konnte es nicht. Noch nicht. Doch wenig später erwachte das Bild in mir. Die Riesin Mutter wuchs vor meinen Augen.

Das erste Bild: Minnamartha im linken der auseinandergerückten Ehebetten aus braunfurniertem Holz. Die Maserung, auf vier quadratischen Feldern diagonal und regelmäßig zu einem mathematisch genau platzierten Mittelpunkt hinstrebend, wirkte perspektivisch, wie ein um 45 Grad gekanteter Bergwerksstollen, der vom Beschauer aus, scheinbar enger werdend, in einen imaginären Flöz hineinlief. Mutter lag unterm dicken Plümo mit Rosenmuster, schon morgens die Brille wieder auf der Nase, Buchstaben fressend aus raschelnden Zeitungen oder Modeheften der Berliner Hausfrau, denen während der Lektüre Schnittmusterbeilagen entglitten, über die schneeig rosane Schräge des Plümohanges hinabrutschten, um sich auf dem Fußboden neben dem Bett anderen gestürzten oder weggeworfenen Druckerzeugnissen beizugesellen.

Sogar das Nachtgeschirr war zugedeckt mit mehreren gefalzten Lagen der Berliner Morgenpost, allgemein Mottenpost genannt.

Hatte Minnamartha genug Buchstaben gefressen, so legte sie mit wiederholtem Seufzen die letzten Blätter fast kraftlos aus der Hand. Vorsichtig hob sie die Brille von der Nase, die einen Platz auf dem überfüllten Nachttisch fand. Neue Seufzer sodann, und jetzt wurde das schwere Plümo gelüftet, zurückgestoßen zum Fußende, wo es mit einem Zipfel in den perspektivischen Bergwerkstunnel ragte. Da schwang sie die Beine über den Bettrand, stieß blasse Füße in die umherliegenden Druckschriften, und saß nun vorgebeugt, als ob sie sich zu viel zugemutet hatte. Doch dann lüftete sie, mit einer fast leichten Bewegung, das Gesäß. Sie zerrte, krempelte das Nachthemd am Körper nach oben und enthüllte rosig-gelbe Massen, von untadeliger, weicher Haut überzogen. Der Kopf verschwand im zarten Gefältel, tauchte, mit wirren Locken, die brennscherenscharfe Kanten hatten, wieder auf: Es war vollbracht! Das Hemd fiel neben Minnamartha zusammen. Und ihre Hände mit harten Fingernägeln hoben schwere Brüste in den Morgen.

In der Nähe auf dem Stuhl, leicht zu ergreifen, lag ein Stoffstück, das ich lange für eine doppelte Einkaufstasche hielt, bis ich mich überzeugte, dass es dazu diente, Minnamarthas Brüste zu verstauen und mittels breiter Schulterträger in eine Lage zu bringen, die modischen Vorschriften oder einfach Minnamarthas Wünschen entsprach. Das Kleidungsstück war vorn zu schließen, was viel bequemer sein muss als es die Machart mit hinterem Verschluss zulässt.

Die Brüste wurden also verstaut, zwei rosige Kleckse schimmerten vorn durch den prall gefüllten Stoff. Danach folgte die Anlegung eines damastenen, in sich gemusterten Hüftpanzers, Strümpfe wurden ächzend über die merkwürdig schönen, von keiner Krampfader verunstalteten Beine gerollt und mit elastischen Bändern am unteren Panzerrand befestigt, und so fort, bis Minnamartha tagbereit das Schlafzimmer verließ.

Hinter ihr, an der Wand über den beiden Betten, schaute ein ebenfalls stattlicher Engel auf einer Reproduktion nach Rubens aus schwerem Goldrahmen: Ein fixiertes Abbild dessen, was soeben das Morgenlicht in diesem Schlafzimmer erspäht hatte, in herrlicher Bewegung, atmend.

Eine gute Stunde später, das Läutwerk ihrer Schürzentaschenuhr hatte schon mehrere Male angeschlagen, beschloss der Rubensakt vom Bettrand, der atmende, beschloss Minnamartha vielleicht, ihr Menschlein an die Hand zu nehmen, um es in die große Stadt zu führen. Auf schnurgerader, kilometerlanger Straße riss sie mich, handhaltend, zum Vorortbahnhof. Schräg aufwärts blickte ich, sah in Verlängerung meines Körpers einen Säulenarm, nackt im Sommer, weil dieses Jahr die Berliner Hausfrau im Modeteil ärmellose Kleider vorschlug. So, als hätte nie einer ihrer Redakteure einen strotzenden Rubensakt gesehen.