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Alastair Bonnett bestimmt mit seinem bahnbrechenden Buch die Grundlagen der Rassismusforschung neu. Er zeigt: Die westlich zentrierte Forschung ignoriert einen Großteil der Menschheit und lässt antirassistische Stimmen jenseits des Westens im internationalen Diskurs ungehört verhallen. Von der Masseninhaftierung von Uigur:innen in China über den Genozid an den Jesid:innen durch den ›Islamischen Staat‹ bis zur gewaltsamen Assimilierung ethnischer Minderheiten in der Sowjetunion – das alles sind Formen von Rassismus und sie alle werden nicht als solche erkannt, weil sie unserem gewohnten Bild davon widersprechen. Dementsprechend liefert Bonnett eine dringend notwendige Aktualisierung unseres Rassismusbegriffs. Er untersucht multiple Rassismen als ein allgemeines Potenzial pluraler Modernen. Anhand zahlreicher historischer und aktueller Fallbeispiele verdeutlicht er, wie der moderne Drang nach Kategorisierung, Hierarchisierung und Auslöschung menschlichen Lebens überall auf der Welt zutage tritt – und wie sich betroffene und solidarische Menschen allerorts dagegen zur Wehr setzen. Ein Augenöffner und eindringlicher politischer Appell.
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Seitenzahl: 391
Alastair Bonnett ist Bestsellerautor und Professor für Sozialgeografie an der Newcastle University. Er forscht und schreibt zu Rassismus, Identität und Weißsein ebenso wie zu untergehenden und neu geschaffenen Inseln, Karten und obskuren Orten.
Alastair Bonnett
Multiple Rassismen
Für eine globale Perspektive auf ein globales Phänomen
Aus dem Englischen übersetzt von Felix Schüring
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar
Alastair Bonnett:
Multiple Rassismen Für eine globale Perspektive auf ein globales Phänomen
Aus dem Englischen übersetzt von Felix Schüring
1. Auflage, März 2024
eBook UNRAST Verlag, April 2024
ISBN 978-3-95405-187-8
© UNRAST Verlag, Münster
www.unrast-verlag.de | [email protected]
Mitglied in der assoziation Linker Verlage (aLiVe)
Titel der Originalausgabe:
Multiracism. Rethinking Racism in Global Context
© Alastair Bonnett 2022
Diese Ausgabe wird in Abstimmung mit Polity Press Ltd., Cambridge, veröffentlicht.
Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme vervielfältigt oder verbreitet werden.
Umschlag: Felix Hetscher, Münster
Satz: Andreas Hollender, Köln
Danksagung
Vorwort zur deutschen Ausgabe
Einleitung: Rassismen neu denken
Was ist Rassismus?
Rassismus ist nicht nur Schwarz und weiß
Der westliche Blick
Aufbau des Buches
Kapitel 1: Rassismen jenseits des Westens: Wurzeln und Wege
Erklärungsansätze für die weltweite Existenz von Rassismen
Warum Rassismus modern ist
Pluralisierte Modernen
Schlussfolgerung: Moderne Schauplätze des Rassismus
Weiterführende Lektüre
Kapitel 2: Geschichte und Nostalgie: Brüche, Rassismus und die Erfahrung des Verlusts
Brüche und Rassismen
Die Nutzbarmachung der Vergangenheit: Nostalgie und Rassismus
Schlussfolgerung: Moderne Turbulenzen
Weiterführende Lektüre
Kapitel 3: Religiöse Wut: Rassistische Dimensionen von Fundamentalismus, Kastendiskriminierung und Islamfeindlichkeit
Radikaler Islamismus und Rassismus
Kastendiskriminierung und Rassismus
Antimuslimische Politik und Rassismus in Indien und China
Schlussfolgerung
Weiterführende Lektüre
Kapitel 4: Politische Schauplätze der rassistischen Moderne: Kommunismus, Kapitalismus und Nationalismus
Moderne und Rassismus in der kommunistischen UdSSR
Moderne und Rassismus im kapitalistischen Indonesien
Rassistischer Nationalismus
Alles zusammen? Die Überschneidungen von Kapitalismus, Sozialismus, Nationalismus und Religion im Südafrika der Apartheid
Weiterführende Lektüre
Kapitel 5: Bewegliche Symbole: Weißsein in Japan und Schwarzsein in Marokko
Die Globalisierung der Konsumgesellschaft als Globalisierung des Weißseins
Anti-Schwarzer Rassismus in Nordafrika
Schlussfolgerung
Weiterführende Lektüre
Fazit
Anmerkungen
Bibliografie
Danke an Ian Law und Anoop Nayak, an Jonathan Skerrett und Karina Jákupsdóttir von Polity, an Tim Clark für sein Lektorat sowie an die vielen Studierenden, die an der Newcastle University an meinen Seminaren teilgenommen haben, insbesondere an ›Geographies of Race and Nation‹ und ›International Perspectives on Race and Racism‹. Danke auch an Rachel Holland für die Idee des Titelbildes. Ich habe von ihnen allen viel gelernt. Ein Hinweis: Alle in diesem Buch vertretenen Meinungen sind meine eigenen.
Debatten über Rassismus weisen eine merkwürdige geografische Dimension auf. An vielen Orten dieser Welt wird über Rassismus in Bezug auf zwei Orte diskutiert: das jeweils eigene Land und die USA. Amerika schwebt über dem ganzen Thema, mal als Orientierungspunkt, mal als Inspiration und mal als begrenzende Scheuklappen. Die weltweite Pluralität von Rassismus wird zwar häufig anerkannt, aber sie ist selten Gegenstand genauerer Nachforschungen und die Implikationen dieser Pluralität werden kaum verstanden. Eine der Herausforderungen beim Schreiben dieses Buches war, dass es so wenig Forschung – gleich welcher Sprache – gibt, die sich dem Rassismus in Asien und Afrika zuwendet.
In den vergangenen zehn Jahren hat sich eine neue Generation von Aktivist:innen und Forscher:innen herausgebildet, die über Rassismus an Orten wie China und Marokko schreiben. Allerdings zeigt sich die Entwicklung nur in einigen Dutzend Ländern, und sie hat noch nicht die Brille – das international vorherrschende Paradigma – verändert, durch die Rassismus heutzutage betrachtet wird. Die Amerikanisierung dessen, was bezeichnender- und problematischerweise manchmal ›the race debate‹[1] genannt wird, schreitet weiter voran. In Multiple Rassismen versuche ich zu zeigen, dass die Behandlung der USA als ein Standardmodell für das Reden über Rassismus und für einen antirassistischen Aktivismus, als Musterbeispiel für Reaktion und Widerstand, zu einer Universalisierung amerikanischer racial Identitäten führt, vor allem des Weißseins und des Schwarzseins. Eine weitere Konsequenz dessen ist, dass Englisch in diesen Debatten zur Standardsprache geworden ist – ein wichtiger Aspekt, den ich, das merke ich mittlerweile, im Buch hätte tiefgehender behandeln sollen. Diese Einsprachigkeit stellt für die Internationalisierung der ganzen Debatte eine echte Herausforderung dar. Sie bedeutet, dass die meisten Aktivist:innen und Forscher:innen von Vornhinein von der ›internationalen Debatte‹ ausgeschlossen sind, einer Debatte, die überhaupt nicht ›international‹, sondern vielmehr euro-amerikanisch, anglo-amerikanisch und häufig auch einfach nur amerikanisch ist.
Wenn einem Großteil des Planeten keine Aufmerksamkeit zuteilwird, gedeihen verschiedene Formen der Diskriminierung, die jedoch für die Außenwelt völlig unsichtbar bleiben. Manchmal aber erreicht diese Diskriminierung ein Ausmaß, das trotz allem schwer zu ignorieren ist. Die Behandlung der Jesid:innen in Syrien, der Uigur:innen in China und der Rohingya in Myanmar sind dafür aktuelle Beispiele. Es ist bezeichnend, dass die internationale Reaktion angesichts solcher Verfolgungen häufig eine von offen eingestandener Ignoranz ist. Kolonisierung, Globalisierung und Amerikanisierung haben die Welt kleiner gemacht, aber die Menschen im Westen sind nach wie vor über die vielen Identitäten und Konflikte in Asien und Afrika nicht nur schlecht informiert, sie begegnen ihnen häufig auch mit völliger Gleichgültigkeit. Wie das angesichts von Jahrhunderten der Kontrolle, die Europa über diese Kontinente ausübte, sein kann, erschließt sich mir nicht. Als Brite ist es mir ein Rätsel, warum die Menschen in Großbritannien so fasziniert von den USA sind, dagegen aber völlig uninteressiert an den Ländern, in denen Großbritannien noch bis vor Kurzem eine bedeutende Präsenz hatte, wie beispielsweise Indien, Bangladesch oder Malaysia. Indien, China und in geringerem Umfang auch andere asiatische und afrikanische Staaten gewinnen zunehmend an Einfluss. Die Geschichte, die Politik und die Konflikte dieser Länder prägen das Weltgeschehen.
Multiple Rassismen zeigt die Komplexität von Rassismus auf. Rassismus lässt sich nicht auf einen einzelnen Ursprung zurückführen und die Bedeutung des Wortes ›Rassismus‹ variiert, abhängig davon, wer und wo man ist. Doch nur, weil Rassismus auf unterscheidliche Weise und an unterschiedlichen Orten zutage treten kann, sind Pauschalisierungen wie »alle sind rassistisch« oder »Rassismus ist immer gleich schlimm« noch lange nicht gerechtfertigt. Machtunterschiede bedeuten, dass einige Formen von Rassismus verheerender sind als andere. Ich habe es mir in diesem Buch nicht zur Aufgabe gemacht, eine universell gültige Definition von Rassismus vorzubringen oder die verschiedenen historischen Entwicklungen des Begriffs aufzudröseln. Ich will nicht noch eine weitere westliche Theorie des Rassismus für global gültig erklären, sondern stattdessen versuchen, die vielen verschiedenen Formen des Rassismus zu identifizieren, zu vergleichen und zu verstehen, die so viel menschliches Leben auf dieser Welt prägen und zerstören.
Das zentrale Argument dieses Buches ist, dass Rassismus eine komplexe Geschichte aufweist, mit vielfältigen historischen Wurzeln und Wegen. Dabei werden auf diesen Seiten Beispiele von Rassismus in Asien und Afrika vorgestellt, um zu untersuchen, wie die Pluralität des Rassismus mit der Pluralität der Moderne zusammenhängt.
In dem akademischen Feld der Ethnic and Racial Studies überwiegen Untersuchungen, die dem Rassismus im Westen nachgehen. Viele dieser Untersuchungen nehmen an, Rassismus sei eine spezifisch westliche, europäische und weiße Ideologie und Praxis. Diese Annahme spiegelt die Erfahrung des Rassismus im Westen wider, führt jedoch mitunter dazu, dass Rassismus darüber hinaus und damit im Großteil der Welt ignoriert, heruntergespielt oder gar vollumfänglich geleugnet wird, was wiederum Versuche in vielen Regionen der Erde erschwert, Gleichberechtigung zu erkämpfen. So war sich beispielsweise Chinas ehemaliger ›Oberster Führer‹ Deng Xiaoping sicher: »Seit das Neue China 1949 begründet wurde, hat es niemals irgendeine Form der ethnischen Diskriminierung im Land gegeben«.[1] Diesen Punkt führte später der chinesische Premierminister Zhao Ziyang weiter aus, als er erklärte, Rassismus gebe es »überall auf der Welt, außer in China«.[2] Eine damit verbundene und offiziell vertretene Position ist, dass ›Anstiftung von außen‹ der Grund für Rassismus und ethnische Spannungen im Land sei.[3] Doch entgegen der Behauptung seiner Nichtexistenz lässt sich Rassismus in China viel eher als weitverbreitet charakterisieren. Dikötter legt nahe, dass die Leugnung dieser Tatsache »eine rhetorische Strategie [ist], die genutzt wird, um die Einführung eindeutiger Definitionsmerkmale für rassistische Diskriminierung im Rechtssystem des Landes hinauszuzögern«.[4] Auch in anderen Ländern finden sich vergleichbare Muster der Leugnung trotz überwältigender Gegenbeweise. Es ist beispielsweise einerseits möglich, zu lesen, dass Rassismus »in Indien wild um sich greift«, und andererseits, dass er dort nicht existiert, denn »›Rassismus‹ wird verstanden als etwas, das weiße Menschen uns antun«.[5] In einigen Fällen wird die Existenz von Diskriminierung geleugnet, indem ethnische oder racial Unterschiede überhaupt nicht anerkannt werden. Die Haltung der pakistanischen Regierung, wie sie 1977 in ihrem Bericht an die UN zum Ausdruck kam, lautet: »Es gibt [in Pakistan] keine racial oder ethnischen Minderheiten, nur religiöse Minderheiten.«[6] Da jedoch ethnische Spannungen ein zentrales Merkmal pakistanischer Politik sind, mutet diese Behauptung etwas bizarr an. Zum Teil spiegelt sich darin die der Ethnizität übergeordnete Rolle des Islam bei der Gründung des pakistanischen Staates wider, zugleich aber verweist dies auf eine lange Tradition der Verweigerung von unbequemen Tatsachen.[7] Diese Art der Verweigerung ist häufig verbunden mit einer populistischen politischen Agenda. Verweise auf den türkischen Völkermord an den Armenier:innen zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden beispielsweise von immer neuen türkischen Regierungen mit laut erhobenen Vorwürfen eines vermeintlichen ›Türkei-Bashings‹ gekontert. Als die Schweizer Bundesversammlung 2003 den Völkermord an den Armenier:innen offiziell anerkannte, flog Doğu Perinçek, ein einflussreicher linksnationalistischer türkischer Politiker, mit einem Gefolge aus 160 Akademiker:innen und Staatsbeamt:innen in die Schweiz, um eine Reihe von Vorträgen zu halten, in denen er argumentierte, der Völkermord sei »eine internationale [und] imperialistische Lüge« und dessen Verbreitung hänge mit einem »rassistischen Hass« auf sein Land zusammen.[8] In anderen Kontexten wiederum wird Rassismus zwar als solcher anerkannt, jedoch auf solch begrenzte Art und Weise definiert, dass dessen Bedeutung stark geschmälert wird. Takezawa beispielsweise argumentiert im Falle Japans, dass »der Diskurs über Rassismus sehr eng geführt wurde«, um spezifische und begrenzte Probleme, wie die »Diskriminierung von Ausländer:innen«, ansprechen und zugleich die weitverbreitete Vorstellung eines ethnisch homogenen Japans weiterhin unangetastet lassen zu können.[9]
Die Bestimmung von Rassismus als ein spezifisch westliches Projekt und somit als etwas, das auf eine einzelne geografische und politische Quelle zurückzuführen sei, erklärt sich durch die weltverändernde Wirkung des westlichen Kolonialismus sowie durch die Versuche der intellektuellen Begründung einer weltweiten europäischen Vorherrschaft und deren Durchsetzung ab dem 17. Jahrhundert. Auch wenn ich mich auf Asien und Afrika konzentriere, zeigt dieses Buch, wie der von westlichen Nationen und Imperien ausgehende Rassismus weltweit und in vielen unterschiedlichen Kontexten rassistische Haltungen und Handlungsweisen ausgelöst und geschaffen hat. Und während verschiedene Rassismen zwar verglichen werden können, sind sie doch nicht gleich in ihren Auswirkungen. Der westliche Rassismus war deshalb so bedeutend, weil der Westen im Vergleich zu anderen Orten mehr Macht besaß. Doch Macht verschiebt sich und damit auch die Macht verschiedener Rassismen. Um zu erklären, was ich damit meine, betrachten wir erneut das Beispiel Chinas. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts ließ sich etwas beobachten, was als ›rassifizierte chinesische Moderne‹ bezeichnet werden könnte (auch wenn diese Bezeichnung nicht ganz unproblematisch ist, da China ebenso wenig wie der Westen eine singuläre oder homogene Form des Rassismus oder der Moderne aufwies), allerdings besaß das Land wenig Macht, andere Gesellschaften jenseits der eigenen Grenzen zu beeinflussen. China war arm und uneins. Heute jedoch ist China eine Weltmacht. Chinas Infrastrukturinitiative einer ›neuen Seidenstraße‹, bei der in Asien, Afrika, Amerika und Europa neue Straßen, Häfen und vieles mehr gebaut werden, wirkt sich auf das Leben eines Großteils der Weltbevölkerung aus.[10] In den letzten vierzig Jahren gab es eine deutliche Verschiebung weg von der Dominanz des Westens und der politischen Rivalität entlang der Achse Washington-Moskau, hin zu einer neuen, polyzentrischen Machtverteilung. Darüber hinaus lebt heute die Mehrheit der Weltbevölkerung in Ländern mit mittlerem oder hohem Bruttonationaleinkommen.[11] Der Anbruch eines ›asiatischen Jahrhunderts‹ zeigt sich überzeugend bei einem Vergleich des starken Wirtschaftswachstums in den Ländern Ost-, Südost- und Südasien mit den kleinen Wachstumsraten, die für viele westliche Länder typisch sind. Ich bezweifle, dass viele Menschen, wenn sie, sagen wir, aus den neuen urbanen Zentren Chinas mit ihren spektakulären Skylines in meine Heimatstadt – die eher heruntergekommene post-industrielle Stadt Newcastle im Nordosten Englands – reisen würden, das Gefühl hätten, sie wären soeben aus der ›Dritten Welt‹ in die ›Erste Welt‹ getreten. Man könnte besser von einer Reise aus einem neuerlich aufgestiegenen Zentrum hin zu einem ehemals bedeutenden Teil der Weltwirtschaft sprechen. Einfluss und Macht haben sich verschoben und der vertraute Gedanke von einem ›reichen Westen‹ und dem ›armen Rest‹ ist zu einem Anachronismus verkommen, vielleicht gar zu einer »nostalgischen Fantasie«.[12] Wir können diese Beobachtung auch umformulieren und noch erweitern: Allein auf die Macht des Westens und auf Unterdrückung und Widerstand jenseits des Westens zu fokussieren, ist nicht bloß veraltet, es ist eurozentrisch.
Eine ›post-westliche‹ Wende scheint bei Forschungen mit globaler Ausrichtung unausweichlich zu sein, allerdings bieten sich auch viele Möglichkeiten, eine solche Neuausrichtung zu missbrauchen.[13] Friend und Thayer, die am Beispiel Chinas über die neue Reichweite nicht-westlicher Einflüsse schreiben, artikulieren eine der westlichen Reaktionen, die wir – so nehme ich an – in den kommenden Jahren vermehrt beobachten werden. Sie zeigen mit dem Finger auf »den Aufstieg einer Supermacht, in der intolerante Ansichten als legitime Meinungen im Diskurs akzeptiert werden«.[14] Friend und Thayer argumentieren, dass chinesische Einflüsse deshalb ein Problem darstellten, weil der chinesische Rassismus ein Problem darstelle. Sie behaupten gar, Rassismus sei vielmehr ›deren‹ Problem denn ›unseres‹ und dass sich die Überlegenheit des Westens in dessen antirassistischer, multikultureller und kritischer Kultur zeige:
»Die zentrale Frage für die Zukunft des Friedens und die Stabilität der internationalen Politik ist, wie China den Rest der Welt sieht und ob die vom Westen geschaffenen Normen, insbesondere gegen Rassismus und Ausbeutung, auch unter einer chinesischen Hegemonie aufrechterhalten werden könnten. Bei dem, was wir über die chinesischen Gedanken diesbezüglich wissen, fällt die Antwort im Hinblick auf die Aufrechterhaltung einer globalen Kultur des Antirassismus nicht positiv aus.«[15]
Diese Gedanken sind Ausdruck eines neues Narrativs kosmopolitischer Überlegenheit, in dem die internationale Legitimität von Macht an die – vermeintlich einzigartig westliche – Fähigkeit geknüpft ist, Rassismus zu hinterfragen. Ich gebe seit mehr als drei Jahrzehnten Uni-Seminare zu internationalen Perspektiven auf Rassismus und eines der ersten Dinge, die ich meinen Studierenden beibringe, ist, dass sie Phrasen wie ›wie China den Rest der Welt sieht‹ und ähnliche Konstruktionen nicht verwenden sollten (andere Beispiele wären: ›was Kenia denkt‹; ›was Japan tut‹). Derartige anthropomorphe nationale Verallgemeinerungen sind manchmal schwierig zu vermeiden, aber sie werden spätestens dann zu einem Problem, wenn sie den Kern des eigenen Arguments bilden. Eine weitere Versuchung, von der ich meine Studierenden fernzuhalten versuche, ist, Nationalstaaten danach zu ordnen, wie rassistisch sie sind. Wichtig ist nicht, ob China ›rassistischer‹ oder ›weniger rassistisch‹ ist als andere Orte, wichtig ist, dass das, was China tut, folgenschwerer ist, was damit auch auf seine Traditionen der Diskriminierung wie auch seine Traditionen der sozialen Gerechtigkeit zutrifft.
Dem Konzept der multiplen Rassismen [multiracism], das ich in diesem Buch verwende, liegen zwei zentrale Anliegen zugrunde – ein empirisches und ein theoretisches. Das empirische ist die regionale, nationale, internationale und transnationale Erforschung ethnischer und rassistischer Diskriminierung in Asien und Afrika. Ich ordne dieses Material thematisch nach historischen, religiösen, politischen und wirtschaftlichen Ausdrucksformen von Rassismus in verschiedene Kapitel. Eine weltweit vergleichende Forschung zu diesen Themen ist nicht gänzlich neu, aber sie bleibt größtenteils vereinzelt und befindet sich noch immer nicht im Mainstream der Ethnic and Racial Studies. Zwei bedeutende frühe Studien, die vergleichend vorgingen, wurden bereits 1948 veröffentlicht: Cox’ Kritik der Vorstellung, dass die ›race relations‹ in den USA eher einen Kasten- denn einen Klassencharakter aufweisen würden, sowie Furnivalls kolonial-administrative Forschung zum ›Pluralismus‹ in Südostasien.[16] In späteren Jahrzehnten folgten eine Reihe von post-imperialen Überblicksarbeiten.[17] Doch all diese Arbeiten konzentrierten sich entweder auf europäische und US-amerikanische Kontexte oder/und auf weiße Aktionen und nicht-weiße Reaktionen. Pierre van den Berghe bemerkte 1967, dass im Verlauf »der vergangenen drei Jahrzehnte« die Literatur zu ›race relations‹ von amerikanischen Studien dominiert worden war. Er fügte hinzu, dass der »Mangel an soziologischer Literatur« bezüglich »wichtiger multi-racial oder multi-ethnischer Gesellschaften«, wie etwa Indonesien, »entmutigend ist«.[18] In den darauffolgenden fünfzig Jahren sollte sich daran wenig ändern.
Asien und Afrika beherbergen etwa 80 Prozent der Weltbevölkerung. Sie sind weder peripher noch eine ›Dritte Welt‹, sondern kulturell, wirtschaftlich und politisch zentral. Die Notwendigkeit einer Internationalisierung der Ethnic and Racial Studies erklärt Suzuki folgendermaßen:
»Die Forschung muss sich zwingend von den auf die USA und Europa fokussierten Modellen und Paradigmen von race befreien, um (1.) objektiv die Realitäten von racial und ethnischen Phänomenen in der nicht-westlichen Welt analysieren zu können, ohne dies durch eine vorangenommene Perspektive Weißer Vorherrschaft zu tun, und (2.) um eine konstruktive Feedbackschleife zu schaffen, die Selbstreflexion ermöglicht angesichts der gegenwärtigen Dominanz der US-amerikanischen und europäischen Ansätze im Zeitalter der Migration, in welchem die Welt von unterschiedlichen rassistischen Ideologien und multiplen Formen des Ethnozentrismus heimgesucht wird.«[19]
Die geografische Vielfalt von Rassismus wird gemeinhin anerkannt. 1990 drängte Goldberg auf eine Abkehr von singulären Vorstellungen von Rassismus, hin zu einer Beschäftigung mit Rassismen: »Die Annahme eines einzigen, monolithischen Rassismus wird ersetzt durch eine Kartierung der vielfältigen historischen Formen von Rassismen.«[20] Allerdings war diese geografische Wende nicht dazu gedacht, die Idee von Rassismus als »europäische Erfindung« und »europäisches Phänomen« zu verwerfen, sondern es ging vielmehr darum, sie empirisch zu untermauern.[21] Tatsächlich versäumen selbst vorgeblich internationale Arbeiten in den Ethnic und Racial Studies es regelmäßig, Afrika oder Asien miteinzubeziehen. Ein Beispiel: Keines der dreiundvierzig Kapitel des Routledge International Handbook of Contemporary Racisms wirft einen Blick auf eine Region jenseits von Europa oder den Amerikas.[22] Das Gleiche gilt für den von Bowser herausgegebenen Band Racism and Anti-racism in World Perspective.[23] In anderen ›internationalen‹ Sammlungen finden wir nur einen oder zwei Aufsätze zu Rassismus in Asien oder Afrika.[24]
Der westlich-zentrierte Blick auf Rassismus ist derart verbreitet und beständig, dass wir von einem Paradigma sprechen können. Ein Paradigma ist eine Weltsicht, die die Grenzen einer Debatte reguliert und auf Gegenbeweise mit der Weigerung reagiert, diese anzuerkennen, indem sie diese als außerhalb der Norm darstellt oder als ledigliche Ergänzung marginalisiert. In den Ethnic and Racial Studies bleibt das ›Paradigma des westlichen Rassismus‹ größtenteils aufgrund der Art und Weise bestehen, wie Rassismus theoretisiert wird: Er wird verstanden als ein Produkt der Moderne und die Moderne wiederum wird verstanden als eine Schöpfung des Westens. Bevor ich mich dieser Theorie selbst widme, muss ich auf einige der neueren empirischen Arbeiten eingehen, die diese Theorie heute zunehmend infrage stellen. In den letzten Jahrzehnten wurden gleich eine ganze Reihe von Studien veröffentlicht, die sich zuvor vernachlässigten Regionen, Ländern und auch geschichtlichen Epochen gewidmet haben. Was diese Studien häufig teilen, ist die Schlussfolgerung, dass ein alleiniger Fokus auf westliche Formen des Rassismus zu kurz greift. Law benennt die Vorstellung, »dass Rassismus eine rein europäische Erfindung sei« als Beispiel »überragender Arroganz«.[25] Ähnlich formulieren es Berg und Wendt: »Die Vorstellung, dass der Westen den Rassismus dem Rest der Welt einfach übergestülpt hat, nach einem Top-Down-Prinzip, spiegelt womöglich eher eine eurozentrische Interpretation einer eurozentrischen Ideologie wider.« Dunaway und Clelland fordern einen Ansatz, der »die Analyse globaler ethnischer/rassistischer Ungleichheit dezentriert, indem die nicht-westliche Semi-Peripherie in den Vordergrund gerückt wird«.[26] Dikötter sorgt sich darum, dass der »eurozentrische Bias« in den Ethnic and Racial Studies bedeute, »die anhaltende Macht von moralischen und geistigen Traditionen in Asien, Afrika, Amerika und im Nahen Osten zu irgnorieren«. Auf diese Weise, so schreibt er, wird ein Großteil der Weltbevölkerung dargestellt
»als rein passive Empfänger:innen von fremden Gedanken und Dingen, wenn wir doch vielmehr die zentrale Bedeutung menschlicher Handlungsmacht anerkennen sollten, da historische Akteur:innen auf der ganzen Welt Rassismus auf ihre jeweils spezifische Art interpretiert, adaptiert, verändert und sogar abgelehnt haben.«[27]
Der »Mangel an Literatur zu den Problemen von Rassifizierung und Rassismus in nicht-weißen Kontexten« ist zwar weithin bekannt, doch wird sich seiner kaum angenommen.[28] Spickard schreibt in der Einleitung des von ihm herausgegebenen Sammelbandes zu internationalen »racial und ethnischen Systemen«, dass die größte Herausforderung darin bestand, »Menschen mit Fachkompetenz zu genügend Orten zusammenzubekommen«.[29] In einem anderen Sammelband zu race und Rassismus in Ostasien macht Dikötter einen ähnlichen Punkt und erklärt: »Der gegenwärtige Stand der Forschung und das vorhandene Fachwissen zu diesen Themen ist gefährlich unterentwickelt.«[30]
Gefährlich »unterentwickelt« – aber manchmal auch schlicht gefährlich. In vielen Ländern dieser Welt kann über Rassismus zu schreiben dazu führen, bedroht oder inhaftiert zu werden, manchmal auch Schlimmeres. Das ›Verschwinden‹ von Aktivist:innen und Forscher:innen, die sich gegen die Diskriminierung von Minderheiten einsetzen, ist weit verbreitet. Andere hingegen treibt es deshalb ins Exil.[31] Selbst in traditionell eher offenen Ländern wie Indien, der Türkei und Malaysia wird kritische Forschung und Lehre momentan aus den Universitäten verdrängt.
Dikötter bemerkte zu seinem 1992 erschienenen Buch The Discourse of Race in Modern China, dass es »die erste systematisch durchgeführte historische Analyse eines rassistischen Überzeugungssystems außerhalb Europas« war.[32] Auf ähnliche Weise wird die von Ian Law herausgegebene Buchreihe »Mapping Global Racisms« (die Untersuchungen zu Rassismus in Russland, China und Indien beinhaltet) als »der erste Versuch einer umfassenden Bestandsaufnahme globaler Rassismen« benannt.[33] Kowner und Demels gewichtige zweibändige Sammlung Race and Racism in Modern East Asia wird ebenfalls als Pionierleistung gehandhabt.[34] Diese Studien sind verbunden mit der jeweiligen regionalspezifischen Literatur zur Geschichte ethnischer Gruppen und zu Minderheitenrechten und bauen zum Teil auf ihr auf. Und auch wenn sie meist nicht unmittelbar zu den Postcolonial Studies gezählt werden, existieren doch Überschneidungen mit dem postkolonialen Projekt der Provinzialisierung westlicher Geschichte und Geschichtsschreibung und/oder sie setzen sich mit der Aushandlung und Entstehung neuer Ethnizitäten in nicht-westlichen Kontexten auseinander.[35] Empirisch dichte und komplexe Arbeiten wie Verkaaiks Ethnografie über ethnische Ausgrenzung im urbanen Pakistan, Ergins Geschichte des Rassismus und der Moderne in der Türkei und Hansens Untersuchung der »Namensgebung und Identität« im »postkolonialen« Bombay sind Beispiele für eine neue, post-eurozentrische Forschung, die die Geografie ethnischer und rassistischer Diskriminierung neu fasst.[36]
Jede Auseinandersetzung mit der Diversität von Rassismus ist auch eine Auseinandersetzung mit der Diversität von Diversität. Was ich damit meine, ist, dass die Bedeutung von ›Diversität‹ – wie sie jeweils bezeichnet wird, wie sie aussieht und welchen Einfluss sie hat – nicht überall gleich ist. Beispielsweise haben Menschen in den USA und immer öfter auch in Europa Schwierigkeiten damit, Diversität in afrikanischen oder asiatischen Ländern wahrzunehmen, da sie es gewohnt sind, Diversität als Diversität von Hautfarbe zu denken. Mehr als einmal habe ich gehört, wie weiße Brit:innen China als »homogen« beschrieben haben, ja sogar Indien – Letzteres, weil die Menschen dort »alle braun« seien. Derartige Darstellungen sind nicht nur ein peinlicher Fauxpas, sondern eine grundlegende Missdeutung der Situation. Für ein weltweites Verständnis von Rassismus ist es wichtig zu verstehen, dass Unterschiede an unterschiedlichen Orten unterschiedlich aussehen.
Das theoretische Hauptargument dieses Buches ist, dass, wenn wir unser Verständnis von Rassismus pluralisieren wollen, wir ebenso unser Verständnis der Moderne pluralisieren müssen. Moderne Denk- und Handlungsweisen, wie die massen- und dauerhafte Kategorisierung von Menschen in Fortgeschrittene und Primitive, Wertvolle und Entbehrliche, Dazu- und Nicht-Dazugehörige, bilden den Kern von Rassismus. Auch wenn die Verbindung zwischen Moderne und Rassismus komplex ist, ist sie unbestreitbar. Massaker an und Versklavungen von ethnischen Gruppen weisen eine lange Geschichte auf, aber nur eine moderne Welt konnte die industrialisierten, durchbürokratisierten und verwissenschaftlichten rassistischen Grausamkeiten des Holocausts und des atlantischen Sklavenhandels hervorbringen. Unter Verweis auf neuere historische und soziologische Arbeiten, die darlegen, dass die Moderne nicht singulär, sondern plural ist, argumentiere ich, dass es ebenso wie verschiedene Modernen auch verschiedene Rassismen gibt. Daraus folgt, dass, um multiple Rassismen zu verstehen, wir die Geografie sowohl des Rassismus als auch der Moderne neu denken müssen. Das Bild, das ich hier zeichne, ist eines von diversen modernen Rassismen, die sich kreuzen und vermischen, eine Landschaft in Bewegung, in der Ausgangspunkte verworren und klare Grenzen zweifelhaft sind. Modernen und Rassismen existieren nicht im luftleeren Raum. Diese Beobachtung verdeutlicht und erklärt, warum uns – obwohl der empirische Fokus dieses Buches außerhalb ›des Westens‹ liegt – westliche rassistische Ideologien und Praktiken auf Schritt und Tritt begegnen werden.[37] Die als westlich und weiß bestimmten Rassismen und Modernen haben andere Formen von rassistischen Modernen beeinflusst, hervorgebracht und ermöglicht. Aber dabei waren sie niemals allmächtig und sie müssen zunehmend im Kontext von und im Austausch mit anderen rassistisch und ethnisch aufgeladenen Modernen verstanden werden, die einen anderen Ursprung und eine andere Gestalt aufweisen.
Im Augenblick werden die Rassismuserfahrungen zahlreicher rassifizierter und ethnisierter Gruppen auf der ganzen Welt in den internationalen Medien kaum beachtet und auch im akademischen Feld der Ethnic and Racial Studies wird ihnen lediglich eine geringe und unsystematische Aufmerksamkeit zuteil. Diese Erfahrungen reichen von alltäglicher Marginalisierung bis hin zu Genozid und Versklavung. In den Textkästen auf den folgenden Seiten finden sich Beispiele, die diese Bandbreite veranschaulichen sollen. Dabei sollen diese Beispiele keineswegs repräsentativ für Rassismus ›jenseits des Westens‹ stehen, aber sie zeigen, warum es wichtig ist, ihn ernst zu nehmen. Die ersten drei sind Beispiele genozidaler Praktiken und/oder umfassender ethnischer Unterdrückung in der Gegenwart und der jüngeren Vergangenheit.
Indonesien hält Westpapua seit 1963 besetzt und seit mehr als einem halben Jahrhundert wachen indonesische Regierungen über die Besiedlung und Kolonisierung des Gebiets. Die rassistische Unterwerfung Westpapuas führte zu 150.000 bis 500.000 toten Westpapua und wurde als »Auslöschung eines Volkes« beschrieben.[38] Die Hohe Kommissarin der Vereinten Nationen für Menschenrechte berichtete 2019 über »die tief verankerte Diskriminierung und den Rassismus, denen die indigenen Papua ausgesetzt sind, unter anderem durch das indonesische Militär und die Polizei«, und sie forderte »sofortige und unabhängige Untersuchungen von zahlreichen Fällen mutmaßlicher Tötungen, rechtswidriger Festnahmen sowie grausamer, inhumaner und erniedrigender Behandlung der indigenen Papua durch die indonesische Polizei und das indonesische Militär in Westpapua und den Provinzen Papuas«.[39]
Der 1999 gegründete sogenannte ›Islamische Staat‹ (›I.S.‹) strebt die Errichtung eines reinen islamischen Kalifats an. Da jedoch ethnische und religiöse Zugehörigkeiten einander häufig überlappen, nahm das Streben des ›Islamischen Staates‹ nach religiöser Reinheit die Form rassistischer Gewalt an. Zahlreiche ethno-religiöse Gruppen sind ihm zum Opfer gefallen, wobei es klare Hinweise auf Genozid, die Etablierung von Sklavenmärkten, die Existenz von Sexsklavinnen und die weitverbreitete Anwendung von Folter und Vergewaltigung gibt. Die Situation wird im Titel eines Berichts von Amnesty International treffend zusammengefasst: Ethnic Cleansing on a Historic Scale, eine ethnische Säuberung von historischem Ausmaß. Trotz der angeblichen Niederlage des ›I.S.‹ leiden verschiedene Minderheiten noch immer unter der Verfolgung durch seine Anhänger:innen sowie durch die anderer radikal-islamistischer Gruppen. Eine der am systematischsten verfolgten Gruppen ist die der Jesid:innen. Der kürzlich verstorbene spirituelle Führer der Jesid:innen, Baba Scheich, erklärte die Gründe für die Flucht seiner Gemeinschaft: »Die Menschen sind aus Angst vor Übergriffen oder aus Angst vor Rassismus gegangen. Das macht es schwierig, den Glauben zu bewahren.«[40] Die Verfolgung der Jesid:innen wird von den Vereinten Nationen und dem Europäischen Parlament als Genozid anerkannt.
Seit vielen Jahrzehnten unterdrückt der chinesische Staat diverse ethnisch geprägte nationalistische Bewegungen. Außerhalb Chinas ist das bekannteste Beispiel dafür sicherlich das der tibetischen Unabhängigkeitsbewegung. In den vergangenen Jahren hat die Angst vor Loslösungsbestrebungen den bereits existierenden Versuch der Dekulturation einer anderen ethnischen Gruppe, der Uigur:innen, sowie einiger anderer muslimischer Gemeinschaften in der Provinz Xinjiang noch weiter intensiviert. Das religiöse, kulturelle und soziale Leben wurde unter umfassende Kontrolle gestellt, Moscheen wurden zerstört, Bücher, Bärte und Gebetsteppiche verboten und Überwachungskameras in privaten Wohnräumen installiert. Dieses Vorgehen wurde als »Apartheid mit chinesischen Charakteristika« beschrieben.[41] 2018 bestätigte ein Menschenrechtsgremium der Vereinten Nationen, dass Berichte über eine Million Menschen, die in Xinjiang in ›Umerziehungslagern‹ gefangen gehalten würden, glaubhaft seien.[42] 2020 schließlich offenbarten Satellitenbilder fast 400 solcher Lager in der Region Xinjiang.[43]
Dies sind nur drei Beispiele für großangelegte rassistische Unterdrückung in Gegenwart und jüngerer Vergangenheit. Doch es ist vernünftig, dabei zu fragen: »Ist das, was hier dargestellt wird, Rassismus oder doch etwas anderes?«, beziehungsweise.: »Bezieht sich die Diskriminierung auf ›Rasse‹ oder Ethnizität, auf ›Rasse‹ und Ethnizität oder auf etwas gänzlich anderes?« Wie ich in dieser Einleitung noch genauer ausführen werde, ist, unabhängig davon, wie wir die zweite Frage beantworten, allein wegen der Tatsache, dass in all diesen Beispielen Menschen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe diskriminiert und vorverurteilt werden, in die sie hineingeboren wurden und die durch sichtbare Unterschiede markiert wird, klar, dass es sich um Beispiele von Rassismus handelt.
Diese drei Beispiele sind derart wichtig, alarmierend und aktuell, dass man davon ausgehen könnte, der Versuch, sie zu verstehen, würde in den Ethnic and Racial Studies einen zentralen Platz einnehmen. Dem ist nicht so.[44] Tatsächlich gibt es nur eine kleine Zahl veröffentlichter Artikel in diesem akademischen Teilgebiet, die sich mit Asien oder Afrika beschäftigen. Einer meiner Beweggründe, dieses Buch zu schreiben, ist daher, zu versuchen, es schwieriger zu machen, diese Teile der Welt so einfach zu übersehen.
Die kurzen Zusammenfassungen in den ersten drei Kästen zeigen gewaltvolle Formen von Rassismus in großem Maßstab. Die nun folgenden drei Vignetten sind anders: Sie verdeutlichen alltägliche oder sozusagen ›unauffälligere‹ Formen von Rassismus. Auch sie sind wieder nicht dazu gedacht, typisch zu sein, sondern sie sollen vielmehr dazu anregen, darüber nachzudenken, wie Rassismus mit Religion, Politik und Geschichte verschränkt ist, sowie zu hinterfragen, wie wir ›ethnisch‹, ›rassisch‹ oder ›etwas anderes‹ eigentlich definieren. Ich schreibe seit einigen Jahren Reisetagebücher und aus den darin festgehaltenen Reisen stammen die folgenden Szenen.
Ich trete in ein kleines Lebensmittelgeschäft in der tongaischen Hauptstadt Nuku’alofa. Eine junge Chinesin steht an der Kasse, während einige tongaische Angestellte mit ihren Freund:innen in einiger Entfernung auf der Veranda des Ladens sitzen und sich unterhalten, sichtlich aufgebracht und genervt – eine Situation, wie ich sie schon in vielen Läden erlebt habe. Es hängt Feindseligkeit in der tropisch-warmen Luft. Ich frage die Frau hinter der Kasse, wie es ihr auf Tonga gefällt. Sie lächelt, offenbar überrascht davon, angesprochen zu werden. »Ich möchte nach Hause; ich vermisse meine Stadt«, sagt sie und schiebt mit ergreifender Bestimmtheit nach: »Ich bin einsam.« Viele Geschäfte auf Tonga sind in den vergangenen Jahrzehnten von chinesischen Unternehmer:innen aufgekauft worden. Mir wurde gar erzählt, dass es auf dem gesamten Archipel kein einziges Geschäft mehr in tongaischer Hand gebe. Der niedrig liegende Inselstaat steht vor vielen Herausforderungen – darunter ein steigender Meeresspiegel, Wirbelstürme, Armut und Auswanderung –, die sich in eine Abneigung gegen die Neuankömmlinge verwandelt zu haben scheinen. 2006 wurde bei gewalttätigen Ausschreitungen ein Großteil des Geschäftsviertels der Hauptstadt in Schutt und Asche gelegt, wobei es die Beteiligten besonders auf chinesische Geschäfte abgesehen hatten. Ähnliche Geschichten finden sich in vielen der Pazifikstaaten. Während sich die tongaische Elite um das chinesische Geld bemüht (die Chines:innen bringen Kapital und Katastrophenhilfe, haben Straßen und neue Hafenanlagen gebaut), sprechen viele gewöhnliche Leute ganz offen darüber, dass sie die Chines:innen hier nicht haben wollen.
Ich bin unterwegs zu dem ›Ghetto‹ einer Gruppe koptischer Christ:innen mit dem Namen Zabaleen, was Müllsammler:innen bedeutet. Die Aufgabe dieser Gemeinschaft – die andere nicht ausführen wollen – ist es, den Müll der Stadt aufzunehmen. Ihre sogenannte ›Stadt des Mülls‹ ist ein verbotener und zugleich bemerkenswerter Ort. In jedem Hauseingang werden unterschiedliche Materialien auseinandergenommen und zerkleinert. Es ist ihre Arbeit, die Kairo unter allen Städten dieser Welt die besten Recyclingquoten beschert. In Ägypten existieren eine Vielzahl von Minderheiten und das Land hat eine komplizierte Beziehung zu seiner vergleichsweise großen christlichen Bevölkerung. Die Kopt:innen sind regelmäßig islamistischen Angriffen ausgesetzt. Einige, wie die Zabaleen, leben in Armut und zusammengepfercht in Ghettos, andere wiederum bilden die Elite des Landes. Eine ähnlich unbehagliche, aber durchaus andere Art der Beziehung existiert zu einer weiteren Minderheit, den sogenannten ›afrikanischen Migrant:innen‹, womit Schwarze afrikanische Migrant:innen gemeint sind. Ich bin mit einem lokalen Guide unterwegs, als wir im Stadtzentrum von Kairo an einer Gruppe mittelalter Schwarzer Männer vorbeilaufen. Sie sitzen vor einem Café, spielen ein Kartenspiel und trinken Minztee. Es ist das erste Mal seit meiner Ankunft, dass ich eine Gruppe Schwarzer Afrikaner:innen sehe. Mein Guide hält sich seltsam bedeckt. Er hat Mitgefühl für die koptische Bevölkerung, aber wenn er über diese Migrant:innen – die wie er muslimisch sind – redet, offenbart sich Misstrauen: »Sie haben ihre eigenen Schulen, aber es sind zu viele«, sagt er. Später lerne ich, dass das arabische Wort für Sklave, ›Abd‹, in Ägypten noch immer für Schwarze Afrikaner:innen verwendet wird, ein Hinweis auf die Verachtung, die dem ›Schwarzen Süden‹ entgegengebracht wird.
Während sich das alte Auto einige der eher sanften Hänge des Himalaja hinaufarbeitet, lerne ich viel über das Verhalten des indischen Militärs im indisch besetzten Kaschmir wie auch über die Not von Muslim:innen in ganz Indien. Mein Guide und der Fahrer sind beide Muslime aus Kaschmir, in den indischen Bundesstaat Himachal Pradesh gekommen auf der Suche nach Arbeit. Ich erinnere mich daran, dass am Indian Institute for Advanced Studies, das sich in einem riesigen ehemaligen britisch-kolonialen Herrenhaus in der Hauptstadt des Bundesstaates, Shimla, befindet und das für die Zeit meines Aufenthalts hier meine Unterkunft ist, eine entschieden politische Atmosphäre herrscht. Viele der jungen Wissenschaftler:innen sprechen darüber, dass akademische Ernennungen und Positionen immer häufiger an die Hindutva-Ideologie von Indiens rechter Regierungspartei geknüpft sind und dass sie ihre Karrieren außerhalb des Landes werden fortsetzen müssen. Der Wagen kommt an einem winzigen Gehöft zum Stehen, in einem dunklen Teich schlummert ein gewaltiger Büffel vor sich hin. Auf der Veranda des Bauernhauses sitzt eine alte Frau mit farbenprächtigem Schal im Schneidersitz, während ein nacktes Kind an ihren Knien zerrt. Mein Guide und der Fahrer steigen aus dem Wagen und machen sich daran, all den Müll, von dem sich im Laufe unserer Fahrt erstaunlich viel angesammelt hat, vor ihrem Zuhause abzuladen. Beim Anblick meines besorgten Gesichtsausdrucks fangen beide an zu lachen: »Keine Sorge, das ist denen egal.« Es ist offensichtlich, dass keiner von beiden eine hohe Meinung von den Bewohner:innen hat. »Wer sind sie?«, frage ich. »Keine Ahnung!«, sagt mein Guide und muss noch heftiger lachen. Ich nehme an, dass es ›Tribals‹ sind, doch das energische »keine Ahnung« meines Guides lässt mich nicht los. Die Grundlage von Diskriminierung ist nicht Wissen sondern Gleichgültigkeit. Doch auch ich verhalte mich gleichgültig: Ich lasse es geschehen, lasse den Müll auf dem sonnengetrockneten Schlamm liegen. Jeden Tag geschieht etwas Vergleichbares. Über ein Viertel der Bevölkerung des Bundesstaates Himachal Pradesh sind Dalits (einst ›Unberührbare‹ genannt), eine Gruppe von solch niedrigem sozialen Rang, dass sie außerhalb beziehungsweise unterhalb des indischen Kastensystems existieren. Immer wieder, wenn mir hier oder in Großbritannien äußerste Armut begegnet, schaue ich weg, beschleunigt sich mein Gang, meine zügigen Schritte das Echo eines vertrauten Refrains: »Keine Ahnung.«
Rassismus wird hier definiert als Diskriminierung und Ungleichheit, erwachsen aus ethnisierten und rassifizierten Formen von Macht, supremacism und Essentialismus. Mit ›supremacism‹ wird eine Ideologie und Praxis bezeichnet, bei der die grundsätzliche Überlegenheit einer bestimmten Gruppe über andere behauptet wird. ›Essentialismus‹ verstärkt diesen Prozess noch, indem er diese vermeintlichen Unterschiede als natürlich bedingt erklärt. Wie Hall schreibt, ist diese Naturalisierung eine »Repräsentationsstrategie, dafür gedacht, ›Differenz‹ zu fixieren und damit für immer festzuschreiben«, für gewöhnlich, indem einer Gruppe von Menschen bestimmte angeborene und vererbbare Eigenschaften zugeschrieben werden.[45] Das hilft dann auch zu erklären, warum eines der zentralen Merkmale von Rassismus dessen Fokus auf Geburten, Bevölkerungszahlen und allgemein auf den weiblichen Körper ist.
Eine Welt der multiplen Rassismen ist eine Welt der multiplen Ungleichheiten und der multiplen Essentialisierungen. Die Umwandlung von angenommener und/oder beobachteter kultureller oder physischer Differenz in eine naturalisierte Hierarchie wird dabei im Mittelpunkt meiner Betrachtungen in diesem Buch stehen. Doch zuvor ist es notwendig, noch eine weitere Komplexitätsebene hinzuzufügen, denn auch die Sprache des Rassismus ist nicht überall die gleiche. Eine einzelne, universale Definition von Rassismus ist ein nützlicher erster Schritt, kann jedoch nicht das Ziel sein, insbesondere dann nicht, wenn dies einem Verständnis der facettenreichen, fluiden und umkämpften Natur des Begriffs letztlich im Weg steht. Wenn eine ethnisierte oder rassifizierte Gruppe aufgrund ihrer vermeintlich unverrückbaren und angeborenen Eigenschaften diskriminiert wird, wird dies an einigen Orten als Rassismus bezeichnet, an anderen wiederum nicht. Und während ich selbst all solche Fälle von Diskriminierung als Rassismus bezeichnen würde, bedeutet das nicht, dass dies der einzig angebrachte oder nützliche Terminus dafür ist. Schon gar nicht bedeutet das, dass andere Bezeichnungen verdrängt werden sollten. In Indien existieren beispielsweise die Begriffe ›communalism‹[46] [Kommunalismus] und ›casteism‹ [Kastendiskriminierung], die sich mit dem, was ich als Rassismus bezeichne, überschneiden können. In Peru wird ›cholismo‹ gelegentlich ähnlich verwendet. Die Welt steckt voller Begriffe für Differenz und Diskriminierung. Statt also eine starre Schablone anzubieten, mit der die Bezeichnung ›Rassismus‹ – verifiziert durch einen westlichen Kanon antirassistischer Forschung – auf die unterschiedlichsten Situationen angewandt wird, sollten wir besser genau hinhören und von anderen Kontexten lernen.
Die ›polyzentrische‹ Erforschung von Rassismus, wie Law es nennt, ist ein neues Fachgebiet und verfängt sich daher häufig in der Art von definitorischen Dilemmata, die man von einem im Entstehen begriffenen und nicht nur komplexen, sondern zudem politisch aufgeladenen Unterfangen erwarten würde.[47] Der von Berg und Wendt herausgegebene Sammelband Racism in the Modern World ist ein gutes Beispiel dafür. Den Herausgebern zufolge ist das Neue und Bedeutende an ihrem Buch die Auseinandersetzung mit multiplen Rassifizierungen auf der ganzen Welt und insbesondere die Verwendung von Ansätzen einer »neuen Globalgeschichte«, die »eurozentrische Interpretationen der Weltgeschichte« herausfordern.[48] Es ist tatsächlich ein beeindruckender Band, doch offenbart der Vergleich einiger der darin enthaltenen Kapitel einen grundlegenden Definitionskonflikt. In dem Aufsatz »How Racism Arose in Europe and Why It Did Not in the Near East« verbiegt sich beispielsweise Braude geradezu, um argumentieren zu können, dass Vorfälle von ethnischer Gewalt im ›Nahen Osten‹ nichts mit Rassismus zu tun haben. Folglich schreibt Braude, dass die Behandlung von Armenier:innen im ›Nahen Osten‹ in den ersten Dekaden des letzten Jahrhunderts – während des von ihm so bezeichneten armenischen ›Konflikts‹ – »nicht auf Rassismus geschoben werden kann«. Er kommt zu diesem Schluss, indem er Rassismus in biologistischen Begriffen als »genetischen Determinismus« definiert und diese Ideologie als alleinig den »modernen euro-amerikanischen Rassismus« kennzeichnend erklärt.[49] Doch in den folgenden beiden Kapiteln werden diese Definition und die damit einhergehenden geografischen Implikationen gleich wieder verworfen. Zunächst erklärt Geulen, dass Rassismus und kulturelle Vorurteile nicht länger als voneinander getrennte Phänomene betrachtet werden können: »Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts«, schreibt er, hat sich die Vorstellung von ›Rasse‹ »verändert und erweitert, in etwas viel Umfassenderes als nur Physiologie und körperliche Erscheinung«.[50] In dem darauffolgenden Text mit dem Titel »Racism and Genocide« nutzt Barth den von ihm so bezeichneten ›Genozid‹ an den Armenier:innen als Musterbeispiel dafür, wie rassistische und kulturalistische Ideologien gemeinsam die Bedingungen für Vernichtung schaffen können.[51] Es ist sehr aufschlussreich, dass, während Braude von einem armenischen ›Konflikt‹ spricht, Barth von einem ›Genozid‹ an den Armenier:innen schreibt. In diesem Unterschied des Ausdrucks spiegeln sich die verschiedenen Auffassungen von Rassismus der beiden Autoren wider.
Noch immer gibt es einige, die versuchen, Rassismus einzig und allein als biologischen Determinismus und als ›Rassenideologie‹ zu konzeptualisieren. So ist Rassismus für Banton »die Doktrin, dass das Verhalten eines Menschen durch vererbte und dabei gleichbleibende Eigenschaften determiniert wird, die von unterschiedlichen Rassen mit unverkennbaren Attributen herrühren und für gewöhnlich als zueinander in einem Verhältnis von Überlegenheit und Unterlegenheit stehend verstanden werden«.[52] Auch wenn dieses Zitat aus dem Jahr 1970 stammt und die darin zum Ausdruck gebrachte Definition von Rassismus selten geworden ist, bleibt der Gedanke nach wie vor weit verbreitet, dass ›Rassenideologie‹ der Grundstein oder die ultimative Ausdrucksform von Rassismus ist. Daher ist es wichtig klarzumachen, warum uns Bantons Definition nicht weiterbringt. Konzeptionell beruht sie auf zwei Annahmen: Erstens, dass ›Rasse‹ und Ethnizität zwei sauber voneinander getrennte Kategorisierungen seien und, zweitens, dass ›Rassenideologie‹ einen kohärenten und relativ stabilen Wissenskorpus darstellen würde. Beides ist wenig überzeugend. Die Grenze zwischen Vorstellungen von ›Rasse‹ und Ethnizität war schon immer unscharf und die ›Rassenideologie‹ wurde nicht erst seit Kurzem in Zweifel gezogen. Ideologien, die eine Hierarchie der ›Rassen‹ oder die Überlegenheit der Weißen behaupten, waren seit jeher mit Kritik und Widersprüchlichkeiten konfrontiert. Als Jean Finot in seinem 1905 erschienenen Buch Le préjugé des races (1906 in deutscher Übersetzung als Das Rassenvorurteil erschienen) die »falsch verstandene Rassenlehre« kritisierte und ›Rassen‹ als »außerhalb der Wirklichkeit« beschrieb, konnte er sich auf eine lange Tradition der Skepsis gegenüber dem Konzept berufen.[53] Das Scheitern und die Inkohärenz des ›Rasse‹-Konzepts hat in Europa und Nordamerika zwischen Anfang und Mitte des 20. Jahrhunderts den Wandel des Narrativs von einer ›weißen Zivilisation‹ hin zu einer ›westlichen Zivilisation‹ befeuert.[54] Selbst damalige mit der Nazi-Ideologie assoziierte Intellektuelle hatten ihre Zweifel. Oswald Spengler beispielsweise blickte herablassend auf die ›Rassenlehre‹: »mit der Durchleuchtung [verschwindet] die ›Rasse‹ plötzlich«.[55] Nach dem Zweiten Weltkrieg erfuhr die Vorstellung Auftrieb – zuerst popularisiert durch das 1935 erschienene Buch We Europeans –, dass »das Wort Rasse verbannt werden sollte«, da es mit dem deutschen Nationalsozialismus und Genozid in Verbindung gebracht wurde.[56] In einer ganzen Reihe von Erklärungen und Berichten der UNESCO wurde ›das Rassenkonzept‹ schließlich als gefährlicher Irrglaube gebrandmarkt.[57]
Wer Rassismus an den Glauben an ein Konzept von ›Rasse‹ knüpft, wird sehr wahrscheinlich schlussfolgern, dass es ein Phänomen einer in Verruf geratenen Vergangenheit ist und somit mehr ein historisches Überbleibsel denn eine sehr gegenwärtige Kraft. Es lohnt daher, daran zu erinnern, dass der Begriff ›Rassismus‹ eine Schöpfung von Antirassist:innen war. Seit seiner ersten Verwendung war er ein Werkzeug, das von denjenigen eingesetzt wurde, die sich ihm entgegenstellten.[58] Wesen und Bedeutung von ›Rassismus‹ haben sich schließlich verändert, als Antirassist:innen die sich verändernden Arten und Weisen erkannt haben, wie Menschen zu ›Anderen‹ erklärt und ausgeschlossen werden. Das erklärt, warum ›Rassismus‹ auch heute noch einen festen Platz im politisch-kritischen Vokabular einnimmt. ›Rassismus‹ bezeichnet nicht mehr nur die eng gefasste Überzeugung einer ›Rassenideologie‹, sondern wird üblicherweise mit racial und ethnisch geprägter Ungleichheit und Stereotypisierung in Verbindung gebracht. Diese begriffliche Ausweitung schlägt sich überall nieder und scheint nicht aufzuhalten zu sein, doch ist auf die internationalen Implikationen dieses Wandels bislang wenig eingegangen worden. So wird beispielsweise die Gleichung ›Rassismus ist Vorurteil plus Macht‹, die manchmal dem amerikanischen Pfarrer Joseph Barndt zugeschrieben wird und sich in den 1970er Jahren in den USA stark verbreitete, immer noch so verstanden, dass Rassismus ein weißes Problem ist, weil Weiße es sind, die Macht besitzen.[59] Sobald jedoch Vorurteile und Macht auch anderswo gefunden werden, verwandelt sich ›Rassismus ist Vorurteil plus Macht‹ in eine begrifflich und geografisch erweiterte Konzeption von Rassismus. Ähnliches kann über weitere innovative Kategorien wie ›new racism‹, ›coded racism‹ (im Sinne eines ›verschlüsselten Rassismus‹), ›Kulturrassismus‹ und ›Rassismus ohne Rassist:innen‹ gesagt werden. Barker bemerkt, dass es »ein Mythos war, dass Rassismus in der Vergangenheit allgemein auf Überlegenheit/Unterlegenheit abzielte«, weswegen sein ›new racism‹ Rassismus als Muster ausschließender kultureller Präferenzen und nativistischer Gefühle versteht.[60] Balibar schreibt ebenfalls über einen »Rassismus ohne Rassen«, »dessen vorherrschendes Thema nicht mehr die biologische Vererbung, sondern die Unaufhebbarkeit der kulturellen Differenzen ist« sowie »die Schädlichkeit jeder Grenzverwischung und die Unvereinbarkeit der Lebensweisen und Traditionen«.[61] Cohen zufolge bedeutet ein Verständnis davon, wie Rassismus in Großbritannien gegen irische, jüdische und Schwarze Menschen gerichtet ist und sie gleichzeitig vereint, ein Verständnis von Großbritannien als ›multirassistischer‹ Gesellschaft.[62]
Keiner dieser Autoren geht jedoch auf eine zentrale Folge einer erweiterten und pluralisierten Konzeption von Rassismus ein: die Veränderung von dessen weltweiter Geografie. Eine weitere Folge ist, dass die Grenze zwischen ethnischer Diskriminierung und Rassismus noch uneindeutiger wird als zuvor schon. Denn, wie Anthias bemerkt, wenn »Exklusionspraktiken – Kennzeichen aller ethnischen Phänomene – von Diskursen und Praktiken der Herabwürdigung ethnisch konstituierter Differenz begleitet werden, dann können wir von Rassismus sprechen«. Sie führt diesen Punkt noch weiter aus: »Rassistische Diskurse nutzen ethnische Kategorisierungen (die um kulturelle, linguistische, territoriale oder auch vermeintlich biologische Grenzen herum konstruiert werden) als Signifikanten von unverrückbarer und determinierender Differenz.«[63] Warum also spielt Ethnizität in Diskussionen über Rassismus weiterhin eine so untergeordnete Rolle? Die Gründe dafür sind vielfältig, doch einer findet sich in dem fortwährenden Einfluss der klassischen soziologischen Unterscheidung von race und Ethnizität, der zufolge es bei Letzterer um Kultur und bei Ersterer um Abstammung geht. Ethnizität wird dabei anders als race als selbst gewählt betrachtet. »Die Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gruppe«, schreibt Banton, »ist für gewöhnlich freiwillig gewählt; Zugehörigkeit zu einer racial Gruppe dagegen nicht.«[64] Bei Morning findet sich eine praktische Zusammenfassung dieser These: »Individuen können sich die ethnische Gruppe oder auch die ethnischen Gruppen aussuchen, mit der oder mit denen sie sich am meisten identifizieren, und ihre jeweilige Zugehörigkeit durch oberflächliches Verhalten (beispielsweise die Wahl der Kleidung oder des Essens) signalisieren«, doch race dagegen ist »unfreiwillig (sie wird einem von anderen übergestülpt) und unveränderbar.«[65] Es gibt drei große Probleme mit dieser Unterscheidung. Erstens wird, indem race als ›unveränderbar‹ und damit jenseits der Sphäre menschlicher Einflussmöglichkeiten dargestellt wird, dessen soziale Konstruktion ignoriert. Zweitens wird damit nicht der verschwommenen und verworrenen Beziehung zwischen race und Ethnizität Rechnung getragen, ebenso wenig wie den geografisch sehr unterschiedlichen Verwendungsweisen dieser beiden Begriffe. Drittens entspricht die Definition von Ethnizität (oder ethnischer Zugehörigkeit) als ›freiwillig‹ und ›oberflächlich‹ nicht der gelebten Erfahrung. Kommen wir an dieser Stelle auf zwei der Beispiele zurück, die in den Kästen zuvor kurz vorgestellt wurden: Sowohl die Jesid:innen als auch die Uigur:innen werden für gewöhnlich als ethnische Gruppen beschrieben, doch ist die Vorstellung absurd, dass jesidisch oder uigurisch zu sein eine freie ›Wahl‹ wäre oder etwas ›Oberflächliches‹ sei. Das Gewicht der Tradition, die Bande von Verwandtschaft und Sprache sowie die von der Mehrheitsgesellschaft, in der diese Minderheiten leben, vorgetragenen Vorurteile – die häufig unter Rückgriff auf vermeintlich natürliche Unterschiede die prinzipielle Andersartigkeit von Jesid:innen und Uigur:innen behaupten – machen ein ›Austreten‹ nicht nur schwierig, sondern nahezu unmöglich.
Es gibt noch eine weitere, eher praxisbezogene Sache zu beachten. Denn wie Rassismus definiert wird, ist nicht nur eine akademische Frage. Es ist immer auch ein Spiegel größerer gesellschaftlicher und politischer Entwicklungen. Die weitverbreitete Übernahme von Definitionen von Rassismus, die ethnische Diskriminierung miteinschließen, ist ein überzeugender Hinweis darauf, dass die Bedeutung von Rassismus erweitert wurde. In einem Rahmenbeschluss der Europäischen Union aus dem Jahr 2008 steht beispielsweise: »Rassistische und fremdenfeindliche Straftaten« beinhalten: »die öffentliche Aufstachelung zu Gewalt oder Hass gegen eine nach den Kriterien der Rasse, Hautfarbe, Religion, Abstammung oder nationale[n] oder ethnische[n] Herkunft definierte Gruppe von Personen oder gegen ein Mitglied einer solchen Gruppe«.[66] Heutzutage ist es so normal, dass Ethnizität (im folgenden Zitat noch als ›Volkstum‹ bezeichnet) in offiziellen Definitionen von Rassismus miteinbezogen wird, dass es diesbezüglich keiner Erklärung bedarf, selbst wenn dies scheinbar mit anderen Festlegungen in einem Spannungsverhältnis steht. Im Internationalen Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung der Vereinten Nationen wird »Rassendiskriminierung« (was darin häufig als Synonym für Rassismus genutzt wird; das Abkommen wurde bereits 1965 verabschiedet und trat 1969 in Kraft) beispielsweise definiert als
»jede auf der Rasse, der Hautfarbe, der Abstammung, dem nationalen Ursprung oder dem Volkstum beruhende Unterscheidung, Ausschließung, Beschränkung oder Bevorzugung, die zum Ziel oder zur Folge hat, dass dadurch ein gleichberechtigtes Anerkennen, Genießen oder Ausüben von Menschenrechten und Grundfreiheiten im politischen, wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen oder jedem sonstigen Bereich des öffentlichen Lebens vereitelt oder beeinträchtigt wird.«[67]
Trotz der problematischen Andeutung, dass nationale oder ethnische Herkunft (im Zitat ›nationaler Ursprung und Volkstum‹) Unterkategorien von race sind, ist dies ein weiteres Beispiel für die Verschränkung von Ethnizität und Rassismus im institutionellen politischen Diskurs. An anderer Stelle hat derselbe Ausschuss noch deutlicher auf die Notwendigkeit hingewiesen, »die Definition von Rassismus um die Aufstachelung aufgrund von ethnischer Herkunft, des Herkunftslandes und der Religionszugehörigkeit zu erweitern«.[68]