musica e amore - Irmgard Hierdeis - E-Book

musica e amore E-Book

Irmgard Hierdeis

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Beschreibung

Im Jahre 1700 reist ein deutscher Adliger mit seiner ältesten Tochter Anna-Elisabeth nach Italien, offiziell, um neue Kunden für die Stoffe aus seiner Textilmanufaktur zu gewinnen; inoffiziell sucht er aber auch nach einem standesgemäßen Ehemann für die wählerische Tochter, die lieber am Cembalo sitzt und heimlich Sonaten komponiert, als sich auf Hofbällen zu vergnügen. In Rom werden der musikalischen Tochter verschiedene Kandidaten präsentiert, aber keiner der dilettierenden Violinisten genügt ihren Ansprüchen – bis auf einen Flötisten, mit dem sie in einem kleinen Konzert auftritt und der hinter ihr Geheimnis kommt. Veracini, dieser Komponist, begleitet Vater und Tochter auf der Reise nach seiner Heimatstadt Florenz, wo sich sofort ein würdiger Verlobter präsentiert, nämlich der Sohn eben dieses Komponisten. Wie sowohl die ältere Tochter Anna Elisabeth als auch ihre jüngere Schwester Luise nicht gewillt sind, die vom Vater bestimmten Männer zu ehelichen, - wie die Mutter aus der Ferne mit ihren Moralvorschriften ihren Ehemann unterstützt, wie schließlich der jüngere Bruder und Schloßerbe den beiden Schwestern zu ihrem unstandesgemäßen Glück verhelfen will, - das alles findet seinen Niederschlag in den Briefen, die zwischen Italien und Deutschland, zwischen den Töchtern und der Mutter hin-und hergehen. Wie wird der bisweilen groteske Kampf um Liebe und Musik ausgehen?

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Für Angela und Bernhard Klinger

Inhaltsverzeichnis

Roma, den zehnten Januarius 1701

Schloß Dunkelsbrück, 27. Februar 1701

Firenze, 30. März 1701

Schloß Dunkelsbrück, 20. April 1701

Firenze, 14. Mai 1701

Schloß Dunkelsbrück, 9. Juni 1701

Firenze, 6. Juli 1701

Schloß Dunkelsbrück, 14. Juli 1701

Firenze, 2. August 1701

Piacenza, 20. August 1701

Florenz, 15. August 1701

Schloß Dunkelsbrück, 3. September 1701

Florenz, 29. September 1701

Florenz, 29. September 1701

Schloß Dunkelsbrück, 21. Oktober 1701

Schloß Dunkelsbrück, 21. Oktober 1701

Piacenza, 29. November 1701

Piacenza, 29. November 1701

Piacenza, 3. Dezember 1701

Dunkelsbrück, 10. Januar 1702

Piacenza, 2. Februar 1702

Florenz, 10. Februar 1702

Dunkelsbrück, 5. März 1702

Piacenza, 10. März 1702

Dunkelsbrück, 5. April 1702

Piacenza, 25. Mai 1702

Florenz, 1.Juni 1702

Dunkelsbrück, 2. August 1702

Florenz, 3. September 1702

irgendwo in Italien, 20. Oktober 1702

Florenz, 15. November 1702

Schloß Dunkelsbrück, Weihnachten 1702

Piacenza, 30.Januar 1703

Florenz, 1. März 1703

Dunkelsbrück, 25.April 1703

Piacenza, 20. Mai 1702

Dunkelsbrück, 2. September 1702

Roma, den zehnten Januarius 1701

Liebstes, theures Luiseken,

innigst gerührt hat mich Dein Neujahrsbrieflein, das Du gar künstlich mit goldenen Engelchen geschmückt hast! Auch kam mir die Schilderung Deiner Schlittenfahrt halb exotisch vor, und ich hatte Mühe, mir vorzustellen, wie Du mit unserem kleinen Bruder, dem Augustlein, Dich im Schloßhof mit Schnee beworfen hast.

Noch nicht einmal drei Monate bin ich hier mit dem Herrn Papa im Süden, und schon fremdet es mich an, mir unsere kalte Heimat vorzustellen. Du würdest Dich wundern, wie warm es hier immer noch ist. Zu Mittag speise ich mit Dorella, so nenne ich meine ständige Begleiterin, die mich bewachen soll, damit ich keinen Unsinn mache, auf der Terrasse des Hotels, in dem wir mehr residieren als wohnen.

Ich habe ein Zimmer mit Spinett, es ist groß und ohne Teppiche, damit die Töne nicht im Boden versickern, und wenn ich darauf spiele, denke ich mit Sehnsucht an Dich, an den kleinen August und an Mama, die bei Euch geblieben ist. Manch eine Träne der Sehnsucht ist an den Abenden, wenn ich allein bin, auf mein Instrument getropft. Mein Herz wird leichter, da ich es Dir gestehen kann, wie mich besonders am Anfang das Heimweh plagte.

Dabei könnte es kaum schöner und bequemer sein als hier im Hotel, wo ich sogar einen Kammerdiener zur Verfügung habe, der mir, wenn ich keine Lust auf den Speisesaal habe, meine Mahlzeiten heraufbringt. Ich werde Dir noch im Einzelnen schreiben, was man hier im Gegensatz zu uns daheim auf die Teller lädt. Insgesamt gefallen mir die meisten Gerichte, und ich habe auch schon die gestrenge Dorella gebeten, mir ein paar Rezepte aufzuschreiben, die ich dann unserer Sophie auf den Küchentisch legen kann.

Nun aber zu etwas ganz anderem.

Papa scheint hier gute Geschäfte mit seinen gefärbten Textilien zu machen. Er ist, wenn ich ihn denn sonntags an der großen Hoteltafel treffe, immer glänzender Stimmung und unterhält sich mit unseren Nachbarn und deren aufgeputzten Damen stets vorzüglich. Ich sitze dann, ebenso aufwendig verkleidet neben ihm und mache, was ich gelernt habe: Ich lächle in alle Richtungen und nippe nur von meinem Weinglas, stochere ein bißchen auf dem Teller herum (Nie zeigen, daß du hungrig bist, merke dir!) und bediene Papa, der hin und wieder seine bestickte Serviette fallen läßt.

Was mich dieses Getue anstrengt! Auch da sehne ich mich nach den einfachen Mahlzeiten, die unsere Sophie so trefflich zubereitet. Sogar die Rübensuppe schmeckt, wenn sie aus ihrer Küche stammt.

Papa ist wegen seiner Geschäfte da, das ist die offizielle Version der Reise. Aber, liebstes Luischen, es ist ein offenes Geheimnis, was unsere Eltern bewog, mich mit auf diese Reise zu nehmen; denn, sagen wir’s unverblümt, ich soll verheiratet werden. Bei uns zuhause war kein würdiger Bewerber ins Sicht : Ja, schau Dir doch mal unsere adeligen Nachbarssöhne an, die mit ihren leeren Gehirnen und vollen Patronentaschen ständig auf die Jagd gehen und, wenn sie mal einen Hasen geschossen haben, im Winter sich sein Fell auf den geschwollenen Bauch legen. Kaum einer kann lesen, und – schweigen wir von ihrer Musikalität. Sie können gerade noch das Gekreische des Auerhahns vom Spatzenzirpen unterscheiden.

Mama und Papa haben sich erinnert, wie ich diese Jünglinge beim letzten Hofball behandelt habe – und alle anderen, die sich darüber aufgeregt haben, natürlich auch. Mit meinen zwanzig Jahren bin ich jetzt schon als alte Jungfer gebrandmarkt. Da wäre ich noch besser im Kloster aufgehoben, da gibt es wenigstens Musikinstrumente und Chorgesang.

Aber die Eltern wollen eben nun mal keine Nonne aufgezogen haben, und so wurde ich in die angeblich schönste Stadt der Welt geschleift, weil es dort offenbar nur so wimmelt vor musikkundigen Jünglingen. Es vergeht keine Woche, wo nicht so ein verlobungssüchtiger Knabe auftaucht, meist bei den abendlichen Gelagen, an denen Papa und ich teilnehmen müssen. Allein ihre Vornamen! Beim besten Willen kann ich mir nicht vorstellen, einen künftigen Gatten lebenslang Tschuseppe zu rufen. Tschuu! Das sagt man zu den Gänslein, wenn man sie im Teich ruft. Und Seppe gar! Unser Kutscher Sepp kommt da stets um die gedankliche Ecke, wenn ich das höre.

Papa hat diese Knaben und jungen Männer streng nach musikalischen Gesichtspunkten ausgesucht. Jeder von denen spielt ein Instrument und ist von mir auch begleitet worden. Zwei kratzen ordentlich die Geige, wenn einer Geige überhaupt mag – ich nicht. Sie spielten harmlose Stückchen, die ein einigermaßen talentierter Schüler nach zwei bis drei Jahren schon ohne Fehler streicht. Drei Abende haben wir bisher in unseren Gemächern so zugebracht, daß Papa Geschäftsfreunde und ihre Frauen dazu eingeladen hat, der Kammerdiener einige Fauteuils bereitstellte, hinterher Süßwein und Gebäck gereicht wurden und alle sich artig über den eben gehörten Kunstgenuß äußerten. Die Violinisten legten mir jeweils ihre anspruchslosen Noten aufs Spinett, und ich spielte alles vom Blatt, kinderleichtes Zeug, das wirklich keinen, der was von Musik versteht, vom gepolsterten Sessel reißt.

Letzte Woche, und jetzt laß mich Dir ein lebhaftes Bild meiner Empfindung geben, verlief unsere Hotelmusik ein bißchen anders als die vorigen Male.

Papa hatte einen der älteren Musiker, die gerade hier in Mode sind, aufgetan. Dieser Herr nun wollte, bevor er mit mir, wenn auch vor kleinster Gemeinde, auftrat, sich erst von meinem Können überzeugen und sein Programm vorher mit mir einüben. Dorella war davon nicht begeistert, bedeutete es doch, daß sie die ganze Zeit sich würde unsere Überei anhören müssen.

Aber es kam anders.

Der besagte Musicus, der auch einige eigene Compositionen vorweisen kann, begab sich zunächst in das Ankleidezimmer, vom Kammerdiener geleitet. Ich konnte nicht widerstehen und spitzte durch das große Schlüsselloch. Ei, was sah ich da! Der Herr Compositeur hatte ein silberbesticktes Wams mitgebracht, das er über sein weiß gerüschtes Hemd zog. Dabei rutschte ihm seine Perücke vom Schädel, auf dem kein Härchen mehr prangte. Ich hatte Mühe, mein Lachen zu verbeißen, als Dorella mich wortreich ermahnte, mich doch wie eine Lady zu verhalten. Brav hockte ich mich auf den harten Stuhl vorm Cembalo und wartete, bis der Perückenherr frisch gepudert zu mir ins Zimmer trat.

Ich erhob mich mit meinem hellblauen Reifrock (was immer eine Aktion ist) und trippelte ihm entgegen (auch noch die Silberschuhe mit den Absätzen!). Er hielt inne, verbeugte sich so, daß ich schon dachte, jetzt bricht er ab, und kam schrittweise näher, bis ich seinen heißen Atem spürte. Und dann setzte er auch noch einen feuchten Handkuß auf meine angstvoll zitternden Finger. Puh! Oder besser : Tschu!!

Sein Vorname ist aber Francesco Maria! Sollte ich ihn denn, vorausgesetzt, er würde mein Verlobter, gar mit »Maria« anreden! Um Gotteswillen, Luiseken! Stell Dir das mal vor!

Sein Flötenspiel machte sein sonstiges Gehabe wett. Der bisher einzige, der wirklich musikalisch annehmbar war. Na, gut, anschauen durfte man ihn aber nicht während seines Flötens. Er hätte dabei eher in die Commedia dell‘ Arte gepaßt als auf ein Musikpodium. Er drehte, bückte und wendete sich bei jedem Takt, und daß dabei sehr schöne Klänge herauskamen, erstaunte mich. Als wir fertig geprobt hatten und ich seine Flötenkunst ernsthaft würdigte, raffte auch er sich zu einem Lob über meine Begleitung auf. Dabei stierte er auffällig nach zwei Notenblättern, auf denen ich die Anfangssätze einer Sonate notiert hatte, von keiner Geringeren componiert als von mir selbst.

Ein Bückling bis zur Klaviatur hinunter, und dann nahm er meine zwei Blätter in Augenschein. Trefflich! meinte er auf deutsch, und dann ein Schwall italienischer Worte, dem ich entnahm, daß ihm gefiel, was er da in Händen hatte. Dann wollte er noch wissen, wer der Compositeur denn sei. Ein Deutscher, sagte ich, sie werden ihn nicht kennen. Oh, Mademoiselle, erwiderte er, und dabei dehnte er die französische Aussprache so, als würde er Moasällää sagen, so daß ich vor innerlichem Lachen kaum antworten konnte. Was sollte ich auch sagen? Ich, eine Frau, die componiert? Da wäre ich schon wieder völlig erledigt. Zum Glück fiel mir der Name meines Clavecin-Lehrers ein, mein lieber und geduldiger Lehrer in der Anfangszeit, Herr Sieber.

Der Name des Compositeurs ist Sieber, sagte ich also frech.

Oh, nie gehört!

Ja, mein lieber Francesco Maria, das glaube ich dir gerne.

Dieser Herr Veracini, der meine Aufpasserin besonders herzlich begrüßte (was eigentlich für ihn spricht), hat angekündigt, daß er mit mir noch einige musikalische Abende zu geben bereit sei. Davon berichte ich Dir später, denn jetzt ist schon wieder Ankleidezeit fürs leidige Abendessen, und Papa will sicher wissen, wie Francesco Maria flötet.

Liebstes Luischen, laß Mama diesen Brief möglichst nicht sehen, sonst denkt sie, ich wäre überhaupt nicht an den Mann zu bringen.

In inniger Liebe

Deine Schwester Anna Elisabeth

Schloß Dunkelsbrück, 27. Februar 1701

Liebe, ferne große Schwester!

Wie oft habe ich Deine lieben Zeilen gelesen! Jeden Satz könnte ich auswendig zitieren – aber es hört mir ja niemand zu. Ich habe, getreu Deinem Wunsche, Deinen Brief sogleich, als der Postillion im Hof lärmte, aus seinen Händen gerissen und unter meiner Schürze versteckt. Glücklicherweise war Mama durch einen Expressbrief abgelenkt, den sie, alle Contenance vergessend, gleich im Vestibül aufriß. Unser Papa war der Schreiber, wie wir später erfuhren, und er teilte uns in aller Eile mit, daß wir künftighin nicht mehr an seine Adresse in Rom schreiben sollten, sondern nach Florenz.

Ihr seid also nicht mehr in dem vornehmen, römischen Hotel, sondern irgendwo in der Mitte von Italien. Wie wohl die Reise mit der Postkutsche war? Ich stelle mir vor, Sepp würde uns stundenlang in seiner Chaise herumfahren! Mir reicht es schon, wenn er uns auf den nächsten Markt mitnimmt. Das ist ein Geratter und Geschaukel, und bei den Löchern in der Straße macht die Kutsche jedesmal einen Hupfer, der uns mit den Köpfen an die Decke schlagen lässt. Er kutschiert mit Absicht so wild, wenn er nur Augustlein und mich hinten sitzen hat. Wenn Mama oder Tante Agathe dabei sind, lenkt er die beiden Pferde sacht und langsam, und für uns Kinder ist diese Fahrerei höchst langweilig. Übrigens läßt uns Sepp nicht aussteigen, wenn er die Kisten mit Eiern, Speck, Kartoffeln und Äpfeln auslädt; wir dürfen nur durch die Schlitze der Vorhänge beobachten, wie die Händler und Marktweiber sich über unsere Viktualien hermachen. Dann rast er gleich wieder durch den engen Waldweg zurück. Mama befragt ihn jedesmal eindringlich, ob er sich an die Anweisungen gehalten hat, uns nicht auf dem Marktplatz aussteigen zu lassen.

Du hast es gut, meine liebe Elisabeth! Italien!

Hier bei uns tut sich, seit Papa nicht mehr seine Festivitäten abhält, rein gar nichts. Hin und wieder kommt langweiliger Besuch, der es dann auch nicht lange bei uns aushält. Bei gutem Wetter (aber, sag mir, wann zeigt sich bei uns im Februar schon mal die Sonne?) geht man nach dem Essen im Park spazieren, immer darauf bedacht, die Rocksäume nicht mit Schnee oder Schmelzwasser zu beschmutzen. Wir Kinder müssen vor den Erwachsenen hermarschieren, werden ständig ermahnt, uns gerade zu halten, nicht zu stolpern, damit wir als Erwachsene dann ebenso dahinschleichen wie die Tanten und Onkel hinter uns.

Dabei bin ich schon 16! Also eigentlich kein Kind mehr. Aber weil unser kleines Brüderchen nicht benachteiligt werden soll, behandeln sie mich auch wie eine Vierzehnjährige. Dankbar soll ich sein, weil ich dabei sein darf, wenn der künftige Schloßherr Schreiben und Rechnen lernt. Warum auch nur habe ich so gar kein Talent fürs Musizieren! Dafür hätte man einen Lehrer extra für mich angestellt. Artig das Cembalo traktieren oder den Mund aufreißen für spitztönende Arien, das dürfen die Damen! Aber sich für komplizierte Rechenaufgaben zu interessieren, das soll mir verboten werden.

Mama hat keine Ahnung, wie ich Herrn Müllerson, das ist der Name des Lehrers, den man für unseren Bruder engagiert hat, wie ich also diesen liebenswerten Menschen herumgekriegt habe, daß er mir nach dem offiziellen Unterricht noch komplizierte Rechenaufgaben vorlegt, die wir dann miteinander lösen. Ich habe gemerkt, daß er manchmal auch Mühe hat, wenn wir in den Aufgabenheften lesen, bestimmte Lösungen zu finden. Er ist aber so gutmütig, nie auf seinen Ansichten zu bestehen, sondern ermutigt mich, selbständig zu rechnen und freut sich, wenn ich das richtige Ergebnis gefunden habe. Und so freue ich mich jeden Morgen über den Beginn des Unterrichts, während unser Brüderchen eher unwillig neben mir sitzt und über einfachen Aufgaben schwitzt. Herr Müllerson versteht es nicht nur, Mathematik verständlich darzustellen, er ist auch belesen und hat in seinem Zimmer, das ganz oben im 4. Stock liegt, einige ledergebundene Exemplare seltener Bücher, aus denen er mir manchmal vorliest. Es sind hauptsächlich fromme Geschichten aus dem Leben von Heiligen. Ich schaue dann in das vertraute Gesicht des Herrn Müllerson und habe manchmal das Gefühl, er wandelt sich beim Lesen in einen der heiligmäßigen Männer, von denen er erzählt.

Bei den Mahlzeiten sitzt er leider nicht mit uns am Tisch, sondern wird in der Küche mit den Dienstboten verköstigt. Das ärgert mich, denn er ist um ein Vielfaches gescheiter als alle die Onkel und Tanten, die vornehm vor den Goldrandtellern sitzen und nur Klatsch und Tratsch vom Hofe oder von ihren Nachbarn berichten. Ich überlege, ob ich nicht einmal mit Mama darüber reden soll. Dann habe ich aber wieder Angst, daß sie eine solche Unterhaltung zum Anlaß nehmen könnte, mich vom Unterricht auszuschließen. Bisher habe ich niemandem von meinem Extra-Unterricht erzählt, und ich werde mich hüten, allzu gescheit neben Augustlein zu wirken. Ich übe zwar fleißig mit ihm, tue aber immer so, als würde mir das Schreiben und Rechnen genauso schwer fallen wie ihm. Daß ich nach dem offiziellen Unterricht noch bei Herrn Müllerson sitzen bleibe, vermerkt August eher dankbar, weil er so früher entlassen wird und wieder in den Stall zu seinen Pferden laufen kann. So lebe ich eine Art von Doppelleben, indem ich nichts von meinen eigentlichen Interessen verlauten lasse und vor Mama verberge, was mich eigentlich beschäftigt. Wenn ich Nachmittage lang neben ihr sitze und an meinen Textilien herumstichle, bin ich mit den Gedanken bei Herrn Müllerson und seinem Unterricht.