Mysterien - Knut Hamsun - E-Book

Mysterien E-Book

Knut Hamsun

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Beschreibung

Hamsuns vielleicht wichtigster Roman: In der kleinen norwegischen Hafenstadt war Johan Nilsen Nagel vom ersten Tag an eine exotische Figur. Er war gekommen und geblieben, niemand wusste, warum. Er trägt knallgelbe Anzüge und schickt sich selbst Telegramme. Aber nicht nur durch solche Äußerlichkeiten verblüfft er die Einheimischen: Er wirbt um eine nicht mehr junge Frau und verliebt sich gleichzeitig in die schöne Tochter des Pfarrers.

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Das Buch

Ein Fremder trifft in einem beschaulichen norwegischen Küstenstädtchen ein. Johan Nilsen Nagels Kennzeichen sind ein knallgelber Anzug, ein kleines Fläschchen Blausäure, das er, für die eventuelle Verkürzung der Lebenszeit, stets bei sich führt, sowie ein Geigenkasten mit schmutziger Wäsche. Dieser »Ausländer des Daseins«, wie er sich selbst nennt, verblüfft die Einwohner des Ortes immer wieder mit seinem Verhalten: Leidenschaftlich verteidigt er einen lahmen alten Mann, den er nie zuvor gesehen hat, betätigt sich zum Schein als Detektiv, spricht voller Engagement über Literatur, ist ein charmanter Unterhalter und setzt sich mit nervöser Souveränität über die Regeln des Kleinstadtlebens hinweg. Er wirbt um eine nicht mehr junge Frau und verliebt sich gleichzeitig in die schöne Tochter des Pfarrers. Und beide weisen ihn ab. Für Johan, der zwischen Genie und Wahnsinn oszilliert, eine Bestätigung seines Gefühls der Nichtigkeit allen Lebens. Eine Erkenntnis, die ihn schließlich ins Meer treiben wird.

Mysterien, geschrieben 1891–92, gilt als eines von Hamsuns wichtigsten Werken. Vielleicht zum ersten Mal in der Literatur wird hier der Versuch unternommen, das Bewußtsein des Menschen selbst zum Helden eines Romans zu machen. Man hat dieses Werk, das viele autobiographische Elemente enthält und die zeitgenössische Kritik verstörte, mit den späteren Romanen Franz Kafkas verglichen. »Die ganze Erzählweise des 20.Jahrhunderts geht auf Hamsun zurück.« (Isaac B. Singer).

Der Autor

Knut Hamsun wurde am 4.August 1859 in Gudbrandsdalen/Norwegen als Knud Pedersen geboren und gilt als einer der bedeutendsten Schriftsteller Norwegens. Seine Schulausbildung war dürftig, eine Universität besuchte er nie und schlug sich zunächst mit Gelegenheitsarbeiten durch, bis ihm 1890 mit seinem autobiographischen Roman Hunger ein großer literarischer Erfolg gelang. 1920 erhielt er für sein Werk Segen der Erde den Literaturnobelpreis. Der wegen seiner Sympathien für den Nationalsozialismus politisch hochumstrittene Hamsun starb am 19.

Knut Hamsun

Mysterien

Roman

Aus dem Norwegischen von Siegfried Weibel

Mit einem Nachwort von Walter Baumgartner

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:

www.ullstein-taschenbuch.de

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ISBN 978-3-8437-0795-4

Neuausgabe im List Taschenbuch

1. Auflage Mai 2009

2. Auflage 2011

© für die deutsche Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2009

© der deutschen Ausgabe 1994

Paul List Verlag in der Südwest Verlag GmbH & Co. KG, München

© 1954 Gyldendal Forlag, Oslo

Titel der norwegischen Originalausgabe: Mysterier (Philipsen Forlag, Kopenhagen 1892;

1908 von Knut Hamsun überarbeitet)

Konzeption: semper smile Werbeagentur GmbH, München

Umschlaggestaltung: bürosüdo GmbH, München

Bildmotiv: © The Bridgeman Art Library:

People at an Exhibition, 1990 (acrylic on paper)

by Seligman, Lincoln (Contemporary Artist)

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzung wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

eBook: CPI – Clausen & Bosse, Leck

I

Letztes Jahr, mitten im Sommer, war eine kleine norwegische Küstenstadt Schauplatz einiger höchst außergewöhnlicher Begebenheiten. Es tauchte ein Fremder in der Stadt auf, ein gewisser Nagel, ein merkwürdiger und eigentümlicher Scharlatan, der eine Menge auffälliger Dinge tat und ebenso plötzlich wieder verschwand, wie er gekommen war. Dieser Mann wurde gar von einer jungen und geheimnisvollen Dame besucht, die in Gott weiß welcher Angelegenheit kam und kaum wagte, mehr als nur einige Stunden im Ort zu bleiben, und wieder abreiste. Doch all dies ist nicht der Anfang…

Der Anfang ist der, daß sich, als das Dampfschiff gegen sechs Uhr abends am Kai anlegte, zwei, drei Reisende an Deck zeigten, darunter einer in einer abstechenden gelben Kluft und einer breiten Samtmütze. Dies war der Abend des 12. Juni; denn an diesem Tag wurde an vielen Stellen im Ort anläßlich Fräulein Kiellands Verlobung, die eben am 12. Juni bekanntgegeben wurde, geflaggt. Der Bursche vom Hotel Central ging sofort an Bord, und der Mann in der gelben Kluft übergab ihm dann sein Gepäck; gleichzeitig gab er sein Billett bei einem der Steuerleute ab; doch danach begann er, statt an Land zu gehen, auf dem Deck auf und ab zu schreiten. Er schien stark bewegt zu sein. Als das Dampfschiff zum dritten Mal läutete, hatte er noch nicht einmal seine Rechnung für den Verzehr beglichen.

Während er damit beschäftigt war, blieb er plötzlich stehen und sah, daß das Schiff bereits ablegte. Er stutzte für einen Moment, dann winkte er zum Hotelburschen an Land hinüber und sagte zu ihm über die Reling hinweg:

Gut, nehmen Sie trotzdem mein Gepäck mit, und machen Sie für mich ein Zimmer fertig.

Damit nahm ihn das Schiff weiter den Fjord hinaus.

Dieser Mann war Johan Nilsen Nagel.

Der Hotelbursche zog dessen Gepäck auf seinem Karren mit; es bestand nur aus zwei kleinen Koffern und einem Pelz – ein Pelz, obwohl es doch mitten im Sommer war – sowie aus einem Handkoffer und einem Geigenkasten. Alles war ohne Etiketten.

Tags darauf in der Mittagszeit kam Johan Nagel beim Hotel vorgefahren, zweispännig auf dem Landweg kam er gefahren. Er hätte ebensogut, ja weit besser, den Seeweg nehmen können, und trotzdem kam er vorgefahren. Er hatte zusätzliches Gepäck dabei: auf dem Vordersitz stand noch ein Koffer, und neben diesem lagen eine Reisetasche, ein Mantel und ein Plaidgurt, der einige Dinge enthielt. Auf dem Plaidgurt war mit Perlen J. N. N. gestickt.

Noch im Wagen sitzend, fragte er den Hotelwirt nach seinem Zimmer, und als er in den ersten Stock geleitet wurde, fing er an, die Wände zu untersuchen, wie dick sie seien und ob man etwas aus den Nebenzimmern hören könne. Dann fragte er plötzlich das Mädchen:

Wie heißen Sie?

Sara.

Sara. Und übrigens: kann ich etwas zu essen bekommen? Aha, Sie heißen Sara? Hören Sie, sagte er weiterhin, ist hier in diesem Haus einmal eine Apotheke gewesen?

Sara antwortete verwundert:

Ja. Aber das ist mehrere Jahre her.

Aha, mehrere Jahre? Doch, mir war gleich so, als ich in den Flur kam; ich erkannte es nicht am Geruch, ich hatte aber trotzdem so ein Gefühl. Jaja.

Als er zum Essen herunterkam, öffnete er während der ganzen Mahlzeit seinen Mund nicht für ein einziges Wort. Seine Mitreisenden vom letzten Abend auf dem Dampfschiff, die beiden Herren, die oben am Tischende saßen, hatten, als er eingetreten war, einander zugefeixt, trieben recht offensichtlich sogar Spaß mit seinem gestrigen Mißgeschick, ohne daß er sich anmerken ließ, etwas davon mitzubekommen. Er aß schnell, lehnte den Nachtisch kopfschüttelnd ab und erhob sich unvermittelt, indem er sich rücklings über das Taburett gleiten ließ. Er steckte sich sofort eine Zigarre an und verschwand die Straße hinunter.

Und jetzt blieb er bis weit nach Mitternacht weg; kurz bevor die Uhr drei schlug, kam er zurück. Wo er gewesen war? Es stellte sich später heraus, daß er zum Nachbarort zurückgegangen war, den ganzen langen Weg, den er am Vormittag gefahren gekommen war, hatte er hin und her zu Fuß gemacht. Er mußte wohl etwas von höchster Wichtigkeit zu erledigen gehabt haben. Als Sara ihm aufschloß, war er naßgeschwitzt; er lächelte dem Mädchen jedoch mehrmals zu und war in ausgezeichneter Laune.

Gott, welch entzückenden Nacken Sie haben, Menschenskind! sagte er. Ist hier Post für mich angekommen, während ich weg war? Also für Nagel, Johan Nagel? Huch, gleich drei Telegramme! Ach, hören Sie, können Sie mir nicht den Gefallen tun und das Bild dort von der Wand nehmen? Damit ich es nicht mehr zu sehen brauche. Es ist so ärgerlich, hier auf dem Bett zu liegen und es dauernd vor Augen zu haben. Napoleon der Dritte hatte nämlich keinen so grünen Bart. Vielen Dank auch.

Als Sara gegangen war, blieb Nagel mitten im Zimmer stehen. Er stand völlig still. Er fing an, ganz abwesend auf einen bestimmten Punkt an der Wand zu starren, und abgesehen davon, daß sein Kopf immer mehr auf die eine Seite sank, bewegte er sich nicht. Dies hielt eine ganze Weile an.

Er war von unterdurchschnittlicher Größe und hatte ein gebräuntes Gesicht mit einem merkwürdig dunklen Blick und einem feinen, femininen Mund. An dem einen Finger trug er einen einfachen Ring aus Blei oder Eisen. Er war sehr breit in den Schultern und mochte achtundzwanzig oder dreißig Jahre alt sein, jedenfalls nicht über dreißig. Sein Haar begann an den Schläfen zu ergrauen.

Er erwachte aus seinen Gedanken mit einem heftigen Ruck, einem so heftigen, daß es mutwillig sein mochte, ganz so als hätte er sich, obwohl er doch allein im Zimmer war, diesen Ruck lange zurechtgelegt. Dann holte er ein paar Schlüssel aus der Hosentasche, etwas Kleingeld und eine Art von Rettungsmedaille an einem bedauernswert mißhandelten Band; diese Dinge legte er auf den Tisch neben seinem Bett. Danach steckte er seine Brieftasche unter das Kopfkissen und holte aus der Westentasche seine Uhr hervor und ein Fläschchen, ein kleines Medizinfläschchen, das als gifthaltig gekennzeichnet war. Er behielt die Uhr einen Augenblick lang in der Hand, ehe er sie weglegte, doch das Fläschchen steckte er sofort zurück in die Tasche. Jetzt zog er seinen Ring ab und wusch sich; er strich mit den Fingern sein Haar zurück, in den Spiegel sah er überhaupt nicht.

Er war bereits zu Bett gegangen, als er plötzlich seinen Ring vermißte, der vergessen auf dem Waschtisch lag, und als ob er nicht ohne diesen schäbigen Eisenring sein könne, stand er noch einmal auf und streifte ihn über. Schließlich erbrach er die drei Telegramme, hatte aber das erste noch nicht durchgelesen, bevor er ein ziemlich kurzes, leises Lachen anschlug. Er lag da und lachte ganz für sich allein; seine Zähne waren außerordentlich schön. Dann wurde sein Gesicht wieder ernst, und kurz danach schleuderte er die Telegramme mit größter Gleichgültigkeit weg. Sie schienen sich gleichwohl auf eine große, wichtige Sache zu beziehen; es war darin die Rede von zweiundsechzigtausend Kronen für einen Landbesitz, ja, einem Angebot über die Barauszahlung der gesamten Summe, falls der Verkauf sofort zustande käme. Eine trockne, kurze Geschäftskorrespondenz, an der nichts Lächerliches war; aber sie war ohne Unterschrift. Einige Minuten später war Nagel eingeschlafen. Die beiden Kerzen, die auf dem Tisch brannten und die er zu löschen vergessen hatte, erhellten sein glattrasiertes Gesicht und seine Brust und warfen einen ruhigen Schein auf die Telegramme, die offen ausgebreitet auf dem Tisch lagen…

Am Morgen danach schickte Nagel einen Boten zum Postamt und bekam einige Zeitungen, darunter auch ein paar ausländische, aber keinen Brief. Seinen Geigenkasten stellte er mitten im Zimmer, als wolle er ihn zur Schau stellen, auf einen Stuhl; er öffnete ihn aber nicht und ließ das Instrument unangetastet.

Im Laufe des Vormittags machte er nichts anderes, als einige Briefe zu schreiben und, ein Buch lesend, in seinem Zimmer auf und ab zu gehen. Außerdem kaufte er in einem Laden ein Paar Handschuhe, und etwas später, als er auf den Marktplatz ging, bezahlte er zehn Kronen für einen kleinen roten Welpen, den er gleich darauf dem Wirt verehrte. Den Welpen hatte er zum Gelächter aller Leute Jakobsen getauft, obschon es sich doch um ein Weibchen handelte.

Er unternahm also an diesem ganzen Tag nichts. Er hatte in der Stadt keine Geschäfte und machte keine Besuche, sprach auf keinem der Ämter vor und kannte keine Seele. Im Hotel wunderte man sich etwas über seine auffällige Gleichgültigkeit fast allem, ja sogar seinen eigenen Sachen gegenüber. So lagen noch die drei Telegramme für jedermann offen auf dem Tisch seines Zimmers; er hatte sie seit dem vorigen Abend nicht mehr angerührt. Er konnte es auch unterlassen, auf direkt an ihn gerichtete Fragen zu antworten. Der Wirt hatte zweimal versucht, aus ihm herauszubekommen, was er eigentlich sei und weshalb er in die Stadt gekommen wäre, doch er hatte es beide Male in den Wind geschlagen. Noch ein eigentümlicher Zug trat an ihm im Laufe des Tages hervor: Obwohl er überhaupt keinen Menschen in der Stadt kannte und sich an niemand gewandt hatte, war er doch am Eingang des Friedhofs vor einer der jungen Damen der Stadt stehengeblieben, hatte haltgemacht, sie angesehen und sich ohne ein erklärendes Wort sehr tief verbeugt. Die betreffende Dame war übers ganze Gesicht errötet. Danach hatte sich der freche Mensch auf dem Landweg hinausgetrollt, ganz bis zum Pfarrhof und daran vorbei – was er übrigens auch in den folgenden Tagen tat. Immer mußte ihm geöffnet werden, nachdem das Hotel schon für den Abend geschlossen hatte, so spät kam er von seinen Wanderungen heim.

Dann, am dritten Morgen, gerade als Nagel aus seinem Zimmer kam, wurde er vom Wirt angesprochen, der ihn grüßte und einige liebenswürdige Worte sagte. Sie spazierten auf die Veranda hinaus und nahmen beide Platz, und der Wirt verfiel darauf, ihm eine Frage bezüglich der Versendung einer Kiste mit frischem Fisch zu stellen:

Wie soll ich bloß diese Kiste dort verschicken, können Sie mir das sagen?

Nagel sah die Kiste an, lächelte und schüttelte den Kopf.

Nein, davon verstehe ich nichts, antwortete er.

Ach, nicht. Ich dachte, daß Sie vielleicht etwas herumgekommen sind und andernorts das eine oder andere gesehen haben, wie man da verfährt.

O nein, ich bin nicht viel gereist.

Pause.

Nein, Sie haben sich vielleicht eher mit – ja, mit anderen Dingen befaßt. Sind Sie vielleicht Geschäftsmann?

Nein, ich bin kein Geschäftsmann.

Also, dann sind Sie nicht geschäftlich hier bei uns?

Keine Antwort. Nagel steckte sich eine Zigarre an und rauchte bedächtig und schaute in die Luft. Der Wirt beobachtete ihn von der Seite.

Wollen Sie uns nicht einmal etwas Vorspielen? Ich habe gesehen, Sie haben eine Geige dabei, sagte der Wirt von neuem.

Nagel antwortete gleichgültig:

Ach nein, das habe ich aufgegeben.

Kurz danach stand er ohne weiteres auf und ging. Nach einem Augenblick kam er zurück und sagte:

Hören Sie, mir ist eingefallen: Sie können mir die Rechnung ausstellen, wann Sie wollen. Mir ist es ja egal, wann ich bezahle.

Danke, danke, antwortete der Wirt, das eilt nicht. Wenn Sie für längere Zeit hierbleiben, müssen wir es wohl etwas billiger machen. Ich weiß nicht, ob Sie Vorhaben, länger hierzubleiben?

Nagel wurde mit eins lebhaft und antwortete sofort; ohne erkennbaren Grund nahm sein Gesicht sogar eine leichte Rötung an.

Doch, es kann gut sein, daß ich etwas längere Zeit hierbleibe, sagte er. Das hängt von den Umständen ab. Apropos, ich habe es Ihnen vielleicht nicht gesagt: Ich bin Agronom, Landwirt, ich komme von einer Reise, und es könnte sein, daß ich mich für gewisse Zeit hier niederlasse. Aber vielleicht habe ich sogar vergessen… Mein Name ist Nagel, Johan Nilsen Nagel.

Damit kam er näher und drückte recht herzlich die Hand des Wirts und bat um Verzeihung, weil er sich nicht früher vorgestellt hatte. In seinen Gesichtszügen war keine Spur von Ironie zu entdecken.

Mir fällt ein, daß wir Ihnen vielleicht ein beßres und ruhigeres Zimmer herrichten sollten, sagte der Wirt. Jetzt wohnen Sie genau neben der Treppe, und das ist nicht immer angenehm.

Nein danke, das ist nicht nötig, das Zimmer ist ausgezeichnet, ich bin damit sehr zufrieden. Außerdem kann ich von meinem Fenster aus den ganzen Marktplatz überblicken, und das ist doch kurzweilig.

Wenig später sagte der Wirt noch:

Ja, Sie nehmen sich jetzt also für eine gewisse Zeit frei? Sie werden jedenfalls den Sommer eine Weile lang hierbleiben?

Nagel antwortete:

Zwei, drei Monate, vielleicht auch länger, ich weiß nicht so genau. Es kommt ganz auf die Umstände an. Es wird sich zeigen.

Ein Mann, der in diesem Augenblick gerade vorbeiging, grüßte den Wirt. Es war ein unansehnlicher Mann, klein von Wuchs und äußerst armselig gekleidet; sein Gang war so beschwerlich, daß es auffiel, und doch kam er ziemlich schnell voran. Obwohl er sich sehr tief verneigte, griff der Wirt nicht zum Hut; Nagel hingegen nahm seine Samtmütze ab.

Der Wirt sah ihn an und sagte:

Diesen Mann nennen wir Minute. Er ist nicht ganz richtig im Kopf, schade drum, er ist ein herzensguter Kerl.

Das war alles, was über Minute gesprochen wurde.

Ich habe gelesen, sagt Nagel plötzlich, ich habe vor einigen Tagen in den Zeitungen von einem Mann gelesen, der irgendwo hier draußen tot im Wald gefunden wurde, was für einer war das eigentlich? Ein Karlsen, glaube ich? War er von hier?

Ja, antwortet der Wirt, er war der Sohn von einer hiesigen Schröpferin; Sie können ihr Haus von hier aus sehen, das rote Dach dort hinten. Er war jetzt nur die Ferien über hier, und dabei nahm er sich dann auch gleich das Leben. Und das ist äußerst schade, er war ein begabter Junge und sollte bald Pfarrer werden. Ach ja, man weiß nicht recht, was man dazu sagen soll; aber es ist doch etwas verdächtig; denn wenn beide Pulsadern durchgeschnitten sind, dann kann es doch wohl schwerlich ein Unfall gewesen sein. Jetzt hat man auch das Messer gefunden, ein kleines Federmesser mit weißem Heft; die Polizei hat es gestern spätabends gefunden. Vermutlich war eine Liebesgeschichte mit im Spiel.

Ach so. Aber gibt es denn wirklich irgendwelche Zweifel, daß er sich selbst umgebracht hat?

Man hofft das Beste, das heißt, es gibt auch welche, die glauben, er könne mit dem Messer in der Hand spaziert und dann so tückisch gestolpert sein, daß er sich an beiden Händen zugleich verletzt hat. Haha, ich halte das für unwahrscheinlich, für sehr unwahrscheinlich. Aber er kommt ganz bestimmt in geweihte Erde. Nein, er ist wohl leider nicht gestolpert!

Sie sagen, daß man das Messer erst gestern abend gefunden hat, lag denn das Messer nicht neben ihm?

Nein, es lag einige Schritte weit entfernt. Nachdem er es benutzt hatte, warf er es weg, weiter in den Wald hinein; es war reiner Zufall, daß es gefunden wurde.

So. Doch welchen Grund hätte er haben sollen, das Messer wegzuwerfen, wenn er bereits mit offenen Schnittwunden dalag? Es wäre sowieso allen klar, daß er ein Messer benutzt haben mußte?

Ja, weiß Gott, was er sich dabei gedacht hatte; aber da war wohl, wie gesagt, eine Liebesgeschichte mit im Spiel. Ich habe noch nie so was Verrücktes gehört; je mehr ich darüber nachdenke, desto haarsträubender kommt es mir vor.

Weshalb glauben Sie, daß eine Liebesgeschichte mit im Spiel war?

Aus verschiedenen Gründen. Dazu will ich aber lieber nichts sagen.

Aber hätte er nicht von selbst fallen können, unfreiwillig? Er lag doch so abscheulich; lag er nicht auf dem Bauch und mit dem Gesicht in einer Pfütze?

Doch, und er war fürchterlich verdreckt. Aber das muß nichts heißen, er kann auch damit eine Absicht gehabt haben. Vielleicht hat er auf diese Weise den Todesschmerz in seinem Gesicht kaschieren wollen. Man weiß es nicht.

Hatte er etwas Schriftliches bei sich?

Er soll beim Gehen etwas auf ein Stück Papier geschrieben haben; er pflegte übrigens oft die Wege entlangzugehen und an etwas zu schreiben. Nun denkt man sich, daß er das Messer zum Anspitzen des Bleistifts oder derlei benutzt hat, und dann soll er vornüber gestürzt sein und sich zuerst genau in die Pulsader des einen Handgelenks ein Loch gestochen haben, danach genau in die Pulsader des anderen Handgelenks, alles im selben Sturz. Hahaha. Aber er hat ganz richtig etwas Schriftliches hinterlassen, er hielt ein kleines Stückchen Papier in der Hand, und auf dem Papier standen die Worte: Möge dein Stahl so scharf sein wie dein letztes Nein!

Was für ein Unsinn. War das Messer stumpf?

Ja, es war stumpf.

Hätte er es nicht erst wetzen können?

Es war nicht sein Messer.

Wessen Messer war es denn?

Der Wirt überlegt ein bißchen, aber sagt dann:

Es war Fräulein Kiellands Messer.

War es das Messer Fräulein Kiellands? fragte Nagel. Und kurz darauf fragte er weiter: Na, und wer ist Fräulein Kielland?

Dagny Kielland. Sie ist die Tochter des Pfarrers.

Aha. Das ist ja sehr merkwürdig. Hat man so was schon gehört! War denn der junge Mann so in sie vergafft?

Ja, das war er wohl. Übrigens sind alle in sie vergafft, er war da nicht der einzige.

Nagel versank in Gedanken und sagte nichts weiter. Dann bricht der Wirt das Schweigen und erklärt:

Ja, was ich Ihnen jetzt erzählt habe, ist ein Geheimnis, und ich bitte Sie …

Ach so, antwortet Nagel. Ja, Sie können völlig beruhigt sein.

Als Nagel kurz danach zum Frühstück hinunterging, stand der Wirt bereits in der Küche und teilte mit, daß er endlich eine ordentliche Unterhaltung mit dem gelben Mann von Nummer 7 geführt habe. Er ist Agronom, sagte der Wirt, und er kommt aus dem Ausland. Er sagt, daß er mehrere Monate hierbleiben werde, Gott weiß, was für ein Mann das ist.

II

Am Abend desselben Tages passierte es, daß Nagel plötzlich auf Minute stieß. Es ergab sich ein langweiliges und endloses Gespräch zwischen ihnen, ein Gespräch, das gut und gerne drei Stunden dauerte.

Das Ganze verlief von Anfang bis Ende dergestalt: Johan Nagel saß im Café des Hotels und hielt eine Zeitung in der Hand, als Minute hereinkam. Um die Tische saßen auch noch einige weitere Leute, darunter eine dicke Bauersfrau mit einem schwarz-roten gestrickten Tuch um die Schultern. Minute schien allgemein bekannt zu sein; er grüßte höflich nach rechts und links, als er hereinkam, wurde aber mit lautem Rufen und Gelächter empfangen. Selbst die Bauersfrau stand auf und wollte mit ihm tanzen.

Heute nicht, heute nicht, sagt er ausweichend zu der Frau, und damit hält er direkt auf den Wirt zu und wendet sich, die Mütze in der Hand, an ihn:

Ich habe die Kohlen in die Küche hinaufgetragen, und dann gibt es heute wohl nichts mehr?

Nein, antwortet der Wirt, was sollte sonst noch sein?

Nein, sagt auch Minute und tritt verschüchtert zurück.

Er war außerordentlich häßlich. Er hatte ruhige, blaue Augen, aber hervorstehende, unheimliche Schneidezähne und einen äußerst verrenkten Gang, weil er versehrt war. Sein Haar war ziemlich grau; der Bart allerdings war dunkler, doch so dünn, daß überall das Gesicht durchschimmerte. Dieser Mann war einmal Seemann gewesen, lebte jetzt aber bei einem Verwandten, der unten an der Landungsbrücke eine kleine Kohlenhandlung hatte. Wenn er mit jemand sprach, sah er selten oder nie auf.

Man rief ihn von einem der Tische drüben, ein Herr in grauer Sommerkleidung winkt ihm eifrig zu und zeigt ihm eine Bierflasche.

Kommen Sie und nehmen Sie ein Glas Muttermilch. Außerdem will ich sehen, wie es Ihnen steht, Ihren Bart los zu sein, sagt er.

Ehrerbietig, immer noch mit der Mütze in der Hand und mit krummem Rücken, nähert sich Minute dem Tisch. Als er an Nagel vorbeikam, grüßte er ihn eigens und bewegte ein klein wenig die Lippen. Er stellt sich vor dem grauen Herrn auf und flüstert:

Nicht so laut, Herr Assessor, ich bitte Sie. Sie sehen, es sind Fremde da.

Herrgott noch mal, sagt der Assessor, ich wollte Sie doch nur zu einem Glas Bier einladen. Und dann kommen Sie und schimpfen mich hier aus, zu laut zu sein.

Nein, Sie mißverstehen mich, und ich bitte um Entschuldigung. Doch wenn Fremde anwesend sind, möchte ich nicht gern wieder mit dem alten Unfug anfangen. Ich kann auch kein Bier trinken, nicht jetzt.

Ach so, das können Sie nicht? Sie können kein Bier trinken?

Nein, ich danke Ihnen, jetzt nicht.

Ach so, Sie danken mir jetzt nicht? Wann danken Sie mir denn? Hahaha, Sie sind vielleicht ein Pfarrerssohn! Achten Sie doch mal darauf, wie Sie sich ausdrücken.

Oh, Sie mißverstehen mich, aber das macht nichts.

So, so, keinen Unsinn. Was ist denn los mit Ihnen?

Der Assessor zieht Minute auf einen Stuhl herunter, und Minute sitzt auch einen Augenblick, steht dann aber wieder auf.

Nein, lassen Sie mich in Ruhe, sagt er, ich vertrage das Trinken nicht; in letzter Zeit vertrage ich es noch weniger als früher, Gott weiß, woher das kommt. Ehe ich mich’s versehe, bin ich betrunken und finde mich nicht mehr zurecht.

Der Assessor erhebt sich, sieht Minute fest an, drückt ihm ein Glas in die Hand und sagt:

Trinken Sie.

Pause. Minute sieht auf, streicht das Haar aus der Stirn und schweigt.

Nun, um Ihnen zu Willen zu sein; aber nur ein paar Tropfen, sagt er dann. Wirklich nur etwas, um die Ehre zu haben, mit Ihnen anzustoßen!

Trinken Sie aus! ruft der Assessor und muß sich abwenden, um nicht loszulachen.

Nein, nicht alles, nicht alles. Warum soll ich austrinken, wenn es mir zuwider ist? Ja, nehmen Sie es mir nicht übel, und machen Sie deswegen kein Gesicht; dann tu’ ich es eben dieses eine Mal, wenn Sie durchaus wollen. Ich hoffe, es steigt mir nicht in den Kopf. Es ist lächerlich, aber ich vertrage so wenig. – Prost!

Austrinken, austrinken! schreit der Assessor erneut, ganz bis zum Grund! So, ja, so ist’s richtig. So, jetzt setzen wir uns und schneiden Grimassen. Fürs erste können Sie ein bißchen mit den Zähnen knirschen, dann schneide ich Ihnen den Bart ab und mache Sie um zehn Jahre jünger. Doch erst knirschen Sie also mit den Zähnen.

Nein, das tue ich nicht, nicht im Beisein aller dieser fremden Leute. Das dürfen Sie nicht verlangen, ich tue es wirklich nicht, antwortet Minute und will gehen. Ich habe auch keine Zeit, sagt er.

Auch keine Zeit? Das ist schlimm. Haha, das ist wirklich schlimm. Nicht einmal Zeit?

Nein, nicht jetzt.

Hören Sie her: Wenn ich Ihnen jetzt erzählte, daß ich Sie mir schon lange in einem anderen Mantel, als Sie ihn jetzt anhaben, vorstelle… Lassen Sie mich mal sehen, doch, der ist doch vollständig verrottet, was, sehen Sie! Er verträgt nicht die leiseste Berührung. Und der Assessor findet ein kleines Loch, durch das er den Finger bohrt. Er gibt nach, er hält nicht das geringste aus, hier, sehen Sie, nein, wollen Sie wohl hersehen!

Lassen Sie mich in Ruhe! Um Gottes willen, was habe ich Ihnen getan? Und lassen Sie meinen Mantel sein!

Herrgott noch mal, ich verspreche Ihnen doch einen anderen Mantel, gleich morgen, ich verspreche es unter – lassen Sie mich sehen: eins, zwei, vier, sieben – also sieben Zeugen. Was haben Sie nur heute abend? Sie spielen sich auf und sind barsch und wollen uns alle niedermachen. Doch, das tun Sie. Nur weil ich Ihren Mantel antippe.

Ich bitte um Verzeihung, es war nicht meine Absicht, barsch zu sein; Sie wissen, daß ich Ihnen jedweden Gefallen tue, aber…

Na, dann tun Sie mir den Gefallen und setzen Sie sich.

Minute streicht sein graues Haar aus der Stirn und setzt sich.

Gut, tun Sie mir weiterhin den Gefallen und knirschen Sie ein bißchen mit den Zähnen.

Nein, das tu’ ich nicht.

So, das tun Sie nicht, was! Ja oder nein!

Nein, du lieber Gott, was habe ich Ihnen denn getan? Können Sie mich nicht in Frieden lassen? Warum soll gerade ich mich vor allen zum Narren machen? Der Fremde dort drüben sieht her, das ist mir aufgefallen, er beobachtet uns, und auch er lacht vermutlich. So ist es immer, am ersten Tag, als Sie als Assessor hierher kamen, hatte Doktor Stenersen mich am Schlafittchen und brachte Ihnen sofort bei, mit mir Schabernack zu treiben, und nun bringen Sie dem Herren dort drüben dasselbe bei. Der eine nach dem anderen lernt es.

So so, ja oder nein?

Nein, hören Sie! schreit Minute und springt vom Stuhl auf. Doch als hätte er Angst, zu hochfahrend gewesen zu sein, setzt er sich wieder und fügt hinzu: Ich kann auch gar nicht mit den Zähnen knirschen, glauben Sie mir doch.

Sie können nicht? Haha, natürlich können Sie. Sie knirschen ganz hervorragend mit den Zähnen.

Gott helfe mir, ich kann es nicht!

Hahaha! Aber Sie haben das doch schon einmal gemacht.

Ja, aber da war ich betrunken, ich erinnere mich nicht daran, alles schwirrte vor meinen Augen. Ich war danach zwei Tage krank.

Stimmt, sagt der Assessor, Sie waren damals betrunken, das gebe ich zu. Warum sitzen Sie hier eigentlich und plappern dies vor allen Leuten aus? So weit wäre ich nicht gegangen.

Zu diesem Zeitpunkt ging der Wirt aus dem Café. Minute schweigt; der Assessor sieht ihn an und sagt:

Na, was wird nun? Denken Sie an den Mantel.

Ich denke dran, antwortet Minute, aber ich will und kann nicht mehr trinken, damit Sie es wissen.

Sie wollen und können! Haben Sie gehört, was ich sagte? Wollen und können, sagte ich. Und wenn ich es in Sie reinschütten muß, so… Mit diesen Worten steht der Assessor mit Minutes Glas in der Hand auf. So, Maul auf!

Nein, bei Gott im Himmel, ich trinke kein Bier mehr, schreit Minute bleich vor Erregung. Und keine Macht der Erde kann mich dazu bringen! Ja, Sie müssen mich schon entschuldigen, mir wird davon übel, Sie wissen nicht, wie es mir geht. Ich bitte Sie aufrichtig, tun Sie mir das nicht an. Da will ich lieber – lieber ohne Bier ein bißchen mit den Zähnen knirschen.

Na, das ist etwas anderes, das ist zum Teufel noch mal etwas ganz anderes, wenn Sie es ohne Bier machen wollen.

Ja, ich mache es lieber ohne Bier.

Und Minute knirscht endlich unter gellendem Lachen der Umhersitzenden mit seinen fürchterlichen Zähnen. Nagel liest scheinbar noch immer seine Zeitung; er sitzt ganz still auf seinem Platz am Fenster.

Lauter! lauter! schreit der Assessor; knirschen Sie lauter, sonst können wir nichts hören.

Minute sitzt steif und kerzengerade auf dem Stuhl, hält sich mit beiden Händen fest, als fürchte er herunterzufallen, und knirscht mit den Zähnen, daß sein Kopf vibriert. Alle lachen, die Bauersfrau lacht auch, so daß sie sich die Augen trocknen muß; sie weiß sich vor Lachen überhaupt nicht mehr zu helfen und spuckt aus schierer Verzückung sinnlos zweimal auf den Boden.

Gott bewahre mich vor euch! heult sie völlig außer sich. Nein, dieser Assessor!

So! Ich kann nicht lauter knirschen, sagt Minute, ich kann wirklich nicht, Gott ist mein Zeuge, Sie müssen mir glauben, jetzt kann ich nicht mehr.

Nein nein, also ruhen Sie sich etwas aus, und fangen Sie dann wieder an. Denn Zähneknirschen müssen Sie. Danach schneiden wir Ihnen den Bart ab. Und jetzt trinken Sie Bier; doch, Sie müssen, sehen Sie, hier steht es schon.

Minute schüttelt den Kopf und schweigt. Der Assessor zückt sein Portemonnaie und legt ein Fünfundzwanzigörestück auf den Tisch. Dabei sagt er:

Sie machen es übrigens normalerweise für zehn, doch ich mißgönne Ihnen nicht die fünfundzwanzig, ich erhöhe Ihre Gage. So!

Piesacken Sie mich doch nicht weiter, ich tu’ es nicht.

Sie tun es nicht? Sie weigern sich?

Gott im Himmel, hören Sie doch endlich auf, und lassen Sie mich in Ruhe! Ich laß mich nicht weiter wegen diesem Mantel kujonieren, ich bin schließlich auch ein Mensch. Was wollen Sie eigentlich von mir?

Ich will Ihnen jetzt eines sagen: Wie Sie sehen, schnipse ich dies bißchen Zigarrenasche in Ihr Glas, sehen Sie? Und ich nehme dieses unbedeutende Schwefelhölzchen hier und diese Kleinigkeit eines Schwefelhölzchens hier und werfe diese beiden Schwefelhölzchen in ebendieses Glas, während Sie Zusehen. So! Und jetzt garantiere ich Ihnen, daß Sie Ihr Glas trotzdem bis auf den Grund austrinken werden. Ja, Sie werden es aus trinken.

Minute sprang auf. Er zitterte sichtlich, sein graues Haar war ihm wieder in die Stirn gefallen, und er starrte dem Assessor geradewegs ins Gesicht. Einige Sekunden lang.

Nein, das geht zu weit, das geht zu weit! schreit sogar die Bauersfrau. Tun Sie das nicht! Hahaha. Gott behüte mich vor euch!

Sie wollen also nicht? Sie weigern sich? fragt der Assessor. Auch er erhebt sich und bleibt stehen.

Minute strengte sich an zu reden, brachte aber nicht ein Wort hervor. Alle sahen ihn an.

Da steht plötzlich Nagel von seinem Tisch am Fenster auf, legt die Zeitung hin und geht quer durch den Raum. Er übereilt sich nicht und macht keinen Lärm, doch trotzdem zog er die Aufmerksamkeit aller auf sich. Er bleibt bei Minute stehen, legt seine Hand auf dessen Schulter und sagt mit lauter, klarer Stimme:

Wenn Sie Ihr Glas nehmen und es diesem Bengel da auf den Kopf hauen, dann gebe ich Ihnen zehn Kronen in bar und stehe für alle möglichen Folgen ein. Er zeigte direkt ins Gesicht des Assessors und wiederholte: Ich meine diesen Bengel da.

Es wurde schlagartig völlig still. Minute schaute entgeistert von einem zum anderen und sagte: Aber… Nein, aber…? Weiter kam er nicht, doch er wiederholte dies mit zitternder Stimme immer wieder und so, als sei es eine Frage. Niemand sonst sagte etwas. Der Assessor trat verstört einen Schritt zurück und fand zu seinem Stuhl; sein Gesicht war ganz weiß geworden, und auch er sagte nichts. Sein Mund stand offen.

Ich wiederhole, beharrte Nagel laut und langsam, daß ich Ihnen zehn Kronen dafür gebe, wenn Sie Ihr Glas auf den Kopf dieses Bengels hauen. Das Geld habe ich hier in der Hand. Sie brauchen sich auch nicht vor den Folgen zu fürchten. Und Nagel holte tatsächlich einen Zehnkronenschein hervor und zeigte ihn Minute.

Doch Minute führte sich sonderbar auf. Er machte sich sofort in eine Ecke des Cafés davon, lief mit seinen kleinen, verrenkten Schritten in diese Ecke und setzte sich dort hin, ohne zu antworten. Er saß mit gesenktem Kopf und schielte nach allen Seiten, wobei er mehrere Male wie in Angst die Knie hochzog.

Jetzt ging die Tür auf, und der Wirt kam zurück. Er war drüben am Ausschank mit seinen eigenen Sachen beschäftigt und achtete nicht darauf, was um ihn her passierte. Erst als der Assessor plötzlich aufsprang und beide Arme mit einem wütenden, fast lautlosen Ruf vor Nagel hochriß, wurde der Wirt aufmerksam und fragte:

Was in aller Welt…?

Aber niemand gab etwas zur Antwort. Der Assessor schlug zweimal wild zu, stieß aber jedesmal gegen Nagels Fäuste. Er richtete nichts aus. Sein Mißerfolg reizte ihn, und er schlug dumm in die Luft, als wolle er sich alles vom Leibe halten, schließlich taumelte er seitlich die Tische entlang, rempelte an ein Taburett und fiel auf die Knie. Er japste laut, die ganze Gestalt war in ihrer Raserei nicht wiederzuerkennen; überdies hatte er seine Arme taub geschlagen an diesen beiden spitzen Fäusten, die, wo er auch hinschlug, in der Luft staken. Jetzt entstand ein allgemeiner Tumult im Café, die Bauersfrau und ihr Anhang flüchteten zur Tür, während die anderen sich überschrien und dazwischenfahren wollten. Schließlich erhebt der Assessor sich und geht auf Nagel zu, bleibt stehen und schreit, die Hände von sich gestreckt, schreit in lächerlicher Verzweiflung, weil er keine Worte findet:

Du verdammter… hol dich der Teufel, du Lorbaß!

Nagel sah ihn an und lächelte, ging zum Tisch, nahm den Hut des Assessors und überreichte ihm diesen mit einer Verbeugung. Der Assessor riß den Hut an sich und wollte ihn in seiner Raserei zurückschleudern, besann sich jedoch und setzte ihn mit einem Ruck auf den Kopf. Dann wandte er sich um und ging zur Tür raus. Er hatte zwei große Dellen in seinem Hut, als er ging, und gab dadurch eine komische Figur ab.

Jetzt drängte sich der Wirt vor und verlangte nach Erklärung. Er wandte sich an Nagel, packte ihn am Arm und sagte:

Was geht hier vor? was hat das zu bedeuten?

Nagel antwortete:

Ach, wollen Sie es bitte unterlassen, mich am Arm zu packen; ich laufe nicht weg. Im übrigen geht hier nichts vor, ich habe den Mann, der gerade hinausging, beleidigt, und er wollte sich verteidigen, dazu ist nichts weiter zu bemerken, es ist alles in Ordnung.

Doch der Wirt wurde wütend und stampfte auf den Boden.

Keinen Arger! schrie er, keinen Arger! Wenn Sie Krach machen wollen, gehen Sie raus auf die Straße, doch hier drin will ich absolut nichts davon wissen. Ich glaube, alle fangen an überzuschnappen!

Ist ja schon gut! unterbrechen einige der Gäste, wir haben das Ganze doch mitgekriegt! Und mit dem Drang braver Leute, es mit dem jeweils gerade Siegenden zu halten, ergreifen sie vorbehaltlos Partei für Nagel. Sie erläuterten dem Wirt den ganzen Hergang.

Nagel selbst zuckte die Schultern und ging zu Minute hin. Ohne jede Einleitung fragte er den kleinen grauhaarigen Narren:

In welchem Verhältnis stehen Sie zu diesem Assessor, daß er Sie in solcher Weise behandeln kann?

Ach was! antwortet Minute. Ich stehe in gar keinem Verhältnis zu ihm, er ist mir fremd. Ich habe ihm nur einmal für zehn Öre auf dem Marktplatz vorgetanzt. Im übrigen treibt er immer seinen Spaß mit mir.

Sie tanzen also gegen Bezahlung vor Leuten?

Ja, ab und zu. Aber nicht oft, nur wenn ich diese zehn Öre brauche und sie nicht auf andere Weise auftreiben kann.

Was machen Sie denn mit dem Geld?

Es gibt allerhand, was ich mit dem Geld anfangen kann. Erstens bin ich ein dummer Mensch, ich bin nicht sehr aufgeweckt, und das bekommt mir nicht gut. Als ich Seemann war und selbst für mich aufkam, ging es in jeder Hinsicht besser; doch dann kam ich zu Schaden; ich fiel von der Rigg und zog mir einen Bruch zu, und seitdem habe ich mich nicht gut durchschlagen können. Ich bekomme mein Essen und alles, was ich sonst noch brauche, von meinem Onkel, ich wohne auch bei ihm und habe es gut, ja alles im Überfluß, denn mein Onkel hat einen Kohlenhandel, von dem er lebt. Aber ich trage auch selbst etwas zu meinem Unterhalt bei, besonders jetzt im Sommer, wo wir fast keine Kohlen verkaufen. Das ist die reine Wahrheit. Das sind die Tage, wo zehn Öre sehr gelegen kommen, ich kaufe dafür immer etwas und bringe es nach Hause. Was aber den Assessor anbelangt, ihm macht es Spaß, mich tanzen zu sehen, gerade weil ich einen Bruch habe und nicht ordentlich tanzen kann.

Es geschieht also mit Willen Ihres Onkels, daß Sie gegen Bezahlung auf dem Markt tanzen?

Nein, nein, das nicht, das dürfen Sie wirklich nicht glauben. Er sagt oft: Weg mit diesem Kaspergeld! Ja, er nennt es oft Kaspergeld, wenn ich mit meinen zehn Öre ankomme, und schimpft mich aus, weil mich die Leute zum besten halten.

Nun, dies war also das erste. Jetzt das zweite?

Wie bitte?

Jetzt das zweite?

Das verstehe ich nicht.

Sie sagten, erstens seien Sie ein dummer Mensch; nun, und jetzt zweitens?

Ja, wenn ich das gesagt habe, bitte ich um Entschuldigung.

Sie sind also nur dumm?

Ich bitte aufrichtig um Vergebung!

War Ihr Vater Pfarrer?

Ja, mein Vater war Pfarrer.

Pause.

Hören Sie, sagt Nagel, wenn Sie dabei nichts versäumen, so lassen Sie uns für eine Weile zu mir hinaufgehen, auf mein Zimmer, wollen Sie? Rauchen Sie? Gut! Ja, bitte, ich wohne oben. Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie zu mir heraufkommen würden.

Zur großen Verwunderung aller gingen Nagel und Minute in die erste Etage hinauf, wo sie den ganzen Abend über zusammenblieben.

III

Minute nahm sich einen Stuhl und steckte sich eine Zigarre an.

Trinken Sie nichts? fragte Nagel.

Nein, ich trinke nicht viel, das bringt mich zu schnell durcheinander, und ich sehe doppelt, antwortete sein Gast.

Haben Sie jemals Champagner getrunken? Ja, das haben Sie natürlich?

Ja, vor vielen Jahren, auf der Silberhochzeit meiner Eltern, da habe ich Champagner getrunken.

War das gut?

Ja, ich erinnere mich, daß es gut geschmeckt hat.

Nagel klingelte und bekam Champagner.

Während sie an den Gläsern nippen und dazu rauchen, sagt Nagel plötzlich, indem er Minute fest ansieht:

Sagen Sie mir – ja, es ist nur eine Frage, und sie wird Ihnen vielleicht lächerlich Vorkommen; aber könnten Sie sich für eine gewisse Summe als Vater eines Kindes eintragen lassen, dessen Vater Sie nicht sind? Es fällt mir nur so ein.

Minute sah ihn mit weit geöffneten Augen an und schwieg.

Für eine kleinere Summe, fünfzig Kronen, oder lassen Sie uns sagen, bis zu einigen hundert Kronen? fragt Nagel. Es kommt nicht so genau drauf an, für wieviel.

Minute schüttelt den Kopf und schweigt eine ganze Weile.

Nein, antwortet er dann.

Könnten Sie nicht doch? Ich würde in diesem Fall bar bezahlen.

Das hilft nichts. Nein, ich kann das nicht tun, damit kann ich Ihnen nicht dienen.

Warum eigentlich nicht?

Bitten Sie mich nicht, lassen Sie mich. Auch ich bin ein Mensch.

Na, das war vielleicht allzu grob; weshalb sollten Sie jemandem eine solche Gefälligkeit erweisen? Aber ich hätte Lust, Ihnen noch eine Frage zu stellen: Wären Sie willens… würden Sie für fünf Kronen in der ganzen Stadt herumgehen, auf Ihrem Rücken eine Zeitung oder eine Papiertüte befestigt, hier am Hotel beginnen und den Weg über den Markt und die Anlegestelle nehmen – würden Sie das tun? Und für fünf Kronen?

Minute läßt den Kopf beschämt sinken und wiederholt mechanisch: fünf Kronen. Sonst antwortete er nichts.

Nun ja, wenn Sie wollen, dann zehn Kronen; lassen Sie uns zehn Kronen sagen. Sie würden es also für zehn Kronen tun?

Minute streicht das Haar aus der Stirn.

Ich begreife nicht, daß alle Leute, die hierherkommen, im voraus wissen, daß ich für alle den Narren mache, sagt er.

Wie Sie sehen, kann ich Ihnen das Geld sofort geben, fährt Nagel fort; das liegt ganz bei Ihnen.

Minute heftet die Augen auf den Schein, starrte einen Augenblick verloren auf dieses Geld, schleckt sich die Lippen danach und stößt hervor:

Ja, ich…

Entschuldigung! sagt Nagel rasch; Entschuldigung, daß ich Sie unterbreche, sagt er nochmals, um den anderen am Sprechen zu hindern. Wie lautet Ihr Name? Ich weiß nicht, ich glaube nicht, daß Sie mir gesagt haben, wie Sie heißen?

Mein Name ist Grøgaard.

Grøgaard. Sind Sie mit jenem Hans Jacob Grøgaard, dem Verfassungsmann, verwandt?

Ja, das auch.

Worüber haben wir noch gesprochen? Ach so, Grøgaard? Ja, Sie wollen dann natürlich nicht auf solche Art diese zehn Kronen verdienen?

Nein, flüstert Minute schwankend.

Hören Sie jetzt zu, sagt Nagel und spricht sehr langsam.

Ich werde Ihnen diese zehn Kronen mit Freuden geben, weil Sie nicht tun wollten, was ich Ihnen vorschlug. Und ich werde Ihnen außerdem noch weitere zehn Kronen geben, wenn Sie mir die Freude machen, diese anzunehmen. Springen Sie nicht auf; dieses kleine Entgegenkommen macht mir nichts aus, ich habe jetzt gerade viel Geld, ziemlich viel Geld, das wird mich also nicht in Verlegenheit bringen. – Als er das Geld hervorgesucht hatte, fügte Nagel hinzu: Sie machen mir damit eine Freude. Bitte sehr!

Doch jetzt sitzt Minute stumm da, sein Glück steigt ihm zu Kopf, und er kämpft gegen die Tränen an. Er zwinkert mit den Augen und schluckt. Nagel sagt:

Sie mögen wohl so um die vierzig Jahre sein?

Dreiundvierzig, ich bin dreiundvierzig.

Nun stecken Sie das Geld ein. Bitte schön! – Wie heißt der Assessor, mit dem wir unten im Café gesprochen haben?

Das weiß ich nicht, wir nennen ihn nur den Assessor. Er ist Assessor im Büro des Bezirksgerichts.

Jaja, das ist auch egal, Sagen Sie mir…

Entschuldigung! – Minute kann nicht länger an sich halten, er ist überwältigt und will sich absolut deutlicher ausdrücken, auch wenn er stammelt wie ein Kind. Entschuldigen Sie und vergeben Sie mir! sagt er. Und einige Zeit lang kann er nichts weiter herausbringen.

Was wollten Sie sagen?

Danke, aufrichtigen Dank von einem aufrichtigen…

Pause.

Damit sind wir doch fertig.

Nein, warten Sie noch! rief Minute. Ja, Entschuldigung, aber wir sind noch nicht damit fertig. Sie glaubten, daß ich es nicht tun wollte, daß ich starrköpfig gewesen sei und daß ich mir ein Vergnügen daraus gemacht hätte, mich auf die Hinterbeine zu stellen; aber so wahr es einen Gott gibt … Können wir denn sagen, wir seien damit fertig, wenn Sie vielleicht sogar den Eindruck bekommen haben, daß ich auf den Preis schielte und es nicht für fünf Kronen machen wollte? Und das war, was ich nur noch sagen wollte.

Es ist ja gut. Ein Mann mit Ihrem Namen und Ihrer Bildung sollte auch nicht solche Sperenzchen machen. Mir fiel ein… ja, Sie kennen natürlich alle Verhältnisse in der Stadt, nicht wahr? Ich will Ihnen sagen, ich denke daran, hier eine Zeitlang zu wohnen, mich hier wirklich diesen Sommer für einige Monate niederzulassen, was halten Sie davon? Sind Sie von hier?

Ja, ich bin hier geboren; mein Vater war hier Pfarrer, und ich habe hier die letzten dreizehn Jahre gewohnt, seitdem ich verkrüppelt bin.

Liefern Sie Kohlen aus?

Ja, ich trage Kohlen herum, in die Häuser. Das macht mir nichts aus, falls Sie deshalb fragen. Ich bin es seit langem gewöhnt, und es schadet mir nicht, wenn ich nur beim Treppensteigen vorsichtig bin. Nur im letzten Winter bin ich gestürzt und habe mich ramponiert, so daß ich lange Zeit am Stock gehen mußte.

Ach wirklich? Wie ist das passiert?

Tja, es war auf der Treppe der Bank, und es war etwas Eis auf den Stufen. Ich steige also mit einem ziemlich schweren Sack hinauf. Als ich so bis zur Mitte gekommen war, sehe ich ganz oben auf der Treppe Konsul Andresen, der gerade herunterkommt. Da will ich kehrtmachen und wieder hinuntergehen, damit der Konsul vorbeikommen kann; er sagte nicht, daß ich das tun sollte; es war selbstverständlich, und ich hätte es auch unaufgefordert getan; doch in diesem Augenblick hatte ich das Pech, auf der Stufe auszurutschen und zu fallen. Ich traf mit der rechten Schulter auf. Wie steht es mit Ihnen? sagt da der Konsul zu mir, Sie schreien nicht, Sie haben sich also nicht weh getan? Nein, sage ich, ich habe noch Glück gehabt. Aber es dauerte keine fünf Minuten, bevor ich zweimal hintereinander ohnmächtig wurde; außerdem schwoll mein Unterleib an, aufgrund der alten Sache. Der Konsul hat mich hinterher übrigens reichlich bedacht, obwohl er keine Schuld hatte.

Trugen Sie sonst keinen Schaden davon? Haben Sie sich nicht den Kopf geschlagen?

O ja, ich habe mir ein bißchen den Kopf geschlagen. Ich habe auch eine Weile lang Blut gespuckt.

Und der Konsul hat Ihnen in der Zeit, als Sie krank waren, geholfen?

Ja, außerordentlich. Er ließ mir alles mögliche zukommen, er vergaß mich an keinem Tag. Aber das beste von allem war, daß der Konsul an dem Tag, als ich wieder auf den Beinen war und ihn auf suchte, um mich zu bedanken, bereits die Flagge hatte hissen lassen. Er hatte ausdrücklichen Befehl gegeben, die Flagge einzig mir zu Ehren zu hissen, obwohl es auch der Geburtstag von Fräulein Fredrikke war.

Wer ist Fräulein Fredrikke?

Das ist seine Tochter.

So. Ja, das war doch reizend von ihm… Oh, hören Sie, Sie wissen nicht, weswegen man hier in der Stadt vor einigen Tagen geflaggt hat?

Vor einigen Tagen? Lassen Sie mich sehen, war das vor ziemlich einer Woche? Dann war es wegen der Verlobung Fräulein Kiellands, Dagny Kiellands Verlobung. O ja, der eine nach dem anderen verlobt sich und heiratet und zieht weg. Ich habe jetzt beinahe über das ganze Land verstreut Freunde und Bekannte, und es ist niemand dabei, den ich nicht Wiedersehen möchte. Ich habe alle von ihnen spielen, zur Schule gehen, konfirmiert und erwachsen werden sehen. Dagny ist erst dreiundzwanzig Jahre alt, und sie ist der Liebling der ganzen Stadt. Und sie ist schön. Sie hat sich mit Leutnant Hansen verlobt, der mir seinerzeit ebendiese Mütze verehrte, die ich hier habe. Er stammt ebenfalls von hier.

Hat dieses Fräulein Kielland blondes Haar?

Ja, sie hat helles Haar. Sie ist außergewöhnlich schön, und alle haben sie gern.

Ich habe sie wahrscheinlich drüben am Pfarrhof gesehen. Hat sie meistens einen roten Sonnenschirm dabei?

Genau! Soweit ich weiß, gibt es hier auch sonst niemand, der einen roten Sonnenschirm hat. Sie haben sie gesehen, wenn Sie eine Dame gesehen haben mit einem dicken gelben Zopf auf dem Rücken. Es gibt sonst niemand hier in der Umgebung, der ihr gliche. Aber Sie haben vielleicht noch nicht mit ihr gesprochen?

Doch, vielleicht auch mit ihr gesprochen. – Und Nagel fügt für sich selbst gedankenvoll hinzu: Das also war Fräulein Kielland!

Ja, aber nicht richtig. Sie haben vielleicht kein längeres Gespräch mit ihr gehabt? Das haben Sie noch gut. Sie lacht laut, wenn sie etwas lustig findet, und oft kann sie auch wegen fast nichts lachen, weil sie so fröhlich ist. Wenn Sie mit ihr reden, werden Sie sehen, wie aufmerksam sie auf das hört, was Sie sagen, ganz bis Sie fertig sind, und dann erst antwortet sie. Doch wenn sie antwortet, bekommt sie oft rote Wangen. So ist das, es steigt ihr zu Kopf; ich habe es häufig beobachtet, wenn sie mit jemand geredet hat, sie wird sehr schön. Bei mir hingegen ist es anders, mit mir plaudert sie ohne weitere Umstände, wenn es sich ergibt. Ich könnte etwa auf der Straße zu ihr hingehen, und sie würde anhalten und mir die Hand geben, auch wenn sie es eilig hätte. Wenn Sie das nicht glauben, können Sie ja mal darauf achten.

Ich glaube es gerne. Sie haben also an Fräulein Kielland eine gute Freundin?

Natürlich nur insofern, als sie stets nachsichtig mit mir ist. Anders kann es ja nicht sein. Ich bin ab und zu, wenn ich eingeladen werde, auf dem Pfarrhof, und soweit ich bemerken konnte, war ich auch dann nicht unwillkommen, wenn ich unangemeldet dorthin gegangen bin. Fräulein Dagny hat mir auch Bücher geliehen, als ich krank war, ja sie kam selbst mit ihnen hier heraus, hat sie den ganzen Weg unterm Arm getragen.

Was für Bücher mögen das wohl gewesen sein?

Sie meinen, was für Bücher das wohl sein mögen, die ich lesen und verstehen könne?

Diesmal verstehen Sie mich falsch. Ihre Frage ist scharfsinnig, aber Sie verstehen mich falsch. Sie sind ein interessanter Mann. Ich meinte, was für Bücher sind es wohl, die diese junge Dame selbst besitzt und liest? Das hätte ich gerne gewußt.

Ich erinnere mich, daß sie mir einmal Arne Garborgs Bauernstudenten brachte, und zwei andere, eins davon war wohl Turgenjews Rudin. Bei einer anderen Gelegenheit jedoch las sie mir laut aus Garborgs Unversöhnlichen vor.

Und das waren ihre eigenen Bücher?

Ja, sie gehörten dem Vater. Der Name des Vaters stand darin.

Apropos: als Sie damals, wie Sie erzählen, zu Konsul Andresen kamen, um sich zu bedanken…

Ja, ich wollte ihm für seine Hilfe danken.

Ja gut. Aber war die Flagge an jenem Tag bereits gehißt, bevor Sie kamen?

Ja, er hatte sie wegen mir hissen lassen. Er hat es mir selbst gesagt.

Ja, sehen Sie mal an. Aber hätte es nicht anläßlich des Geburtstages sein können, daß die Flagge gehißt war?

Doch, das war es wohl. Das kann gut sein, das ist auch recht so. Es wäre eine Schande gewesen, wenn die Flagge nicht zu Fräulein Fredrikkes Geburtstag gehißt worden wäre.

Ja, da haben Sie auch recht… Nun zu etwas anderem: Ihr Onkel, wie alt ist der?

Er ist wohl so um die siebzig Jahre alt. Nein, das ist vielleicht zuviel, aber er ist jedenfalls über sechzig. Er ist sehr alt, aber für sein Alter rüstig. Er kann zur Not noch immer ohne Brille lesen.

Wie heißt er?

Er heißt auch Grøgaard. Wir heißen alle beide Grøgaard.

Hat Ihr Onkel ein Haus, oder wohnt er zur Miete?

Das Zimmer, in dem wir wohnen, hat er gemietet, aber der Kohlenschuppen, der gehört ihm selbst. Es fällt uns nicht schwer, die Miete zu bezahlen, falls Sie daran denken. Wir bezahlen mit Kohlen, und manchmal kann auch ich mit der einen oder anderen Arbeit für etwas aufkommen.

Ihr Onkel trägt wohl keine Kohlen aus?

Nein, das ist meine Aufgabe. Er wiegt sie ab und leitet alles, und ich trage. Ich kann ja leichter von Haus zu Haus gehen, weil ich stärker bin.

Natürlich. Und dann haben Sie also eine Frau, die Sie bekocht.

Pause.

Entschuldigung, antwortet Minute, seien Sie deswegen nicht verärgert; aber ich möchte gerne gehen, wenn es Ihnen recht ist. Sie behalten mich womöglich hier, um mir eine Freude zu machen, denn Sie selbst können kaum Vergnügen daran haben, von meinen Verhältnissen zu hören. Es mag auch sein, daß Sie mit mir aus einem anderen, mir unverständlichen Grund reden, und in diesem Fall wäre es in Ordnung. Wenn ich jetzt gehen sollte, gibt es niemand, der mich behelligen wird, das dürfen Sie nicht glauben. Ich treffe eigentlich keine schlechtgesinnten Menschen. Der Assessor steht nicht vor der Tür, um mich abzupassen und sich zu rächen, falls Sie so was befürchten. Und selbst dann würde er mir auf keinen Fall Arger machen, das glaube ich nicht.

Mir machen Sie eine Freude, wenn Sie bleiben; aber Sie sollen sich nicht verpflichtet fühlen, mir etwas zu erzählen, nur weil ich Ihnen ein paar Kronen für Tabak vorgestreckt habe. Sie können tun, was Ihnen gefällt.

Ich bleibe! ich bleibe! ruft Minute, und Gott segne Sie! ruft er. Ich bin glücklich, daß Sie durch mich etwas Zerstreuung finden, obwohl ich mich schäme, sowohl wegen meiner Person als auch wegen meines Aufzugs hier. Ich hätte wohl etwas anständiger aussehen können, wenn ich etwas Zeit zur Vorbereitung gehabt hätte. Was ich anhabe, ist einer der alten Mäntel des Onkels, und er hält nichts aus, das ist völlig richtig, er verträgt nicht mal einen Fingerdruck. Hier hat mir der Assessor auch noch einen langen Riß gemacht, den Sie hoffentlich entschuldigen… Nein, was eine Frau betrifft, die Essen kocht, dafür haben wir keine Frau. Wir kochen und waschen alles selbst. Das fällt nicht sonderlich schwer, und wir machen damit ja auch so wenig wie möglich her. Wenn wir zum Beispiel morgens Kaffee kochen, trinken wir den Rest am Abend, ohne ihn wieder aufzuwärmen, und genauso ist es mit dem Mittagessen, das wir sozusagen ein für allemal kochen, wenn es gerade paßt. Was mehr können wir uns in unserer Lage wünschen? Und außerdem bin ich für die Wäsche zuständig. Das ist bisweilen ein kleiner Zeitvertreib, wenn ich nichts anderes zu tun habe.

Jetzt ertönt unten im Hotel eine Glocke, und man hört Leute die Treppe zum Abendessen hinuntergehen.

Es läutet zum Essen, sagt Minute.

Ja, antwortet Nagel. Aber er steht nicht auf und zeigt auch keine Anzeichen von Ungeduld, ganz im Gegenteil, er setzt sich bequemer zurecht und fragt: Sie kannten vielleicht auch diesen Karlsen, den man hier kürzlich tot im Wald gefunden hat? War das nicht ein trauriges Ereignis?

O ja, ein äußerst trauriges Ereignis. Ja, ich habe ihn sogar sehr gut gekannt. Ein prächtiger Mensch und ein edler Charakter. Wissen Sie, was er einmal zu mir gesagt hat? Ich bin früh an einem Sonntagmorgen zu ihm gerufen worden, das ist jetzt ein halbes Jahr her, es war im Mai vorigen Jahres. Er bat mich, für ihn einen Brief zu überbringen. – Ja, sagte ich, das werde ich erledigen; aber ich habe heute so untaugliches Schuhwerk an, ich kann in diesen Schuhen schlecht Leute aufsuchen. Wenn Sie meinen, dann gehe ich nach Hause und borge mir andere aus. – Nein, das ist nicht nötig, antwortete er, ich kann mir nicht vorstellen, daß es etwas ausmacht, es sei denn, Sie werden in diesen da naß. – Sogar daran dachte er, daß ich in den Schuhen vielleicht naß werden könnte! Na, und dann steckt er mir verstohlen eine Krone in die Hand und übergibt mir den Brief. Als ich bereits draußen im Flur war, reißt er die Tür wieder auf und kommt mir nach: er strahlt so übers ganze Gesicht, daß ich anhalte und ihn ansehe, und seine Augen sind voller Wasser. Dann umarmt er mich, er drückt sich ganz dicht an mich und umarmt mich tatsächlich und sagt: Gehen Sie nun mit dem Brief, alter Freund; ich werde Ihnen das nie vergessen. Wenn ich einmal Pfarrer bin und im Amt bin, dann sollen Sie kommen und die ganze Zeit bei mir bleiben. Ja, gehen Sie jetzt, und Glück sei mit Ihnen! – Ja, er kam nun leider nie in ein Amt; aber er hätte mir gegenüber bestimmt sein Wort gehalten, wenn er am Leben geblieben wäre.

Und dann überbrachten Sie den Brief?

Ja.

Und freute sich Fräulein Kielland, als sie ihn bekam?

Wie können Sie wissen, daß er für Fräulein Kielland war?

Wie ich das wissen kann? Sie sagten es ja eben selbst.

Sagte ich das selbst? Das ist nicht wahr.

Hehe, ist das nicht wahr? Glauben Sie, daß ich hier vor Ihnen sitze und Sie anlüge?

Nein, Entschuldigung, es kann gut sein, daß Sie recht haben; aber ich hätte es jedenfalls nicht sagen dürfen. Das geschah aus Versehen. Nein, habe ich das wirklich gesagt?

Warum nicht? Hat er Ihnen denn verboten, es zu erzählen?

Nein, nicht er.

Aber sie?

Ja.

Ja, ist gut, ich werde es für mich behalten. Aber können Sie verstehen, warum er sich gerade jetzt ans Sterben machte?

Nein, das kann ich nicht. Das Schicksal hat es wohl so gewollt.

Wissen Sie, wann er begraben werden soll?

Morgen mittag.

Dann wurde nicht mehr über diese Sache geredet. Eine Zeitlang sagte keiner von ihnen etwas. Sara steckte den Kopf zur Tür herein und meldete, daß das Essen fertig sei. Kurz danach sagte Nagel:

Ja, jetzt ist also Fräulein Kielland verlobt. Wie sieht er aus, ihr Bräutigam?

Es ist Leutnant Hansen, ein adretter und ganz vortrefflicher Mann. Ja, bei ihm wird sie nichts entbehren müssen.

Ist er reich?

Ja, sein Vater ist sehr reich.

Ist er Kaufmann?

Nein, er ist Reeder. Er wohnt ein paar Häuser von hier. Es ist übrigens kein großes Haus, das er hat, aber er braucht kein größeres, wenn der Sohn weg ist, sind nur die beiden Alten übrig. Sie haben auch eine Tochter, aber die ist in England verheiratet.

Und wieviel, glauben Sie, mag der alte Hansen besitzen?

Er hat vielleicht eine Million. Niemand weiß es.

Pause.

Ja, sagt Nagel dann, es ist ungerecht verteilt in dieser Welt. Was, wenn Sie nun etwas von diesem Geld hätten, Grøgaard?

Nein, Gott segne Sie, wozu das? Wir sollen mit dem zufrieden sein, was wir haben.

So heißt es… Da fällt mir gerade ein, Sie etwas zu fragen: Sie haben sicher nicht sonderlich Zeit für andere Arbeit, wenn Sie all diese Kohlen aus tragen müssen? Nein, das kann ich verstehen. Doch ich hörte Sie den Wirt fragen, ob er heute noch mehr für Sie zu tun hätte?

Nein, antwortet Minute und schüttelt den Kopf.

Es war unten im Café. Sie sagten, daß Sie die Kohlen in die Küche gebracht hätten, und dann gibt es heute wohl nichts mehr? fragten Sie.

Das hatte einen anderen Grund. Das haben Sie bemerkt? Nein, die Sache ist die, daß ich gehofft hatte, das Geld für die Kohlen sofort zu bekommen, aber ich habe nicht gewagt, geradeheraus danach zu fragen. So hängt das Ganze zusammen. Wir waren gerade jetzt in Verlegenheit, und wir setzten unsere Hoffnung auf dieses Geld.

Wieviel könnten Sie gebrauchen, um aus dieser Verlegenheit zu kommen? fragt Nagel.

Gott bewahre Sie! ruft Minute mit lauter Stimme. Reden Sie nicht mehr davon, uns ist bereits mehr als reichlich geholfen. Das Ganze drehte sich um sechs Kronen, und jetzt sitze ich hier mit Ihren zwanzig in der Tasche, Gott möge es Ihnen vergelten! Wir waren allerdings diese sechs Kronen schuldig, unserem Kaufmann, der sie für Kartoffeln und einiges andere bekommen sollte. Er hatte uns die Rechnung geschickt, und wir beide haben angestrengt überlegt, wo wir das Geld dazu hernehmen sollten. Aber jetzt hat es keine Not mehr, wir können beruhigt schlafen und morgen aufstehen und wieder zufrieden sein.

Pause.

Ja, ja, es ist vielleicht am besten, wenn wir austrinken und für heute abend auseinandergehen, sagt Nagel und erhebt sich. Prost! Ich hoffe doch, es bleibt nicht das letzte Mal, daß wir uns getroffen haben. Sie müssen wirklich versprechen wiederzukommen, ich wohne also hier auf Nummer 7. Für diesmal vielen Dank!

Nagel sagte dies in völlig aufrichtiger Weise und schüttelte Minutes Hand. Er begleitete seinen Gast hinunter und folgte ihm bis zur Haustür, hier nahm er, wie bereits einmal zuvor, seine Samtmütze ganz ab und grüßte mit tiefer Verbeugung.

Dann ging Minute. Er verbeugte sich unzählige Male, während er rückwärts die Straße hinaufging. Aber er brachte kein Wort heraus, obwohl er sich die ganze Zeit bemühte, etwas zu sagen.

Als Nagel das Speisezimmer betrat, entschuldigte er sich bei Sara unnötig höflich, weil er zu spät zum Abendessen kam.

IV

Johan Nagel erwachte am Morgen, als Sara anklopfte und ihm seine Zeitungen brachte. Er sah sie flüchtig durch und warf sie, nachdem er jeweils mit ihnen fertig war, auf den Boden. Eine Notiz, daß Gladstone wegen Erkältung zwei Tage lang das Bett gehütet habe, jetzt aber wieder wohlauf sei, las er zweimal durch und brach darauf in Lachen aus. Dann legte er die Arme in den Nacken und versank in folgenden Gedankengang, alles, während er ab und zu laut mit sich selbst sprach: